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Zwei Geschichten an zwei ganz unterschiedlichen Orten, die doch zusammenhängen. Während die erste und einzige schwarze Kriminalommissarin der Reichspolizei in Kalmar mit ihrer Freundin für ein Sabattical in Nuuk auf Grönland weilt, wird sie zufällig in einen Waffenschmuggel hineingezogen, entführt und in einen Kühlraum gesperrt. Und während ihr Körper immer weiter auskühlt, irrlichtert ihr Unterbewusstsein durch Stationen ihres Lebens. Später wird sie, sehr zum Missfallen ihrer Freundin und der grönländischen Polizei, selbst Ermittlungen aufnehmen. Parallel zu dem arktischen Geschehen, werden in Südschweden mehrfach kleine Dorfsupermärkte überfallen. Immer wieder stürmen drei Personen mit sündhaft teuren und täuschend echten Latexmasken von lebenden oder verstorbenen Prominenten in die Läden, bringen die spärlichen Bareinnahmen an sich, schießen in die Decke und verschwinden wieder. Und natürlich wird auch Robert Ekkheim, ein guter Freund Signes, Zeuge eines Überfalls …
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Seitenzahl: 335
Veröffentlichungsjahr: 2022
Die Signe Berglund Krimis schließen die Lücke zwischen Astrid Lindgrens Bullerbü und den Krimis von Erik Axl Sund. Mehr Romane als Krimis also, die zwar keine heile Schwedenwelt erdichten, aber eher mit einem Augenzwinkern denn mit blutiger Feder geschrieben sind. Sie lassen immer wieder teilhaben am Alltag ihrer Protagonisten und erzählen den Leserinnen nebenbei immer auch etwas über (das heutige) Schweden und die anderen (realen) Schauplätze der fiktiven Geschichten.
Ulf Spiecker, Jahrgang 61, ist gelernter Landschaftsgärtner und studierter Stadtplaner. Er hat aber unter anderem in den Schulferien auch als Maurer gejobbt, Zivildienst im Altenheim geleistet, während der Lehre an Autos geschraubt, im Urlaub Ziegen gemolken, zwischen Uni-Vorlesungen in der Verkehrsplanung gearbeitet, Kindererziehung und die Herstellung von Graved Lachs verbunden und ehrenamtlich viel Zeit in Schulbibliotheken verbracht.
Ulf Spiecker lebt und schreibt in Hamburg – und seit 1994 immer wieder auch in Schweden. Wenn nicht gerade eine verdammte Pandemie dazwischen kommt.
Ulf Spiecker
Minkwal, Masken und Moneten
– Signe Berglund wird kaltgestellt –
Roman
Von Ulf Spiecker sind in dieser Reihe bisher erschienen:
Tanz der Frösche
— Signe Berglund beginnt mit Ermittlungen
Leichenwechsel
— Signe Berglund sucht ein Motiv
Eau de Voiture
— Signe Berglund nimmt’s persönlich
Minkwal, Masken und Moneten
— Signe Berglund wird kaltgestellt
Signe Berglund Krimis
sind auch unabhängig voneinander lesbar
© 2022/23 Ulf Spiecker
ISBN Softcover: 978-3-347-60202-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-60203-8
ISBN E-Book: 978-3-347-60204-5
ISBN Großdruck: 978-3-347-60205-2
Covergestaltung und Foto: Ulf Spiecker
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mein besonderer Dank gilt
Mariana Leune
für die ebenso angenehmen wie anregenden Gespräche, die Korrekturen, Anmerkungen, Anregungen, Bedenken und die konstruktive Kritik – und nicht zuletzt für ihre Geduld!
I
Ein heftiger Stoß in den Rücken ließ die erste und einzige schwarze Kommissarin der schwedischen Reichspolizei in den dunklen Raum hineinstolpern. Nach wenigen ungelenken Schritten prallte sie unsanft gegen etwas Kaltes und wurde dann durch eine träg pendelnde Bewegung umgerissen. Erst fiel sie auf die Knie, dann hinter ihr eine schwere Tür ins Schloss.
Signe Berglund machte sich gar nicht erst die Mühe, an die Tür zu hämmern und so etwas wie »Lasst mich hier raus!« zu rufen. Die würden sie ganz sicher nicht heraus lassen. Sie konnte froh sein, dass sie noch lebte – auch wenn sie der entscheidenden Frage, wie lange noch, lieber nicht genauer nachgehen wollte. Grundlos hatte man ihr ja wohl bestimmt nicht ihren schönen warmen Parka abgenommen.
Ihr Kopf schmerzte, aber sie hatte ja auch ordentlich eins übergezogen bekommen. Vorsichtig betastete sie die kapitale Beule. »Dann bin ich hier ja doch richtig, so was soll man ja kühlen!«, dachte sie trocken. Dann begann sie im schummrigen Licht der kleinen Notbeleuchtung ihr Gefängnis zu untersuchen. Der vollständig geflieste Raum besaß keine Fenster, war geschätzt acht Meter lang und fünf Meter breit. Die Deckenhöhe vermutete sie bei gut vier Metern. An ihr waren mehrere Reihen mit Schienen befestigt, von denen große Haken herabhingen. Nicht nur der Geruch ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Raum der Lagerung von Meerestieren diente: An einem der schweren Haken hing leicht schaukelnd ein großer
Fisch herab. »Wahrscheinlich hat der mich eben umgehauen!«, mutmaßte Signe Berglund und sah das tote Tier feindselig an. Auch wenn sein Kopf nicht gefehlt hätte, wäre sie mangels maritimer Kenntnisse nicht in der Lage gewesen, ihn näher zu bestimmen. Über der Tür, von wo aus auch die einzige Lichtquelle ihr funzeliges Licht verbreitete, summte leise ein von einem stabilen Metallkäfig geschützter Kompressor – vermutlich der, der für die verdammte Kälte hier verantwortlich war. Neben der Tür war ein weiterer kleiner Drahtkäfig. Der schützte ein Thermometer. Es zeigte -2ºC.
