Leichenwechsel - Ulf Spiecker - E-Book

Leichenwechsel E-Book

Ulf Spiecker

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Beschreibung

Signe Berglund, erste und einzige schwarze Kommissarin der Reichspolizei in Kalmar, wird zum Fundort einer Leiche gerufen. Ausgerechnet bei Robert Ekkheim, einem Freund aus Deutschland, sitzt eine halb verweste Leiche im Schuppen. Aber das ist erst der Anfang, immer weitere Leichenfunde werden gemeldet. Und alle haben sie was gemeinsam: Alle waren sie vorher schon länger tot, alle tragen ein blaugelbes Stirnband mit den Worten "Was ihr wollt" und immer trifft es Deutsche. Während Robert Ekkheim mit seinem Sohn und dessen Freundin einfach nur den Sommer in Schweden genießen wollen, treffen sie sogar in Stockholm überall auf Leichen oder deren "Stellvertreter" mit dem blaugelben Stirnband und den drei Worten "Was ihr wollt". Signe Berglund und ihr Team tappen bezüglich Motiv und Täter im Dunkeln.

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EPUB
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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Leichenwechsel ist der zweite Kriminalroman mit Signe Berglund, der ersten und einzigen schwarzen Kommissarin der Reichspolizei in Kalmar. Diesmal wird sie zum Fundort einer halb verwesten Leiche gerufen, die ausgerechnet bei Robert Ekkheim, einem Freund aus Deutschland, im Schuppen sitzt. Aber das ist erst der Anfang, immer weitere Leichenfunde werden gemeldet. Und alle haben sie was gemeinsam: Alle waren sie vorher schon länger tot, alle tragen ein blaugelbes Stirnband mit den Worten Was ihr wollt und immer werden sie bei Deutschen gefunden.

Die Signe Berglund Krimis schließen die Lücke zwischen Astrid Lindgrens Bullerbü und den Krimis von Erik Axl Sund. Mehr Romane als Krimis also, die zwar keine heile Schwedenwelt erdichten, aber eher mit einem Augenzwinkern denn mit blutiger Feder geschrieben sind. Sie lassen immer wieder teilhaben am Alltag ihrer Hauptpersonen und erzählen den Leser*innen so nebenbei immer wieder etwas über (das heutige) Schweden und die anderen (realen) Schauplätze der fiktiven Geschichten.

Ulf Spiecker, Jahrgang 61, ist gelernter Landschaftsgärtner und studierter Stadtplaner. Er hat aber unter anderem in den Schul-ferien auch als Maurer gejobbt, Zivildienst im Altenheim geleistet, während der Lehre an Autos geschraubt, im Urlaub Ziegen gemolken, zwischen Uni-Vorlesungen in der Verkehrsplanung gearbeitet, Kindererziehung und die Herstellung von Graved Lachs verbunden und ehrenamtlich viel Zeit in Schulbibliotheken verbracht.

Ulf Spiecker lebt und schreibt in Hamburg – und seit 1994 immer wieder auch in Schweden. Wenn nicht gerade eine verdammte Pandemie dazwischen kommt.

Ulf Spiecker

Leichenwechsel

– Signe Berglund sucht ein Motiv –

Roman

Von Ulf Spiecker sind in dieser Reihe bisher erschienen:

Tanz der Frösche

– Signe Berglund beginnt mit Ermittlungen

Leichenwechsel

– Signe Berglund sucht ein Motiv

Eau de Voiture

– Signe Berglund nimmt’s persönlich

Minkwal, Masken und Moneten

– Signe Berglund wird kaltgestellt

(voraussichtlich ab Sommer/Herbst 2022)

Signe Berglund Krimis

sind auch unabhängig voneinander lesbar

© 2017/2022 Ulf Spiecker

überarbeitete Auflage

Paperback  ISBN 978-3-7439-3788-8

Hardcover ISBN 978-3-7439-3789-5

e-Book      ISBN 978-3-7439-3790-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mein besonderer Dank gilt,

Margret Günther (auch wenn sie das immer nicht hören bzw. lesen will), die sich auch diesem Manuskript wieder angenommen und es mit viel Sachverstand, noch mehr Geduld und der nötigen Akribie lesbar gemacht hat.

Maraike Gutenmorgen, die, trotz vieler anderer Verpflichtungen, spontan das Endlektorat übernommen hat.

Michael Rädler, dessen Ferienhaus in Süd- schweden mir seit mehr als 14 Jahren immer wieder ein wunderbarer Ruhepol und gleichzeitig ein großartiger Ausgangspunkt für das Entdecken dieses Landes ist und auf dessen Veranda sich nicht nur trefflich Lesen, sondern auch Schreiben lässt.

meiner Familie, die geduldig mein Schreiben erträgt.

I

»Åh, herre gud!«, dachte Signe Berglund, »oh, mein Gott!«, und sah auf das entsetzlich entstellte Gesicht herab. In einigen Bereichen war es stark angeschwollen, in anderen wirkte es eingedrückt, die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen und der Mund schien seltsam schief zu lächeln. Signe Berglund, erste und einzige schwarze Kommissarin der Rikspolisen in Kalmar, trat einen Schritt zurück. Dabei rempelte sie versehentlich einen Kollegen an, der gerade durch die offene Tür hinter sie getreten war. Auch er warf einen kurzen Blick auf das Gesicht und es entfuhr ihm ein tonloses »Ach du Scheiße!«

Signe Berglund drehte sich herum und sah ihren Kollegen Viggo Henriksson, intern wegen seiner roten Haare, seiner Größe und seines Basses Roter Bär genannt, streng an. Dann deutete sie mit einem Nicken auf das die Schreibtischunterlage verunzierende Gesicht. »Das ist die Arbeit von fast einer Stunde! Etwas mehr Respekt bitte!«

»Aber …«

»Nix aber! Guck dir das doch bitte mal an, besser geht es damit nun wirklich nicht!« Dabei hielt sie ihm die alte bauchige und mit unzähligen kleinen Dellen und Beulen versehene verchromte Thermoskanne vor die Nase. Viggo Henriksson zuckte zurück, und als er sein verzerrtes Spiegelbild in der Kanne sah, schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.

