Gibbs fängt Feuer - Maximilian Maurer - E-Book
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Gibbs fängt Feuer E-Book

Maximilian Maurer

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Beschreibung

1998. Ein Gewitter zieht über Corfe Castle in der englischen Grafschaft Dorset. Unterhalb der Burgruine, auf einem Parkplatz, liegt der Antiquitätenhändler Wallace Plummer tot in seinem Lieferwagen. Scotland Yard wird hinzugerufen, um die Polizei von Bournemouth zu unterstützen. Chief Inspector Hippolyt Gibbs ist heilfroh, das Seminar über moderne Kommunikationstechnik in Bournemouth verlassen zu können, um mit seiner verlässlichen Assistentin Melanie Poulsen diesen Fall zu übernehmen. Auf seine Art, mit den klassischen Mitteln, denn die technischen Neuerungen nutzt er nur widerstrebend. Auch dass die Chefin der Spurensicherung eine attraktive Rothaarige ist, feuert ihn an, akribisch allen Spuren auf den Grund zu gehen, die dieser undurchsichtige Fall zutage fördert: heimliche Liebschaften, eine alte Familienfehde zwischen den Familien Mortimer und Carter, Geheimfächer, ein unerwartet üppiges Erbe, ein zweiter Mord und noch mehr Feuer … bis zum finalen Showdown, den Gibbs in bester britischer Krimi-Manier zelebriert.

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Seitenzahl: 341

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Maximilian Maurer

Gibbs fängt Feuer

Der dritte Fall für Chief Inspector Hippolyt Gibbs

Kriminalroman

Die wichtigsten Personen dieser Geschichte

Die Mortimers: Charles Mortimer (61), ein reicher Engländer, Privatier Angela Mortimer (58), seine Frau Nigel Mortimer (32), sein ältester Sohn Roger Mortimer (26), sein jüngster Sohn Stubbs (45), Butler und Angestellter

Die Carters: William Carter (49), Fabrikbesitzer, Sohn von Randolph Elizabeth Carter (73), seine Mutter Mary Carter (47), seine Frau Geoffrey Carter (22), sein Sohn Judith Carter (18), seine Tochter David (Jonathan) Osborn, Butler

Weitere Personen: Wallace Plummer (58), ein Antiquitätenhändler Leslie White (36), seine Nichte Ben Fisher (40), ein begabter Schreiner Barbara Mitchell (54), eine Pensions- und Cafébesitzerin DCI Hippolyt Gibbs, Detective Chief Inspector von Scotland Yard DS Melanie Poulsen, Detective Sergeant, seine Assistentin DI Brown, Detective Inspector bei der Kriminalpolizei Bournemouth Dr. Angela Sykes, Polizeiärztin und Leiterin der Spurensicherung Max Fuller, Mitarbeiter der Spurensicherung Mr Banks, Hafenmeister

Die Handlung spielt 1998 in und um Corfe Castle in der englischen Grafschaft Dorset.

1.

Es war kurz nach Mitternacht, als der silbergraue Ford Galaxy langsam in den Parkplatz an der A351 einbog. Das Licht seiner Scheinwerfer tastete sich wie zwei helle Finger durch die Dunkelheit, vorbei an der rot-weiß gestreiften Schranke, die steil in den Himmel ragte, vorbei an zerbeulten, überquellenden Mülleimern, bis sie schließlich an einem beigefarbenen VW Polo hängen blieben, der unter den Bäumen geparkt war, die den Platz begrenzten. Leise knirschte der Schotter unter den sacht dahinrollenden Rädern, als der Fahrer auf den Wagen zuhielt.

Um diese Zeit war der riesige Parkplatz so gut wie leer. Tagsüber nutzten ihn die Touristen, die Corfe Castle besuchten, dessen eindrucksvolle Ruine kaum eine halbe Meile entfernt auf einem Hügel thronte, weithin sichtbar über der gleichnamigen Ortschaft. Doch wenn die über tausend Jahre alte Sehenswürdigkeit gegen Abend ihre Pforten schloss, dauerte es meist nicht lange, bis die Ausflugsbusse und Privatautos wieder verschwunden waren.

Der Fahrer, ein junger Mann Mitte zwanzig, parkte den Galaxy rückwärts neben dem Polo, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Draußen wie drinnen war es stockfinster und es dauerte eine Weile, bis sich die Augen an das absolute Dunkel gewöhnt hatten. Aber auch dann war kaum etwas zu erkennen. Kein Mond, keine Sterne, die ihr Licht auf die von hohen Bäumen umgebene Schotterfläche des Parkplatzes geworfen hätten. Nur der trübe Schein einer Bogenlampe an der Einfahrt mühte sich redlich, die Umrisse der offenen Schranke und eines Kassenautomaten erahnen zu lassen. Eine defekte Leuchtreklame an einem Kiosk flackerte von Zeit zu Zeit einen violetten Lichtgruß herüber.

Roger Mortimer sah mit einem zärtlichen und zugleich sorgenvollen Blick auf das Mädchen neben ihm. Auch die Dunkelheit konnte nicht verbergen, dass Judith ein ausgesprochen hübsches Mädchen war. Ihr dickes halblanges schwarzes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit einer kleinen Nase und großen grünen Augen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Die ganze Fahrt über hatten sie bereits über ihre Beziehung gesprochen. Kein schöner Ausklang ihres gemeinsamen Abends.

„Wie soll das nur weitergehen, Roger? Wir sind beide erwachsene Menschen und müssen unsere Liebe aus Angst vor unseren Familien verbergen. Alles, was uns bleibt, sind unsere Montagabende. Kein Wochenende, kein Urlaub, ganz zu schweigen von einer gemeinsamen Zukunft. Im Gegenteil, wenn wir uns im Dorf über den Weg laufen, müssen wir so tun, als würden wir uns nicht einmal kennen. Ich habe es so satt. Manchmal hätte ich nicht übel Lust, endlich mit Vater zu sprechen und ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen.“

Roger blickte starr durch die Frontscheibe. Er konnte die Worte seiner Freundin nur zu gut verstehen. Es hätten seine eigenen sein können. Ungeduldig hieb er mit beiden Fäusten auf das Lenkrad ein.

„Aber Judy! Das haben wir doch alles schon hundertmal durchgekaut. Du weißt genau, was dann passieren würde. Unsere Familien können sich nicht ausstehen. Sie würden versuchen, unsere Beziehung mit aller Macht zu beenden. Und glaub’ mir, dazu wäre ihnen jedes Mittel recht. Und wenn wir nicht tun, was sie wollen, würden sie uns ausstoßen, enterben oder vielleicht sogar noch Schlimmeres antun.“

Roger seufzte tief.

