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Maximilian Maurer

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Beschreibung

Mark Kingman, ein eigenbrötlerischer Großindustrieller und Marineexperte, wird siebzig. Eigentlich wollte er diesen Tag wie jedes Jahr im Kreise seiner Familie und seiner engsten Freunde auf seiner kleinen Insel in der keltischen See verbringen. Und eigentlich wollte er bei der Gelegenheit bekanntgeben, dass er sich aus der Leitung seines Firmenimperiums zurückziehen will. Doch seit einigen Monaten erhält Mark anonyme Drohbriefe, die für ihn keinen Sinn ergeben. Nur der letzte Brief ist eindeutig: Mark soll noch vor seinem Geburtstag sterben. Tatsächlich wird er am Morgen seines Geburtstags tot aufgefunden. Für Chief Inspector Hippolyt Gibbs auf den ersten Blick ein leichter Fall, denn zur Tatzeit waren nur neunzehn Personen auf der Insel. Doch er weiß auch: Die meisten Zeugen lügen, wenn nicht mit Absicht, dann, weil sie nicht richtig hingesehen haben …

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Seitenzahl: 324

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Maximilian Maurer

Leichen kann man nicht ermorden

Ein Fall für Chief Inspector Hippolyt Gibbs

Kriminalroman

Die Personen dieses Kriminalromans

Mark Kingman (70): schwerreicher Industrieller und Marineexperte. Besitzt wahnsinnig viel Geld

Charles Kingman (68): Marks Bruder. Archäologe, braucht Geld, weil er noch Träume hat

Martha Stapleton (62): Marks Schwester. Ebenso hässlich wie bösartig, verfügt über eigenes Geld

Robert Stapleton (64): ihr Ehegatte. Erfolgloser Unternehmer, braucht Geld weil er kurz vor dem Ruin steht

Simon Kingman (44): Sohn von Charles. Scheut die Arbeit und braucht Geld für seine vielen »Hobbys«

Genevieve Foucault-Kingman (36): Simons Frau. Braucht Geld, um ihren Mann loszuwerden

Judy Kingman (24): Simons Tochter. Braucht eigentlich kein Geld, nur Liebe

Irene Winters (33): Marks Nichte. Hat zu viel Geld. Hasst Paul Watford

Paul Watford (38): Anwalt und Geschäftsführer, kümmert sich um Geld. Liebt Irene

Dr. James Wafer (62): Arzt und Freund von Mark. Spricht nie über Geld

Richard Blumenfeld (28): angeblich unehelicher Sohn von Mark. Braucht kein Geld mehr

Victoria Dunbar (42): hilft für Geld beim Memoiren-Schreiben

Jonathan (56): ein typischer Butler

Marie (52): eine exzellente Köchin

Arthur Mills (38): ein Chauffeur und Mann für alle Fälle

Rose (30): ein braves Hausmädchen

Crisbin (o.A.): ein Gärtner und Faktotum

Ann (19) und Sandy(25): zwei hübsche Aushilfshausmädchen

Frank Coogan (50): ein Bootstaxiinhaber

Hippolyt Gibbs (44): Chief Inspector von Scotland Yard

Melanie Poulsen (34): Detective Sergeant, seine Assistentin

Die Handlung spielt Anfang der 1990er Jahre auf einer fiktiven Insel in der keltischen See vor der englischen Hafenstadt Newquay.

1. Kapitel: Stürmische Ankunft

Wenn sich zwei streiten, ist der, der dem Zornigen nicht widerspricht, der weisere.

Euripides, griechischer Dichter

Der kleine Kutter mit den weißen Planken und dem blau abgesetzten Dollbord tuckerte behäbig durch das brackige Wasser des Hafenbeckens. Die Märzsonne hing bleich an einem milchigen Himmel und obwohl sie schon ihren höchsten Punkt erreicht hatte, fehlte ihr die Kraft, die Menschen aus ihren dicken Wintersachen zu schütteln. Draußen vor der Mole, dort wo der Seegang gewöhnlich stärker ist, kräuselte sich das Wasser und ein feiner Dunstschleier lag über der silbrig glänzenden See. Die ersten Fischerboote kamen schwer beladen vom Fang zurück und ein Schwarm Möwen forderte laut schreiend seinen Anteil an der Beute.

»Wird Sturm geben«, seufzte der alte Coogan in seinem Steuerhaus.

Irischer Whiskey und englisches Wetter hatten sein Gesicht gegerbt. Mit sorgenvoller Miene spähte er hinauf zum Himmel. Von der Fischfabrik zog ein unangenehmer Geruch herüber.

Frank Coogan betrieb so eine Art Fährtaxi. Es verkehrte zwischen Newquay und den vorgelagerten Inseln. Eine der Inseln hieß Kingman Island. Ein ruhiger Job, was diese Insel betraf. Einmal die Woche brachte er die Post auf die Insel und wenn nötig lieferte er die Waren aus, die Jonathan, der Butler von Droughty Hall bei ihm bestellt hatte. Ab und an holte er auch den Müll ab. Selten galt es, Besucher auf die Insel zu bringen. Aber allzu viele waren es nicht, die hinüber wollten oder besser gesagt, die dort willkommen waren. Die Insel befand sich in Privatbesitz und bevor Coogan den Motor anwarf, um einen Passagier überzusetzen, rief er auf der Insel an und fragte, ob er den Besucher rüberbringen sollte oder nicht. Und wenn Coogan erst einmal Nein gesagt hatte, dann war das auch ein Nein und man konnte höchstens noch schwimmen.

Einmal im Jahr, genauer gesagt gegen Ende März, herrschte bei Coogan Hochbetrieb was Kingman Island betraf. Denn in der letzten Märzwoche stand Mark Kingmans Geburtstag an. Dann kam die ganze Sippschaft des millionenschweren Industriellen zu Besuch und der kleine weiß-blaue Kutter fuhr ein ums andere Mal.

Heute war Paul Watford der einzige Passagier an Bord. Er war Privatsekretär, Anwalt und rechte Hand von Mark Kingman und es gehörte zu seinen eher unwichtigeren Pflichten, dafür zu sorgen, dass sich die Familie rechtzeitig und vollständig zur Geburtstagsfeier auf Droughty Hall versammelte.

