Leichenwasser - Christina Kreuzer - E-Book

Leichenwasser E-Book

Christina Kreuzer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Im Starnberger See schwimmt die Leiche von Walter Rosenberg, dem Vorstandsvorsitzenden eines bekannten Porzellanherstellers. Dem Toten fehlt das Herz. Hauptkommissar Robert Dippold, der von allen Kollegen nur "Boschi" genannt wird, ermittelt im zweiten Starnberg Krimi, mit seiner taffen, jungen Kollegin Juliane von Jettenbach, zu der alle nur "Jette" sagen, in alle möglichen Richtungen. Als Verstärkung wird ihnen der junge Kollege Frank Maisetschläger zugewiesen, der frisch von der Polizeischule kommt. Dann wird eine schwer verletzte Frau in Tutzing aufgefunden. Ihr fehlt eine Niere. Treibt ein irrer Serienkiller sein Unwesen oder hat die Organ-Mafia ihre Hände im Spiel? Die Kommissare tappen lange Zeit im Dunkeln. Erst als die Feuerwehr eine verkohlte Leiche in einem brennenden Wohnmobil entdeckt, kommen sie dem Mörder auf die Spur.

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Seitenzahl: 274

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Mein Buch

Im Starnberger See schwimmt die Leiche von Walter Rosenberg, dem Vorstandsvorsitzenden eines bekannten Porzellanherstellers. Dem Toten fehlt das Herz. Hauptkommissar Robert Dippold, der von allen Kollegen nur „Boschi“ genannt wird, ermittelt im zweiten Starnberg Krimi, mit seiner taffen, jungen Kollegin Juliane von Jettenbach, zu der alle nur „Jette“ sagen, in alle möglichen Richtungen. Als Verstärkung wird ihnen der junge Kollege Frank Maisetschläger zugewiesen, der frisch von der Polizeischule kommt. Dann wird eine schwer verletzte Frau in Tutzing aufgefunden. Ihr fehlt eine Niere. Treibt ein irrer Serienkiller sein Unwesen oder hat die Organ-Mafia ihre Hände im Spiel? Die Kommissare tappen lange Zeit im Dunkeln. Erst als die Feuerwehr eine verkohlte Leiche in einem brennenden Wohnmobil entdeckt, kommen sie dem Mörder auf die Spur.

Die Autorin

Christina Kreuzer

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten und lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Titelbild

„Starnberger See“ Aquarell von Gisela Preuß

Die Personen:

Hauptkommissar - Robert Dippold - „Boschi“

Kommissarin - Juliane von Jettenbach - „Jette“

Kommissar - Frank Maisetschläger - „Meise“

Revierleiter - Josef Brandl - „Sepp“

Polizeiobermeister - Sascha Meier

Polizeiobermeister - Christian Müller

Oberstaatsanwalt - Franz Höglmeier

Leiter der Spurensicherung - Dr. Wolfgang Reiter

Polizeipsychologe - Dr. Wilfried Brenner

Chefarzt Hömeda GmbH - Professor Ignaz Höpflinger

Ehefrau - Dr. Alina Höpflinger

Adoptivsohn - Max Limmer

Chefarzt KKH Haar - Professor Heinrich Schlüter

Sägewerksbesitzer - Peter Liebherr

Vorsitzender der Rosenberg AG - Walter Rosenberg

Ehefrau - Inge Rosenberg

Putzfrau - Rosa Fuchsgruber

Rumäne - Adrian Radu

Rumäne - Marius Bogdan

Rumänin - Liana Popescu

Rumänin - Alexandra Faimosu

Deutschrusse - Maksin Wolkow

Prolog

D

Kapitel 1

I

n der ersten Juniwoche wurde Hauptkommissar Robert Dippold nach einer Reha und seinen verdienten Urlaub in Südtirol auf dem Polizeikommissariat in Starnberg herzlich begrüßt. „Hallo Boschi! Schön dass du wieder bei uns bist“, freute sich Dienststellenleiter Josef Brandl. „Wie geht es deiner Hand?“

„Hallo Sepp! Mir geht es prima! Da, schau her! Der kleine Finger fehlt halt, aber es stört mich nicht - außer bei Föhn, da vermiss ich ihn! Hauptsache ich kann die Hand und die anderen Finger schmerzfrei bewegen.“ Boschi fiel auf die Knie, streifte seine rot-weiß geringelte Häkelmütze vom Kopf und reichte seinem Revierleiter wie bei einem Begrüßungszeremoniell im 19. Jahrhundert, galant seine linke Hand. „Erlaub er sich aber ja nicht meine Hand zu küssen. Haha!“

Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und Kommissarin Juliane von Jettenbach kam beladen mit einer riesigen Einkaufstüte zur Arbeit. „Josef, ich… Hallo, Boschi! Boschi! Ich hab dich so vermisst. Schön, dass du wieder im Dienst bist und dass es dir so gut geht. Du brauchst aber nicht gleich vor mir auf die Knie fallen. Das müsste eigentlich ich machen, um mich bei dir zu bedanken. Komm steh auf und lass dich drücken!“ Juliane von Jettenbach erinnerte sich an die todesmutige Rettungsaktion von Boschi, als er sie aus den Klauen eines verrückten Serienkillers befreit hatte.