*

Exakt fünfundfünfzig Minuten vorher hatte Signe Berglund nach dem dritten Klingeln arglos den Hörer ihres Telefons abgenommen. Ahnungslos, was wenige Minuten später über sie hereinbrechen würde, hatte sie sich ehrlich gefreut, die Stimme der Distriktschefin zu hören, die ihr zu ihrer Anfangszeit eine gute Mentorin gewesen war. Das Donnerwetter kam nach wenigen einleitenden Sätzen. Es war ebenso heftig wie langanhaltend, mehrfach ebbte es ein wenig ab, um danach wieder an Fahrt aufzunehmen oder sich wieder und wieder eruptiv zu entladen. Insgesamt sechsunddreißig Minuten dauerte die wohl heftigste Standpauke ihrer Karriere, die sie nicht ganz unberechtigt, wie sie zerknirscht zugeben musste, für ihren riskanten, wenn auch von Erfolg gekrönten Alleingang vor einer Woche über sich ergehen lassen musste.

Nach dieser harschen mündlichen Rüge, die, wie die Distriktschefin betonte, keinen Eingang in die Personalakte finden würde, schloss sie das Gespräch mit einem knappen: »Und, Signe, gut, dass du den verdammten Mistkerl geschnappt hast!« Dann war die Leitung tot. Gedankenverloren und eher mechanisch hatte Signe Berglund während des langen Telefonats ihr Spiegelbild in der Thermoskanne auf die papierene Schreibtischunterlage gezeichnet.

Jetzt beugte sie sich wieder über das entstellte Gesicht und betrachtete es kritisch. Das, was sie da vor sich sah, wollte so rein gar nicht zu dem Bild passen, was sie selbst von sich hatte – und doch konnte sie kaum leugnen, dass eine eindeutige Ähnlichkeit mit ihr bestand. Das war sie – sehr wohlwollend ausgedrückt – künstlerisch verfremdet. Energisch schüttelte sie den Kopf. »Das Monstrum gehört jetzt wirklich entsorgt!«, stellte sie nüchtern fest und beschloss, den wiederholten Vorsätzen endlich Taten folgen zu lassen. Zumal diese Thermoskanne, seitdem ihr Deckel unerklärlicher Weise abhanden gekommen war, nicht einmal mehr in der Lage war, ihrer originären Aufgabe zufriedenstellend nachzukommen.

In der Mittagspause war es dann soweit. Signe Berglund überquerte schnellen Schrittes den vierspurigen Erik Dahlbergs Väg, an dem nicht nur die große Polizeistation, sondern südlich davon auch das noch viel größere Köpcentrum Giraffen lag. Über dessen Eingängen thronten noch bis vor kurzem und weithin sichtbar jeweils zwei dieser namensgebenden Tiere, und nicht nur Signe hoffte, dass sie nur zur Restaurierung abmontiert worden waren und danach zu ihren angestammten Plätzen zurückkehren würden.

Nun stand Signe in der Haushaltswarenabteilung des ICA-Maxi-Supermarktes vor einer beeindruckend umfangreichen Auswahl an Thermoskannen. Exemplare aus Plastik schieden von vornherein für sie aus, und auch die runde verchromte Kanne wanderte, nachdem Signe Berglund sich in ihr gespiegelt sah, ebenso ins Regal zurück, wie das sich nach oben stark verjüngende Modell. Als sie sich gerade eine zylinderförmige Kanne aus Edelstahl vor das Gesicht hielt, wurde sie angesprochen: »Kann ich dir helfen?«, fragte eine Verkäuferin zögerlich, und es war ihr anzusehen, dass sie Signes intellektuellen Möglichkeiten enge Grenzen gesetzt sah. Signe fand ihre Körperhaltung glich der eines kleinen Tieres, das bei der geringsten Gefahr zur sofortigen Flucht bereit war. »Wenn du vielleicht einen Spiegel suchst …« fuhr die Verkäuferin zu laut, betont langsam und akzentuiert fort, wurde aber von Signe unterbrochen:

»Ich brauche eine Thermoskanne, die einem das Gesicht nicht komplett entstellt!«, sagte sie und blickte die Verkäuferin treuherzig aus ihren schwarzen Augen an. Dann entdeckte sie sie. Eine glänzendschwarz lackierte Edelstahlkanne! Signe holte sie aus dem Regal, hielt sie sich vor das Gesicht, legte den Kopf schief, lächelte selig und streichelte vorsichtig über das glatte Metall. »Genau so etwas habe ich gesucht!«, sagte sie triumphierend. »Schau mal«, forderte sie an die Verkäuferin gewandt und deutete auf die Thermoskanne, »ja, genau so muss das aussehen, schwarz und glatt!« Damit ließ sie die völlig verunsicherte Verkäuferin stehen und ging zu den Kassen.

II

»Åh, herre gud!«, dachte Signe Berglund und sah auf das furchtbar entstellte Gesicht herab. »Oh, mein Gott!« Jetzt wusste sie, warum das Gesicht auch während der laufenden kriminaltechnischen Untersuchung mit einem Tuch bedeckt gewesen war und warum der Kollege Melker Berg mit etwas hohl klingender Stimme »Überleg’s dir!« sagte, als sie im Begriff gewesen war, das Tuch zu entfernen. Nun starrte sie ein durch den Verwesungsprozess doch erheblich in Mitleidenschaft gezogenes Gesicht aus hohlen Augen an.

»Wer macht so was?«, fragte sie laut und scheuchte wedelnd ein Heer von dicken schwarzen Schmeißfliegen auf. Ihr Kollege hob die Augenbrauen und schüttelte achselzuckend den Kopf. Quer über die Stirn des Toten hatte jemand einen blaugelben Stoffstreifen getackert, auf dem mit einem schwarzen Stift ungelenke dicke Buchstaben geschrieben standen. Vad ni vill, entzifferte Signe und sah ratlos zu ihrem Kollegen, der gerade etwas mit einer Pinzette neben einem kleinen gelben Markierungsschild zwischen den Holzspänen aufzunehmen versuchte. »Was ihr wollt? Was zum Teufel ist das denn?«

»’ne Komödie von Shakespeare. Um 1601«, kam die lapidare Antwort. Signe sah irritiert ihren Kollegen an, der jetzt angestrengt die ins Licht gehaltene Pinzette anstarrte. Sie musste grinsen.

»Okay, falsche Frage. Also: Was soll das?«

»Das müsst ihr herausfinden. Ich bin nur für die technische und biochemische Seite des Elends zuständig!« Melker Berg hielt noch immer in der einen Hand die Pinzette und fingerte mit der anderen in einem großen Aluminiumkoffer herum.