»Immerhin«, dachte Signe Berglund. »Besser als -20ºC! Aber leider ändert das nichts Grundsätzliches, ich habe wohl nur ein bisschen mehr Zeit …« Sie überlegte, was am klügsten sei, entweder herumzugehen und sich zu bewegen, den Kreislauf in Schwung zu halten, dafür aber viel Energie zu verbrauchen oder sich zusammenzukauern, um der Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sie entschied sich für Letzteres, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und rutschte in die Knie. Sie umschlang ihre Beine und vergrub ihren Kopf zwischen den Armen, sodass sie die eisige Luft nicht direkt einatmete. Sie begann mit sich zu hadern, alleine zum Fischmarkt vorgegangen und so verdammt neugierig gewesen zu sein. »Sehr viel schlimmer hätte es in der Boutique auch nicht kommen können!«, dachte sie sarkastisch. Dann fiel ihr Ella ein und sie machte sich Sorgen. Und dann kam die Panik. Sie kam nicht angeschlichen, sie sprang sie mit aller Macht an. Signe versuchte, an nichts zu denken, schon gar nicht dieses sie jetzt immer aufs Neue wellenartig überrollende Gefühl der Heidenangst zuzulassen. Auch die Kälte wurde irgendwann zunehmend spürbarer. Sie zitterte am ganzen Körper. »Jetzt hätte ich gerne doch noch ein großes Stück von dieser höllischen Delikatesse!«, dachte sie.
Signe Berglund merkte, wie sie langsam träger und die Panik immer größer wurde. Sie zwang sich an Schönes zu denken, bemühte Erinnerungen an ein behütetes Früher, an ihre Kindheit – und glitt in ein barmherziges Zwischenbewusstsein. Es war, als würde sie sich in ihrer Vergangenheit selbst beobachten.
Das kleine Mädchen hockte auf einem flachen Felsen, hielt mit seinen dünnen schwarzen Ärmchen seine Knie umschlungen und starrte gebannt vor sich ins Wasser. Es war von dem, was es sah, so abgelenkt, dass es nicht hörte, wie es immer ungeduldiger gerufen wurde. »Warum antwortest du denn nicht?«, fragte eine Frau in einem leichten Sommerkleid, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah das Mädchen ein bisschen vorwurfsvoll an. Das Mädchen drehte den Kopf und sah hoch. Die Frau wusste nicht, ob das Mädchen sein Gesicht verzog, weil es von der Sonne geblendet wurde oder ob es lächelte. Dann deutete das Mädchen in das flache Wasser. »Da!« sagte es verzückt und zeigte auf die vielen winzigen Flusskrebse, die sich fast noch durchsichtig im sonnendurchfluteten Wasser tummelten.
Die Frau ging neben dem Mädchen in die Knie, legte ihm den Arm um die schmalen Schultern und schaute mit dem Mädchen zusammen ins Wasser. Leise erklärte sie dem Kind, was sie da sahen, und sie erzählte auch vom Kräftskiva, dem Krebsfest im August. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir letztes Jahr mit unseren Freunden und den ganzen anderen
Kindern gefeiert haben? Und wie du ganz alleine die Krebse ausgepult und dann gegessen hast? Diese hier werden auch mal so groß und vielleicht essen wir dann nächstes Jahr sogar welche von diesen hier.« Empört sah das Mädchen die Frau an.
Signe Berglunds gesamter Körper fühlte sich an, als würde er mit unzähligen Nadelstichen malträtiert. Ihre Arme und Beine waren taub, Finger und Zehen schmerzten. Sie zitterte wie Espenlaub und ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie drohte wegzudämmern. Aber das war ihr zunehmend gleichgültig. Mit größter Anstrengung gelang es ihr dennoch, sich erneut auf wohlige Kindheitserinnerungen zu fokussieren. Immer neue Sequenzen aus ihrem Leben gingen ihr durch den Kopf und überlagerten für einen Moment ihre schier aussichtslose Situation. Wieder war es, als ob sie von fern ihrer eigenen Geschichte zusah.
Das kleine Mädchen wollte nicht mitkommen. Es wollte spielen. Mit seinen Pferden. Am liebsten am See, wo man zwischen den Felsen mit Kieseln und kleinen Stöcken so tolle Häuser für die Pferde bauen konnte. Der Mann beugte sich zu dem Mädchen hinunter. »Aber du kannst doch nicht ganz alleine hierbleiben!«, sagte er und sah es an. »Weißt du was? Du kannst ja zu den Spielsachen gehen, während wir nach einer Lampe suchen!«, schlug er vor. »Genau«, ließ sich jetzt die Frau ebenfalls vernehmen, »du darfst dir dann ausnahmsweise auch was aussuchen!« Das kleine Mädchen legte den Kopf schief und überlegte. »Und wir könnten danach auch noch ein Eis essen gehen!«, legte der Mann nach. Das Kind lächelte erwartungsvoll, ergriff die Hände seiner Eltern und hüpfte zwischen ihnen zum Auto.
Sobald sie den großen Loppis betreten hatten, winkte das
Mädchen und ging zielstrebig zu der Spielzeugabteilung des Secondhand-Marktes, die jedes Mal wieder spannende neue Abenteuer bereit hielt. Jedes Mal gab es wieder neue Sachen zu entdecken und man konnte alles in Ruhe angucken und ausprobieren, ohne dass sofort ein Erwachsener kam. »Lauf aber nicht weg!«, hörte es noch den Mann rufen, aber das hatte es sowieso nicht vor. Weder wollte es gefährden, sich etwas aussuchen zu dürfen, noch das leckere Eis, was es seiner Meinung nach eh viel zu selten gab. Es sah sich jetzt um, lief neugierig zwischen den bunt bestückten Regalen hin und her und blieb plötzlich wie angewurzelt vor einem feuerroten Kettcar stehen. Vorsichtig legte es seine kleine schwarze Hand auf das Lenkrad und ließ sie über das cremeweiße Plastik gleiten. Es fasste ein wenig fester zu und sah fasziniert, wie sich die Vorderräder leise quietschend über den blank gebohnerten Boden hin und her bewegten.