Der Name des Herrenhauses stammte aus der Zeit, als es auf der Insel kein Wasser gab und es nach langen trockenen Sommern schon mal vorkam, dass die Zisternen leer waren.

Seit Paul vor zwei Jahren die Kanzlei seines Vaters übernommen hatte, übertrug ihm Kingman mehr und mehr Aufgaben und heute wurde praktisch das gesamte Kingman-Imperium von Watfords Kanzlei aus gesteuert. Wer den Anwalt zum ersten Mal sah, konnte sich nur schwer vorstellen, dass er der Chef einer so großen und bedeutenden Sozietät war. Er machte vielmehr den Eindruck eines dieser jungen, unbekümmerten Zeitgenossen, wie man sie heutzutage in den Straßencafés der großen Städte trifft. Seine sportliche, aber teure Kleidung, sein wildes, immer ein wenig ungepflegt wirkendes Haar und seine schlaksige Gestalt ließen ihn jünger erscheinen, als er tatsächlich war. Ein warmes Lächeln und eine freundliche, ruhige Art machten ihn den meisten Menschen auf Anhieb sympathisch. Und dennoch verbarg sich hinter der jungenhaften Fassade ein absoluter Profi seines Fachs und wenn es sein musste, auch ein knallharter Manager.

»Sind alle Geburtstagsgäste schon auf der Insel?«, wollte Watford wissen.

»Ja, Sir, Sie sind der letzte, den ich rüberbringe. Am Mittwoch habe ich Dr. Wafer und die Tochter von Mr Simon Kingman übergesetzt, gestern den Rest.«

»Und das mit den beiden Aushilfsmädchen, hat das auch geklappt?«, hakte Watford nach.

»Ach die, die hab’ ich ganz vergessen. Die eine hatte nur so’n kurzes Röckchen an, die Ärmste. Muss sich ’n Arsch abgefror’n haben, das arme Ding. Verzeihung Sir. Die beiden kamen schon am Montag, als es so geregnet hat. Hab’ ihnen ’ne Plane gegeben, zum Schutz gegen den Wind.«

Das Boot passierte die enge Hafenausfahrt und nahm Kurs auf Kingman Island. Diese Überfahrten, auch wenn sie nicht einmal eine Stunde dauerten, waren für Watford jedes Mal ein großes Vergnügen. Wie viele Landratten bewunderte er alles, was mit dem Meer und mit Schiffen zusammenhing. Er hatte im Heck des Kutters Platz genommen, seinen Koffer und seine Aktentasche zwischen die Beine geklemmt und spielte mit einem kurzen Tampen herum, den er auf dem Schiffsboden gefunden hatte. Von Zeit zu Zeit warf er am Steuerhaus vorbei einen Blick nach vorn. Gern hätte er Coogan gefragt, ob er mal das Steuer übernehmen durfte, aber er wollte sich keine Blöße geben.

Die verschwommenen Konturen der Insel lösten sich langsam in Einzelheiten auf. Schon konnte man die Kaimauer erkennen, das steinerne Bootshaus daneben und den modernen Zweckbau, hinter dessen nüchternen Betonwänden sich ein mit Dieselöl betriebener Stromgenerator verbarg, der die Insel mit ausreichend Strom versorgte.

Kingman Island gehörte zu einer Gruppe von Inseln, die wie auf einer Perlenschnur aufgereiht etwa drei bis vier Seemeilen vor der englischen Südwestküste lagen. Einige der größeren Eilande waren bewohnt, weil sie über ausreichend Trinkwasser verfügten. Die kleineren, wasserlosen Inseln, zu denen auch Kingman Island einst zählte, lagen verstreut dazwischen. Mark Kingmans Urgroßvater hatte den unwirtlichen Felsklotz vor dem Ersten Weltkrieg günstig erworben und mit viel Geld und Geduld in ein wahres Schmuckstück verwandelt. Die Insel war nicht ganz zwei Meilen lang und etwas mehr als eine halbe Meile breit. Aus der Luft betrachtet wirkte sie wie ein sinkendes Schiff, dessen felsiges Heck, die Nordspitze also, steil aus dem Meer ragte, während der Bug bereits unter Wasser lag. Gleichzeitig hatte das Inselschiff auch noch Schlagseite, weil die dem Festland zugewandte Küste flach aus dem Wasser stieg, um quasi an Steuerbord steil abzufallen. Für die Bewohner von Kingman Island war das ein großer Vorteil, denn so spürten sie auf der Insel kaum etwas von den rauen Westwinden der keltischen See. Kingmans Urgroßvater hatte in einer Senke knapp unterhalb des höchsten Punktes der Insel Droughty Hall erbauen lassen. Das Wasserproblem wurde anfangs mit Zisternen gelöst, später brachte man eine Tiefenbohrung nieder und fand mehr als genug des kostbaren Nasses. So konnten nicht nur die beiden Anwesen der Insel mit Frischwasser versorgt werden. Es reichte sogar noch für einen kleinen Bach, der nahe des höchsten Punktes der Insel gefasst, in zahlreichen Mäandern durch saftige Wiesen bis zu einem Tümpel im tiefer gelegenen Teil der Insel hinunter plätscherte. Ein prächtiger Park mit altem Baumbestand rund um das Herrenhaus war der Lohn jahrzehntelanger harter Arbeit von Generationen von Landschaftsgärtnern.

Mittlerweile war das Boot seinem Ziel so nahe gekommen, dass man auch die Holzscheune sehen konnte, die Kingman im Süden der Insel hatte bauen lassen. Dort waren die landwirtschaftlichen Geräte untergebracht, die man zur Pflege des Parks und der Rasenflächen brauchte. Es gab sogar einen Traktor mit Anhänger, der sich die einzige befestigte Straße der Insel mit einem alten Hillman Minx teilte. Der klapprige Kombi diente als komfortable Verbindung zwischen Haus und Anlegestelle. Mills, der Chauffeur, pflegte die beiden Fahrzeuge liebevoll. Watford sah den Hillman schon am Kai warten. Mills lehnte lässig am Kotflügel und rauchte.