»Und?«

»Männlich, ungefähr Mitte fünfzig, keine weiteren äußeren Verletzungen, soweit ich es hier feststellen kann. Nur die Tacker in Stirn und Schläfen, aber die sind ja erst vor Kurzem zugefügt worden. Und eine Stelle an der rechten Hand. Sieht nach einer Schramme aus – auf jeden Fall postmortal.« Was auch immer Melker Berg mit seiner Pinzette gehalten hatte, verschwand nun in einem kleinen durchsichtigen Glasröhrchen, das er noch sorgfältig beschriftete und in dem Koffer verstaute. Erst jetzt widmete er seine ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Kollegin und sah sie auffordernd an.

»Wissen wir, wer es ist?«

»Bisher nicht. Er hatte ja nichts bei sich – nicht mal einen Ehering oder ähnliches.«

»Wie lange ist er tot?«

»Genau kann ich es noch nicht sagen, aber schon länger. Könnten durchaus ein paar Jahre sein. Nur deshalb riecht er ja auch nicht mehr ganz so streng.«

Signe sah sich um. Der Schuppen sah, bis auf die diversen kleinen gelben Markierungen der Spurensicherung, wie jeder anständige Schuppen in Småland aus: Eine Schubkarre, diverse Gartengeräte, an einem Brett gegenüber der Tür hingen zwischen jeweils zwei Nägeln zwei Beile und eine Spaltaxt. Die zwei Nägel daneben waren leer. Angrenzend hingen diverse Sägen. An der Wand darunter stapelten sich Holzscheite, an einer anderen lehnten grob zersägte Stämme und Äste die darauf warteten, zu Brennholz zerkleinert zu werden. Der Boden war mit Spänen bedeckt, und in der Mitte stand ein grober Hauklotz. Und an den Hauklotz gelehnt saß der Tote und starrte aus leeren Augenhöhlen in Richtung Schuppentür. Und damit er nicht umfallen konnte, hatte jemand eine Axt durch den morschen Anzugstoff in den Hauklotz getrieben.

»Sitzt der hier schon länger? Sieht eigentlich nicht so aus!«, sagte sie mehr zu sich selbst, als dass es eine an ihren Kollegen gerichtete Frage war. Melker schüttelte den Kopf.

»Nein, der war schon unter der Erde. Hier sitzt er erst ein paar Stunden.«

»Beerdigt? In einem Grab? Du meinst …«

»Ja. Dieser Anzug, das Fehlen eines Eheringes, der Verwesungsstand und keinerlei Fraß- oder Bissspuren, na ja, bis auf die der Maden natürlich … Wahrscheinlich finden sich am Anzug auch noch Faserspuren der Sargbespannung.«

Signe legte die Stirn in Falten. »Das beginnt ja vielversprechend«, dachte sie. »Und ausgerechnet hier!«

III

»Oh, mein Gott!«, dachte Robert Ekkheim als er die Schuppentür aufmachte und das Licht auf den am Boden sitzenden Körper fiel. Reflexartig wollte er zu Hilfe eilen, sah dann in das entstellte Gesicht und konnte sich gerade noch zur Seite drehen, bevor er sich neben die Tür erbrach. »Schade um die Pfingstrose!«, schoss es ihm durch den Kopf. Dann rannte er ins Haus und verständigte die Polizei. Danach rief er seinen Freund Jonte an.

*

Robert Ekkheim hatte bereits eine sehr entspannte Woche in seinem schwedischen Ferienhaus hinter sich. Die Wiese ums Haus war schnell gemäht gewesen, denn die Wachstumsphase begann ja nach dem Winter gerade erst wieder. Gräser und Kräuter waren bisher so wenig in die Höhe geschossen, dass sogar nur der normale Motormäher zum Einsatz gekommen war. So hatte er sich das zeit- und kräftezehrende Zusammenrechen sparen können, das, wenn die Wiese gut einen Meter hoch gestanden hätte, unweigerlich auf die Arbeit mit der Motorsense folgte. Und so hatte Robert Ekkheim Zeit gehabt, all diejenigen zu besuchen, die er informieren wollte, dass er für die nächsten Monate mal wieder im Lande war. Besonders auf Signe und Ella freute er sich. Er hatte die beiden zwar erst vor einem Jahr unter etwas merkwürdigen Umständen kennengelernt, doch gehörten sie bereits zum engsten Kreis seiner Seelenverwandtschaften. Bedauerlicherweise hatte er sie jedoch noch nicht erreicht und hoffte nun, dass sie nicht längere Zeit weg wären.

Heute hatte Robert Ekkheim in seinem verlängerten Wohnzimmer, wie er Påryds Lantcafé gerne nannte, auf der halbschattigen Sommerterrasse wie immer gut zu Mittag gegessen. Er mochte dieses kleine, gemütliche und familiäre Restaurant-Café, das Anna und Erik erst vor wenigen Jahren in dem nur rund zehn Kilometer entfernten Nachbarort – und damit für die schwedischen Verhältnisse in nächster Nachbarschaft – eröffnet hatten. Nicht zuletzt durch ihre abwechslungsreiche und immer wieder kleine kulinarische Überraschungen bereithaltende Speisekarte war es zum festen Bestandteil seines schwedischen Alltags geworden – eben seinem verlängerten Wohnzimmer. Jetzt genoss er es, die schmale kurvenreiche Landstraße von Påryd nach Hultebräanby zu fahren, die abwechselnd durch Wälder, vorbei an alten Windbruchfeldern und felsen- und hügelreichen Weiden führte, auf denen dunkelgrüne Wacholderbüsche und in Gruppen windzerzauste Eichen standen, die ihre alten Stämme und ihre krummen Äste bizarr gen Himmel reckten.

Als er dann gut gelaunt nach Hause kam, entdeckte er erst einen toten Ast im Apfelbaum und dann, als er in den Schuppen ging um die Säge zu holen, den Toten. Nun saß Robert mit seinem Freund Jonte, der nach Roberts Anruf sofort herübergeeilt war, am Esstisch und nippte an seinem Kaffee. Keiner von beiden sagte ein Wort, Robert stierte vor sich hin, Jonte guckte aus dem Fenster und sah dem alten Nachbarn nach, der sich wegen des Polizeiaufgebotes neugierig umblickte und noch langsamer als sonst mit seinem uralten Fahrrad die gewöhnliche Runde durch das Dorf klapperte. »Ich komme dann zu euch!«, hatte Signe Berglund zu ihnen gesagt, und so warteten sie jetzt darauf, dass die Untersuchungen im Schuppen fürs Erste abgeschlossen sein würden.