„Ich kenne meinen Vater. Wenn ich nur schon den Namen Carter erwähne, winkt er ärgerlich ab und wechselt das Thema. Und mein Bruder Nigel? Ich sage es ungern, aber er ist ein übler Choleriker. Vor allem, wenn er betrunken ist, und das ist er ziemlich oft. Dann kann er verdammt unangenehm werden. Und dein Vater ist nicht viel besser.“

Judith Carter schnallte sich ab und beugte sich zu Roger hinüber. Sie suchte seine Hand und streichelte sie liebevoll.

„Du hast ja recht, Liebster. Aber lange halte ich das nicht mehr aus. Es wird eine Lösung geben müssen. So oder so.“

Roger legte einen Arm um sie und zog sie fest zu sich heran.

„Was meinst du mit ‚so oder so‘. Willst du mich verlassen?“

Judith schüttelte trotzig den Kopf, sagte aber nichts. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Dann griff Roger das Thema erneut auf.

„Sieh mal, ich habe einen ganz guten Job. Und wenn du erst mal deine Ausbildung beendet hast, dann gehen wir zusammen weg von Corfe. Nach Southampton meinetwegen oder am besten gleich nach London. Dann können uns alle Mortimers und Carters dieser Welt egal sein. Wir werden schon nicht verhungern. Andere junge Menschen müssen auch sehen, wie sie zurechtkommen. Und wenn sie uns enterben? Was soll’s? Geld ist nicht alles. Wir haben ja uns und können gemeinsam was aufbauen. Aber das halbe Jahr, bis du mit der Universität fertig bist, sollten wir noch durchstehen. Meinst du nicht auch?“

Judith nickte. Sie wusste nur zu gut, dass Roger recht hatte. Und es waren nicht nur die Väter, die sich hassten. Der Zwist zwischen ihren Familien war uralt und saß tief.

In diesem Augenblick begannen dicke schwere Regentropfen auf das Wagendach zu trommeln und über der Burgruine zuckte ein greller Blitz durch die Nacht. Den ganzen Tag über waren bereits dunkle, tief hängende Wolken von Südwesten her über Dorset gezogen, aber geregnet hatte es nicht. Nun schien die Natur das Versäumte mit aller Macht nachholen zu wollen. Der Regen wurde stärker und stärker, aufkommender Wind peitschte die Tropfen in dichten Schwaden trommelnd gegen die Frontscheibe. Wieder und wieder zuckten Blitze über den Nachthimmel, denen in immer kürzeren Abständen krachender Donner folgte. Roger zählte, wie er das bei den Pfadfindern gelernt hatte. Drei Sekunden, dann nur noch zwei. Das Gewitter war also noch ein ganzes Stück entfernt, näherte sich aber schnell. Judith, die eine fast panische Angst vor Blitz und Donner hatte, schmiegte sich noch enger an Roger. Sie zitterte vor Angst.

„Vielleicht sollten wir wegfahren. Wenn jetzt ein Blitz in unser Auto einschlägt?“

„Dann wird uns nicht das Geringste passieren“, beruhigte sie Roger lachend. „Ein Auto ist wie ein faradayscher Käfig. Hier drin sind wir selbst dann geschützt, wenn der Blitz wider Erwarten direkt die Karosserie treffen sollte.“

„Hoffentlich weiß der Blitz das auch“, meinte Judith trocken.

Die Minuten vergingen und sie schauten schweigend in die dunkle Nacht hinaus. Roger versuchte Judith aufzuheitern.

„Mir ist da was Seltsames aufgefallen. Etwas, das uns betrifft. Soll ich es dir verraten?“

Judith nickte unmerklich.

„Du kennst doch Shakespeare, Romeo und Julia. Die Namen seiner beiden Helden beginnen wie die unseren: Roger und Judith. Sie waren ein Liebespaar wie wir. Und ihre Familien waren auch verfeindet. Sogar die Familiennamen ähneln sich. Ist das nicht ein wahnsinniger Zufall?“

„Doch. Hoffentlich enden wir nicht wie sie“, meinte Judith nur.

Jedes Mal, wenn ein neuerlicher Blitz die Umgebung für kurze Zeit erhellte, konnten sie sehen, wie Regen und Wind den Sand des Parkplatzes aufwirbeln ließen. Kleine Rinnsale vereinigten sich zu großflächigen Pfützen und es schien, als wäre der Parkplatz bald ein einziger großer See.

„Hast du das gesehen?“, sagte Roger plötzlich und starrte nach vorne gebeugt durch die Regenwand hinter der Frontscheibe.

„Da hinten, in dem weißen Kleinlaster. Ich glaube, da sitzt jemand drin.“

„Nein, habe ich nicht gesehen. Wo, in welcher Richtung?“, fragte Judith und bemühte sich ebenfalls, etwas in der Dunkelheit auszumachen. „Vielleicht werden wir beobachtet? Ich glaube, ich habe Angst, Roger.“

„Quatsch. Mach dir keine Sorgen. Niemand beobachtet uns. Vielleicht nur ein Fahrer, der eine kleine Ruhepause eingelegt hat.“

Wieder zuckten mehrere Blitze kurz nacheinander aus den Wolken.

„Jetzt habe ich es auch gesehen“, flüsterte Judith leise, als könnte sie der Mann in dem anderen Auto hören, „da sitzt tatsächlich einer hinter dem Steuer.“

Der Rest ihres Satzes ging im Donner unter. Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Der Regen hatte etwas nachgelassen, die Tropfen waren feiner geworden und trommelten nicht mehr so laut auf das Wagendach.

„Das will ich mir ansehen“, meinte Roger, startete den Wagen und schaltete die Scheinwerfer ein.

Jetzt erst sahen sie, was der Wolkenbruch angerichtet hatte. Große Teile des Platzes waren überflutet. Nur ein paar Kiesinseln schauten noch aus dem Wasser heraus. Die wenigen Gullys am Rand des Geländes mühten sich redlich die braune schlammige Brühe aufzunehmen, die sich in Seen vor ihnen staute. Langsam rollte der Wagen durch die Pfützen auf den Kleinlaster zu.

„Hey!“, meinte Roger überrascht, „den kenne ich, das ist Mr Plummer, der Antiquitätenhändler aus dem Dorf. Der besucht öfter meine Eltern. Muss ein sehr guter Bridgespieler sein. Jedenfalls ist das der Grund, warum sie ihn immer wieder mal zu sich einladen. Sieht aus, als würde er schlafen.“

Ein paar Meter vor dem weißen Fahrzeug mit der seitlich angebrachten Werbeaufschrift hielt Roger an. Für alle Fälle ließ er den Motor laufen.