»Na, hast du was Schönes gefunden?«, hörte es den Mann fragen. Das Mädchen drehte sich um, hatte keinen Blick für die Lampe, die der Mann im Arm trug und nickte heftig. »Das da!«, flüsterte es andächtig und zeigte auf das Kettcar. Dem Mann blieb vor Überraschung der Mund offen stehen und die Frau fing an zu lachen. »Na, da haben wir wohl jetzt ein Problem! Wir hätten mit unserm Versprechen doch etwas präziser sein müssen!« Sie lachte noch immer. »Willst du nicht lieber nach einem Pferd für deine Sammlung gucken?«, fragte der Mann zaghaft. Das Mädchen sah ihn an, als ob es nicht glauben konnte, wie man so etwas Abwegiges überhaupt fragen konnte. Energisch schüttelte es dann den Kopf. Der Mann sah die Frau ratlos an, was sie wieder lachen ließ. »Du hast ihr das doch versprochen«, sagte er leicht vorwurfsvoll. »Also bitte, mach irgendetwas!« Die Frau lachte noch immer, drehte das
Preisschild, las 150 Kronen1, sah kurz zu dem hoffnungsvoll blickenden Mädchen, ergriff das Kettcar am Lenkrad und ging mit ihm zur Kasse. Der Mann sah ihr kopfschüttelnd nach, kratzte sich resigniert an der Stirn, drehte sich dann dem Mädchen zu, blickte in ein überglückliches, strahlendes Kindergesicht und lächelte.
Kaum dass sie zu Hause waren, verwuchs das Mädchen mit dem Kettcar, verließ ihn nur, wenn es Zeit war, zu Bett zu gehen oder um kurz zu essen. Es raste um Ecken, bremste schleudernd auf der Auffahrt, forderte die Nachbarskinder zu Wettfahrten und ließ sich auch von Regen nicht aufhalten. »Meine Reifen brauchen Feuchtigkeit!«, sagte es dann und suchte sich stets die größten und tiefsten Pfützen.
*
Viggo Henriksson, Signe Berglunds Stellvertreter und aufgrund seiner Größe, der Farbe seiner Haarpracht, seiner tiefen brummigen Stimme und seiner politischen Gesinnung intern roter Bär genannt, saß schlecht gelaunt an seinem Schreibtisch. Missmutig blätterte er durch die Fälle der letzten Wochen. Sechs Raubüberfälle auf kleinere Supermärkte in nur zehn Tagen! Jedes Mal waren kurz vor 21:00 Uhr, wenn der Kundenstrom zum Erliegen gekommen war und die kleinen Läden auf den Dörfern schlossen, drei Männer in die Läden gestürmt, hatten mit Schusswaffen das Kassenpersonal bedroht und Bargeld gefordert. Danach verschwanden sie wieder genau so schnell, wie sie gekommen waren; allerdings nicht, ohne vorher ein, zwei oder drei Warnschüsse in die Decke abgefeuert zu haben. Zwei Dinge waren auffällig: Erstens
benutzten sie, wie die Ballistiker verwundert feststellten, stets andere Waffen, auch wenn es sich fast jedes Mal um die gleichen Fabrikate aus dem ehemaligen Ostblock handelte. Zweitens trugen die Räuber immer täuschend echt aussehende Latexmasken. Auf die Sache mit den Masken war man gekommen, als alle Augenzeugen des letzten Überfalls übereinstimmend zu Protokoll gaben, zweifelsfrei die beiden ABBA-Ikonen Benny Anderson und Björn Ulvaeus, sowie Dean Martin erkannt zu haben.
Als daraufhin ein blutjunger und sehr eifriger Kollege sofort losstürmen wollte, um besagte Herren notfalls auch mit polizeilichen Zwangsmaßnahmen ins Präsidium zu zerren, gelang es Viggo Henriksson nur zusammen mit seinem Kollegen Oscar Lind, den jungen Heißsporn daran zu hindern, sich und die Polizei zum Drummel, zum Trottel zu machen.
»Signe hat’s richtig gemacht! Einfach mal eine Auszeit mit der Liebsten nehmen …«, stellte Viggo fest und überlegte, wohin er denn mit seiner Frau fahren würde. »Jedenfalls nicht nach Grönland wie die beiden!«, dachte er und fröstelte schon bei dem Gedanken. Lächelnd musste er an Signe denken, die ihm ihr Leid geklagt hatte, dass Ella sich über sie lustig machen würde, weil sie vor hatte, zwei bis drei Koffer mit Wintersachen mitzunehmen. »Ich liebe zwar die Ästhetik des ewigen Eises, aber ich friere doch nicht gern«, hatte sie gesagt und dabei wirklich bemitleidenswert ausgesehen. »Na ja«, dachte Viggo dann, »die letzten paar Wochen wird sie nun auch noch überstehen!«
1 150,- Schwedische Kronen entsprechen etwa 15,- €
II
»Ich geh schon mal vor! Lass dir aber ruhig Zeit!«, sagte Signe. Ella sah sie an. »Du könntest ja auch mal gucken, ob du zur Abwechslung vielleicht mal etwas Warmes und Hübsches findest!«, grinste sie und spielte auf Signes übergroßen Parka an, dessen grelles Orange jeder Warnbake zur Ehre gereicht hätte. Und dessen Schnitt keinerlei Bezug auf Körperformen nahm, dafür aber eine Komfortzone bis mindestens -20ºC garantierte und zusätzlich noch beliebig vielen Pullovern Aufnahme bot. Signe schüttelte energisch den Kopf, küsste Ella zum Abschied und verließ die kleine Boutique, um die unzähligen steilen Holzstufen in Richtung Fischmarkt hinabzusteigen.
Ella war in ihrem Element. Neugierig und akribisch durchstöberte sie den kleinen Laden, der das gesamte Erdgeschoss eines typischen grönländischen Holzhauses einnahm. Der kleine lederne Flechtkorb, mit dem Ella nun zur Kasse ging, war gut gefüllt. Neben Figuren aus Speckstein und Rentierknochen lag auch ein Ulu, das ebenso traditionelle wie universelle Inuitmesser. Nun musste sie sich unbedingt noch ein kleines, sehr scharfes und stabiles Jagdmesser kaufen. Etwas, dass sie schon als Kind haben wollte, was ihr Vater aber mit dem Hinweis auf dessen Gefährlichkeit strikt unterbunden hatte – und später einfach in Vergessenheit geraten war. Den sündhaft teuren Pullover aus leichter und weicher Moschusochsenwolle für Ihre Liebe, der, glaubte man der Verkäuferin, viel besser wärmen würde als die feinsten Daunen, war sie froh, mit ihrer Kreditkarte bezahlen zu können – so viel Bargeld trug kein normaler Mensch mit sich herum.2 Nun endlich stieg auch sie mit ihren Einkäufen die Treppe zum Fischmarkt hinab.