Die Freunde sahen einen silberfarbenen Leichenwagen vorfahren, einen betagten 240er Volvo mit dem typischen Nilsson-Aufbau. Umständlich rangierte er um Signes alten Ford Granada herum und hielt vor dem blaugelben Absperrband. Robert und Jonte beobachteten, wie zwei äußerst ungleich große Polizisten diensteifrig herbeieilten und das blaugelbe Absperrband hochhielten, damit der Wagen ungehindert passieren konnte. Während auf der einen Seite das Absperrband nun gut einen halben Meter über dem Wagendach schwebte, reichte das Band auf der anderen Wagenseite nur ganz knapp bis an die Oberkante der Windschutzscheibe und rutschte, als der Wagen langsam anfuhr, ein Stück hoch, blieb an der blanken verchromten Dachrinne hängen – und zerriss. Während die zwei Polizisten versuchten, die Enden wieder zusammenzuknoten, rangierte der silberne Leichenwagen innerhalb der Absperrung bei dem Versuch, das Heck irgendwie vor die Schuppentür zu bugsieren, in ausladenden Bögen hin und her. Kurz bevor er endlich in der Nähe der Schuppentür zum Stehen kam, erfasste der linke Außenspiegel das gerade geflickte Absperrband, das sich nach kurzem Dehnen der Zugkraft des Volvos ergab. Die beiden entnervten Ordnungshüter wandten sich seufzend ab und beobachteten nun konzentriert den alten Mann, der jetzt auf seinem klapprigen Fahrrad die ansonsten verlassen daliegende Straße in entgegengesetzter Richtung entlang kam und gerade wieder winkend zu Roberts Haus hinübergrüßte. Unterdessen stiegen zwei Männer in schwarzen Anzügen aus dem silbernen Leichenwagen und verschwanden im Schuppen.

»Fast wie Kino!« Robert musste trotz der makabren Situation grinsen. Er kniff die Augen etwas zusammen und fragte: »Sind das etwa … wie hießen sie noch? Ich komme nicht mehr auf die Namen! Aber das sind sie doch, oder?«

»Mh!«, bestätigte Jonte ebenfalls grinsend, als er an die beiden Bestatter dachte, die seinem Freund letztes Jahr aus angeblich verschmähter Liebe mit dem Auftrag auf den Hals gehetzt worden waren, die Leiche eines Robert Ekkheim abzuholen und dann unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten. »Na, dafür kriegen sie ja heute endlich ihren Wagen voll!« Sie lachten beide, aber ihr Lachen klang etwas verhalten.

*

Nach einem flüchtigen Klopfen betrat Signe barfuß das Haus. Wortlos verschwand sie erst mal im Badezimmer, wo sie sich nach ausgiebigem Händewaschen noch ordentlich Wasser ins Gesicht schaufelte. Kurz darauf nickte sie Jonte freundlich zu und umarmte Robert. »Und? Wie geht es dir?« Sie klang ehrlich besorgt.

»Ich weiß gerade nicht so genau …« Robert sah unsicher zu Signe. »Ist mein erster Toter.«

»Meiner nicht«, antwortete sie, »aber daran gewöhnt man sich auch nie so richtig. Und der da in deinem Schuppen gehört schon zu der heftigeren Sorte.«

Dankbar nahm sie den Kaffeebecher, den Jonte ihr reichte und wandte sich wieder Robert zu. »Ich würde dir gern ein paar Fragen stellen …«, sie sah ihn unsicher an, aber als Robert nickte, fuhr sie fort: »Wann warst du das letzte Mal im Schuppen?« Robert legte seine Stirn in Falten.

»Das muss am Montag gewesen sein. Freitag bin ich angekommen, habe erst mal eingekauft, Samstag und Sonntag habe ich meine obligatorische Runde gemacht um Bescheid zu sagen, dass ich wieder da bin, und Montag habe ich die Wiese gemäht. Da war ich auch kurz im Schuppen und habe den Besen geholt. Aber da war noch nichts!« Es klang ein bisschen wie Ich war’s wirklich nicht!

»Und heute ist Samstag. Da gab es also genug Zeit … Ist dir seit Montag irgendetwas komisch vorgekommen, war etwas nicht wie sonst?« Robert schüttelte den Kopf.

»Erinnerst du dich, ob du vorhin, als du weggefahren bist, deinen Schuppen richtig abgeschlossen hast?«

»Wenn ich tagsüber hier bin, ist eigentlich nie abgeschlossen. Vielleicht vergesse ich auch nachts manchmal abzuschließen – oder wenn ich ganz kurz mal wegfahre. Ist bis heute ja auch noch nie etwas weggekommen.« Robert legte seine Stirn in Falten. »Na ja, wenn man es genau nimmt, ist ja auch nichts weggekommen, eher was dazugekommen …« Letzteres hatte er ziemlich leise gesagt.

»Okay«, sagte Signe, »wir warten mal ab, was die Spurensicherung nachher sagt und was das NFC noch rauskriegt.« Und als sie in die fragenden Gesichter von Robert und Jonte sah, fügte sie noch erklärend hinzu: »Das Nationellt Forensiskt Centrum. Malmö. Der Tote«, solange seine Identität nicht geklärt war, blieb auch Signe, die den Toten durch die Namensnennung wenigstens etwas ihrer Würde zurückgeben wollte, nichts anderes übrig, als ihn anonym zu benennen, »wird zum regionalen kriminaltechnischen Labor gebracht. In spätestens 72 Stunden werden wir wohl mehr wissen.« Dass sie bereits wusste, dass der Tote schon beerdigt gewesen war, behielt sie vorsichtshalber noch für sich.

»Hast du eine Ahnung, was dieses Was ihr wollt bedeuten könnte? Ich meine, außer dass das eine Komödie von Shakespeare ist!«, beeilte sie sich aus jüngerer Erfahrung vorsichtshalber anzufügen. »Ich erinnere den Inhalt zwar nur ungenau, aber ich sehe zwischen dem Toten und dem Stück keinen Zusammenhang. Irgendwie klingt das jedenfalls fast so, als ob der Tote nicht ganz zufällig hier abgelegt wurde.« Signe sah Robert aufmerksam an, doch der schüttelte nur energisch den Kopf.