„Vielleicht ist ihm schlecht geworden. Ich werde mal nachsehen.“

Er stieg aus und ging durch den wieder stärker werdenden Regen auf das Auto zu. Als er vor der Fahrertür stand, klopfte er an die Scheibe, doch der Mann im Auto rührte sich nicht. Da die Fahrerkabine sehr hoch lag, konnte Roger kaum in das Innere des Fahrzeugs hineinsehen. Alles, was er erkennen konnte, waren das Gesicht und die Schulter des Fahrers, der scheinbar regungslos gegen die regennasse Scheibe gelehnt da saß. Vorsichtig nahm Roger den ziemlich weit oben angebrachten Griff in die Hand und öffnete die Tür. Das hätte er besser nicht tun sollen, denn das Gewicht des Mannes drückte die Tür von innen mit solcher Wucht auf, dass sie Roger fast aus der Hand gerissen wurde. Der Mann wäre herausgefallen, wäre er nicht vom Sicherheitsgurt daran gehindert worden. So hing er mit dem Oberkörper halb aus der Fahrerkabine heraus, der rechte Arm baumelte leblos vor Rogers Brust herum. Als der seinen ersten Schreck überwunden hatte, versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen. Im Oberkörper des Mannes konnte man deutlich eine Verletzung erkennen. Das T-Shirt hatte im Bauchbereich ein kleines Loch und war blutgetränkt. Roger wusste, dass er jetzt ruhig bleiben musste. Der Mann war tot. Mausetot. Das stand außer Frage. Er konnte ihm nicht mehr helfen. Wäre er nicht so neugierig gewesen, der Mann säße noch immer in seinem Wagen und hätte darauf gewartet, dass ihn am nächsten Morgen jemand fände. Roger traf eine Entscheidung. Er drückte den Toten mit der linken Hand vorsichtig zurück ins Fahrzeuginnere und schlug mit der rechten schnell die Tür zu. Geschafft. Mr Plummer saß wieder im Auto. Gerade so, wie es war, bevor Roger die Tür geöffnet hatte. Schnell lief er zum Auto zurück. Judith, die das Ganze durch die regenbedeckte Windschutzscheibe nicht so recht mitbekommen hatte, sah ihn erwartungsvoll an.

„Und, was ist?“

„Es ist Mr Plummer. Und er ist ziemlich tot. Ich denke, er ist erschossen worden. Wäre mir beinahe aus dem Wagen gefallen.“

„Oh Gott, wie schrecklich! Was machen wir jetzt? Wir müssen die Polizei verständigen“, stöhnte Judith auf.

Roger Mortimer wischte sich mit einem Taschentuch den Regen aus dem Gesicht und putzte sich die Hände ab.

„Das ist keine gute Idee, Liebes. Hör zu. Ich bringe dich jetzt zu deinem Wagen. Dann fahren wir beide nach Hause, als wäre nichts geschehen. Niemand weiß, dass wir hier waren. Und kein Wort zu niemandem. Klar? Wenn wir jetzt zur Polizei gehen, werden alle wissen, dass wir zusammen sind. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Und dem armen Mr Plummer können wir damit auch nicht mehr helfen.“

Judith nickte. Roger fuhr sie zu ihrem Polo zurück. Er küsste sie zum Abschied und sagte: „Mach dir keine Sorgen, Liebes. Wir haben nichts mit der Sache zu tun. Spätestens morgen früh wird ihn irgendein Tourist finden. Gönnen wir ihm die ungestörte Nachtruhe.“

2.

Der Antiquitätenhändler Wallace Plummer wurde exakt um 8.21 Uhr von einem älteren Ehepaar aus Cornwall gefunden. Der Mann, ein pensionierter Allgemeinarzt, sah sofort, dass da etwas nicht stimmte. Es war der starre Blick des Toten, der ihm auffiel. Er klopfte vorsichtig an die Scheibe. Der Körper sackte ein wenig in sich zusammen, zeigte aber ansonsten keinerlei Reaktion. Ihm war klar, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Durch das Fenster der Beifahrerseite konnte er erkennen, dass die Kleidung um den Nabel herum blutgetränkt war, was ihn zu dem Schluss veranlasste, es müsse sich hier um ein Verbrechen handeln. Er informierte die Mitarbeiter des National Trust, dem der Parkplatz gehörte und der an der Einfahrt eine Informationsstelle nebst einer bescheidenen Imbissstube betrieb. Nachdem er den Leiter des Büros mithilfe seiner Frau davon überzeugen konnte, dass er sich unmöglich geirrt haben konnte, wurde die Polizei alarmiert. Diese fand sich wenig später in Person von DI Brown und einem Trupp der Spurensicherung von der Metropolitan Police in Bournemouth ein und sperrte den noch leeren hinteren Teil des Parkplatzes großräumig ab.

Der Zufall wollte es, dass sich Chief Inspector Hippolyt Gibbs ganz in der Nähe, genauer gesagt in einem Tagungshotel in Bournemouth, aufhielt. Seiner Einheit war die Ehre zuteilgeworden, mit modernen Mobiltelefonen ausgestattet zu werden. Verdiente Mitarbeiter, gemeint sind in solchen Fällen meist ältere Kollegen, denen man den Umgang mit moderner Technik nicht zutraut, lud man vorsorglich zu einem Seminar ein, um sie mit den segensreichen Errungenschaften der Technik vertraut zu machen. Nicht ohne Grund, denn Gibbs hatte schon verlauten lassen, dass er dieses moderne Teufelszeug nicht anfassen werde. Natürlich wurde das Thema des Seminars diplomatisch unter der Überschrift Verbesserung von Ermittlungsergebnissen durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnik verpackt, aber das konnte Gibbs nicht überzeugen. Seine Ermittlungsergebnisse waren auch ohne Mobiltelefon überdurchschnittlich und schließlich hatten sie in den meisten Fahrzeugen ja Funkgeräte. Er war deshalb heilfroh, als er gegen neun Uhr durch einen Anruf seines Superintendenten aus dem langweiligen Seminar geholt wurde. Der Super bat ihn, sich um eine Sache in Corfe zu kümmern. Man hätte dort einen Toten gefunden und alles würde auf ein Verbrechen hindeuten. Gibbs atmete erleichtert auf. Er ließ sich die notwendigen Informationen geben und versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Er bat darum, ihm seine Assistentin Melanie Poulsen nachzusenden. Gut gelaunt packte er seine Siebensachen zusammen. Als er sich von den Kollegen verabschiedete, konnte er in vielen Augen so etwas wie Neid erkennen. Nur der Seminarleiter zeigte sich etwas verschnupft. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass man lieber einen Mord aufklären wollte, als seinen ungemein spannenden und wichtigen Ausführungen zu folgen.