*
Signe Berglund betrat einen lang gestreckten offenen Holzbau. Auf alten, stabilen, blank gescheuerten Holztischen wurde von Fischern und Robbenjägern das feilgeboten, was sie früh morgens aus dem Eismeer angelandet und nicht an die staatliche Royal Greenland verkauft hatten, die die weite Welt mit Fisch und Schalentieren aus arktischen Gewässern belieferte. Fasziniert betrachtete Signe die Vielzahl und Größe des Meeresgetiers in den Auslagen. Wie angewurzelt blieb sie alsdann vor einer aufgebrochenen, über zwei Meter langen Robbe stehen, neben der einige tiefrote Fleischstücke lagen, die schon ob ihrer Größe und weil die Darbietung von Moschusochsenhälften auf Fischmärkten eher unwahrscheinlich ist, nur von einem Wal stammen konnten. Mit Mühe widerstand Signe dem Impuls, ihre Kamera hervorzuholen und einige Fotos zu machen. Als ihr dann lächelnd ein Stück schwarzes Fleisch auf einem Messer gereicht wurde, wollte sie spontan zugreifen. Entsetzt wehrte der Mann ab und gab ihr stattdessen das Messer. »Ulisimali«, erklärte er auf das Fleisch deutend und noch immer grinsend. Das Wort hatte Signe schon mal im Zusammenhang mit einer grönländischen Delikatesse gehört, hatte aber längst vergessen, dass
es sich dabei um rohes, fermentiertes Robbenfleisch handelte. Beherzt zog sie das etwas streng riechende Stück Fleisch mit ihren Zähnen von der rasiermesserscharfen Klinge.
Obwohl Signe sich nicht entsinnen konnte, jemals auf einer Schuhsohle oder einem Dichtungsring herumgekaut zu haben, war sie sicher, dass das Stück Fleisch in ihrem Mund genau deren Konsistenz entsprach. Mühsam kaute sie das zähe Fleisch und plötzlich schossen explosionsartig scharfe Gase in all ihre Nebenhöhlen und bliesen diese schlagartig frei. Im selben Moment wurden in ihrem Körper unzählige Feuer entfacht, sie bekam heftige Schweißausbrüche und ihr Blick wurde von einem Schwall Tränen getrübt. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich comicgleich mit abstehenden Haaren, qualmenden Ohren und weit aufgerissenen, aus den Höhlen tretenden Augen. »Good?«, fragte der Mann lachend in einem harten, kehligen Englisch. »Das ist Medizin – gegen Kälte!« Signe nickte mit Tränen in den Augen. Der Fischer hielt ihr auffordernd ein weiteres Stück hin, aber Signe wehrte dankend ab und verließ schnellen Schrittes den Holzbau durch eine kleine Seitentür.
Signe Berglund setzte sich auf einen Stapel flacher Fischsteigen, die überall auf dem kleinen Hofplatz herumstanden, und japste nach Luft. Langsam normalisierte sich ihre gefühlte innere Temperatur. Sie stand auf, streckte sich und ließ die klare und kalte Luft in ihre Lungen strömen. »Puh, so ähnlich muss das Fegefeuer sein!«, dachte sie etwas gequält und setzte sich wieder. Dabei verrutschte die obere Kiste.
Sie bückte sich, wollte sie wieder gerade rücken und stutzte. Im Schotter vor ihren Füßen lag ein kleiner schwarzer USB-Stick. Sie hob ihn auf, rieb ihn trocken und betrachtete ihn. Dabei streifte ihr Blick die verrutschte Kiste. Sie erkannte irgendwelche kyrillisch anmutenden Schriftzeichen, aber was sie noch sah, ließ alles andere in den Hintergrund treten. Sie ließ den USB-Stick achtlos in eine ihrer vielen Parkataschen gleiten und hob die obere Steige ab. Darunter fand sie, in handelsübliche Gefrierbeutel verpackt, verschiedene Pistolen. Auf Anhieb erkannte sie russische Makarows, tschechische CZ75 und ukrainische Fort 12. Die nächste Steige enthielt ausschließlich alte Zastava aus jugoslawischer Produktion. Signe Berglund zählte insgesamt vierundzwanzig Pistolen. Sie blickte sich um. Den horizontal auf sie zurasenden Knüppel realisierte sie nur schemenhaft, hatte keine Chance zu reagieren und klappte schwer getroffen zusammen.
*
Ella war bereits etwa die Hälfte der Treppe herabgestiegen, als sie sah, wie zwei Männer jemanden in einem riesigen orangefarbenen Parka auf einen silbernen Pick-up schmissen. Anschließend zerrten sie eine Plane über die Ladefläche, öffneten die mit großen grün-roten Emblemen versehenen Wagentüren und starteten den Motor. Ella war wie erstarrt. Dann setzte sie sich in Bewegung.
Natürlich war der Pick-up längst verschwunden, als Ella den kleinen Innenhof erreichte; war gerade noch als daumenbreiter bewegter Fleck am Ende der Küstenstraße auszumachen. Hektisch sah sich Ella um und hatte Glück: Weil hier nicht nur das Nationalmuseum und das Tourismusbüro lagen, sondern auch die ausgebooteten Ausflügler der auf Reede liegenden Kreuzfahrtschiffe an Land gingen, warteten in der Nähe immer einige Taxis auf Fahrgäste. »Schnell, folge dem silbernen Pick-up da vorne!«, stieß Ella atemlos aus, als sie sich auf den Beifahrersitz eines der schwarzen Taxis schwang. Der Fahrer sah sie daraufhin geradezu verklärt lächelnd an. In seinem ganzen Leben hatte er nicht erwartet, diesen geheimsten aller seiner Wünsche – eben genau diese Aufforderung – hier in Nuuk einmal ernst gemeint zu Gehör zu bekommen! Während in irgendwelchen Filmen Verfolgungsfahrten mindestens kreuz und quer durch riesige Metropolen, manchmal durch das ganze Land führten, gab es für die knapp 18.000 Seelen in Nuuk auf ihren knapp 12 qkm Stadtfläche ja nur ein paar armselige Straßenkilometer. Und die meisten davon lagen auch noch in kleinen Wohn- und Siedlungsstraßen – und wie überall in Grönland war kein Ort mit einem anderen über eine auch noch so traurige Straße verbunden. Insgesamt also wirklich keine guten Rahmenbedingungen für eine rasante Verfolgungsjagd! Immerhin gab es in Nuuk jedoch zwei Ampeln, die man in halsbrecherischer Fahrt bei Rot überfahren konnte, um den Anschluss an sein Zielfahrzeug nicht zu verlieren.