»Keine Ahnung, bestellt habe ich den bestimmt nicht!«

Noch immer ruhten Signes Augen ernst auf Robert. Dann lächelte sie. »Du scheinst ja geradewegs magisch Dinge anzuziehen, die nicht zwangsläufig zu einem normalen bürgerlichen Leben gehören. Letztes Jahr diese Geschichte mit den Telefonanrufen, den abstrusen Vorwürfen, deinem Kidnapping und dem Auftritt deiner unbekannten Tochter.* Und das ging über Wochen. Und jetzt sitzt ein Toter mit einer kryptischen Botschaft in deinem Schuppen … und du bist man gerade mal eine Woche hier!«

*

Wenige Stunden später lag Robert bei Jonte im Gästezimmer und versuchte das Bild des verwesenden Gesichts aus seinem Kopf zu löschen, das, sobald er seine Augen schloss, immer wieder gegenwärtig war. Er war jetzt froh, dem Drängen von Jonte und Signe nachgekommen zu sein, heute nicht bei sich zu Hause zu schlafen. Dennoch fand er keine Ruhe, nahm sich irgendwann resigniert eines von Jontes Büchern und las; las die Worte ohne wirklich zu verstehen oder gar am nächsten Morgen zu erinnern, was er gelesen hatte. Als seine Augen irgendwann doch zufielen, war sein Schlaf oberflächlich und unruhig.

Robert wurde durch leises Klopfen geweckt. Jonte hatte geräuschlos die Tür geöffnet und stand mit einen großen Becher Kaffee im Zimmer.

»God morgon!«, grinste er Robert an. »Ich störe dich Sommerfrischler zwar nur ungern, aber in zwei Stunden hast du einen Termin bei den Snuten! Und auf der Terrasse gibt’s gleich Frühstück …« Robert nickte dankbar und nahm erst den Kaffeebecher und dann einen kräftigen Schluck, seufzte zufrieden, sah auf die Uhr und seufzte wieder. Diesmal nicht ganz so zufrieden. Der Termin bei den Bullen, wie Jonte sagte, kollidierte mit dem ausgiebigen Frühstück auf der sonnig-warmen Terrasse – selbst wenn er sich jetzt mächtig beeilte.

»Soll ich mitkommen?«

»Würdest du? Ich glaube, ich wäre wirklich ganz froh, wenn ich nach der Nacht nicht selber fahren muss!«

»Okay – ich würde aber gerne vorher noch frühstücken!« Robert nickte und sprang aus dem Bett.

*

Obwohl die beiden Freunde bei allerschönstem Sommerwetter durch eine schwedische Bilderbuchlandschaft fuhren, in der das Gelb des Löwenzahns und der rote Klatschmohn mit der tiefgrünen Wiese im Sonnenschein um die Wette leuchteten, schenkten sie dieser Postkartenidylle keinerlei Beachtung. Ebenso wenig den typischen rotweißen Holzhäusern, die diese Idylle komplettierten und neben denen an hohen Fahnenmasten, sich vor dem tiefblauen Himmel nur mit dem sonnengelben skandinavischen Kreuz absetzend, fröhlich schwedische Fahnen im Sommerwind flatterten. Jonte sah Robert an. »Ich weiß nicht, aber ich finde Signe hat irgendwie schon recht, das wirkt alles nicht so ganz zufällig. Da muss doch irgendwas dahinterstecken! Damit will doch jemand was sagen oder auf was aufmerksam machen! Oder ist das eine Bestätigung für irgendwas?«

»Du meinst wegen dieser Nachricht? Aber was soll das bestätigen? Und wer kann so etwas wollen? Ich will das ganz bestimmt nicht! Und wieso überhaupt in meinem Schuppen? «

»Trotzdem … das schreibt doch keiner nur so auf und tackert es dann noch einem Toten auf die Stirn, den er vorher von sonst woher angeschleppt hat. Da hat sich jemand richtig Arbeit gemacht!«

»Wegen mir hätte er das nicht tun müssen …« Robert schüttelte sich; dann schwiegen sie lange, jeder in seine Gedanken versunken. Als Jonte den Wagen von der großen Einfallstraße am Rande Kalmars in die Galggatan und auf den Besucherparkplatz des modernen Polizeikommissariats lenkte, sah Robert ihn an.

»Meinst du Signe weiß schon irgendwas?«

* Siehe: Tanz der Frösche – Signe Berglund beginnt mit Ermittlungen

IV

»Verdammt!« Jonte kickte einen kleinen Kiesel aus dem Weg, der in mehreren Sprüngen direkt auf einen Polizeiwagen zuhüpfte und mit einem hässlichen Geräusch gegen die Fahrertür schlug. Robert guckte sich instinktiv um, aber außer ihnen war niemand zu sehen.

»Passt schon!«, sagte Jonte, »Ich bin Steuerzahler, ein bisschen gehört die blöde Karre auch mir!« Missmutig stiefelte er zu seinem Auto und ließ sich auf den Sitz fallen. »Dass die Welt verrückt ist und von Bekloppten bewohnt wird, ist ja wirklich nicht neu, aber das hier haut dem Fass wirklich den Boden aus!«

Während sie mit Signe Berglund im Büro gesessen hatten und nachdem Robert nach einer detaillierten Befragung gerade das Protokoll unterschreiben wollte, war ein junger Kollege ins Büro gestürmt. Noch bevor er registrierte, dass Signe Besuch hatte, platzte es aus ihm heraus. »Schon wieder ein Leichenfund in einem Schuppen! Diesmal in Emmaboda. Wieder im Zustand fortgeschrittener Verwesung und auch wieder mit Stirnband!« Signe starrte genervt an die Decke. »Lass mich raten«, hatte sie geantwortet, »auf dem Stirnband stand Vad ni vill!« Der Kollege nickte. »Und in Lessebo hat heute eine alte Frau Blumen auf das Grab ihres Mannes legen wollen. Ein Gärtner fand sie dann ohnmächtig auf dem leeren Sarg in der Grube. Sonst ist ihr zum Glück nichts weiter passiert. Ob es zwischen beiden Toten einen Zusammenhang gibt, wird noch untersucht«, sprudelte es aus dem Kollegen hinaus. Signe hatte den Kopf geschüttelt und Robert und Jonte mit einem »Der Kaffee muss leider warten, ihr hört, die Arbeit ruft!« hinauskomplimentiert. Die Tür war bereits geschlossen, als Signe den Freunden noch »Ich melde mich bei euch!« nachrief.

*

Die schlechte Laune von Jonte war hochgradig ansteckend. Knapp zehn Minuten nachdem die Freunde das Polizeikommissariat verlassen hatten und sie gerade in einen großen Verkehrskreisel einfuhren, fragte Jonte nölend: »Nybro oder Påryd?«

»Mir egal!«

»Mir auch!« Jonte fuhr an der ersten Ausfahrt vorbei und fuhr dann auf der innersten Fahrspur dreimal um den Kreisel ohne auszufahren. Robert stierte missgelaunt vor sich hin.