Jetzt waren es nur noch wenige Hundert Meter bis zu ihrem Ziel und Watford war traurig, dass sein kleines Seeabenteuer schon wieder zu Ende ging. Die Sonne, die bei ihrer Abfahrt noch das kabbelige Wasser glitzern ließ, versteckte sich jetzt immer öfter hinter hoch aufgetürmten Wolkenbergen und ein steifer kalter Nordost kroch in die Bucht. Mit der scheinbar gelangweilten Routine eines erfahrenen Seebären ging Coogan an der Kaimauer längsseits, exakt dort, wo eine Steintreppe so vorgebaut war, dass man bei jedem Wasserstand bequem von Bord gehen konnte. Watford griff nach seinem Gepäck und sprang leichtfüßig an Land. Coogan tippte zum Gruß an seine Kapitänsmütze, spuckte einen Strahl Kautabak in die See und machte sich mit aufbrummendem Motor auf den Rückweg. Der junge Anwalt sah ihm noch eine Weile nach, bis das Boot nur noch ein heller tanzender Fleck in der jetzt stärker werdenden Dünung war. Ein Räuspern von Mills riss ihn aus seinen Gedanken.

»Nett, dass Sie mich abholen kommen, Mills. Wären Sie bitte so freundlich, mein Gepäck nach oben zu bringen? Ich möchte gerne zu Fuß hinaufgehen und noch ein wenig meine Gedanken sortieren.«

Mills schnappte sich wortlos Watfords Gepäck und stellte es in den Hillmann. Der kräftig gebaute, bullig wirkende Mann stand schon seit einigen Jahren in Kingmans Diensten. Obwohl er der gleiche Jahrgang war wie Watford, sah er bei Weitem älter aus als dieser. Seine Züge waren hart, der Mund stets etwas verkniffen, die Haut vom häufigen Aufenthalt im Freien derb und mit ersten tiefen Falten versehen. Watford hatte Arthur Mills aus einem Resozialisierungsprogramm der Marine übernommen und war sehr zufrieden mit ihm. Es hieß, er habe einmal einen Vorgesetzten halb totgeschlagen, aber darüber wurde nicht gesprochen. Mills war überhaupt ein recht einsilbiger Mensch, der seine Arbeit gut erledigte und die meiste seiner freien Zeit alleine in der Natur oder in seiner kleinen Wohnung im Gärtnerhaus verbrachte. Es ging das Gerücht, dass er ein Verhältnis mit Rose, dem Hausmädchen habe, aber wenn dem so war, dann verbargen die beiden dies sehr geschickt. Neben seiner Hauptaufgabe, der Pflege des Inselfuhrparks, ging Mills gerne dem Gärtner zur Hand oder machte sich sonst wie im Haus nützlich. Watford schätzte ihn, weil man ihm nichts lange zu erklären brauchte. Wenn Mills sah, dass etwas zu tun war, dann packte er an. Er besaß gute Manieren und wenn Kingman auf dem Festland unterwegs war, dann fuhr Mills den schwarzen Bentley und gab in seiner schicken Uniform eine prächtige Figur ab.

Während der Hillmann mit qualmendem Auspuff klappernd die Vorhut antrat, machte sich Watford zu Fuß auf den Weg. Die schmale, von jungen Birken gesäumte Makadam-Straße führte sanft bergan, vorbei an Wiesen und Hecken. Einige Schafe rupften zufrieden blökend das erste Frühlingsgras ab. Das Haus selbst war von hier unten nicht zu sehen, denn es lag geschützt in einer natürlichen Senke, verborgen von herrlichem altem Baumbestand.

Watford war diesen Weg schon so oft gegangen und doch genoss er immer wieder die Aussicht über die Insel hinweg, hinüber zum Festland, wo man an klaren Tagen die Häuser von Newquay sehen konnte und die Schiffe, die im Lee der Inseln sicheren Routen folgten. Heute war alles ein wenig anders als sonst, wenn er in dienstlicher Eigenschaft kam, um als Angestellter von Mark Kingman Geschäftliches mit ihm zu besprechen oder Papiere zur Unterschrift vorzulegen. Zwar gab es auch diesmal einen offiziellen Anlass für sein Kommen, aber die Einladung zum 70. Geburtstag des Großindustriellen war durchaus privater Natur.

Doch da war auch noch Irene, die Nichte Kingmans. Mit ihr verbanden sich für ihn so viele schöne, aber leider auch schmerzliche Erinnerungen. Er hätte längst einen Strich unter die ganze Geschichte ziehen sollen, aber das schaffte er nicht. Seine Gefühle für sie waren immer noch zu stark. So stark, dass er trotz seiner fast vierzig Jahre nie daran gedacht hatte, sich nach einer anderen Frau umzusehen. Damals, er war gerade als noch unerfahrener Barrister in die Kanzlei seines Vaters eingetreten, hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Irene war aus ihrem schweizerischen Internat zurückgekommen: Zwei junge Menschen, die die Liebe suchten und die zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammentrafen. Gemeinsam durchstreiften sie die Insel, fuhren mit der Motorjacht des Onkels hinüber zu den Kneipen des Festlands oder saßen stundenlang auf den Klippen, um auf das Meer hinauszuschauen, zu rauchen und zu quatschen. Als sie sich zum ersten Mal küssten, ertönte just in diesem Augenblick von fern das Signalhorn eines vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiffes und für Paul war das ein unerschütterliches Zeichen dafür, dass ihre Liebe unter einem guten Stern stehen müsse. Fast zwei Jahre lang währte das junge Glück und dann, eines Tages, Irene hatte das Studium der Kunstgeschichte in Zürich aufgenommen, war es so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Sie lernte an der Akademie einen anderen Mann kennen, den Sohn eines deutschen Industriellen, der sie zu sich nach Hause einlud und ihr mit dem Scheckbuch seines Vaters die Welt zu Füßen legte. Irene war von dem Deutschen so beeindruckt, dass sie ihn nur wenige Wochen später heiratete. Für Paul brach eine Welt zusammen.

