Lektüreschlüssel. Lyrik des Expressionismus - Michael Hanke - E-Book

Lektüreschlüssel. Lyrik des Expressionismus E-Book

Michael Hanke

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Beschreibung

Reclams "Lyrik-Lektüreschlüssel" erschließen ausgewählte Gedichte, die für einen Autor, einen Themenbereich oder eine Epoche repräsentativ sind. Sie enthalten die vollständigen Gedichttexte und führen in beispielhaften Kurzinterpretationen verschiedene Modelle der Gedichtanalyse vor.

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Seitenzahl: 80

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Lyrik des Expressionismus

Von Michael Hanke

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2013

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960411-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015438-0

www.reclam.de

Inhalt

1. Zum Einstieg

2. Texte und Interpretationen

2.1 Georg Trakl: Verfall

2.2 Jakob van Hoddis: Weltende

2.3 Georg Heym: Der Gott der Stadt

2.4 Georg Heym: Printemps

2.5 Gottfried Benn: Schöne Jugend

2.6 Gottfried Benn: D-Zug

2.7 Ernst Stadler: Form ist Wollust

2.8 Georg Trakl: Grodek

2.9 Johannes R. Becher: Die neue Syntax

3. Der Expressionismus – Wesen und Wirkung

4. Checkliste

5. Lektüretipps

Anmerkungen

Quellennachweis

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

1. Zum Einstieg

Der Expressionismus ist das künstlerische Symptom der Krisenstimmung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Am Vorabend der »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs setzt eine literarische Bewegung ein, in der junge Dichter ihren gemischten Empfindungen der Angst, des Mitleids, der Kriegsbegeisterung in Wochen- und Monatsschriften wie Die Aktion, Der Sturm und Das neue Pathos Ausdruck geben. Berlin, Leipzig, Heidelberg, München und Wien sind die Zentren, in denen sie sich, oft mit befreundeten Zeichnern und Malern, um einen Verlag oder eine Zeitschrift scharen. An die Stelle der älteren ›Eindruckskunst‹ (des Impressionismus) soll eine neue, eine visionäre ›Ausdruckskunst‹ (der Expressionismus) treten. Ziel ist es, den Leser zu schockieren und mitzureißen.

In Anlehnung an Titel und Thema des berühmten Gemäldes von Edvard Munch (1863–1944) wird eine »Schrei«-Kunst propagiert, in der ekstatische Wildheit an die Stelle stilistischer Präzision tritt. In der Lyrik werden Logik und Verständlichkeit verschmäht, Sätze rücksichtslos verkürzt (Vorherrschen des Nominal- oder Verbalstils), neue Zeitwörter unter Verzicht auf Prä- und Suffixe von Haupt- und Eigenschaftswörtern abgeleitet, traditionelle Metaphern entwurzelt und in einen überraschend neuen Zusammenhang gestellt. Viele Gedichte wirken gekünstelt, und nicht selten gipfelt das zum Programm erstarrte Pathos in einem hysterischen, manchmal sogar peinlich auftrumpfenden Gestammel. Doch in den besten dieser Gedichte spiegelt sich die großartig gestaltete Kluft zwischen dem heute rührend naiv anmutenden Glauben an die Segnungen einer stetig fortschreitenden Technologie (z. B. bei Johannes R. Becher) und einem Kulturpessimismus, der eine tief beunruhigende existentielle Angst in Bilder der Vernichtung und des Verfalls kleidet (z. B. bei Georg Trakl und Georg Heym).

Gottfried Benns Vorwort zur Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) zeigt, wie schwer es fiel und noch heute fällt, diesen Epochenstil definitorisch zu erfassen. Im Rückblick auf die eigene frühe Lyrik schrieb er, der Expressionismus sei »vielfältig in seiner empirischen Abwandlung, einheitlich in seiner inneren Grundhaltung als Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen«1 gewesen. An der richtigen Stelle zitiert vermag diese Formulierung beträchtliche Wirkung zu erzielen. Bei genauerem Hinsehen verliert sie an definitorischer Präzision. Der Begriff »Wirklichkeitszertrümmerung« ist – vergleichbar dem Titel von Kurt Pinthus’ epochemachender Anthologie Menschheitsdämmerung (1919/20) – wenig hilfreich. Benn meint offenbar, dass die Expressionisten »durch das Vordergründige, vom Durchschnittsphilister für wirklich Gehaltene zu einer eigentlicheren Wirklichkeit durchdringen wollten«2. Doch darin liegt das Problem des berühmt gewordenen Definitionsversuchs, denn Zertrümmerungen dieser Art hatten sich schon frühere Dichtergenerationen in jugendlichem Überschwang zum Ziel gesetzt. Die meisten Experimente der Expressionisten hatten unter dem Schlachtruf épater le bourgeois (»das Bürgertum verblüffen«) bereits in der Lyrik der französischen Symbolisten des 19. Jahrhunderts stattgefunden. Paris war damals das geistige Zentrum Europas, und so manches Gedicht von Benn, Trakl und Heym wäre ohne das Vorbild von Charles Baudelaire (1821–1867) und Arthur Rimbaud (1854–1891) kaum denkbar.