„Jette!“ Hauptkommissar Dippold sprang sofort auf und drückte seine junge Kollegin herzlich. „Schau! Alles gut mit meiner Hand!“ Dabei spreizte er die angenähten Finger und formte abwechselnd eine Faust. „Wie neu! Den Mittel- und den Ringfinger hams mer wieder richtig angepappt. Die beiden Finger sind genauso beweglich wie vorher und den kleinen Finger braucht mer net unbedingt.“

„Ach geh zu!“ Jette benutzte Boschis erstaunten fränkischen Ausruf.

„Hey, willst du mich nachmachen? Nur ich darf so „babbln“, haha!“ Boschi erhob warnend seinen Zeigefinger und freute sich darüber, dass ihn seine Kollegin so täuschend echt nachäffte.

Revierleiter Josef Brandl stand grinsend daneben, zog seine Hose über den Bauch und richtete korrekt seine Dienstkleidung. Seit Jahren versuchte er schon abzunehmen, doch mit Innendienst und Schreibtischarbeit war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Er hatte in Boschis Abwesenheit die Dienstpläne koordiniert und der noch unerfahrenen Kommissarin Juliane von Jettenbach bei der Führung des Kommissariats geholfen. „Haha! Bevor ich auch noch zum Franken werde, machen wir lieber Brotzeit. Ich hab frischen Kaffee gekocht! Kommt, wir haben uns viel zu erzählen!“

Während sich alle eine Haferltasse Kaffee einschenkten, berichteten der Revierleiter und Jette von den Ereignissen auf der Polizeiinspektion Starnberg. Seit der Mordserie des Pilsensee Killers Angus Streitberger, der den Landkreis in Angst und Schrecken versetzt, fünf Menschen grausam geköpft, Jette entführt und Hauptkommissar Dippold schwer verletzt hatte, war endlich wieder Ruhe und Normalität auf der Dienststelle eingekehrt.

„Die Leiche vom Streitberger ist in meiner Abwesenheit nicht aufgetaucht?“, fragte Boschi während er sich eine filterlose Zigarette anzündete.

„Nein, bis heute nicht! Das Ufer des Kienbachs, die Mündung in den Ammersee und die Bucht von Herrsching haben wir dreimal durchkämmt. Sogar mit einem Hubschrauber mit Wärmebildkamera wurde alles abgesucht. Nichts! - Keine Spur vom Killer“, beantwortete Sepp Brandl Boschis Frage und kaute dabei auf einer Butterbrezn herum. „Mit den Schussverletzungen, die er hatte und dann der Sturz vom Wasserfall … das hat der alte Mann sicher nicht überlebt. Den gibt der See nimmer her!“

Boschis fehlender Finger juckte. Eigentlich war das kein gutes Zeichen. „Habt Ihr die Personalien und die Identität vom Streitberger noch nachverfolgt? Wo kam der eigentlich her?“

„Natürlich! Der Personalausweis, den er damals im Altenheim abgegeben hat, war gefälscht. Der Alte war auch nirgendwo gemeldet, weder beim Finanzamt, noch bei der Kranken- und Rentenversicherung. Der hatte nicht mal ein Bankkonto! Die Rechnungen im Seniorenheim hat er immer in bar bezahlt. Wir haben rein gar nichts über ihn herausgefunden. Er hatte keine Freunde, kein Auto und ging nirgends zur Schule. Seine beiden Helferinnen, die inhaftierten Zimmermann Schwestern konnten auch keine Angaben zu seiner Identität machen. Für die Behörden existierte Angus Streitberger nicht. Ein Geist! Haha!“ Revierleiter Sepp Brandl lachte, obwohl es ihm eigentlich nicht danach zumute war.

„Und was ist mit der Tatwaffe? Habt ihr diese Sichel gefunden?“

„Ebenso Fehlanzeige! Das Ufer des Kienbachs haben wir vom Wasserfall bis in den Ammersee mehrmals abgesucht. Nichts! Weder Tatwaffe noch Täter! Die Morde haben jedenfalls aufgehört“, fügte Jette dazu. „Mir wär es lieber gewesen, wir hätten die Leiche gefunden. Dann hätte ich endlich hundertprozentige Sicherheit, meine Alpträume wären weniger und ich würde besser schlafen. Oberstaatsanwalt Franz Höglmeier hat die Akte Pilsensee jedenfalls letzte Woche geschlossen.“

„Ich glaube auch, dass der Streitberger nicht mehr auftaucht. Der Ammersee ist bekannt dafür, Leichen zu behalten. Sepp, hatten wir nicht erst letztes Jahr einen Ertrunkenen, der seit 1994 nach einem Segelunfall vermisst wurde?“ Boschi wollte seine Kollegin mit dem Beispiel beruhigen. Ihm ging es nicht viel anders als ihr. Er hatte auch Alpträume und in ihm brodelte die Ungewissheit! Ihm wäre wesentlich wohler, wenn er endlich Klarheit über den Verbleib seines schlimmsten Feindes hätte. Der Verrückte hatte Schuld an fünf gräßlichen Morden und an seinem fehlenden kleinen Finger.

Sepp Brandl stand auf und ging in Richtung Aktenschrank. „Soll ich euch die Berichte raussuchen? Ja, das ist halt so, viele Leichen lässt der See erst Jahre später frei. Das liegt an den starken Strömungen im See und an den enormen Mengen Treibholz auf dem Grund des Sees, an dem sich die Toten verhaken.“

„Nein! Halt Josef! Lass bitte die Fotos der Wasserleichen, wo sie sind. Wegen mir, soll der Streitberger da unten, schön langsam von den Fischen angeknabbert werden. Boschi, schau, was ich mir Schönes gekauft habe!“, lenkte Jette vom Thema ab und packte ihre Einkaufstüte aus. „Sind die nicht geil?“ Jette stellte ein paar rote High Heels mit atemberaubenden Absatz auf den Tisch.