Danach kam eine schwere Zeit für die Kingmans. Marks Frau starb völlig überraschend an Krebs, Jumping Jack, Irenes Lieblingspferd, kam bei einem Transportunfall zu Tode, an dem Paul zwar schuldlos, aber nicht ganz unbeteiligt war, und schließlich der schreckliche Autounfall, bei dem Irene schwer verletzt wurde und das Kind verlor, das sie unter dem Herzen trug. Monatelang lag sie im Krankenhaus und den Ärzten gelang es schließlich, ihre zahlreichen Verletzungen zu heilen. Aber auch wenn ihre körperlichen Wunden verheilt waren, die Wunden an der Seele ließen sich nicht so einfach behandeln. Zu den psychischen Belastungen kam noch die Scheidung hinzu und Irene kehrte schließlich – um einige Illusionen ärmer – wieder nach Kingman Island zurück, wo sich ihr Onkel Marky, wie sie ihn zärtlich nannte, rührend um sie kümmerte.

Aus einem Grund, den Paul bis heute nicht verstehen konnte und den Irene wohl auch selbst nicht genau kannte, machte sie ihn allein für ihr Schicksal verantwortlich und pflegte fortan eine abgrundtiefe Abneigung gegen ihn. Anfangs hatte Paul noch geglaubt, alles würde sich wieder einrenken, er bräuchte ihr nur etwas Zeit zu lassen, aber diese Hoffnung musste er bald aufgeben. Da er jedoch immer mehr zu einem unentbehrlichen Mitglied des Kingman-Imperiums wurde, konnte er auch nicht mehr so einfach aus ihrem Leben verschwinden. So entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Art »Waffenstillstand« zwischen ihnen. Er ging ihr, wenn möglich, aus dem Weg und sie tat nichts, um dies zu ändern. Wenn sie sich begegneten, behandelten sie sich mit eisiger Höflichkeit, vermieden aber alles, was irgendwie die frühere Vertrautheit erkennen ließ. Im Grunde war dies nicht allzu schwer, denn Paul kam nur ein bis zwei Mal die Woche nach Droughty Hall und Irene weilte häufig in London, wo ihr Onkel Marky eine kleine Galerie eingerichtet hatte. Aber jetzt würden sie vier Tage unter einem Dach miteinander verbringen und da konnte man sich nicht so ohne Weiteres aus dem Weg gehen.

Während Paul so seinen Gedanken nachhing, hatte er die ersten Baumgruppen der Anhöhe erreicht. Die turmhohen, vom Wind zerzausten Eichen stammten noch aus der Zeit, als Droughty Hall erbaut wurde. Näher am Haus, wo es geschützter war, wuchsen Ulmen und Buchen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und dem Anwesen einen parkähnlichen Eindruck verliehen. Der Anstieg wurde flacher und hinter einer letzten Kuppe wand sich der Weg in einem langen Bogen hinunter in die Senke, in der das Haus stand. Paul warf einen letzten Blick zurück auf den tiefer liegenden Teil der Insel und auf das Meer, das sich jetzt in wilden Gischtfontänen an der Hafenmole brach. Der Himmel hatte sich mit einer tief hängenden, geschlossenen Wolkendecke überzogen und vom Horizont näherte sich eine gefährlich aussehende schwarze Gewitterfront. Der kalte Wind hatte deutlich an Stärke zugelegt und fuhr mit solcher Gewalt durch die noch kahlen Baumkronen, dass sich selbst armdicke Äste mit unheilvollem Knirschen hoch über Pauls Kopf aneinander rieben. Paul schlug den Mantelkragen hoch und beschleunigte unwillkürlich seinen Schritt. Schon bald konnte er zwischen den Stämmen hindurch Droughty Hall ausmachen. Das alte Gemäuer war ganz aus grauem Naturstein gebaut und mit schwarzem Schiefer eingedeckt. Dunkler, fast schwarzer Efeu kroch die Mauern hoch und es schien, als würde sich die Natur das von Menschen erbaute Artefakt Stück für Stück zurückholen.

Droughty Hall bestand aus einem älteren Gebäudeteil und einem später angebauten Westflügel. Von oben betrachtet sah es aus wie ein großes »L«. Über dem Erdgeschoss gab es ein weiteres Stockwerk und ein steil aufragendes Dachgeschoss mit umlaufenden Zinnen und vielen kleinen Mansarden. Der Eingang, zu dem eine breite steinerne Treppe hinaufführte, lag an der Innenseite des »L«, dort, wo sich Haupthaus und Westflügel begegneten. Rechts vom Eingang wölbte sich ein erkerartiger Vorbau aus der Fassade, mit hohen, gotisch anmutenden Fenstern, die bis zum Dachgesims hinauf reichten. Dahinter verbarg sich die große Halle. Dem Erker vorgelagert lud eine großzügige Veranda an warmen Sommertagen zum Verweilen ein. Sie war so um die Fensterfront des Speisesaals herumgezogen, dass sie mit dem Vorplatz des Eingangs eine Einheit bildete. Wer also die Treppe zum Hauptportal hinaufstieg, konnte entweder durch die schwere geschnitzte Eichentür in das Haus gelangen oder etwas weiter rechts durch die Verandatür des Speisesaals Droughty Hall betreten.

Der Weg wurde jetzt breiter und war mit einer dicken Schicht feinem Kies bedeckt, der bei jedem Schritt leise unter Pauls Sohlen knirschte. Aus alter Gewohnheit folgte er nicht dem in großem Bogen zur Vorderfront des Hauses führenden Weg, sondern nahm eine Abkürzung zwischen den Bäumen hindurch. Als Kind hatte er diesen Weg immer eingeschlagen, weil man so fast unbemerkt das Haus erreichen konnte. Man ging einfach im Schutz der mächtigen Bäume bis zum Haus, dann um den Westflügel herum und gelangte so unmittelbar vor die Treppe zum Haupteingang.