Als Gibbs den Fundort der Leiche erreichte, war es bereits nach halb zehn Uhr. Er war mit seinem alten klapprigen Privatwagen unterwegs und musste an der Einfahrt zum Parkplatz erst einmal seinen Dienstausweis zeigen, bevor man ihn passieren ließ. Natürlich lag das nicht nur am Fahrzeug. Denn wer Gibbs zum ersten Mal sah, der hätte in ihm nicht unbedingt einen Chief Inspector und noch dazu einen der erfolgreichsten Ermittler von Scotland Yard vermutet.

Gibbs war mittelgroß, untersetzt, ein Mann, der die vierzig überschritten hatte. Das dünne, schüttere Haar, mit dem tief sitzenden seitlichen Scheitel und den mittlerweile unübersehbaren Grautönen, ließ ihn deutlich älter erscheinen, als er war. Auch seine Kleidung trug nicht gerade dazu bei, ihn optisch aufzuwerten. Er trug mit Vorliebe hellbraune Anzüge, das Sakko offen, am liebsten aus grobem Cordsamt, die oft genug an diversen Stellen schon speckig zu werden drohten. Seine Hemden hätten eher zu einem kanadischen Holzfäller gepasst, als zu einem Polizisten. Krawatten hasste er und kam er einmal nicht umhin, eine umbinden zu müssen, dann saß sie mit Absicht so schief und krumm wie nur möglich. Schuhe trug er grundsätzlich ungeputzt und so lange, bis sie völlig ausgetreten, mit löchrigen Sohlen in den Müll wanderten. Das Auffallendste in den Augen seiner Freunde und Kollegen war jedoch seine Vorliebe für rot-weiß gestreifte Ringelsocken, die er sommers wie winters trug und die überaus auffallend unter den zu kurzen Hosen hervorlugten. Gibbs hielt das für sein Markenzeichen und war stolz darauf, dass man ihn im Yard deshalb kurz und knapp nur „Inspector Ringelsocke“ nannte.

Wer Gibbs einen zweiten Blick gönnte, konnte aber auch durchaus positive Seiten an seinem Erscheinungsbild erkennen. Sein offenes freundliches Gesicht machte ihn vielen Menschen auf Anhieb sympathisch. Selbst hartgesottene Ganoven haben sich davon schon oft blenden lassen und mehr erzählt, als ihnen lieb war. Den unheimlich wachen intelligenten Augen schien nichts zu entgehen. Sie konnten aber auch hart und unbeugsam blicken, wenn es Gibbs für angebracht hielt.

Vielleicht hätte sich sein Leben anders entwickelt, wenn er, wie „normale“ Menschen auch, in jungen Jahren die Frau fürs Leben gefunden und eine Familie gegründet hätte. Doch der Polizeidienst hatte von ihm mit Haut und Haaren Besitz ergriffen und welche Frau wünscht sich schon einen Mann, bei dem sie nur die zweite Geige spielt.

Gibbs war sicherlich nicht glücklich über diese Situation, aber er jammerte auch nicht. Schließlich hatte sein Einsiedlerleben auch Vorteile. Am meisten bedauerte er, dass ihm bislang die Freuden der Vaterschaft verwehrt blieben. Wenn manche seiner Kollegen davon erzählten, wie sie mit ihren Kindern das Wochenende oder den Urlaub verbrachten, und wenn er spürte, wie stolz sie auf ihren Nachwuchs waren, dann stiegen schon manchmal traurige Gedanken in ihm auf und er fühlte, wie ihm die Zeit davonlief. Dann stürzte er sich nur umso intensiver in seine Arbeit, um zu vergessen, oder er widmete sich einer der sportlichen Aktivitäten, die seine freie Zeit ausfüllten. In seiner Jugend hatte er ziemlich erfolgreich Fußball gespielt, heute hielt er sich vor allem durch Joggen und Gewichtheben fit. Sein Gang war federnd, sein Körper athletisch und wer ihn genauer betrachtete, konnte an seinem breiten Kreuz und den riesigen Händen erkennen, dass dieser Mann zupacken konnte. Gibbs parkte seinen alten Ford in einer ruhigen Ecke, stieg aus und steuerte auf einen älteren uniformierten Polizisten zu, der ein Funkgerät in der Hand hielt.

„Ich nehme an, Sie sind der leitende Beamte hier? Mein Name ist Gibbs vom Yard.“

Der Uniformierte lachte und streckte Gibbs die Hand hin.

„Ich weiß, wer Sie sind, Sir. London hat Sie bereits angekündigt. Ich bin DI Brown. Sehr bedauerlich, dass uns London wieder mal einen interessanten Fall weggeschnappt hat. Aber so ist das eben. Hätte den Mordfall gut gebrauchen können. Werde nächstes Jahr in den Ruhestand gehen. Eine Beförderung zum Schluss hätte sich wohltuend auf die Pension ausgewirkt. Aber was rede ich da. Sie können ja nichts dafür.“

Gibbs ergriff die Hand und schüttelte sie herzlich.

„Das tut mir leid, Brown. Aber von weggeschnappt kann keine Rede sein. Ich denke, wir werden in dieser Angelegenheit vortrefflich zusammenarbeiten, sofern Sie das möchten, natürlich. Worum geht es denn hier?“

Brown deutete auf den Lieferwagen.

„Heute Nacht wurde in diesem Fahrzeug ein Mann namens Wallace Plummer erschossen. Wie wir aus seinen Papieren sehen konnten, handelt es sich um einen Antiquitätenhändler aus Corfe. Ein Ehepaar aus Cornwall hat ihn heute Morgen gefunden. Aussagen und Adresse habe ich notiert. Wenn Sie mehr wissen wollen, sollten Sie sich mit unserer Polizeiärztin Ms Sykes unterhalten. Das ist die Dame mit den langen roten Haaren dort neben dem Lieferwagen. Sie ist übrigens auch die Chefin der Spurensicherung.“

„Okay, das werde ich tun. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns anschließend noch einmal kurz unterhalten könnten. Wäre das möglich?“

„Kein Problem, ich muss ohnehin noch warten, bis die Leiche freigegeben wird und die Kollegen ihre Arbeit beendet haben.“

Gibbs stieg über das rot-weiße Absperrband mit der Aufschrift „police crime scene – do not cross“ und ging auf die Rothaarige zu, die gerade dabei war, ihren Arztkoffer zu schließen. Im Näherkommen bemerkte er, dass Ms Sykes älter war, als er aus der Entfernung angenommen hatte. Sie trug wie alle ihre Mitarbeiter den unvermeidlichen blau schimmernden Plastikoverall. Darunter konnte man ein beiges Kostüm erahnen. Sie unterhielt sich mit einem ihrer Mitarbeiter. Um das Gespräch nicht zu stören, blieb Gibbs in einigem Abstand stehen und wartete darauf, dass Ms Sykes ansprechbar war. Offensichtlich hielt sie Gibbs jedoch für einen Vertreter der Presse.