„Haha! Eher gefährlich! Ich muss jetzt aber! Die Arbeit macht sich nicht alleine!“ Sepp Brandl packte schnell seine Brezenreste ein und schaute Boschi auffordernd an.

Boschi hob einen der Schuhe in die Höhe und grinste. „Das du damit laufen kannst?“ Boschi reagierte endlich auf den Wink seines Revierleiters. „Warte Sepp, ich komm mit. Sorry, Jette! Die Arbeit ruft!“ Fluchtartig verließen beide den Raum bevor Jette weitere Erungenschaften ihrer Shopping-Tour auspacken konnte. Ihr Modetick und ihre Einkaufserlebnisse waren auf der Dienststelle berüchtigt und dauerten unendlich.

*

Walter Rosenberg, der Erbe, Besitzer, Direktor und Vorstandsvorsitzende der Rosenberg AG, eine der größten Porzellanfabriken in Deutschland, wusste nicht mehr weiter. Vor vier Wochen hatte er Konkurs anmelden müssen und 2500 Mitarbeiter standen von heute auf morgen auf der Straße. Die hohen Produktionskosten in Deutschland und das Billigporzellan aus der Tschechei und China hatten sein Lebenswerk und das seiner Vorfahren ruiniert. Bis zuletzt hatte er all seine Ersparnisse in die angeschlagene Firma gepumpt. Jetzt war er finanziell am Ende. Eigentlich blieb ihm nur die Kugel aus einem Jagdgewehr seiner umfangreichen Waffensammlung. Schon seit Wochen hurte seine Frau mit jungen Männern herum, die ihre Söhne sein könnten. Sie war schon vor Wochen ausgezogen. Kinder hatte sie keine. Er fühlte sich als einsamer, gebrochener Mann, den die Verzweiflung das Herz zerriss. Aus seiner Villa am Starnberger See sollte er bis Ende des Monats ausziehen und sein bulliger Geländewagen stand ebenso in der Konkursmasse, wie seine schicke Segeljacht. Zweimal schrieb er einen Abschiedsbrief, um diesen anschließend in den Papierkorb zu werfen. „Ding, Dong!“ Es klingelte an der Haustür. Erst nach dem fünften Mal Läuten mühte sich Walter Rosenberg auf und schlürfte langsam zur Eingangstür des riesigen Anwesens. „Wahrscheinlich braucht der Insolvenzverwalter noch eine wichtige Unterschrift“, dachte er sich. Anderer Besuch fiel ihm in seiner derzeitigen Lage nicht ein. „Ich komm ja schon!“ Das Geräusch der Klingel zerrte an seinen Nerven. Unbedacht öffnete er die massive Haustür. Vor ihm stand ein fremder, fast zwei Meter großer, schlanker Mann mit kurz geschorenen Haaren. „Ich kaufe nichts!“ Walter wollte die Tür wieder schließen, doch der Fremde stellte schnell seinen Fuß zwischen Tür und Angel. „Was fällt Ihnen ein?“

„Herr Rosenberg, wir zusammen reden!“, bestimmte der Unbekannte in gebrochenem Deutsch, schob den überraschten Hausherren einfach beiseite und ging zielstrebig in Richtung Wohnzimmer. „Wo ist Geld, du Fettsack?“, fauchte ihn der Mann an.

Walter Rosenberg lief dem Eindringling hinterher. „Halt! Hallo, was für Geld? Wer sind Sie überhaupt? Was erlauben Sie sich?“ Ehe sich Walter Rosenberg versah schlug ihn der Fremde mit der Faust ins Gesicht.

„Du Schulden - 20 000 Euro“, forderte der Mann.

„20 000 Euro?“, stammelte Walter Rosenberg ängstlich und wischte sich warmes Blut aus dem Mundwinkel. „Ich bin pleite, haha!“ Walter drehte provozierend seine leeren Hosentaschen um.

Sein Gegenüber packte blitzschnell zu, griff mit seiner rechten Hand den Hals des übergewichtigen Industriellen und hielt den zappelnden, röchelnden Mann mit ausgestrecktem Arm in die Luft. „20 000 Euro! Wo ist Geld?“

„Ich … ich hab … kein Geld. Hilfe, ich ersticke! Lassen Sie … mich los. Bitte!“ Nur stoßweise kamen die Worte aus dem keuchenden, weit aufgerissenen Mund von Walter Rosenberg. Kalte Schweißtropfen spiegelten sich auf seiner faltigen Stirn.

Der Angreifer ließ ihn endlich fallen. Gekrümmt lag er vor den Füßen des Unbekannten, röchelte nach Luft und zitterte dabei wie Espenlaub. „Gnade! Ich bring … ich hol dir das Geld“, keuchte und hustete Walter Rosenberg.

„Wo ist Geld?“, wiederholte der brutale Fremde.

„Im Safe! Ich hol es Dir! In zwei Minuten bin ich wieder da!“, schlug Walter mit qualvoll verzerrten Gesicht vor.