Hätte Watford den offiziellen Weg genommen, hätte er gesehen, dass Irene oben am Treppenabsatz auf ihn wartete. So verwehrte ihm die massive steinerne Brüstung die Sicht auf den Bereich vor der Eingangstür. Ein dicker Regentropfen traf sein Gesicht und gleich darauf ein zweiter. Paul beeilte sich ins Haus zu kommen. Er hielt überrascht inne, als er Irene erblickte. Sie hatte sich breitbeinig oben auf der letzten Treppenstufe vor ihm aufgebaut, die Hände in die Hüften gestützt und sah ihn mit funkelnden Augen an. Ihr welliges rötliches Haar flatterte im Wind. Der Regen wurde stärker und die schweren Tropfen malten erste dunkle Tupfen auf den Steinboden. Irene sah blass und mitgenommen aus. Ihr hübsches Gesicht mit den vielen kleinen Sommersprossen, dem vollen Mund und dem dichten roten Haar wirkte verkniffen und abgespannt. Das hellblaue Strickkleid passte so gar nicht zu ihrer sonst so mädchenhaften Erscheinung. Paul, der nicht wirklich mit einer herzlichen Begrüßung gerechnet hatte, war dennoch überrascht, sie hier zu sehen. Er hatte keine Ahnung, was Irene von ihm wollte, aber er spürte, dass gleich etwas geschehen würde, was ihm sicher nicht gefiel. Er versuchte es mit freundlicher Gelassenheit.

»Hallo Irene. Was für ein reizendes Empfangskomitee. Wollen wir nicht ins Haus gehen? Wir werden sonst gleich schrecklich nass, fürchte ich.«

Paul machte ein ängstliches Gesicht und deutete mit dem Finger zaghaft nach oben. Doch Irene nahm gar keine Notiz von ihm. Ihre Augen blickten kalt. Mit unnatürlich lauter Stimme herrschte sie ihn an. Offensichtlich hatte sie sich genau überlegt, was sie ihm zu sagen hatte.

»Ich habe gesehen, wie Mills deinen Koffer angeschleppt hat. Deshalb wusste ich, dass du ebenfalls jeden Moment erscheinen würdest. Ich muss mit dir reden. Und du wirst mir jetzt zuhören. Jetzt!«

»Aber gerne doch«, wandte Watford ein und startete einen letzten Versuch, ins Trockene zu kommen. »Könnten wir das vielleicht auf später verschieben? In wenigen Minuten habe ich einen Termin bei deinem Onkel und du weißt, wie sehr er Unpünktlichkeit hasst.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte Irene seinen Einwand beiseite. Der Regen wurde stärker, der Wind peitschte die Tropfen in heftigen Böen gegen das Haus. Irene musste schreien, um gegen das Tosen des Sturms anzukommen.

»Glaubst du, ich stehe mir hier die Beine in den Bauch, um mich dann auf später vertrösten zu lassen? Der Regen ist mir egal. Was ich zu sagen habe, dauert nicht lange. Ich habe nur ein paar ganz simple Fragen an dich. Und wage ja nicht, mich anzulügen. Ist es richtig, Paul, dass du hier bist, um mit Onkel Mark ein neues Testament zu besprechen?«

Watford, vom Inhalt der Frage und von diesem unerwartet heftigen Angriff überrascht, nickte unsicher.

»Also ja. Ist es ferner korrekt, dass dein Besuch an diesem Wochenende eher privaten Charakter hat, so wie früher, als …?«

Sie vollendete den Satz nicht, aber beiden war klar, was sie meinte: »So wie früher, als wir noch zusammen waren?« Wieder nickte Watford, der nicht begriff, worauf Irene hinauswollte.

»Dann darf man wohl auch den Gerüchten Glauben schenken, wonach du Chef der neuen geheimnisvollen Holding geworden bist, die künftig alle Geschäfte für meinen Onkel erledigen soll?«

Paul zögerte mit der Antwort, weil er unschlüssig war, wie er auf eine solch offensichtliche Indiskretion reagieren sollte. Sie hatte in der Tat recht, aber eigentlich konnte sie davon absolut nichts wissen. Widerstrebend nickte er.

»Dann wird es wohl auch stimmen, dass dir Onkel Mark ein Angebot unterbreitet hat, ob du …«

Es bereitete Irene sichtlich Schwierigkeiten, das ihrer Ansicht nach Ungeheuerliche auszusprechen. Ihre Stimme zitterte und bekam jenen schrillen hysterischen Unterton, den Paul von früheren Auseinandersetzungen nur zu gut kannte.

»… ob du dich um die allein stehende, geschiedene Nichte kümmern würdest, wenn es sich entsprechend für dich auszahlt?«

Jetzt war es also heraus. Es war so haarsträubend, so weit entfernt von jeder Realität, dass Paul nicht anders konnte, als zu lächeln. Eigentlich hätte er am liebsten laut losgebrüllt vor Lachen. Doch für Irene war seine Reaktion nichts anderes als schiere Arroganz. Sie hatte die Arme angewinkelt und die schlanken Hände zu Fäusten geballt, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Ihr Körper zitterte und ihr Brustkorb hob und senkte sich, als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig niedersinken. In diesem Moment öffnete der Himmel alle verfügbaren Schleusen, als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet und beschlossen, die beiden Streithähne einfach fortzuspülen. Aber Irene war noch nicht fertig mit ihm. Sie schrie ihn an. So laut, dass es trotz des Lärms, den die herabfallende Regenflut verursachte, vermutlich jedermann im Hause hören konnte.

»Dann pass mal auf, Paul Watford. Das eine sage ich dir! Dem allen werde ich niemals zustimmen. Um mich braucht sich niemand zu ›kümmern‹. Und du kommst dafür am allerwenigsten infrage. Ich hoffe, dass du das ein für alle Mal kapiert hast. Hast du mir noch nicht genug Leid zugefügt? Was willst du eigentlich noch? Und wenn du noch einen winzigen Funken Anstand im Leib hast, dann erledigst du deine gottverdammte Arbeit hier, so du welche zu erledigen hast, und dann verlass die Insel, wenn es geht, am besten für immer. Ich will dich am Wochenende hier nicht sehen.«

So standen sie sich gegenüber. Wie zwei begossene Pudel. Paul, ausnahmsweise unfähig, die passenden Worte zu finden. Irene, zornig, mit klammen Fingern die tropfenden Haarsträhnen aus dem Gesicht streichend. Ihr Make-up zerfloss in farbigen Bächen über Nase und Wangen. Für einen Moment sah sie so wunderschön aus, dass Paul sie am liebsten in den Arm genommen und so lange geküsst hätte, bis alle diese dummen und falschen Vorwürfe sich genauso in Nichts auflösen würden, wie die kunstvoll aufgetragene Schminke. Doch er stand nur da, unfähig sich zu rühren oder etwas zu sagen. Sein dünner Mantel hielt zwar das Ärgste ab, aber das Wasser bahnte sich in dünnen Rinnsalen den Weg von seinem Gesicht hinunter und tropfte ihm kalt und nass in den Kragen. Irene, die in ihrem Kostüm bis auf die Haut durchnässt sein musste, warf ihm einen letzten hasserfüllten Blick zu, drehte sich um und lief ins Haus zurück.