Noch immer starrte der Fahrer glücklich, aber regungslos zu Ella. Ungeduldig sah diese ihn an und machte eine auffordernde Handbewegung. Mit laut quietschenden Reifen nahm das Taxi abrupt Fahrt auf. Rücksichtslos und materialschindend peitschte der Fahrer den kalten Motor zu schwindelerregenden Drehzahlen und bretterte durch die Straßen. So etwas hatte er bisher nur einmal aus Frust gemacht – als seine Frau ihm vor wenigen Wochen die Tür gewiesen hatte, nachdem er sich alkoholschwanger vor schadenfreudig feixenden Kumpanen gebrüstet hatte, sie betrogen zu haben. Das war für den scheuen Blick und das eher linkische Lächeln, mit dem er eine junge Kreuzfahrerin bedacht hatte eine maßlose Aufschneiderei, was seine die ganze Zeit neben ihm stehende Frau aber natürlich nicht wusste. Aber all das kannte er eh nur aus Erzählungen, viel zu viel hochprozentiger Schneehuhnschnaps3 war an diesem unglückseligen Abend unverdünnt durch seine Kehle geflossen.
Nun folgte das Taxi dem staubigen Asphaltband, bog unter Missachtung der Vorfahrt, dafür mehrfach hupend, auf die Hauptstraße und fuhr kurz darauf an dem modernen schicken Einkaufscenter vorbei. Vor ihnen tauchte eine Ampel auf, die zum großen Bedauern des Fahrers Grün zeigte. Sie konnten einfach völlig unspektakulär und im Einklang mit den Verkehrsregeln abbiegen. Aber der Fahrer wusste natürlich auch, dass sich ihm gleich noch eine zweite Chance bot: Nur einige Hundert Meter weiter stand seit einiger Zeit ja die zweite Ampel Grönlands! Als auch diese auf Grün stand, bremste der Fahrer den Wagen hart ab, was dazu führte, dass in den nachfolgenden Autos mal mehr, mal weniger schimpfend
über seinen Geisteszustand spekuliert wurde. Ungeachtet dessen kam das Taxi nun fast zum Stehen, schlich im Schritttempo auf die Ampel zu, was Ella jetzt bewog, lautstark die Frage nach seinem Geisteszustand aufzugreifen. Stoisch ließ sich der Taxifahrer von den nachfolgenden Fahrern mal kopfschüttelnd, mal unmissverständlich gestikulierend überholen.
Als die Ampel endlich auf Gelb sprang, beschleunigte das Taxi wieder. Penetrant hupend überfuhr es dann zügig die längst auf Rot umgeschaltete Lichtzeichenanlage und scheuchte einige Fußgänger zurück auf den rettenden Gehsteig. »Das war doch Anarteq«, kam es aus dem Pulk der dem davonrasenden Taxi kopfschüttelnd hinterherblickenden Menschen. »Der Jäger ist halt nur das, was seine Frau aus ihm macht«, kam es von jemandem aus der Menge. – »Der fährt heute wieder wie ein Tupilaq4«, bemerkte ein anderer. Jetzt nickten die Menschen. Einige lachten. Man kannte sich halt. Und seine Geschichten.
Das Taxi hatte mit seiner halsbrecherischen Fahrt gegenüber dem Pick-up Strecke gut gemacht. Der Fahrer ließ es, um nicht entdeckt zu werden, nun geruhsamer angehen. Sie beobachteten, wie der Pick-up an einem Verkehrskreisel rechts hinausfuhr, und folgten ihm. Als dann ein älterer Mann am Straßenrand
winkte, hielt der Taxifahrer erfreut an und ließ das Fenster hinunter. Ebenso laut wie gestenreich erzählte er dem Mann irgendetwas und da Ella kein Wort verstand, sprachen sie wohl grönländisch miteinander. Da aber immer wieder auf sie und auch auf den Pick-up gezeigt wurde, nahm sie an, dass es in der Erörterung um die Verfolgungsjagd ging. Der ältere Mann schien jetzt etwas zu erklären, deutete in die Ferne und beschrieb mit seinen kräftigen Händen etwas Großes und Kantiges. Aufgebracht ging Ella dazwischen, rüttelte am Arm des Fahrers und fauchte ihn an, endlich weiterzufahren. Der hob abwehrend die Hand, hörte zu, fragte nach. Nach einigen weiteren Sätzen setzte sich das Taxi endlich wieder in Bewegung. Ohne Ella anzusehen, sagte der Fahrer dann: »Ein Freund. Er kennt den Wagen. Er arbeitet unten im Hafen im Seemannsheim und hat den Wagen schon häufig im Hafen gesehen! Er sagt, der steht immer vor irgendwelchen Lagerhallen.«
2 Moschusochsenhaar ist sehr selten. Gewinnung und Verarbeitung ist etwa 8mal aufwendiger als bei vergleichbaren Naturfasern. Sein Volumen besteht zu etwa 60% aus kleinsten Luftkanälen woraus sich die mit keiner anderen Faser vergleichbaren Wärmeisolation ergibt. Der durchschnittliche Preis eines Pullovers aus 250 gr. Wolle beträgt mindestens 800,- bis 900,- €.
3 Für den Schneehuhnschnaps wird der Mageninhalt des Vogels getrocknet, dann in den Schnaps gegeben und fünf Monate lang gelagert. Danach wird er destilliert und weitere fünf Monate gelagert. Je mehr gefrorene Krähenbeeren im Magen, je sanfter, abgerundeter und süßlich ist der Geschmack. Meist als hochprozentige Essenz, die dann (z.B. mit Grönlandeis) verdünnt wird.
4 1. Altes grönländisches Sprichwort, das darauf abzielt, dass der Jäger nur erfolgreich sein kann, wenn seine Frau ihm warme Kleidung und den Herd bereitet. Heute oft spöttisch darauf bezogen, dass immer mehr Frauen gut ausgebildet mit entsprechenden Jobs die wirtschaftliche Basis der Familie darstellen (auch die ihrer immer noch oft jagenden und sammelnden, sich archaisch gebenden Männer). – 2. In der Mythologie der grönländischen Inuit wurde der Tupilaq, eine oft aus Walrosselfenbein geschnitzte kleine Skulptur, durch geheime Zeremonien zum Leben erweckt, um jemanden gezielt Schaden zuzufügen.