„Nix da! Dass dir so passen. Wir zusammen gehen!“, zischte der Riese und riss den Hausherren auf die Beine. „Los!“

Walter Rosenberg trottete ängstlich einen halben Meter vor dem Eindringling her, wie ein Schoßhund mit seinem Frauchen. Das Büro mit dem uralten Safe lag neben dem Wohnzimmer, ebenfalls im Erdgeschoß. „Wäre es nicht besser zu flüchten“, dachte Walter nur kurz, da packte der Riese schon seinen Oberarm. „Mach schon!“ Mit seinen Stahlpranken zog er Walter mit Gewalt in die Mitte des Raums und drückte ihn auf den Schreibtischstuhl. „Wo ist Safe? Wo ist Geld?“, brüllte ihn der Eindringling an. Plötzlich hatte der Fremde ein langes Messer in der Hand und fuchelte damit drohend vor Walter Rosenberg herum.

„Der Safe … äh, der Safe ist leer! Ich hab kein Geld!“, jammerte Walter. „Ich bin pleite, versteh das doch!“

Ohne Worte zerrte der Fremde Walters Arm auf die Schreibtischplatte und trennte ihm mit einem Schlag die linke Hand ab. Walter Rosenberg starrte einen Moment ungläubig auf den Stumpf am Arm, dann auf seine Hand, die inmitten seiner Papiere die lederne Schreibtischunterlage versaute. Dann schoss ihm ein Blutstrahl ins Gesicht. Walter brüllte los, wahnsinnig vor Schmerzen. „Uah! Du Irrer! Au! Mein Gott! Uah. Hilf mir! Ich verblute!“ Walter wollte aufspringen, doch der Verrückte drückte ihn mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Stuhl zurück. Er presste den Kopf des Industriellen mit aller Kraft auf die Tischplatte. Walters Augen sahen dabei genau auf seine abgetrennte Hand, deren Finger noch zuckten.

„Ich frage letztes Mal! Wo ist Geld?“, keuchte der Unbekannte, während Walter Rosenberg verzweifelt versuchte mit seinem Hemd den Blutschwall am Armstumpf zu stoppen.

„Hinter … hinter der Ikone. Uah! Hilf mir doch! Ich verblute!“, röchelte Walter mit schmerzverzerrten Gesicht. Der Verrückte ließ ihn endlich los, riss die teure Porzellanikone von der Wand und lachte teuflisch.

„Geht doch, haha! Kombination? Schnell! Sonst andere Hand weg!“, drohte er dem wimmernden Schwerverletzten.

„23121957“, presste Walter mit letzter Kraft hervor und sah noch, wie der sadistische Angreifer seinen Safe öffnete. Dann erlöste ihn endlich die Ohnmacht.

*

Im Polizeikommissariat Starnberg herrschte Sommerflaute. Außer einigen Wohnungseinbrüchen, Taschendiebstählen oder Betrugsvergehen hatten Boschi und Jette wenig zu tun. Der Alltag in einem kleinen Kommissariat war wenig aufregend. Jette hatte Zeit für die angesagtesten Schuh- und Klamottenläden rund um Starnberg. Boschi verbrachte viel Zeit in seinem Garten in Schlagenhofen, der nach seinem langen Rehaaufenthalt dringend Pflege brauchte. Eine Woche feierte Jette Überstunden ab und besuchte dabei ihre Eltern in Ingolstadt.

Jette genoss die freien Tage bei ihren Eltern Hilde und Franz. Zusammen besuchten sie den Viktualienmarkt am Theater, kauften frisches Gemüse, aßen Würstel mit Sauerkraut und relaxten nach einer ausgiebigen Shoppingtour gleich neben dem Marktplatz, in einem italienischen Café bei Cappuccino und Kuchen. Jette mochte diese Atmosphäre, die Gerüche und Geräusche an den farbenfrohen Ständen und Buden. Alles erinnerte sie an ihre Kindheit, wie sie ihre Mutter Hilde jeden Mittwoch und Samstag beim Einkaufen begleitet hatte und dafür immer eine Belohnung in Form von Süßigkeiten und Nascherei erhalten hatte. Es war so schade, dass ihre Eltern nicht in der Nähe von Starnberg wohnten. Jette beobachtete einfach das geschäftige Treiben der Marktfrauen und war glücklich. Hand in Hand, wie zwei Teenager, schlenderte sie mit ihrer Mutter später am Liebfrauenmünster vorbei in Richtung Kreuztor, dem Wahrzeichen von Ingolstadt, wo sie mit ihrem Vater Franz verabredet waren, der das langweilige Herumsitzen in den Straßencafés hasste und sich lieber die neu hergerichtete Torstube des Kreuztorvereins anschaute. Während die beiden auf ihn warteten, fühlte sich Jette schlagartig unwohl. Zuerst konnte sie das komische Gefühl nicht zuordnen. Sie hatte den Eindruck, sie würde beobachtet, doch außer einer Frau mit Kinderwagen und drei weiteren Passanten war niemand in der Nähe. Gingen die Emotionen nach den schrecklichen Erlebnissen, gefesselt und allein mit einem fünffachen Mörder, mit ihr durch? Bisher konnte sie die grausamen Mordfälle und die damit verbundenen Geschehnisse immer gut verdrängen. „Die Stube solltet ihr auch mal besuchen. Wirklich sehenswert!“, riss sie ihr Vater aus den Gedanken. „So, jetzt freue ich mich schon aufs Grillen heute Abend. Los kommt, ich habe Hunger.“