Die ganze überaus peinliche Szene hatte kaum zwei Minuten gedauert, genau so lang wie der Wolkenbruch, der so plötzlich aufgehört hatte, wie er begann. Watford begriff nur langsam, was da passiert war. Er trat an die breite steinerne Brüstung, zog mit klammen Fingern ein silbernes Etui aus der Sakkotasche und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Wie zufällig fiel sein Blick auf die Gravur im Deckel. »Für Paul – in Liebe Irene« stand da. Sie hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt, vor langer Zeit, vielleicht sogar in einem anderen Leben.

Auf dem Weg vor dem Haus hatten sich große Pfützen gebildet und Paul lauschte der beruhigenden Melodie der Wassertropfen, die von Bäumen und Dächern auf den nassen Boden fielen und sich mit dem wieder einsetzenden Gezwitscher der Vögel mischte, die froh waren, sich wieder in die Lüfte schwingen zu können. Ein paar tiefe Züge aus der Zigarette und sein Verstand begann langsam wieder normal zu arbeiten. Er sah den Rauchfahnen nach, die sich wie Zeichen eines archaischen Brandopfers in den Äther schwangen. Was um Gottes willen war nur in Irene gefahren? Wie konnte sie nur so einen dummen Verdacht äußern, der nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte? Sein erster Ärger hatte sich schnell gelegt und seine Sorge galt jetzt Irene, die diesen Unsinn offenbar zu glauben schien. Sie musste zutiefst verletzt sein. Am liebsten wäre er ihr sofort nachgeeilt und hätte den schrecklichen Irrtum aufgeklärt, aber er wusste, dass das jetzt keinen Sinn hatte. Sie würde ihm nicht einmal zuhören. Außerdem musste er sich beeilen. In wenigen Minuten hatte er einen Termin mit Kingman und der schätzte es gar nicht, wenn man unpünktlich war.

Er betrat die Halle, wo Jonathan ihn bereits erwartete. Jonathan hatte sein ganzes Leben bei den Kingmans verbracht. Er war schon als junger Mann zur Familie gekommen. Es war die Zeit, als sich die feinen Herren der besseren Gesellschaft noch einen Kammerdiener leisteten. Irgendwann hatte er dann die Stelle als Butler übernommen und seitdem leitete er den Haushalt der Kingmans. Jonathan sah aus, wie man sich einen Butler schlechthin vorstellt. Er verkörperte vollendet diese Mischung aus Würde, Arroganz und Unterwürfigkeit, die einen guten Butler ausmacht. Er bemerkte jeden Vorgang im Haus, ohne ihn scheinbar zu bemerken. Er war immer da, ohne aufdringlich zu sein, und er hielt das Personal auf Trab. Zugegeben, von der jährlichen Geburtstagsfeier und den gemeinsamen Weihnachtsfeiern der Familie abgesehen, war es auf Droughty Hall ziemlich ruhig geworden seit dem Tod der Hausherrin. Außer dem Hausherren, seiner Nichte Irene, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin namens Victoria Dunbar und der spärlichen Dienerschaft wohnte niemand dauerhaft auf der Insel. Watford kam nur aus dienstlichen Gründen und blieb dann nur Stunden oder Tage und Irene weilte oft genug in London. Ansonsten wurden von Zeit zu Zeit ausgewählte Geschäftsfreunde mit ihren Familien eingeladen, wenn Kingman jemanden beindrucken oder belohnen wollte. Häufiger Gast war auch Dr. James Wafer, der Hausarzt und Freund von Mark Kingman, der mit dem alten Herrn hin und wieder beim Billard oder beim Schach über alte Zeiten plauderte. Er hatte wie Watford sein eigenes Zimmer auf Droughty Hall. Watford hielt ihn für einen Schwätzer und ging ihm wenn möglich aus dem Weg.

»Guten Tag Sir, darf ich um Ihren Mantel bitten. Ich werde ihn zum Trocknen aufhängen lassen. Bis morgen ist er sicher wieder ganz passabel. Falls Sie Ihre Tasche benötigen, ich bat Mills, sie in Ihr Zimmer zu bringen. Mr Kingman erwartet Sie dann in fünf Minuten in seinem Arbeitszimmer.«

Jonathan hätte niemals auch nur eine Silbe über den Zwischenfall verloren, deren Zeuge er unzweifelhaft gewesen sein musste. Dennoch hatte Watford das Gefühl, dass ihm eine Woge ehrlichen Wohlwollens und Solidarität entgegenschlug. Und das tat ihm gut, verdammt gut.

2. Kapitel: Gespräche mit Mark Kingman

Ein Mann ohne Sohn ist wie ein Baum ohne Krone.

Kaukasisches Sprichwort

Als Watford das Arbeitszimmer seines Chefs betrat, erhob sich der alte Herr leichtfüßig aus seinem Sessel hinter dem schweren Eichenschreibtisch. Er ging dem Jüngeren lächelnd entgegen, beide Arme zum Willkommensgruß ausgestreckt.