III
Das Zittern hatte aufgehört, aber das war leider kein gutes Zeichen. Signe Berglunds Körper hatte einfach keine Energie mehr. Nicht einmal mehr, um zu zittern. Auch wenn ihr Schmerzempfinden aufgehört hatte, konnte sie sich kaum noch bewegen. Ihre Gedanken ließen sich nicht steuern, irrlichterten durch Zeit und Raum.
Das kleine Mädchen blickte erstaunt zu dem Jungen, der sich vor ihm aufgebaut hat. Die Arme vor der Brust verschränkt. »Das sind nämlich gar nicht deine Eltern! Du bist schwarz und die sind weiß! Das geht nämlich gar nicht!«, wiederholte der gerade und sah sie fest an.
»Wo-hol«, stieß das Mädchen trotzig aus. Es hatte zwar auch schon mal festgestellt, dass seine Eltern anders aussahen, so weiß, wie eigentlich alle, denen es begegnete, aber es hatte das so wahrgenommen, wie man halt wahrnimmt, dass ein Volvo grün und ein anderer weiß oder rot ist. »Wo-hol meine Eltern«, wiederholte es mit all dem Nachdruck, zu dem ein sechsjähriges Mädchen fähig ist. »Sonst würde ich sie ja nicht so lieb haben«, argumentierte es und nickte dazu.
»Mein Papa sagt, wer schwarz ist, kommt nämlich aus Afrika! Und du bist schwarz! Und die sind weiß. Die kommen nicht aus Afrika. Aber du, weil du schwarz bist! Du kommst aus Afrika!« »Stimmt ja gar nicht! Ich komme aus Kristianstad! Aus der Båtsmangata 14«, rief das Mädchen jetzt, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und klang ein bisschen böse. So richtig wusste es nicht, was der Junge eigentlich wollte, aber das, was er über seine Eltern sagte, wollte es nicht hören. Es machte ihm Angst. Als der Junge einfach nicht aufhörte,
wurde das Mädchen immer wütender. Als der Junge dann mit einem Schubser und dem Satz »Ätsch, du hast gar keine Eltern!« eine allerletzte rote Linie übertrat, holte das kleine Mädchen aus.
Was war los? Wo war sie? Vor ihre Augen war nur trübes Halbdunkel und es war merkwürdig still. Signe versuchte zu schreien, um irgendetwas wahrzunehmen, brachte aber kaum den Mund auf. Geschweige denn einen Ton heraus. Sie fühlte ihren Körper nicht mehr, konnte sich nicht bewegen. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr, keine Panik, sie stellte einfach mit trägen Gedanken fest. Ihr Körper schaltete auf Sparflamme, aktivierte sein Notfallprogramm und Signe dämmerte endgültig weg.
»Pa-pa«, sagte das Mädchen mit Nachdruck, »Du fährst zu schne-ell!« Es saß in seinem Kindersitz auf der Rückbank des Familienkombis und beobachtete die Tachonadel, die eben über der 90 stand. »Das bisschen macht nichts«, sagte der Mann am Steuer, doch das Mädchen gab keine Ruhe. »Das darfst du aber nicht«, beharrte es, »Zu schnell ist verboten!« Der Mann sah das kleine Mädchen durch den Rückspiegel an und lächelte. »Weißt du, was zu schnell ist? Das hier!« Damit beschleunigte er den Wagen auf 120 Kilometer in der Stunde. Das kleine Mädchen schrie auf und hielt sich die Augen zu. Der Mann sah erneut in den Rückspiegel, lächelte wieder, nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen ausrollen. Vorsichtig nahm das Mädchen die Hände von den Augen und sah der Tachonadel beim Fallen zu. Dann hörte es die schnell näher kommende Polizeisirene. Der Polizeiwagen fuhr jetzt neben dem Familienkombi und eine leuchtend rote Polizeikelle bedeutete dem Mann anzuhalten. Das kleine Mädchen winkte
aus seinem Sitz hektisch zum Polizeiwagen hinüber.
Als ein Polizist freundlich aber bestimmt die Papiere von dem Mann verlangte und auffordernd seine Hand durch die offene Scheibe ins Auto hielt, kam von hinten eine kleine dunkle Kinderhand und rüttelte an seinem Ärmel. »Ich habe Papa schon gesagt, dass er zu schnell fährt. Aber er hat es trotzdem gemacht! Über 100! Soo viel!« Dabei zeigte das kleine Mädchen zwischen Daumen und Zeigefinger einen Abstand, der tatsächlich in etwa dem auf dem Tacho zwischen 100 und 120 entsprach. »Danke, Frau Kollegin«, lachte der Polizist nun das kleine Mädchen an. »Mit so einer tollen Zeugin kann sich dein Papa ja nun nicht mehr herausreden!« Das Mädchen rekelte sich mächtig stolz und sehr zufrieden auf seinem Kindersitz. »Kollegin! Er hat Kollegin zu mir gesagt …«
*
Langsam fuhr das Taxi durch den Hafen. Aufmerksam sahen sich der Taxifahrer und Ella um. Immer wieder hielt der Wagen, damit sie auch durch schmale Durchfahrten und Gänge spähen konnten, aber den gesuchten Pick-up konnten sie nirgends entdecken. Einmal stiegen sie aus, als hinter einem Container ein silbernes Auto hervorblitzte, doch es war leider ein Kleinbus. Immer wieder sah Ella angstvoll auf ihre Uhr, auf der die Zeiger unerbittlich vorrückten. Dann endlich entdeckten sie den Pick-up mit dem grün-roten Emblem auf den Türen. Er stand vor einem nüchternen Gebäudekomplex, den ein Schild zu einer russischen Rederei zugehörig auswies. Ella sprang aus dem Taxi, rannte zum Pick-up und schlug die Plane zurück. Natürlich war die Ladefläche leer. Sie sah sich um, entdeckte aber spontan nichts, was auf den Aufenthaltsort Signes hindeutete. Sie ging zwischen den Gebäuden hin und her, inspizierte den Boden und stutzte. Vor einem metallenen Rolltor mit einer eingelassenen Tür waren Reifenspuren auf dem grandüberzogenen Asphalt zu erkennen. »Das sieht so aus, als wenn ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vor dem Tor gedreht hat, weil das Wagenheck vor das Tor sollte«, sagte unvermittelt jemand neben Ella, die vor Schreck zusammenfuhr, für einen Moment das Atmen einstellte und diesen Jemand mit großen Augen anstarrte. »Ich mein’ ja bloß … mit Autofahren kenne ich mich halt aus«, sagte der Taxifahrer entschuldigend. Neugierig war er ausgestiegen, glücklich in seinem Job endlich einmal etwas Interessanteres zu erleben als irgendwelche Kreuzfahrer, die ungeduldig und fast ängstlich der Ankunft am Anleger entgegenfieberten, um ja noch rechtzeitig zum kulinarischen All-inclusive-Angebot wieder ihr Schiff entern zu können.