*

Der Deutsch-Russe Maksin Wolkow suchte die Fichtenstraße in Ingolstadt. Vorm Bahnhof fand er eine Infotafel mit Stadtplan an der er sich orientieren konnte. Die Straße war etwa vier Kilometer von seinem Standort entfernt. Er musste nur der westlichen Ringstraße über die Donaubrücke hinweg bis zum Westfriedhof folgen, dann weiter zur Schwanthaler Straße und schon war er in der Fichtenstraße. Maksin sah mit seinen wirren langen Haaren und der verlotterten Kleidung aus, wie ein hilfsbedürftiger Stadtstreicher mit Alkoholproblem. Die Straße fand er recht schnell in einer biederen Reihenhaussiedlung. Zu jedem Häuschen gehörte ein handtuchschmaler Garten, der von hohen Thujahecken begrenzt war. Die Straße wirkte wie ausgestorben. Er spazierte um den Block, um die Gärten und die Rückseite der Häuser einsehen zu können. Die Thujahecken grenzten nicht direkt an die Parallelstraße. Ein einsamer Spielplatz mit Bäumen und Büschen war den Grundstücken der Reihenhäuser vorgelagert. Grillgeruch von einem gegenüber liegenden Garten stieg in seine Nase. Vorsichtig schlich Maksin von Grundstück zu Grundstück und spähte in die Gärten und Terrassen. Alles war wie ausgestorben. Die Briefkästen quollen vor Werbung über. Genauso wie es ihm sein Freund Alexander berichtet hatte. Die ganze Straße war fast gleichzeitig im Sommerurlaub. Am späten Abend kam Maksin noch mal zurück und kontrollierte verdächtigen Lichtschein in den Fenstern. Behutsam drückte er die Zweige der Hecken auseinander, blickte auf die Häuser und konnte sein Glück kaum fassen. In keinem Fenster in der Straße brannte am Abend das Licht. Wenn alles gut ging, könnte er gleich zwei oder drei Brüche und leichte Beute machen.

*

„Gute Nacht! Schlaft gut!“, verabschiedete sich Jette nach dem leckeren Grillabend gegen 22 Uhr von ihren Eltern und ging auf ihr Zimmer, das noch genauso aussah wie vor sechs Jahren, als sie das Elternhaus verließ und in den Polizeidienst eintrat. Ihre Eltern hatten nichts verändert, auf dem kleinen Sofa saß ihre Lieblingspuppe Sara und über ihrem Bett hing immer noch ein Poster von Tokio Hotel. Jette fühlte sich in der gewohnten Umgebung sicher und die schrecklichen Alpträume von Enthauptungen und Menschenopfern, die ihr sonst den Schlaf raubten, waren vergessen, weit weg. Trotz allem legte sie ihre Dienstwaffe, wie immer in den letzten Monaten, unters Kopfkissen. Beruhigt schlief Jette ein.

*

Maksin Wolkow schlich, wie eine Katze auf Mäusefang, um die dunklen Reihenhäuser. Er hatte es sich leichter vorgestellt in eines der Häuser einzubrechen. Alle Türen und Fenster hatten die Urlauber vor ihren Reiseantritt fest verschlossen. Noch dazu flackerte die billige Taschenlampe, die er sich zusammen mit neuen Batterien am Bahnhofskiosk gekauft hatte. „Donnerkeil! Pest und Pocken!“,fluchte Maksin leise in die Nacht. Nur ein einziges Kellerfenster war gekippt, doch mit seinem Werkzeug, einem verrosteten Schraubenzieher und einer kurzen Eisenstange, ließ es sich nicht öffnen. Doch Maksin hatte Blut geleckt. Er wollte sich die Chance für ein besseres Leben in Deutschland nicht entgehen lassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Scheibe einzuschlagen.

*

„Klirr!“ Jette schreckte aus ihrem Bett hoch. Kurz nach Mitternacht, Null Uhr 5, zeigte ihr Wecker. Hatte sie nur geträumt oder hatte sie wirklich das Zerbrechen von Glas gehört? Sie wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie im Haus ein dumpfes Geräusch hörte. Jette schaltete die Nachttischlampe an, nahm ihre Dienstpistole und schlich zur Tür, die sie leise und vorsichtig öffnete. Jette lauschte. Hatte sie sich getäuscht? Auf Zehenspitzen ging sie bis zur Holztreppe und zuckte erschrocken zusammen.

„Maadla …“, polterte Franz aus dem Elternschlafzimmer neben ihr.

„Pssst!“ Jette legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und signalisierte ihren Vater, leise zu sein. „Kein Licht, Papa! Da ist jemand im Haus“, flüsterte sie ihm zu. Beide horchten angespannt. Von unten kamen eindeutige Knarzgeräusche.

„Papa, da ist jemand im Keller! Bleib hier, ich geh nachschauen!“

Bevor Jette reagieren konnte, war Franz schon unterwegs und ging kurz entschlossen die Treppe hinunter. „Nix da. Kommt gar nicht in Frage, Kind. Ich geh nachschauen!“

„Paps! Bleib stehen!“, flüsterte Jette ihrem Vater hinterher. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. „Leise! Sei vorsichtig!“ Das fahle Licht des Vollmonds schien durch die Fenster und wies ihnen den Weg nach unten. Im Erdgeschoss des Reihenhauses, in der sich, neben der Küche und dem Wohnzimmer, die Tür zur Kellertreppe befand, schien alles ruhig. Jette drängelte sich jetzt vor ihren Vater und öffnete vorsichtig die quietschende Kellertür. Beide horchten. Stille! Ein kalter Luftstrom blies ihnen entgegen. Jette hörte nur die Grillen im Garten zirpen. „Bist du sicher, dass du die Kellertür verschlossen hast, Paps?“, fragte sie leise.