„Sehen Sie nicht das Absperrband?“, herrschte sie ihn an. „Sie dürfen hier nicht herein. Wenn Sie Informationen brauchen, wenden Sie sich bitte an DI Brown, den leitenden Beamten dort. Ich bin weder willens noch befugt Ihnen Auskunft zu geben. Und jetzt verlassen Sie bitte den abgesperrten Bereich. Das hier ist ein Tatort.“

Gibbs machte jedoch keinerlei Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten, sondern zog etwas umständlich seinen Ausweis aus der Innentasche seines Sakkos heraus und hielt ihn ihr hin. Ms Sykes wurde seltsamerweise rot bis über beide Ohren, was sie in den Augen von Gibbs besonders hübsch machte und was er ziemlich sympathisch fand. Das war einmal eine Frau, die ihm gefiel.

„Verzeihung, Sir, ich habe Sie fälschlicherweise für einen dieser nervigen Reporter gehalten, die immer und überall auftauchen, wo wir arbeiten müssen. Ich wusste nicht, dass London sich für den Fall interessiert.“

„Das habe ich bis vor zwei Stunden auch noch nicht gewusst. Aber ich kann Sie sehr gut verstehen. Ich mag es auch nicht, wenn diese lästigen Presseschnüffler überall ihre Nasen reinstecken. Sie sind Dr. Sykes?“

„Ja, die bin ich, Angela Sykes. Den Doktor können Sie sich sparen. Was kann ich für Sie tun, Chief?“

Gibbs’ mobiles Telefon, das er in einer Ledertasche am Gürtel trug, schlug an. Er zerrte es umständlich heraus, drückte fast verzweifelt mit seinen klobigen Fingern drauf herum, dann hielt er es an sein Ohr und brüllte in das Gerät.

„Hallo! Hallo!“

Doch er bekam keine Antwort. Er nahm das Gerät, das immer noch summte, vom Ohr, schaute es böse an und drückte nochmals wie wild auf einigen Tasten herum. Das Summen verstummte.

„Wenn Sie angerufen werden, müssen Sie erst die Antenne herausziehen und dann die grüne Taste mit dem Telefon drauf drücken. Ohne Antenne funktioniert es nicht. Ist wohl neu, das Telefon, oder stehen Sie auf Kriegsfuß mit den Segnungen moderner Technik?“

Doktor Sykes schmunzelte schelmisch, wodurch sich zwei entzückende Grübchen auf ihren Wangen bildeten. Gibbs war die Situation peinlich.

„Vermutlich beides. Das Telefon ist neu und ich kann Ihnen versichern, dass ich es für absolut nutzlos halte. Eigentlich sollte ich gerade in Bournemouth in einem Seminar sitzen, in dem einem der richtige Umgang mit diesem Teufelszeug beigebracht wird. Aber der Fall hier hat mich vor dem Schlimmsten gerettet. Ich wurde kurzerhand abgezogen. Gott sei Dank! Das Ding hier werde ich wohl erst einmal wegpacken.“

Gibbs verstaute das mobile Telefon wieder an seinem Gürtel. Dann wandte er sich Dr. Sykes zu.

„Verzeihen Sie bitte die Störung. Wie ich sehe, haben Sie Ihre Untersuchung so gut wie abgeschlossen.“

„Fürs Erste ja“, begann Ms Sykes. „Was man eben vor Ort so erkennen kann. Mehr weiß ich erst, wenn ich ihn auf dem Tisch gehabt habe.“

Gibbs nickte. Ihre angenehme Stimme gefiel ihm und für einen kurzen Moment fragte er sich, ob sie wohl verheiratet war. Er lachte.

„Diesen Satz kenne ich von irgendwoher. Und was könnten Sie mir jetzt schon sagen?“

Ms Sykes fuhr fort: „Der Mann ist erschossen worden. Zwei Schüsse. Todeszeitpunkt vermutlich zwischen neun Uhr und Mitternacht. Eher neun Uhr. Der Schütze muss auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Die erste Kugel ging seitlich durch den Bauch, verletzte die Leber und trat wieder aus, wobei sie die Türverkleidung durchschlug und noch eine kleine Delle in das äußere Blech der Tür drückte. Daran wäre er jedoch nicht gestorben, wenn er rechtzeitig einen Doktor gefunden hätte. Der zweite Schuss ging mitten ins Herz und war sofort tödlich.“

„Woher wollen Sie wissen, welches der erste und welches der zweite Schuss war?“

Ms Sykes sah Gibbs erstaunt an. Dabei fiel Gibbs auf, dass ihre smaragdgrünen Augen ein ganz klein wenig schielten. Gerade so viel, dass man es bemerken konnte. Er fand es hinreißend.

„Ganz einfach. Aus den Einschusswinkeln kann man das deutlich erkennen. Er hat nach dem ersten Schuss noch eine Art Abwehrbewegung gemacht. Wäre der zweite Schuss der erste gewesen, hätte er diese Bewegung nicht mehr zustande gebracht. Über Waffe und Kaliber kann ich noch nichts sagen. Die Tatwaffe fehlt. Der Täter hat entweder die Hülsen mitgenommen oder es war ein Revolver. Die eine Kugel steckt noch im Körper, die andere muss irgendwo in der Tür liegen, die holen wir später heraus. Ich tippe auf Kaliber 7,65, vielleicht eine Beretta. Für neun Millimeter erscheint mir die Austrittsverletzung zu geringfügig.“

Gibbs dachte einen Moment nach.

„Der Schütze scheint also während der Tat im Fahrzeug gewesen zu sein, was darauf hindeutet, dass Mr Plummer ihn kannte. Oder würden Sie das anders sehen?“

„Genau so muss es gewesen sein. Hätte der Schütze durch die offene Beifahrertür geschossen, wäre der Auftreffwinkel des Geschosses ein anderer. Ja, man darf davon ausgehen, dass der Mörder auf dem Beifahrersitz gesessen hat.“

„Vielen Dank, Ms Sykes. Wann und wo kann ich Sie aufsuchen, um Ihre endgültige Einschätzung zu erfahren und Ihren Bericht zu erhalten?“

Die Ärztin, die inzwischen ihren Schutzanzug ausgezogen hatte, holte eine Visitenkarte aus der Tasche ihrer Kostümjacke und reichte sie Gibbs.