»Hast du noch genug Sprit? Solange wir in Bewegung sind, kann hier wenigstens keiner ’n Toten ablegen! Und wer weiß, was uns zu Hause erwartet …«

»Denen traue ich jedenfalls alles zu!«, knurrte Jonte und zog den Wagen jäh auf die äußerste Spur, schnitt dabei einen Volvo und nötigte anschließend noch einen Kleinlieferwagen zu einem riskanten Ausweichmanöver. Für dessen erschrockenes Hupen hatte er nur ein mildes Lächeln übrig. Dann nahm er die Ausfahrt Richtung Påryd.

Schweigend fuhren sie nun die waldreiche Strecke entlang und hingen schlechtgelaunt ihren Gedanken nach. Kurz nachdem sie das Dorf Rinkabyholm passiert hatten, sagte Robert: »Halt mal, ich muss mal raus!« Schweigend bog Jonte daraufhin in eine kleine Straße, die, obwohl eher wie ein Wirtschaftsweg aussehend, zu einer gedrungenen Wehrkirche und einer kleinen Siedlung führte. Jonte hielt wortlos auf einem Parkstreifen vor dem Friedhof, aus dessen Mitte sich zwischen den alten Bäumen trutzig die mittelalterliche Kirche erhob. Robert sah sich um, Jonte an, schüttelte den Kopf und stieg aus. Auf seiner Suche nach einem sowohl sichtgeschützten als auch nicht zum Kirchengelände gehörenden Plätzchen, eilte er an einem alten hölzernen Glockenturm vorbei und durcheilte den Friedhof. Kurz blieb er vor einem gläsernen Grabstein stehen, der, wie er mal gelesen hatte, eigens von einem Glasmacher für seine viel zu früh verstorbene Frau gefertigt worden war, dachte »Ach, hier ist der!« und hastete dann doppelt schnell in Richtung einer Baumgruppe an einem angrenzenden Feld. Dort verschwand er zwischen den Bäumen. Kurz darauf sah Jonte wie Robert sichtlich entspannt und eher schlendernd den Weg zurück zum Parkplatz nahm. Immer wieder blieb er kurz stehen und las die Inschrift irgendeines Grabsteines, bevor er plötzlich aufsah, zu einer parallel gelegenen Grabreihe eilte, um dann wild gestikulierend Jonte herbeizurufen.

*

Signe Berglund schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sah Robert mit leicht zusammengekniffenen Augen und schief gelegtem Kopf ungläubig an. »Warum, sagtest du, habt ihr hier gehalten?«

»Mich überkam ein zutiefst menschliches Bedürfnis.«

»Hier auf dem Friedhof?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen nach.

»Nee, da!« Robert zeigte auf die etwa hundert Meter entfernte Baumgruppe.

»Männer!«, seufzte Signe kopfschüttelnd. »Dann sollten wir da vorsichtshalber auch absperren!«, sagte sie nun grinsend und sah dann wieder in die enge Grube zu ihrem Kollegen in dem weißen Overall. Der versuchte angestrengt zwischen modrigen Sargresten Halt zu finden und gleichzeitig noch nach verwertbaren Spuren zu suchen. »Zwei geöffnete Gräber, zwei halb verweste Leichen in irgendwelchen Schuppen – das kann kein Zufall sein!«, dachte Signe, verscheuchte eine Mücke, die hartnäckig um ihren Kopf surrte und las auf dem schlichten Granitstein den Namen Ludvig Pålsson. »Welcher der beiden Toten hörte zu Lebzeiten wohl auf diesen Namen?«, fragte sie sich und baute dabei wieder mal auf das Glück und die Fähigkeiten ihres Kollegen Melker Berg, der schon so oft in Kombination beider Dinge in der Lage gewesen war, verwertbare DNA-Spuren zu extrahieren, wo andere bereits aufgegeben hatten.

»Ich habe hier was!«, kam es prompt dumpf aus der Grube und Melker Berg hielt ein kleines durchsichtiges Tütchen hoch. »Wer auch immer hier gegraben haben mag, hat das wohl ein bisschen zu forsch für den morschen Sarg getan. Sieht so aus, als wenn hier am Holz Gewebereste kleben …« Triumphierend reichte er Signe das Tütchen, die es vorsichtig entgegennahm und neugierig ansah.

»Ich wusste es ja, Melker, du bist der Beste!«, sagte sie zufrieden.

»Ja«, kam es trocken aus der Grube, »das bin ich!«

Als Signe das Tütchen ins Sonnenlicht hielt und konzentriert dessen Inhalt betrachtete, wurde Robert, in Erinnerung an das, was Signes Kollege eben gesagt und er in seinem Schuppen vorgefunden hatte, zum zweiten Mal innerhalb zweier Tage sehr flau im Magen. Signe sah ihn an und bemerkte, dass seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe um einige Nuancen fahler geworden war. Ernst und mitfühlend legte sie ihm die Hand an die Wange.

»Ich bin mir ja nicht so sicher, ob du dir nicht besser einen weniger aufregenden Ferienort suchen solltest. Du tappst jetzt schon im zweiten Jahr hintereinander in irgendwelche Geschichten hinein, die es sonst nur in schwedischen Krimis gibt!«

»Ich bin nicht in den Ferien!«, presste Robert trotzig hervor, »Jedenfalls nicht nur!«

»Okay, okay«, sagte sie beschwichtigend, wollte gerade noch etwas hinzufügen, als sie ihren Kollegen Oscar Lind vom nahen Kirchencafé über den Friedhof auf sie zusteuern sah. In der Hand hielt er ein Papptablett mit drei Bechern Coffee to go. Als er näher kam nickte er Robert und Jonte mit einem kurzen »Hej!« zu, wandte sich an Signe, reichte ihr das Tablett mit den Bechern und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nichts. Keiner hat hier in den letzten Tagen irgendetwas Auffälliges gesehen oder gehört.«

»Nicht mal irgendein unbekanntes Auto? Ich meine, irgendwo muss derjenige ja sein Auto gelassen haben. Die Leiche wird ja wohl kaum auf dem Fahrrad transportiert worden sein!«

»Nichts. Weder die Anwohner, noch die Leute aus dem Kirchencafé – und das liegt ja schließlich direkt gegenüber. »Allerdings«, er zeigte auf die rückwärtige Seite des Friedhofes, »da hinter den Bäumen fließt auf der einen Seite ein Flüsschen, auf der anderen Seite liegt ein großes Feld, und da soll es auch einen unbefestigten Fahrweg direkt bei den Bäumen geben. Der kann, solange es trocken ist oder nicht zu stark geregnet hat und man langsam und vorsichtig fährt, auch mit einem ganz normalen Pkw befahren werden. Und zum Friedhof hin gibt es da auch nur ein flaches Mäuerchen.«