Benns Formulierung ist keine Definition, sondern ein Stück expressionistischer Lyrik. Sie dient nicht primär der Klärung eines Sachverhalts und richtet sich auch nur bedingt an den Leser, sondern berauscht sich vielmehr an sich selbst. Der inhaltlichen Leere des Wortes »Wirklichkeitszertrümmerung« wohnt eine suggestive Resonanz inne, der man sich nur schwer entziehen kann. Kraft ihres melodischen Zaubers setzt sich die Formulierung souverän über jede Kritik an ihrer mangelnden begrifflichen Präzision hinweg. Auf dieses schon den Symbolisten bekannte Kompensationsphänomen stoßen wir bei der Lektüre expressionistischer Gedichte immer wieder, wenn sie sich dem gedanklichen Zugriff entziehen oder zu entziehen scheinen.

Die Symbolisten hätten Benns Forderung nach einer monologischen Dichtung, die nur den Dichter als Adressaten gelten lässt und sich mit einem Minimum an mitteilbarer Substanz begnügt, mit nachsichtigem Lächeln quittiert. Hatte nicht schon Baudelaire seine Kritiker mit der Bemerkung provoziert, dass die wahre Wirklichkeit nur in Träumen – und damit meinte er: in seinen Träumen – zu finden sei?3 Gedichte dieser Art werden von Literaturkritikern als selbstreferentiell bezeichnet. Benn sprach vom Prinzip der faszinierenden Montage.

Dieser Begriff erfasst eine künstlerische Technik, die zur Zeit des Expressionismus nicht nur in der Literatur (Ezra Pounds frühe Cantos, T.S. Eliots Love Song of J. Alfred Prufrock), sondern auch in der Musik (Strawinskys Petruschka) und der Malerei (Max Ernst) gepflegt wurde. Ihre theoretische Fundierung geht auf die Dichter der Romantik zurück, in Deutschland auf Novalis und E.T.A. Hoffmann, in England auf S.T. Coleridge. Baudelaire stand in ihrer Tradition, als er schrieb, dass die Vorstellungskraft des Dichters die Schöpfung zerlege und die so entstandenen Teile nach Regeln sammle und gliedere, die im tiefsten Grund der Seele entsprängen und auf diese Weise eine neue Welt und so den Eindruck des Neuen hervorriefen.4 Benns Zertrümmerungs-Metapher erfasst nur den ersten Teil des von Baudelaire beschriebenen schöpferischen Vorgangs; sie bleibt daher der Intention nach hinter der älteren und besser durchdachten Auffassung zurück. Den Romantikern und den Symbolisten zufolge besteht die künstlerische Herausforderung nicht in der Zerstörung des Tradierten, sondern in dessen Formung zu etwas Neuem. In ihren (anders als in Benns) Augen ist der Künstler Reformator, nicht Revolutionär. Wer die Formgebung der frühen expressionistischen Lyrik analysiert, erkennt, dass zumindest Trakl, Heym, van Hoddis und Becher diese Regel bestätigen, auch wenn sie sich – wie Stadler mit seinem Aufbruchspathos – ihrer kaum oder gar nicht bewusst sind.

Auch Benns Gedanke vom »An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen« ist alles andere als neu. Er ruft Goethes Symboldefinition in Erinnerung: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.«5 Goethes Begriffsbestimmung impliziert, dass alle Dichter auf der Suche nach dem Unerforschlichen sind und dass sie sich seit jeher des Symbols bedient haben, um dem Vorstellungsvermögen (der Imagination) ein Terrain zu eröffnen, das dem rein begrifflichen Denken (dem Intellekt) entzogen bleibt. Daraus folgt zweierlei: 1) Ein Dichter, der sich dem »Unerforschlichen« (in Benns Terminologie: der ›Wurzel der Dinge‹) nähert, ist primär Dichter und erst in zweiter Linie Repräsentant einer Epoche; 2) ein ›An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen‹ ist nur in übertragenem Sinne und in eingeschränktem Maße, d. h. in den von der Sprache gesetzten Grenzen, möglich.