»Freue mich wirklich sehr, Sie zu sehen, Watford. Bitte denken Sie jetzt nicht, ich hätte Sie nur zum Arbeiten hergelockt. Keine Sorge, Ihr Besuch an diesem Wochenende ist rein privater Natur, auch wenn wir jetzt noch eine Kleinigkeit zu erledigen haben. Aber morgen wird nicht gearbeitet, das verspreche ich. Ich freue mich jetzt schon auf eine Partie Billard mit Ihnen. Vielleicht kann ich Sie ja doch wieder einmal bezwingen.«

Mark Kingman sah man die siebzig Jahre, die er morgen vollenden würde, nicht an. Er war groß und hager und seine sportliche Figur hätte manch Jüngerem zur Ehre gereicht. Er hielt sich kerzengerade, wie man das oft bei Menschen beobachten kann, die einen großen Teil ihres Lebens beim Militär verbracht haben. Wie meist trug er eine bequeme dunkle Sporthose mit einem sehr noblen cremefarbenen Pullover dazu. Das fast weiße Haar hielt er extrem kurz geschnitten, was ihn jünger, aber auch ein wenig streng erscheinen ließ. Seine tiefliegenden intelligenten Augen waren von einem stechenden Stahlblau und ständig in Bewegung, als wollten sie alles um ihn herum jederzeit unter Kontrolle halten. Dadurch konnte man leicht den Eindruck gewinnen, Kingman sei ein gehetzter, nervöser Mensch. Aber das zu glauben wäre sicher ein Irrtum gewesen. Im Gegenteil: Kingman war das, was man einen besonnenen, planvoll handelnden Charakter nennen konnte.

Sein Arbeitszimmer, das er gern als seine Kommandobrücke bezeichnete, lag im ersten Stock des Westflügels, am Ende einer Reihe von Räumen, die dem Industriellen und seiner Nichte als Wohnung dienten. Es nahm die ganze Breite des Seitentrakts ein und hatte an jeder der drei Außenwände ein hohes Fenster. Trotzdem wirkte der Raum düster, weil die Flächen zwischen den Fenstern mit wuchtigen Bücherregalen aus schwarzem Mahagoni bedeckt waren, die vom Boden bis zur Decke reichten und bis auf den letzten Platz gefüllt waren. Der größte Teil der Bücher befasste sich mit maritimen Themen, von der Geschichte der Seefahrt und der Seekriege bis hin zu Abhandlungen über das Schicksal einzelner Schiffe. Mark Kingman hatte es auf diesem Gebiet zu einem anerkannten Fachmann gebracht und selbst bereits mehrere Werke veröffentlicht, die sich mit der jüngeren Seekriegsgeschichte Großbritanniens befassten und die er in seiner aktiven Zeit noch selbst miterlebt hatte. Er hatte die ganze Karriere durchlaufen, vom Seekadetten bis hinauf zum Commander mit eigenem, wenngleich bescheidenem Kommando. Doch noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste er seine hoffnungsvolle Karriere bei der Royal Navy beenden. Der Gesundheitszustand seines Vaters machte es erforderlich, sich mit der Übernahme des familieneigenen Unternehmens zu befassen. Aber auch auf diesem Gebiet erwies sich Kingman als brillanter Geist und beharrlicher, zielstrebiger Unternehmer. Seine Kontakte bis in die höchsten Marinekreise sicherten ihm so manchen Vorsprung vor seinen Konkurrenten und im Augenblick gehörte Kingman Enterprises zu den bedeutendsten Unternehmen in der Marine-Branche des Landes. Doch die Bürde, ein derart großes Unternehmen zu leiten, hatte an dem Siebzigjährigen ihre Spuren hinterlassen. So war er schon seit Jahren dabei, die Verantwortung dafür Stück für Stück in jüngere Hände zu übergeben. Zu seinem großen Bedauern gab es keinen geeigneten Nachfolger aus dem Kreis der Familie, keinen, dem er sein Firmenimperium anvertrauen wollte. Seine ganze Hoffnung ruhte deshalb auf Paul Watford, mit dessen Vater ihn bis zu seinem Tod eine herzliche Freundschaft verbunden hatte und der ihn stets anwaltlich gut beraten und vertreten hatte. Paul, der in Kingman mehr als nur seinen Förderer und Arbeitgeber sah, hatte sich in den letzten Jahren unentbehrlich gemacht, was die Leitung des Unternehmens anging. Kingman vertraute ihm völlig. Jeder wusste, dass Watford der Kronprinz war. Kingman dagegen zog sich Schritt für Schritt aus dem Unternehmen zurück. So blieb ihm jetzt genug Zeit, sich seinem Hobby, der Marine zu widmen. Im Augenblick schrieb Kingman an seinen Memoiren. Aus diesem Grund hatte er eigens eine wissenschaftliche Mitarbeiterin engagiert, die ihm mit viel Fleiß und Sachverstand zur Hand ging.

Außer dem Schreibtisch, vor dem zwei spartanisch aussehende Besucherstühle platziert waren, gab es noch eine kleine Sitzgruppe vor dem Kamin. Dazwischen standen Vitrinen mit einigen sehr schönen Schiffsmodellen von alten Fregatten bis hin zu modernen Schlachtschiffen. Über dem schweren Eichenbalken, der den Kamin oben abschloss, hing ein großes, einfach gerahmtes Gemälde, das die verstorbene Ann Kingman, Marks Frau, zeigte. Trauerflor zierte die linke obere Ecke des Bildes. Mark sah es oft und lange an und dann dachte er mit Wehmut an seine geliebte Ann.

Watford hatte gegenüber von Mark Kingman an dessen Schreibtisch Platz genommen und die mitgebrachten Papiere ausgebreitet.

»Wie ich sehe, Watford, haben Sie bereits alles vorbereitet.«

»So ist es, Sir, es gab noch einige formale Kleinigkeiten zu klären, aber ich glaube, wir haben das alles ganz ordentlich hingekriegt. Wollen Sie, dass ich den Inhalt nochmals mit Ihnen durchgehe, bevor Sie unterschreiben?«

»Aber nein Watford, das wird nicht nötig sein«, entschied Kingman und zückte seinen Füller, um mit schwungvoller Bewegung die Dokumente eines nach dem anderen zu unterzeichnen.

»Wir werden also«, fuhr Kingman fort, »die Sache heute Abend nach dem Dinner verkünden. Ich werde zunächst eine kurze Ansprache halten und meine Beweggründe für die Maßnahme erläutern. Dazu werde ich wohl einen der anonymen Briefe präsentieren. Anschließend ziehe ich mich zurück und Sie übernehmen das Kommando. Erklären Sie der Familie die Einzelheiten. Ich habe Jonathan angewiesen, die Bibliothek entsprechend herzurichten und für Erfrischungen zu sorgen.«

»Alles klar, Sir, genau so werden wir es machen.«

Kingman bedeutete Watford, der Anstalten machte, sich zurückzuziehen, er möge noch einen Moment bleiben.