»Komm«, sagte Signe zu ihm, »das schauen wir uns mal an! – Melker? Hier oben steht ein Kaffee für dich. Du kommst alleine klar?«

»Ja, sogar mit dem Kaffee! Ich liebe es, in Ruhe meinen Kaffee zu trinken. Haut bloß ab!«

»Alter Misanthrop!«, lachte Signe, »Okay, wir sind dann gleich wieder da!« Als sie sich gerade den beiden Freunden zuwandte hörte sie ein dumpfes »Lasst euch Zeit!« aus der Grube. Dann sagte sie zu Robert und Jonte: »Danke, dass ihr gleich angerufen habt. Aber tut mir einen Gefallen und stolpert jetzt nicht gleich wieder über irgendetwas. Lasst uns vorher etwas Zeit, die Sachen aufzuarbeiten. Gönnt euch doch was Gutes in Påryds Lantcafé!« Sie winkte noch einmal und folgte dann schnellen Schrittes ihrem Kollegen zum Wagen.

Wenige Minuten danach fuhren die Freunde wieder Richtung Påryd. Links neben sich auf dem Feld sahen sie eine gewaltige Staubwolke, die sich rasend schnell der Baumreihe neben dem Friedhof näherte. »Schau mal«, sagte Robert, »da fährt Signe vorsichtig und langsam zur Rückseite des Friedhofs!«

*

Kurz bevor sie die Baumgruppe erreichten, trat Signe beherzt auf die Bremse. Der schwere alte Ford Granada pflügte mit blockierenden Reifen durch den staubigen Boden, brach etwas über das Heck aus und schlitterte gefährlich auf den frisch gepflügten, tiefen Acker zu. Signe lockerte kurz die Bremsen, kurbelte beherzt am Lenkrad und brachte so den schlitternden Wagen wieder auf Kurs und dann zum Stehen. »So, hier muss es irgendwo sein! Vorsicht, damit wir bloß keine Spuren vernichten!« Sie sprang aus dem Wagen in die dicke Staubwolke, die sich nun langsam auf die Erde senkte. Oscar Lind stieg jetzt ebenfalls aus, schüttelte den Kopf und nieste. »Wahrscheinlich sind eh alle Spuren von einer dicken Staubschicht verschüttet«, dachte er, hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und folgte Signe.

»Nix. Null. Niente. Nada. Nothing. Nüt. Rien.« Signe hockte auf dem Ackerboden, der außer einigen alten, bereits von den Wettereinflüssen nivellierten Reifenspuren eines Treckers nichts Auffälliges zu bieten hatte. Das gleiche unergiebige Bild bot der Fahrweg vor ihr. Sie gingen zur Friedhofseingrenzung, die tatsächlich nur aus einem gerade mal kniehohen Mäuerchen bestand. Aber auch hier fanden sie weder Fuß- noch Schleifspuren; keinerlei Stofffetzen oder sonstige Ungewöhnlichkeiten deuteten darauf hin, dass es kürzlich irgendwelche Aktivitäten in diesem Bereich gegeben haben könnte.

»Und wenn der oder die doch ein Boot genommen haben? Der Friedhof hat zum Wasser hin so eine Art Terrasse. Ideal zum Anlanden. Und so ein Ruderboot hat viel Platz und ist leise; eine Plane über die Leiche, eine Angel und einen Korb daneben und niemand denkt sich was dabei.«

»Dann muss Melker da nochmal hin!«, überlegte Signe mit düsterem Gesicht. »Rückzug!«, sagte sie dann und strebte ihrem Auto zu.

Den nur knapp unter fünf Meter langen Ford auf dem schmalen Weg zu wenden, war ob dessen Breite von nicht mal drei Metern, dem frisch gepflügten Feld an der einen und den Bäumen an der anderen Seite, nicht einmal für Signe möglich. Genervt und eh schon schlechter Laune schüttelte sie den Kopf. »Die wollen es ja nicht anders!«, grunzte sie und schob krachend den Rückwärtsgang ein. Dann jagte sie, den Arm lässig auf die Lehne des Beifahrersitzes gelehnt und über die Schulter guckend, rückwärts den staubigen Weg entlang. Kaum hatten sie nach wenigen hundert Meter die kleine Dorfstraße erreicht, riss Signe das Lenkrad herum, trat das Bremspedal durch, ließ dann sanft den ersten Gang einkuppeln und cruiste gemächlich zurück Richtung Hauptstraße. Oscar Lind entspannte sich.

V

Robert und Jonte waren Signes Vorschlag gefolgt und waren in Påryds Lantcafé eingekehrt. Sie waren spät dran, es war bereits kurz nach vierzehn Uhr und direkt vor ihnen waren gerade die letzten Gäste gegangen. Robert ging zur Küche und klopfte laut an den Rahmen des Durchganges.

»Hej Anna, hej Erik! Haben wir noch Chancen, was zu essen zu bekommen?« Erik grinste ihn an und hob die Deckel der verschiedenen Töpfe und Pfannen.

»Heute war viel los, aber ich denke, es wird noch langen«, sagte er. »Wisst ihr schon, was ihr möchtet?« Er zeigte auf die handgeschriebene Tafel, auf der die Speisekarte für heute stand.

»Jonte?

»Ich nehme das Gleiche!«

»Dann bitte zwei Mal die Lachsroulade, zwei Apfelsaftschorlen und zwei Becher Kaffee!«

»Okay! Das Essen bringe ich euch sofort, die Apfelsaftschorle nehmt ihr euch bitte vorne aus dem Kühlschrank. Den Kaffee nach dem Essen?« Als Erik sah, wie die Freunde synchron »Auch!« sagten, grinste er. »Setzt euch schon mal, heute habt ihr ja freie Auswahl, könnt sogar endlich mal auf der Veranda sitzen!«

Wenig später kamen Anna und Erik auf die Veranda, brachten das Essen und zwei Becher Kaffee.

»Wollt ihr was besprechen oder können wir uns zu euch setzen?«, fragte Anna. »Wir sind nämlich auch noch nicht dazu gekommen, uns mal hinzusetzen und etwas zu essen! Wir sind heute auch alleine, die Kinder sind mit Oma und Opa in Kalmar beim Kinderschloss.«

»Sehr gerne!«, sagten Jonte und Robert wie aus einem Mund und mit einladenden Handbewegungen. Und so saßen sie gleich darauf zu viert am Tisch, die Pergola spendete lichten Schatten und ein leichter Wind sorgte für eine angenehme Brise. Die ersten paar Minuten aßen sie schweigend, ließen den Geschmack eines jeden Bissen achtsam auf ihren Zungen zergehen. Dann nickten sie fast gleichzeitig. »Bra jobbat!«, stellte Anna anerkennend fest, »Gut gemacht!« »Jadå. Sannerligen smaskens!«, meldete sich Jonte, »Ja. Wirklich lecker!«, während Robert seine Augen schloss und »Jättebra!« – »Sehr gut!« seufzte. »Jag tackar!« – »Ich danke!« kam es daraufhin zufrieden von Erik.