„Ja, ganz sicher! Ich …“ Plötzlich sackte ihr Vater neben ihr zusammen. „Ah, uah … Hilfe!“ Jette schnellte herum und registrierte in den Augenwinkeln einen Schatten, der blitzschnell auf sie zukam. Instinktiv rollte sich Jette zur Seite und eine Messerklinge steckte plötzlich neben ihrer Schulter im Fußboden. Jette feuerte im Liegen, traf jedoch nur in die Holzdecke. Der Angreifer war durch Jettes Schusswaffengebrauch sichtlich erschrocken, stoppte, machte auf der Stelle kehrt und rannte Richtung Haustür davon. Jette sprang auf, wollte hinterher. „Hilfe, Hilfe!“ In diesem Moment polterte ihre Mutter laut schreiend die Holztreppe herunter und versperrte ihr den Weg. „Ruf die Rettung!“, rief ihr Jette zu, stieß sie unsanft beiseite und lief auf die Straße. Im Schein der Laternen erkannte sie einen großen, schlanken Mann mit langen Pferdeschwanz davonrennen. Jette blieb fast das Herz stehen. Angst und Hass kamen gleichzeitig auf. Unkontrolliert feuerte Jette das ganze Magazin ihrer Waffe leer. Sie traf nicht. Der Flüchtende lief unbeirrt weiter und verschwand lauthals lachend, zwischen den Reihenhäusern. Handlungsunfähig sank Jette auf die Knie, ihre Dienstwaffe fiel auf den Asphalt. Tränen schossen in ihr ängstliches Gesicht. „Oh mein Gott!“ Angus Streitberger, der Pilsensee Killer, ist nicht im Ammersee ertrunken!

*

Mitten in der Nacht wurde Hauptkommissar Dippold vom Telefon geweckt. „Brunzkübl“, fluchte Boschi, machte nach dem sechsten Mal klingeln endlich Licht und war sofort hellwach, als er die Nummer von Jette auf dem Display sah.

„Boschi, Boschi, der Streitberger lebt! Boschi, du musst schnell kommen. Der Irre hat gerade meinen Vater nieder gestochen!“, meldete sich seine junge Kollegin Juliane von Jettenbach aufgebracht und unbeherrscht am anderen Ende. „Boschi bitte komm, der wollte meine Eltern und mich abstechen!“

„Ach geh zu! Langsam, langsam Jette. Keine Hektik! Komm runter, behalt die Nerven!“, versuchte Boschi sie zu beruhigen. „Ist der Täter noch im Haus, Jette?“

„Nein, geflüchtet! Der wollte sich rächen! Boschi, der hat Paps nieder gestochen! Boschi, hilf uns!“, schluchzte Jette am Telefon.

„Ich bin schon unterwegs Jette. Mach dir keine Sorgen! Alles wird gut!“, antwortete Boschi aufmunternd. „Hast du schon die Polizei gerufen? In Ingolstadt sind die Kollegen zuständig. Hast du die Rettung verständigt?“

„Ja, natürlich! Bitte beeil dich Boschi!“

Hauptkommissar Robert Dippold war nach drei Minuten angezogen und raste mit seinem 40 Jahre alten VW Käfer 1303 nach Ingolstadt. Im Rückspiegel stellte er staunend fest, dass er in der Eile ganz vergessen hatte seine geliebte Häkelmütze aufzusetzen.

*

Maksin Wolkow nahm den Frühzug nach München. Er hörte immer noch die Sirenen der Einsatzkräfte, die wahrscheinlich schon großräumig nach ihm suchten. Eine Polizeistreife kam um 4.27 Uhr am Hauptbahnhof an, gerade als sich der Zug nach München in Bewegung setzte. Maksin reinigte in diesem Moment auf der Zugtoilette seine Hände und sein blutiges Messer. Er war böse mit sich. Wieso hab ich nur die Häuser nicht länger beobachtet? Die Vorhut hat Scheiße gebaut und die Geheimzeichen fahrlässig an den Hauswänden angebracht. Auf niemand konnte man sich mehr verlassen. Die ganze Straße war doch mit Gaunerzinken markiert. „Blin!“ schrie er selbstanklagend in den milchig angelaufenen Toilettenspiegel.

*

Etwa zur gleichen Zeit kam Boschi bei Jettes Eltern in Ingolstadt an. In die kleine Reihenhausstraße durfte nicht mehr gefahren werden. Großflächig hatten die Beamten die Umgebung abgesperrt und die Straße war mit Einsatzwagen der Polizei, Feuerwehr und Rettung zugeparkt. Boschi machte sich große Sorgen. Hoffentlich war da nicht noch mehr passiert und Jette und ihre Eltern sind am Leben.

„Hauptkommissar Robert Dippold, Sonderermittler von der Kripo Starnberg!“, gab Boschi dem verdutzten Polizeimeister an, der an der Absperrung stand. Dabei zückte er kurz seinen Dienstausweis. Der junge Beamte hob das Absperrband und ließ ihn anstandslos und ohne weitere Nachfrage einfach passieren. Boschi machte sich kurz Gedanken über den Ausbildungstand der Polizei und suchte in dem Gewusel von Einsatzkräften nach Jette.