»Da wäre noch etwas Watford. Ich werde jetzt, wie Sie sich wohl denken können, ein ernstes Gespräch mit meiner Nichte führen müssen. Ihre Attacke auf Sie war durch das offenstehende Fenster nicht zu überhören und ich kann das nicht einfach so übergehen. Im Anschluss daran schicke ich sie zu Ihnen. Erklären Sie ihr alles und auch, dass sie meine Haupterbin sein wird. Aber sie soll den anderen gegenüber den Mund halten. Ihr vertraue ich völlig und ich möchte nicht, dass sie sich irgendwelche unnötigen Sorgen macht. Trotzdem halte ich sie im Augenblick für ein verdammt ungezogenes Mädchen. Es sollte sich endlich jemand um sie kümmern, bevor sie ganz aus dem Ruder läuft.«

Damit war eigentlich alles gesagt und Watford sammelte seine Unterlagen zusammen. Im Hinausgehen sagte er: »Verzeihung Sir, es ist mir etwas peinlich, aber ich halte es unter den gegebenen Umständen für besser, Ihrer Nichte nichts zu sagen. Ich könnte morgen abreisen und es würde keinen unnötigen Ärger geben. Ich denke, wenn sie erst begreift, dass ihre Ängste unbegründet sind, wird sie sich schon wieder beruhigen.«

Kingman, der ebenfalls aufgestanden war und durch das Fenster in den Park hinabsah, wandte sich um.

»Danke für Ihren gut gemeinten Rat, Watford. Aber das wäre Flucht. Wenn der Feind angreift, muss man sich stellen, so oder so. Ihr Ansinnen können Sie vergessen. Ich bestehe darauf, dass Sie hier bleiben und morgen meinen Geburtstag zusammen mit mir und der Familie feiern. Die sollen sich ruhig schon mal ein wenig an Sie gewöhnen. Vor Ostermontag lasse ich Sie keinesfalls aufs Festland zurück.«

Auf seinem Gesicht, das eben noch hart und geschäftsmäßig aussah, zeichnete sich ein mildes Lächeln ab. Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Noch bin ich hier der Chef, Watford. Und ich wähle meine Geburtstagsgäste aus, nicht Irene!«

Watford versuchte einzulenken: »Verzeihung Sir, aber ich denke, Ihre Nichte hat einfach etwas überreagiert. Wenn Sie jetzt zu hart mit ihr ins Gericht gehen, wird es so aussehen, als hätte ich mich über sie beschwert.«

»Keine Sorge, junger Mann, das werde ich schon klarstellen. Aber es ist nett von Ihnen, dass Sie sie in Schutz nehmen, und es spricht für Ihren Großmut, aber ich werde doch mit ihr reden müssen. Schon weil ich wissen will, wie sie zu diesen abstrusen Anschuldigungen kommt. Also dann, wir sehen uns zum Dinner.«

Damit war Paul entlassen. Kingman betätigte den Klingelknopf und wenig später erschien Jonathan.

»Sie wünschen Sir?«

»Bitte bestellen Sie meiner Nichte, dass ich sie unverzüglich auf der Kommandobrücke sprechen möchte. Die Angelegenheit ist dringend und duldet keinen Aufschub.«

Es dauerte nicht lange, bis Irene dieser Aufforderung nachkam. Sie hatte die nassen Sachen gegen Jeans und einen dicken flauschigen Pulli getauscht und stand nun vor ihrem Onkel wie ein harmloses kleines Schulmädchen. Sie wusste genau, was jetzt kommen würde. Aber sie wusste auch, wie man seinen Lieblingsonkel um den Finger wickelt. Kingman deutete auf einen der Stühle vor dem Kamin.

»Komm, Mädchen, setz dich. Ich muss mit dir reden.«

Irene tat, wie ihr geheißen. Trotzig, aber nicht ohne Zuneigung sah sie ihren Onkel an.

»Ich hätte mir denken können, dass sich Watford über mich beschwert. Er ist und bleibt ein Ekel. Jetzt wirst du mir wohl die Leviten lesen.«

Kingman stand vor dem Fenster und hatte ihr den Rücken zugewandt. Eine Weile sagte er gar nichts. Irene saß in ihrem Sessel, das rechte Bein über die gepolsterte Armlehne baumelnd, und sah nicht so aus, als hätte sie Angst vor ihrem Onkel. Die Sache schien sie eher zu amüsieren. Doch Kingmans Stimme klang hart und abweisend, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte.

»Du scheinst eine Vorliebe für falsche Schlussfolgerungen zu haben, meine Liebe. Das solltest du dir abgewöhnen. Erstens hat sich Watford nicht beschwert und zweitens, ich habe nicht die Absicht, mich in Dinge einzumischen, die dich und Paul betreffen. Das ist allein eure Sache. Mich interessiert ganz etwas anderes.«

»Woher weißt du dann von unserem Streit, wenn nicht von ihm?«, unterbrach ihn Irene.

Als hätte er auf diesen Einwand gewartet, dreht sich Kingman um und öffnete das Fenster. Draußen hörte man den Regen, der jetzt wieder eingesetzt hatte, auf die Treppe vor dem Eingang prasseln. »Ich saß vorhin an meinem Schreibtisch und habe gearbeitet. Das Fenster stand offen, so wie jetzt, und ich konnte jedes Wort eurer Unterhaltung verstehen. Oder sollte ich besser sagen, deines Monologs. Ich frage dich, wie du zu diesen Behauptungen kommst.«

»Stimmen sie denn etwa nicht?«

»Beantworte meine Frage, Irene. Von wem hast du diese Informationen?«

»Von Tante Martha.«

»Von Tante Martha?«, wiederholte Kingman mit ungläubigem Staunen.

»Ja, sie ist immer bestens über alles informiert.«

»Und du hast diesen himmelschreienden Unsinn geglaubt? Diese Frau ist eine notorische Lügnerin, auch wenn sie bedauerlicherweise meine Schwester ist. Willst du mir allen Ernstes einreden, dass du die Hirngespinste von Martha für bare Münze genommen hast?«