„Besuchen Sie mich am besten morgen. Aber bitte nicht vor zehn Uhr. Bis dahin weiß ich mehr. Wegen der anderen Spuren am Tatort wenden Sie sich am besten an Max. Max Fuller, das ist der ältere Herr dort mit dem Bärtchen. Die Spusitruppe ist übrigens mir unterstellt. Ich kümmere mich um das Medizinische, Max und seine Leute um das Umfeld. Wie gesagt, wenn Sie noch etwas brauchen, rufen Sie mich einfach an. Und nicht vergessen: Immer brav die Antenne herausziehen.“

Die Pathologin griff nach ihrem Koffer, schenkte ihm zum Abschied ein herzerwärmendes Lächeln und stakte elegant durch den aufgeweichten Schotter Richtung DI Brown davon. Gibbs schaute ihr lange nach.

Max Fuller entpuppte sich als ebenso hilfsbereiter wie lustiger Zeitgenosse.

„Sehen Sie, Chief Inspector“, begann er, „in diesem Fall gibt es einiges, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Aber der Reihe nach. Der Ermordete heißt Wallace Plummer und ist ein Antiquitätenhändler aus Corfe. Ob er der Vater ist oder der Sohn, kann ich Ihnen nicht sagen.“

Gibbs sah ihn fragend an.

„Ich meine die Aufschrift auf dem Lieferwagen. Da heißt es: Antiquitäten aller Art, Plummer und Sohn. Ich tippe allerdings auf Sohn, denn es heißt, gegründet 1950. Da war der Ermordete sicher noch ein Kind. Der Mann ist erschossen worden. Zwei Schüsse. Der Schütze muss auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Aber das Fahrzeug ist alt und der Sitz so verdreckt, dass wir dort wohl kaum irgendetwas Beweiskräftiges sicherstellen werden. War übrigens kein Raubmord. Jedenfalls sind Geldbörse und Brieftasche vorhanden.“

„Irgendwelche Spuren am Fahrzeug?“

„Fingerabdrücke an den Türen. Wir haben sie sichergestellt. Jedenfalls wurden sie nicht abgewischt. Im Ladekoffer des Fahrzeugs fanden wir vier altmodische Stühle. In der Fahrerkabine nur die üblichen Sachen, die in solchen Autos an der Tagesordnung sind. Stadtpläne, ein paar Tankquittungen. Ein Block mit Lieferscheinen. Ich lasse das Fahrzeug sicherstellen, dann werden wir in die Feinanalyse gehen. Interessant auch, dass Fahrer- und Beifahrertür abgesperrt waren. Die Hecktür dagegen war offen. Glück für uns, so konnten wir von dort aus ins Fahrzeug gelangen. Die Fahrzeugschlüssel fehlen übrigens und auch sonst wurden keine Schlüssel gefunden. Der Täter muss sie mitgenommen haben.“

Gibbs seufzte: „Das bedeutet, dieser Auftrag wird vermutlich nicht der einzige für Sie in diesem Fall bleiben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Warum sollte der Täter die Schlüssel mitnehmen, wenn er sie nicht braucht? Ich könnte mir vorstellen, dass er sie eingesteckt hat, weil er nach etwas gesucht hat, das sich nicht im Fahrzeug befand. Jetzt wird er seine Suche auf die Orte ausdehnen, die er mithilfe der Schlüssel erreichen kann. Es ist anzunehmen, dass das Opfer ein Ladengeschäft betreibt, auch die Wohnung könnte sich für seine Suche lohnen. Vermutlich hat er das gleich im Anschluss an den Mord getan.“

„Damit könnten Sie recht haben. Sagen Sie bitte Dr. Sykes oder DI Brown Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen. Ohne ihr Placet kann ich nicht tätig werden.“

Max Fuller zog seine Gummihandschuhe aus.

„Da wären noch zwei Sachen, die mir zu denken geben. Laut Doktor Sykes trat der Tod zwischen neun Uhr und halb zwölf Uhr ein. Das würde zum Wettergeschehen passen. Denn gegen Mitternacht gab es hier ein ziemliches Unwetter mit Blitz, Donner und starkem Regen, das volle Programm. Den genauen Zeitpunkt des Unwetters werde ich noch prüfen. Wie Sie sehen können, ist der Boden unter dem Fahrzeug relativ trocken. Der Wagen wurde also vor Beginn des Unwetters geparkt. Und der Mörder muss schon im Fahrzeug gewesen sein oder eingestiegen sein, als es noch nicht geregnet hat. Denn sonst wäre der Fahrzeuginnenraum auf der Beifahrerseite von dem lehmigen Boden hier verschmutzt. Ist er aber nicht. Jedenfalls gibt es keine Fußspuren, wie sie entstanden wären, wenn es draußen nass gewesen wäre. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Täter den Mord vor Beginn des Unwetters durchführte und das Auto davor auch wieder verlassen hat. Letzteres ergibt sich daraus, dass wir auf der Beifahrerseite keine tiefen Abdrücke auf dem Boden vor der Tür gefunden haben, wie dies zu erwarten gewesen wäre, wenn der Täter während des Regens ausgestiegen wäre. Ich werde den Wetterdienst anrufen. Damit können wir die Tatzeit deutlich eingrenzen. Doch jetzt bitte ich Sie, mir zu folgen.“

Fuller ging zur Vorderfront des Autos. Gibbs stapfte hinter ihm durch den noch immer aufgeweichten Boden. Vor der Kühlerhaube drehte sich Fuller um und bat Gibbs, das Gleiche zu tun.

„Sehen Sie hier. Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie eine Fahrzeugspur, die genau auf das Auto zuführt. Sehen Sie die zwei Linien?ׅ“

Gibbs nickte.