Sie stand gerade mit zwei Beamten neben einem Notarztwagen und als Boschi winkte, rannte sie ihm kurzerhand entgegen. „Boschi! Danke, dass du so schnell gekommen bist. Der Streitberger hat uns überfallen!“

„Langsam Jette!“, versuchte Boschi zu beruhigen. „Wie geht es deinem Vater? Ist deine Mutter auch verletzt?“, fragte Boschi und nahm Jette tröstend in die Arme.

„Paps hat er in den Rücken gestochen. Er ist schon im Krankenhaus. Sein Zustand ist ernst, aber nicht lebensbedrohlich, Mama hat einen Schock und ist gleich mitgefahren“, erzählte Jette schluchzend mit Tränen in den Augen. „Boschi, es war eindeutig der Streitberger! Die gleiche Statur, die gleichen langen Haare! Der Irre ist nicht tot!“

„Alles wird gut, Jette!“ Boschi sorgte sich um seine junge Kollegin. „Du hast auch einen leichten Schock! Bitte mach erstmal keine verbindliche Aussage. Wir fahren später zusammen ins Krankenhaus. Dein Vater schafft es schon!“

„Glaub mir, es war der Sensenmörder! Bitte Boschi, komm mit!“ Jette zitterte wie Espenlaub, nahm ihn kurzerhand an die Hand und zog ihn mit, zu den wartenden Ermittlungsbeamten.

Juliane von Jettenbach stellte Hauptkommissar Dippold den Beamten vor und beschrieb danach den Tathergang. Dabei nannte sie immer wieder den Namen des Psychopathen Streitberger, der eigentlich am Grund des Ammersees liegen sollte. Boschi stand daneben und beschwichtigte Jette immer wieder bezüglich des Tatverdächtigen. Er gab den Beamten den Rat, die Aussage von Jette erst morgen aufzunehmen, wenn sich ihr Schockzustand gebessert hätte und sie klar denken könnte. Boschi musste sich darauf anhören, dass er die Zeugin nicht beeinflussen soll und dass er hier gar nichts zu sagen hat. Boschi war sauer, wollte aber keinen Ärger mit den Kollegen und zündete sich neben einem Einsatzfahrzeug eine Zigarette an. Er konnte sich in die ermittelnden Kollegen hinein versetzen. Er würde im Dienst wahrscheinlich genauso reagieren.

Die Spurensicherung hatte inzwischen ihre Arbeit getan und alle Spuren im Haus gesichert, fotografiert und eingetütet. Jette hatte, gleich beim Eintreffen der Spusi, ihre Dienstwaffe zum Abgleich abgegeben. Die Ingolstädter Kollegen verabschiedeten sich bis morgen, die Absperrung wurde aufgehoben und die aufgeschreckten Nachbarn und Gaffer zogen sich langsam zurück. Jette saß mit Boschi, der schon wieder rauchte, auf den drei Treppenstufen die zur Tür des Wohnhauses führten. Jette war sichtlich verärgert. Sie kochte innerlich vor Wut. „Boschi, ich bin blond, aber nicht blöd! Ich habe auch keinen Schock und du brauchst mich nicht zur Besinnung bringen. Der Kerl, der aus dem Haus rannte, war eindeutig Angus Streitberger, der Pilsensee Killer. Ich bin mir ganz sicher!“

Boschis Stirn zeigte eindeutige Sorgenfalten. Zweimal fuhr er sich mit den Händen durch die kurz geschnittenen Haare und sein fehlender kleiner Finger juckte. „Der ist tot, Jette. Das kann er nicht gewesen sein. Ich hab den zweimal, wahrscheinlich sogar dreimal mit meiner P7 getroffen. Du warst doch dabei und hast es selbst gesehen. Danach ist er vom Wasserfall in den reissenden Bach mit jeder Menge Treibholz gestürzt und untergegangen. Das hat der nicht überlebt!“

„Und wenn doch? Wo ist seine Leiche? Der Mann, den ich gesehen habe, hatte die gleiche Statur. Er war mindestens zwei Meter groß, hatte seine langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden und lief genau hier die Straße hinunter.“

„Ach geh zu! Jette, bist du dir ganz sicher?“, fragte Boschi nach.

„Ja! Er sah genauso aus wie der verrückte, alte Mann Angus Streitberger! Der lebt Boschi! Ich bin mir zu 100 Prozent sicher. Der Pilsensee Killer hat bei uns eingebrochen und auf Paps eingestochen“, beharrte Jette trotzig auf ihrer Aussage.

„Ok Jette! Du überdenkst das alles noch mal in aller Ruhe. Komm, ich fahr dich jetzt erst mal zu deinen Eltern ins Krankenhaus. Du bist ein wenig durcheinander! Weißt du überhaupt, dass du hier im Schlafanzug neben mir sitzt?“

Jette schaute überrascht an sich herunter. „Äh, ja … Was trägst du im Bett?“, fragte sie frech. „Übrigens, du hast deine „Boschi“ vergessen! Ganz ungewohnt, so ohne Häkelmütze. Mein Chef hat ja Haare am Kopf! Hihi! Siehst gut aus Boschi!“, lobte Jette ihren Chef und ging grinsend ins Haus.

„Ach geh zu! Jetzt mach weiter, zieh dir was an! Deine Eltern warten!“, rief ihr Boschi hinterher und freute sich, dass seine junge Kollegin so schnell auf andere Gedanken gekommen war. Sie hatte ihn nachdenklich gemacht. Die Leiche von Angus Streitberger hatten sie bis jetzt nicht gefunden. Der alte Mann kann aber nicht überlebt haben. Er war sich ganz sicher, dass Jette durch den Überfall verwirrt war und sich in der Dunkelheit getäuscht hatte.