»Stimmt es, was man sich so erzählt?« Anna fragte beiläufig und ohne jemanden anzusehen.

»Wer erzählt was denn so?« Jonte gelang es, bei diesem Satz derart teilnahmslos auszusehen, dass Robert seinen Freund erschüttert ansah.

»Euer Nachbar hat da neulich bei seiner täglichen Runde durch das Dorf so was gesehen.« Anna streifte die Freunde mit einem demonstrativ unbeteiligten Blick.

»Hmm!«, brummte Robert ohne aufzusehen. Er nickte fast unmerklich, »Dann stimmt das wohl, was man sich so erzählt.«

»Und weiß man schon irgendwas?«

»Nee!«, Robert, schob eine große Gabel Lachsroulade in den Mund und sagte enthusiastisch: »Ahgn wih hmm nn Hoschho …« Drei Augenpaare sahen ihn zweifelnd an.

»Er redet wirr! Ich glaube, er braucht noch einen Kaffee …«, Jonte sprang auf und sorgte für Nachschub. Robert bemühte sich derweil den Mund leer zu bekommen, spülte den Rest mit frischem Kaffee hinunter, räusperte sich und fing unbeeindruckt von vorne an: »Aber, wollte ich sagen, wir haben in Hossmo ein leeres Grab entdeckt, und die Polizei sieht da wohl auch einen Zusammenhang zu den beiden Leichenfunden …«

»Den beiden Leichenfunden?« Erik sah ihn fragend an, und Robert begann zu erzählen. »Das ist ja furchtbar!«, Anna schüttelte sich, als Robert berichtete, unter welchen Umständen er den Toten im Schuppen aufgefunden hatte. »Und was soll das heißen, Was ihr wollt? Das ist doch von Shakespeare …«

»Ja, aber keine Ahnung, was eine Komödie mit den Leichen verbindet!«

*

»Hej, Signe«, Viggo Henriksson war in Signes Büro getreten. »Ich soll dich von unserem Urlauber grüßen!« Signe räumte in aller Ruhe ihre Beine von der Schreibtischecke, wo sie sie beim Aktenstudium vorzugsweise abzulegen pflegte und sah leicht irritiert zu ihrem Kollegen. »Göran …«, half er ihr auf die Sprünge und wurde von Signe unterbrochen:

»Der ist nicht im Urlaub, sondern in Elternzeit!«, begehrte sie auf. »Der kümmert sich den ganzen Tag um seinen kleinen Mats und legt wahrscheinlich seine Beine viel seltener hoch als wir!«

»Ach so!«, kam es gedehnt zurück, wobei er sie spöttisch ansah. Dann wurde Viggo wieder ernst. »Göran lässt fragen, ob du ihn sehr vermisst und wie sich seine Vertretung von den SD so macht. Ich habe das Gefühl, er würde gerne nochmals verlängern …«

Signe war selbst erstaunt, dass sie aufgrund dieser Ankündigung keine Krise bekam. Aber im Ergebnis machte sich Görans Vertretung Oscar Lind, der aufgrund seiner Mitgliedschaft bei den SD, den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, und seinem anfangs flegelhaften und unverschämten Benehmen ihr gegenüber – sei es nun als Frau oder Schwarze oder beides – keinesfalls ihrem Bild eines idealen Kollegen entsprochen hatte, inzwischen wirklich gut. Und das, obwohl, wie sie sich eingestehen musste, ihr Verhalten ihm gegenüber auch nicht immer okay gewesen war.

Trotz seines fast noch jugendlichen Alters und allen bisherigen Beurteilungen zum Trotz, hatte er hier gute Arbeit geleistet und maßgeblich zur Aufklärung eines Mordes beigetragen. Er hatte sein Benehmen positiv verändert, und nicht eine seiner Äußerungen oder Handlungen im Dienst ließen Rückschlüsse auf seine politische Gesinnung zu. Auch alle seine privaten Äußerungen waren, zumindest die, die er im erweiterten dienstlichen Umfeld machte, absolut unauffällig. Signe musste sich sogar eingestehen, dass sie die Zusammenarbeit mit ihm schätzen gelernt hatte. Ob sie ihn vielleicht sogar auch mochte, klammerte sie kategorisch aus ihren Überlegungen aus. Schließlich war er ja ein SD-Mann!

»Und was hast du gesagt?«

»Dass ich anfangs zwar mehr als skeptisch war, er sich aber inzwischen gut macht und auch ihr nach euren anfänglichen Schwierigkeiten dabei seid, ein richtig gutes Team zu werden!«

»Na ja«, wiegelte Signe ab, »mit Göran war es schon anders!«

»Kein Wunder, ihr habt ja auch fast zehn Jahre zusammen gearbeitet …«

»Neuneinhalb!«, berichtigte Signe mit Nachdruck.

»Okay, dann ist es allerdings erstaunlich, dass ihr schon so ein eingeschworenes Team gewesen seid!«, spottete Viggo mit einem breiten Grinsen.

Signe hielt sich demonstrativ die Ohren zu und fing monoton an »Lalalalala …« zu singen, als Oscar Lind ins Zimmer trat und irritiert von Signe zu Viggo und zurück sah.

»Hej Oscar, wir probieren hier gerade eine ganz neue Kommunikationstechnik …«, behauptete Signe ungerührt, wurde aber von Oscar unterbrochen. »Förlåt!«, »Entschuldigung! Aber das muss warten. Es gibt einen neuen Toten. In einem Schuppen in Torsås!«

*

Wenige Stunden später stand fest, dass der Tote, der in dem Schuppen in Torsås saß, auffallende Parallelen zu den anderen Toten aufwies. Auch er war schon vor etlichen Jahren beerdigt worden, wies starke Verwesungsspuren, aber augenscheinlich keinerlei Verletzungen auf, und auch er trug ein an seinen Kopf getackertes Stirnband in den schwedischen Farben und der Aufschrift Vad ni vill. Und auch er war entdeckt worden, als jemand Gartengeräte aus dem Schuppen holen wollte.