„Diese Spuren hätte es nicht gegeben, wenn der Boden trocken gewesen wäre. Die Reifen sind deutlich in den Boden eingedrungen. Kurz vor dem Lieferwagen stoppte das Fahrzeug, stand hier eine Weile, was man an den etwas tieferen Eindrücken sehen kann. Dann fuhr es rückwärts in einem Halbkreis zurück, mit anderen Worten, es wendete. Von da an verliert sich die Spur. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass während des Regens ein Fahrzeug mit Licht – ohne Licht hätte er keine zwei Meter weit gesehen – aus dem vorderen Teil des Parkplatzes heranfuhr, einige Zeit wartete, wendete und wieder wegfuhr. Der oder die Insassen dieses Fahrzeugs müssen den Toten gesehen haben, zumindest müssen sie gesehen haben, dass dort jemand im Wagen saß.“

„Ist es möglich, etwas über das Fahrzeug zu sagen?“

„Schwer. Von der Reifenbreite her dürfte es sich eher um einen größeren Pkw handeln. Ein Geländewagen vielleicht. Oder ein Van. Aber um ein Reifenprofil festzustellen oder die Fahrzeugmarke zu eruieren, dafür sind die Anhaltspunkte zu wenig aussagekräftig. Allenfalls könnte man über die Spurweite etwas herausfinden. Ich will das gerne versuchen.“

„Da haben Sie ja schon eine ganze Menge ermittelt“, bemerkte Gibbs anerkennend.

„Das Beste kommt noch. Oder sagen wir lieber, das Seltsamste.“

Gibbs war neugierig geworden.

„Und das wäre?“

„Sehen Sie, wenn es längere Zeit nicht geregnet hat, ist die Luft angefüllt mit Milliarden von Staubpartikeln. Der Regen wäscht sie aus der Luft heraus. Deshalb sind die Regentropfen bei einem solchen Schauer anfangs häufig dicker. Wenn diese Tropfen dann auf der Karosserie oder auf anderen Flächen antrocknen, bevor sie von dem späteren sauberen Regen wieder weggewaschen werden, hinterlassen sie kleine staubige Ränder. Solche Ränder haben wir auf dem Kopf, der Brille und auf der Kleidung am Oberkörper des Opfers gefunden. Ich habe keine Ahnung, wie sie dort hingekommen sein könnten. Denn zu Beginn des Unwetters weilte Plummer bereits nicht mehr unter den Lebenden.“

„War das Seitenfenster geschlossen?“

„Ja, definitiv. Wäre es heruntergelassen gewesen, hätte der Schuss, der durch die Türverkleidung ging, das Fenster beschädigt. Da es aber keinerlei Beschädigung aufweist, die Kugel jedoch eine kleine Delle ins Blech geschlagen hat, kann es nicht heruntergelassen gewesen sein.“

„Das leuchtet ein“, gab Gibbs zu. „Ich werde darüber nachdenken.“

Wieder gab sein Mobiltelefon Laut. Wieder zerrte er es umständlich aus dem viel zu engen Lederhalfter an seinem Gürtel. Diesmal zog er vorschriftsmäßig die Antenne heraus und drückte den grünen Knopf.

„Hallo! Hallo!“, brüllte er.

„Schreien Sie doch nicht so. Das ist ein Telefon“, brüllte Melanie Poulsen, seine Assistentin, vom anderen Ende der Leitung zurück.

„Meine Assistentin“, sagte Gibbs zu Fuller gewandt.

„Man sagte mir, Sie würden das Seminar schwänzen und lieber einen Mord aufklären. Ich soll mich bei Ihnen melden.“

„Das ist richtig. Verspricht eine interessante Sache zu werden. Ich werde jetzt nach Corfe fahren, und zwar in die West Street. Dort soll das Opfer einen Laden für Antiquitäten unterhalten. Wann können wir uns da treffen?“

„Bin schon unterwegs. Eine Stunde vielleicht noch, wenn ich von größeren Staus verschont bleibe.“

„Gut, dann kommen Sie gleich in die West Street. Es handelt sich um ein Geschäft, das einem Mr Plummer gehört. Ich erwarte Sie dort. Gute Fahrt.“

Gibbs schaute etwas hilflos sein Telefon an, ohne zu wissen, welche Taste er drücken sollte. Er entschied sich für die rote und schob die Antenne wieder in das Gerät hinein.

Er schüttelte den Kopf.

Fuller hatte amüsiert zugehört und bat Gibbs, ob er sich das Gerät einmal ansehen dürfte. Gibbs reichte es ihm.

„Da sieht man mal wieder! Scotland Yard muss viel Geld haben. Wir bekommen so tolle Dinger nicht. Nur die Chefs haben eins. Übrigens, ich hoffe, Sie haben Ihr Ladegerät dabei. Der Akku ist schon etwas schwach auf der Brust.“

„Ladegerät?“ Gibbs stöhnte auf. „Sie meinen das kleine schwarze Kästchen, das man in die Steckdose steckt? Toll, das steht zu Hause auf meinem Schreibtisch.“

Fuller lachte laut auf. „Dann haben Sie es ja bald geschafft. Dieses Ding hält wohl keine Stunde mehr durch. Na ja, vielleicht hat Ihre Assistentin auch so ein schönes Telefon. Sie hat ihr Ladegerät bestimmt dabei und kann Ihnen aushelfen.“

Gibbs bedankte sich bei Max Fuller für die tolle Arbeit und die Informationen, die er erhalten hatte.

„Ich nehme an, Sie werden Ihren Bericht an Dr. Sykes geben, wenn er fertig ist. Ich werde mich diesbezüglich mit ihr in Verbindung setzen.“

„Das hatte ich vor und falls Sie mich heute noch brauchen, ich stehe gern zu Ihrer Verfügung. So eine spannende Sache haben wir in unserem beschaulichen Bournemouth nicht alle Tage. Auf Wiedersehen, Mr Gibbs.“

Gibbs ging zurück zu seinem Wagen und hielt nach DI Brown Ausschau. Er fand ihn an der Einfahrt zum Parkplatz.

„Mr Brown, ich habe von Dr. Sykes und Mr Fuller eine Menge erfahren, unter anderem auch, dass der Täter die Schlüssel des Ermordeten an sich genommen hat. Das lässt mich vermuten, dass er bei dem Opfer etwas gesucht hat, das er nicht finden konnte. Er wird also seine Suche auf den Laden oder die Wohnung von Mr Plummer ausdehnen. Könnte sein, dass ich Sie heute noch einmal um Amtshilfe ersuchen muss. Ich meine, wegen der Spurensicherung. Ms Sykes hat es mir quasi angeboten. Ich nehme an, dazu brauche ich Ihr Okay. Selbstverständlich können Sie gerne dazustoßen, falls Sie an dem Fall dran bleiben wollen. Ich habe nichts dagegen.“

„Danke Mr Gibbs. Bitte verfügen Sie über Dr. Sykes’ Truppe ganz nach Belieben. Ich werde Ihr Angebot gerne annehmen und dazukommen, falls mich mein Chef freigibt.“

Gibbs war froh, dass sich der Kollege so kooperativ zeigte.