*

Das Klinikum Ingolstadt in der Krumenauerstraße war nur fünf Fahrminuten von Jettes Elternhaus entfernt. Ihre Mutter Hilde wartete nervös vor einem der Operationssäle auf eine Nachricht vom Gesundheitszustand ihres Ehemanns. Sie lief weinend auf Jette zu und war gleichzeitig überrascht, dass Jette von einem fremden Mann begleitet wurde.

„Jette! Gott sei Dank! Der Franz verblutet … Keiner sagt mir was! Du musst mit den Ärzten sprechen“, fiel sie Jette klagend um den Hals.

„Mama! Beruhige dich! Die operieren wahrscheinlich noch. Paps ist in guten Händen. Komm setz dich erst mal. Du klappst mir hier gleich zusammen und Franz braucht doch deine Hilfe.“

Schluchzend setzte sich ihre Mutter in eine dieser kalten Plastiksitzschalen im kahlen, weißen Krankenhausflur und seufzte. „Du hast ja Recht Jette, aber die haben im Rettungswagen von einem Stich in die Niere und inneren Blutungen gesprochen. Der Franz darf noch nicht sterben!“

„Das wird er auch nicht!“ Jette kniete vor ihrer Mutter, drückte ihre Hände und versuchte sie zu trösten. Jetzt liefen auch Jette Tränen in die Augen. Boschi stand minutenlang verlegen daneben und wusste nicht wie er sich verhalten sollte. Wie schwach und zerbrechlich wirkte seine sonst taffe Kollegin. Schließlich streichelte er über Jettes Schulter.

Hilde von Jettebach wollte gerade fragen, wer der nette junge Mann an der Seite ihrer Tochter ist, als sich die Schiebetür des OP-Saales öffnete. „Frau von Jettenbach?“

„Ja! Hier!“ Jette sprang auf und half ihrer Mutter Hilde hoch. „Wie geht es meinem Vater?“

„Mein Name ist Dr. Jürgen Benker. Ihr Vater hat durch den Messerstich eine Nierenruptur erlitten. Wir mussten eine Nephrektomie vornehmen.“

„Eine was?“, fragte Jette hilflos.

„Wir mussten ihrem Vater die linke Niere entfernen und konnten die inneren Blutungen stoppen. Die OP ist gut verlaufen. Ihr Vater ist nicht in Lebensgefahr, kommt aber zur Beobachtung auf die Intensiv. Morgen können wir mehr sagen und dann können sie ihren Vater auch besuchen.“ Der Pieper des Arztes schlug an. „Entschuldigung! Frau von Jettenbach, ich muss weiter, der nächste Notfall!“

Hilde von Jettenbach stand die ganze Zeit ungläubig daneben und brachte bisher keinen Ton heraus. „Oh mein Gott! Mein armer Franz!“ Hilde fing wieder an zu weinen. Ihr wurde schwindelig, sie musste sich erneut setzen und fing an zu beten. „Lieber Gott, lieber Gott bitte hilf uns!“

Jette setzte sich wie ein Häufchen Elend daneben und Boschi versuchte beiden Mut zuzusprechen. „Die haben hier hervorragende Ärzte! Herr von Jettenbach ist außer Lebensgefahr und mit einer Niere kann man genauso leben wie vorher, ohne Einschränkungen. Der schafft das schon. Morgen, wenn wir ihn besuchen, lacht er uns aus seinem Krankenbett an.“

Frau von Jettenbach sah Boschi mit großen Augen an. „Wer sind Sie eigentlich? Jette, ist der nette Herr ein Bekannter von Dir? Oder ist er Polizist?“

„Beides Mama! Darf ich vorstellen! Hauptkommissar Robert Dippold von der Kriminalpolizei Starnberg. Mein Chef!“

Boschi reichte Frau von Jettenbach ungeschickt die Hand. „Angenehm, Robert Dippold!“

„Endlich lerne ich den Retter meiner Tochter einmal kennen. Danke, Herr Dippold! Sie haben schon Ihr Leben für unsere Tochter riskiert, sind schwer verletzt worden und sind jetzt auch noch in den schwersten Stunden für uns da. Danke, danke!“ Frau von Jettebach fiel Boschi um den Hals.

Verlegen stammelte Boschi ein „Ach geh zu! Das hätte doch jeder für unsere Jette getan!“

„Sie hat schon recht Boschi! Das macht nicht jeder. Kommt wir gehen jetzt. Zuhause wartet das Chaos auf uns.“ Jette nahm ihre Mutter am Arm und verließ mit Boschi das Krankenhaus.

In Jettes Elternhaus angekommen, schraubte Boschi fachmännisch mehrere Holzbretter vor das zerbrochene Kellerfenster, während Jette weinend die Blutflecke ihres Vaters auf den Fließen vor der Kellertür entfernte. Hilde von Jettenbach kochte Kaffee und deckte den Esstisch zu einem verspäteten Frühstück. Danach rief Boschi auf der Dienststelle bei Revierleiter Sepp Brandl an, der bereits mehrmals versucht hatte Hauptkommissar Dippold telefonisch zu erreichen.

„Boschi, wo bleibst du denn? Hast verschlafen, haha!“, meldete sich Sepp wohlgelaunt.