»Die Spuren stammen jedenfalls eindeutig von unserem Pick-up!«, stellte der Taxifahrer in seinem kehligen Englisch fest und zeigte auf den silberfarbenen Wagen, der tatsächlich schnurgerade in der Verlängerung der Reifenspuren stand. Ella hatte sich wieder gefangen, nickte und eilte vor das Tor. Sie schirmte mit ihren Händen die Sonne ab und blickte durch eines der trüben Kunststofffenster in das Innere des Gebäudes. Was sie sah, ließ ihr Herz abermals wild hämmern: Sollte nicht noch jemand an ähnlich farblicher Geschmacksverirrung leiden wie Signe, leuchtete ihr aus dem Inneren der Halle zweifelsfrei Signes orangefarbener Parka entgegen!
Ella tastete nach der Klinke, und da sich die Tür öffnete, schob sie sich ohne groß zu überlegen vorsichtig in das Gebäude. Sie befand sich in einer großen Halle; lediglich auf einer schmalen galerieartigen Zwischendecke waren wohl noch einige Büros untergebracht. Ella hob den Parka auf und sah sich um. Es schien kein Mensch hier zu sein und auch die Büros sahen dunkel und verwaist aus. Dafür standen hier unten überall Stapel mit Europaletten, Kunststoffkisten und -steigen herum, wie sie sie schon überall im Hafen gesehen hatte. Unterhalb der Galerie in einer Ecke war offensichtlich noch ein weiterer Raum, und Ella dachte angesichts der schweren blanken Metalltür mit dem langen Hebelgriff sofort an eine Kühlkammer. Der Taxifahrer, der erwartungsvoll durch die Fenster der Tür guckte, beobachtete nun, wie Ella sich an die Metalltür anpirschte. Als sie sie fast erreicht hatte, baute sich wie aus dem Nichts heraus ein sehr entschlossen und sehr kräftig aussehender Mann vor ihr auf und versperrte ihr mit über breiter Brust verschränkten Armen den Weg.
»Kann ich dir helfen«, fragte der Mann mit hartem Englisch und rollendem R und sah Ella wachsam an. »Wo ist sie«, stieß diese wild aus und machte einen Schritt auf ihn zu. Die Wachsamkeit im Gesicht des Mannes wich einem selbstgefälligen Grinsen. »Wenn wir die Gleiche meinen, ist sie wohl gerade dabei zu erfrieren!« Er sah auf die Uhr. »Vielleicht hat sie es aber auch schon hinter sich. Na, du wirst dir ja gleich selbst ein Bild machen können …« Er nahm seine Arme herunter und kam bedrohlich auf sie zu. Ella ließ den Parka fallen, riss sich die Mütze vom Kopf, schüttelte ihre blonden Haare und ging in Kampfstellung. Der Mann sah sie an, bewegte seinen Kopf hin und her und lachte belustigt auf. In dem Moment schoss Ella nach vorne und dann brach ihr Handballen das Nasenbein des plötzlich nicht mehr amüsiert, sondern erstaunt guckenden Mannes. Ein weit ausholender Tritt gegen den Hals besiegelte endgültig sein Schicksal, und er brach bewusstlos zusammen. »Das war nix! Scheiß Hose – warm, aber für so was einfach nicht gemacht«, stellte Ella nüchtern fest, von Training und Wettkämpfen gewohnt, sich den Unzulänglichkeiten ihrer Fights zu stellen, um auch weiterhin so erfolgreich um die skandinavische Kickboxkrone mitkämpfen zu können.
Eigentlich hatte sie eben mit Wucht die Schläfe ihres Gegners treffen wollen. Ohne Kopfschutz und mit ihren Stiefeln wäre das ein sicherer Knock-out gewesen – vielleicht sogar ein todsicherer. Aber der Hals? Sie sah auf ihren am Boden liegenden Gegner hinunter. »Und wenn er doch nicht ganz hinüber ist?«, fragte sie sich und trat ihm vorsichtshalber kräftig zwischen die Beine, aber der Mann rührte sich nicht. Dafür zuckte der Taxifahrer vor dem Tor reflexartig zusammen und stöhnte auf. Dann sah er, wie Ella hastig die Tür zum Kühlraum öffnete.
Schon beim Öffnen der Tür brach Ella vor Anspannung und Angst in Tränen aus. Schluchzend und fast blind vor Tränen zerrte sie ihre Liebe aus dem Kühlraum. Dann stieß der Taxifahrer zu ihr, nicht ohne dem noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit auf dem Hallenboden liegenden Mann ansatzlos in den
Oberbauch getreten zu haben. Sicher ist sicher. Anschließend schleppte er zusammen mit Ella die bewegungsunfähige und steife Signe, die durch die plötzlichen Aktivitäten um sich herum langsam zu einem noch sehr gedämpften Bewusstsein zurückfand, aus der Halle und brachte sie ins warme Taxi.
Nach kurzer Fahrt und unter Umgehung fast aller Verkehrsregeln waren sie im Dronning Ingrids Hospital eingetroffen. Mit den beruhigenden Worten »Mach dir keine Sorgen! Mit Erfrierungen kennen wir uns hier bestens aus!«, war Ella resolut von Signes Trage abgedrängt worden. Ein Pfleger mit einem Tropf in den Händen übernahm sofort ihren Platz. Sekunden später schloss sich hinter ihnen eine breite Tür. Nun saß Ella ängstlich und nervös auf einem Stuhl vor der geschlossenen, undurchsichtigen automatischen Glasschiebetür und starrte auf die Piktogramme, die sich mühten, jeden Gedanken an ein unbefugtes Durchschreiten schon im Keim zu erstickten.
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»Und du bist dir da ganz sicher, ja?« Viggo Henriksson Stimme war voller Zweifel.