„Da wäre noch was. Wir haben keine Tatwaffe gefunden. Vielleicht hat sich der Täter ihrer gleich nach der Tat entledigt. Könnten Sie ein paar Mann abstellen, die das Unterholz rund um den Parkplatz absuchen? Das wäre sehr hilfreich. Ansonsten werde ich morgen mal bei Ihnen vorbeischauen, wenn die Berichte von der Gerichtsmedizin und von der Spurensicherung vorliegen. Außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die Formalitäten der offiziellen Leichenschau übernehmen könnten. Geht das?“

„Das wird sich machen lassen, Chief Inspector. Ich warte hier nur noch auf den Leichenwagen und den Transporter, der den Lieferwagen abholt, dann werde ich nach Bournemouth zurückkehren. Auf Wiedersehen.“

3.

Gibbs fuhr in gemächlichem Tempo die zwei Meilen nach Corfe. Die Straße führte zwischen einer Eisenbahnlinie und dem Burghügel hindurch nach Osten. Der nächtliche Regen hatte die Atmosphäre gereinigt. Durch das offene Fenster strömte milde Morgenluft in das Fahrzeug und brachte den angenehmen Duft frisch gewaschener Landschaft mit. Die Sonne wurde immer wieder für kurze Augenblicke von federleicht dahinziehenden Wolken verdeckt und malte ein irritierendes Schattenmuster auf die Straße. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Gibbs wollte sich mit dem neuen Fall befassen, aber seine Gedanken glitten immer wieder ab und landeten wie scheinbar zufällig bei Dr. Angela Sykes. Diese Frau hatte ihn in einer Weise fasziniert, die er sich selbst nicht erklären konnte. Irgendwie wurde ihm bei dem Gedanken an sie so wohl ums Herz wie lange nicht. Mit einem Lächeln dachte er daran, dass er jetzt eigentlich im Nebenzimmer eines Hotels sitzen müsste, wo ihm langweilige Menschen, die vermutlich noch nie einen Verbrecher aus der Nähe gesehen hatten, seinen Job erklären wollten. Als könne man mit mobiler Kommunikationstechnik die kriminalistische Arbeit verbessern, wenn man nur die richtigen Knöpfe drücken würde.

Als er Corfe erreichte, fuhr Gibbs besonders langsam und hielt Ausschau nach Plummers Laden. Ein solches Geschäft müsste – so sagte er sich – im Ortszentrum liegen und dürfte in einer so kleinen Ortschaft deshalb nicht schwer zu finden sein. Dennoch fuhr er in der West Street dreimal daran vorbei, weil er etwas völlig anderes erwartet hatte. Das Antiquitätengeschäft von Wallace Plummer war bei Gott kein Highlight. Es lag in einem provisorisch wirkenden, etwas zurück versetzten Flachbau neben einer kleinen schmucken Pension mit einem einladend aussehenden Café, das sich Town Hall Tea Shop nannte. Das Geschäft, das von der Pension nur durch eine geteerte Einfahrt getrennt war, versteckte sich hinter einer Reihe von Bäumen und einem ziemlich verwahrlosten Vorgarten. Nur ein einfaches Emailleschild über dem Eingang, auf dem in verwaschener, kaum noch entzifferbarer Schrift Plummer & Sohn Antiquitäten und Souvenirs zu lesen stand, deutete darauf hin, dass hier jemand etwas verkaufen wollte. Gibbs stellte sein Auto auf dem Parkplatz für Pensionsgäste ab und ging zur Ladentür. Mit einem Kugelschreiber drückte er die Klinke vorsichtig herunter. Die Tür war abgeschlossen. Er presste seine Nase gegen die Glasfüllung der Tür und schirmte das seitlich einfallende Licht mit den Händen ab. Im Halbdunkel des Geschäfts konnte er einige Ausstellungsstücke erkennen. Stühle, Kommoden und Tische in mehreren Größen. An den Wänden hingen ein paar kostbar aussehende alte Gemälde. Alles sah völlig normal aus.

„Wen suchen Sie denn? Kann ich behilflich sein?“

Gibbs schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam, und bemerkte in einiger Entfernung eine freundlich winkende ältere Dame, die ihn etwas misstrauisch beäugte. Sie war kaum größer als einen Meter fünfzig, dafür aber sehr rundlich. Ihr gutmütiges Gesicht wurde von grauen, fast weißen Locken umrahmt. Mit ihrem schwarzen Rock und der weißen Bluse sah sie aus wie eine liebenswerte Gouvernante aus einem Rosamunde-Pilcher-Roman. Gibbs winkte freundlich zurück und ging ihr entgegen.

„An der Tür steht, der Laden macht um zehn Uhr auf, jetzt ist es schon fast Mittag.“

„Ja, wir wundern uns auch schon. Mr Plummer ist sonst immer die Pünktlichkeit in Person. Aber bis jetzt ist er noch nicht aufgetaucht. Ich habe sogar schon bei ihm zu Hause angerufen, aber niemand hat abgenommen. Sind Sie auf der Suche nach Mr Plummer?“

Gibbs zog seinen Dienstausweis heraus.

„Nein, Mr Plummer suche ich nicht, den haben wir schon gefunden. Aber vielleicht einen Angestellten oder jemanden, der sich um den Laden kümmert. Ich bin Chief Inspector Gibbs von Scotland Yard. Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?“

Die Lady erschrak sichtlich.

„Ich bin Barbara Mitchell. Mir gehört die Pension hier und Mr Plummer ist sozusagen mein Nachbar und obendrein ein guter Freund. Scotland Yard, sagen Sie? Was hat das zu bedeuten? Und was meinen Sie damit, dass Sie ihn schon gefunden haben?“

Gibbs ließ die Frage unbeantwortet.

„Sie sagten vorhin, ‚Wir wundern uns auch schon‘. Verraten Sie mir, wen Sie mit ‚Wir‘ meinten?“

„Damit meine ich Mr Fisher und mich. Ben Fisher ist der einzige Mitarbeiter von Mr Plummer und er arbeitet regelmäßig für ihn. Deshalb ist er jetzt auch hier. Er sitzt drüben bei mir im Café und wartet auf seinen Chef.“

Gibbs warf einen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung des Cafés.

„Sagen Sie, Ms Mitchell, gibt es in Ihrem Café etwas, das so aussieht und schmeckt wie ein Frühstück? Ich habe einen Mordshunger und heute noch nichts zwischen die Zähne gekriegt. Vielleicht ist es besser, wir gehen erst mal ins Haus.“

Gibbs wartete die Antwort von Ms Mitchell nicht ab, sondern schritt eilig auf das Café zu, dessen Besitzerin hinter ihm her tippelte, so schnell sie nur konnte.