Mit dem Wort ›rücksichtslos‹ erfasst Benn aber dann doch ein für die expressionistische Lyrik kennzeichnendes Element. Durch ihre Rücksichtslosigkeit unterscheidet sie sich von der Dichtung älterer Zeitgenossen wie der Stefan Georges, Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Die Motive des Vulgären, des Zynismus, der Krankheit, der Technik, der Großstadt, des Grotesken und Absurden – sie alle brechen um 1910 mit Wucht in die deutsche Lyrik ein: Dachdecker stürzen ab und Eisenbahnen fallen von den Brücken (in van Hoddis’ Weltende), ein Großstadtviertel geht im Feuersturm unter (in Heyms Der Gott der Stadt), ein Nest von Ratten wird unter dem Zwerchfell eines toten Mädchens gefunden (in Benns Schöne Jugend), in der Nähe eines Schlachtfeldes liegen sterbende Soldaten mit ›zerbrochenen Mündern‹ (in Trakls Grodek), Straßenbogenlampen ›splittern ineinander‹ (in Bechers Die neue Syntax).

Manche dieser Motive wirken noch heute schockierend, doch Benn hat Recht, wenn er einräumt, dass zumindest die damit verbundenen Themen nicht neu waren und es auch nicht sein konnten. Auch der Dichter der Vergangenheit habe – so Benn – sein Verhältnis »zur Natur, seine Liebe, seine Trauer, seine Gedanken über Gott«6 behandelt. Folgerichtig ordnet er den Expressionismus in eine lange Tradition ein, die sich durch die generationstypische Revolte der Jungen gegen die Alten auszeichnet und damit als Teil der durch den zyklischen Verlauf künstlerischer Epochen geprägten Weltliteratur erweist. Es ist deshalb sinnvoll, ein expressionistisches Gedicht zunächst als individuelles Kunstwerk zu würdigen und erst dann nach Gemeinsamkeiten mit anderen Gedichten dieser Stilrichtung zu fahnden.

Benn findet schon in Goethes An Schwager Chronos (1774) und im zweiten Teil von Faust markante Passagen, die er als Vorwegnahme expressionistischer Lyrik deutet: In ihnen sei die ausdruckhafte (d. h. expressive) an die Stelle der inhaltlichen Beziehung zwischen einzelnen Versen getreten.7 Wenn aber bei der Suche nach Parallelen die stilistischen Grenzen zwischen den Generationen von Goethe und den Expressionisten zu verschwimmen drohen, sind maßvolle Verallgemeinerung und summarische Raffung nicht nur legitim, sondern geboten. Wer die im vorliegenden Band versammelten Gedichte liest und sie mit denen zeitgenössischer Lyriker wie Hans Magnus Enzensberger oder Durs Grünbein vergleicht, wird feststellen, dass die Werke der Jüngeren untereinander oft größere Gemeinsamkeiten aufweisen als mit denen von Benn, Trakl oder Heym. Der den meisten Expressionisten eigene Hang zum Grandiosen ist im Zuge der auf Nüchternheit und Sachlichkeit pochenden Kahlschlagmentalität nach dem Zweiten Weltkrieg verlorengegangen.

Für die Auswahl der Gedichte wurden die Epochengrenzen scharf gezogen. Johannes R. Becher, der jüngste der hier vertretenen Lyriker, glaubte den Beginn des lyrischen Expressionismus auf den Januar 1911 datieren zu dürfen. In diesem Monat erschien Jakob van Hoddis’ Weltende, das Becher als stürmischen Auftakt, als Marseillaise der bis Ende 1914 währenden hoch-expressionistischen Zeit gewertet hat. 1915, nur vier Jahre später, waren von den sechs in diesem Band vertretenen expressionistischen Lyrikern nur noch drei (Benn, van Hoddis, Becher) am Leben; und von diesen wiederum war van Hoddis als Dichter bereits verstummt, während Becher seine rhythmische Flexibilität für den Gleichschritt kommunistischer Propagandapoesie einzutauschen begann.

Hilfreich ist Bechers Datierung auf jeden Fall, denn in van Hoddis’ lyrischer Miniatur lassen sich (wie wir sehen werden) fast alle der von den Expressionisten behandelten Motive, Bilder und dichterischen Verfahrensweisen zumindest in nuce aufweisen: die Apokalypse,