»Aber so was von! Ich werde ja wohl noch Cobbie, Hayseed und Garrison aus Fortnite erkennen!« Der junge Mann, der in den Semesterferien an der Kasse des kleinen Dorfsupermarktes saß, sah entrüstet zwischen Viggo und dessen Kollegen Oscar hin und her. Als er die Zweifel in deren Gesichtern sah, beeilte er sich hinzuzufügen: »Okay, ich habe mich ja auch gewundert, dass die hier so ’nen Überfall machen, aber dann habe ich gedacht, dass das vielleicht mit einem neuen Spielfeature zu tun hat, von dem ich wegen meines Jobs hier noch nichts weiß! Aber ich werde ja heute Abend wieder spielen und es dann sehen. Und dass sie es vorhin wirklich waren, da bin ich mir hundertprozentig sicher, die gibt es ja nicht zweimal! Wäre auch echt komisch, mich gibt es ja auch nur einmal!«
»Zum Glück!«, dachte Viggo resigniert, sagte aber stattdessen »Danke! Danke für Deine Aussage.« Damit verließen er und Oscar Lind den kleinen ICA-Nära und klopften dem Kollegen Melker Berg noch aufmunternd auf die Schulter, der mit seinem Team jetzt die Spuren, insbesondere die Projektile in der Decke über der Kasse sichern wollte.
»Manchmal fühle ich mich unendlich müde!«, sagte Viggo, als sie im Auto saßen. »Und ich kriege ein mulmiges Gefühl, wenn ich diese Leute sehe und höre. Die kriegen ja Realität und Fiktion gar nicht mehr auseinanderdividiert! Außerdem weiß ich bei solchen Täterbeschreibungen auch einfach nicht, nach wem oder was wir überhaupt suchen sollen!«
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Signe Berglund lag, in ein tiefes künstliches Koma versetzt, in einem speziellen Krankenzimmer, dessen Temperatur konstant auf 27ºC gehalten wurde. Ihre Arme und Beine waren locker mit keimfreien Binden umwickelt. Neben ihrem Bett standen zwei Maschinen: Die eine überwachte sämtliche Körperfunktionen, die andere sollte in dem Fall, dass Lunge, Herz oder beides versagen würde, die Blutzirkulation und das Herzzeitvolumen künstlich aufrechterhalten. So oder zumindest so ähnlich hatte Ella es jedenfalls verstanden, als die Ärztin ihr die Behandlung erklärt hatte. Und ihr die Hoffnung machte, dass es aufgrund Signes sonst sehr gutem Allgemeinzustand und der keine Sekunde zu früh erfolgten Rettung mit etwas Glück nicht zu einer dauerhaften Herabsetzung der Lebensqualität kommen würde. Auf Ellas fragenden Blick hatte die Ärztin nur das Wort Amputation gesagt, woraufhin Ella die Augen schloss und schluckte.
Eine gefühlte Ewigkeit später saß Ella nun an Signes Bett und betrachtete zärtlich und mit Tränen in den Augen den bandagierten Körper. Wie gerne würde sie Signes Hand halten, ihr zeigen, dass sie da war und über sie wachte, aber die Ärztin hatte aufgrund der Empfindlichkeit der Erfrierungen davon abgeraten. So blieb ihr nichts weiter, als einfach nur da zu sein und Signe irgendetwas zu erzählen – unwissend, ob sie das überhaupt mitbekam. »Ich habe übrigens mit deinen Eltern telefoniert. Die wollten gleich los zum Flughafen, aber ich habe ihnen gesagt, dass du in einem künstlichen Koma liegst und sie hier gerade gar nichts ausrichten können. Ich musste ihnen versprechen, auf ihre Lieblingstochter aufzupassen – die musst du mir übrigens bei nächster Gelegenheit auch mal vorstellen!« Nicht die kleinste Regung ließ vermuten, dass Signe irgendetwas verstanden hatte.
Gespannt und erwartungsvoll blickte das Mädchen seine Eltern an. »Wir müssen mit dir mal über etwas Wichtiges reden!«, hatten sie zu ihm gesagt. Jetzt saßen sie ihm also gegenüber und guckten wahnsinnig ernst. »Dir ist sicherlich schon aufgefallen, dass wir ein bisschen anders aussehen als du …«,
begann nun sein Vater leise. Ein bisschen? Das Mädchen grinste. »Ich bin schwarz, aber nicht blind!«, lag ihm auf der Zunge, aber es sagte lieber nichts. »Und du hast dich auch sicher schon gefragt, warum das so ist«, ergänzte ihre Mutter und sah sie mit großen Augen an. »Ja«, dachte das Mädchen, »aber das ist jetzt schon einige Jahre her!« Es hatte mit seiner besten Freundin ever damals gegoogelt. Dabei waren sie auf einen Artikel gestoßen, der von weißen Eltern in Südafrika berichtete, die ein schwarzes Baby bekommen hatten. Aber die waren eben auch in Afrika und da sind ja viele Menschen schwarz und vielleicht war da vorher mal ein Kind, wo ein Elternteil weiß und der andere schwarz gewesen war. Jedenfalls stand in dem Artikel, dass es sein kann, dass Erbgut ein paar Generationen schlummert. Aber das Mädchen hatte sich dann erinnert, dass sein Papa mal gesagt hatte, dass er mit Mama noch nie weiter weg war. Nur mal in Italien. Dann hatten sie einen Bericht gefunden, dass in Schweden oft Kinder aus anderen Ländern adoptiert werden – auch weil schwedische Kinder ohne Eltern fast immer in Pflegefamilien kommen und nicht adoptiert werden können. »Meinst du, die Sache mit der Adoption aus anderen Ländern gilt auch für Kinder, die schwarz sind?«, hatte das Mädchen seine Freundin gefragt. »Klar!«, war Isabelle überzeugt gewesen. »Hauptsache nicht schwedisch, weil dann muss man in eine Pflegefamilie!« Zusammen mit Isabelle hatte sie daraus geschlossen, dass sie nur adoptiert sein konnte. »Ich werde ja auch nicht gepflegt! Ich muss das alles selber machen, Zähneputzen, waschen, Haare kämmen und so!«
Das mit der Adoption hatten die beiden Mädchen total spannend gefunden und sie stellten sich vor, dass seine anderen Eltern Geheimagenten waren und es extra nach Schweden in Sicherheit gebracht worden war. Oder dass es eigentlich eine