Leming - Murmel Clausen - E-Book

Leming E-Book

Murmel Clausen

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Beschreibung

Sie ist nicht so leicht, diese Sache mit dem Leben als geradenoch-Teenager: Kolja, Verena und Reinhold treffen in einem Suizid-Forum im Internet aufeinander. Gemeinsam wollen sie, um dem Ganzen ein passend dramatisches Ende zu setzen, an den Plattensee, um in einen erloschenen Vulkan zu springen. Nur dass Kolja eigentlich mitfährt, um die anderen beiden von dem Vorhaben abzubringen. Doch können eine chaotische Reise in einem getunten Audi, ein toter Opa, eine wilde Partynacht am Balaton, eine Sonnenfinsternis und letztlich ihre Freundschaft Verena und Reinhold neuen Lebensmut schenken? "Reinhold hatte nicht nur einen Scheißnamen, sondern auch einen tiefergelegten Audi A3." - so beginnt dieser grandios komische und gleichzeitig tief berührende All-Age-Roman. "Tschick" trifft auf Nick Hornbys "A Long way Down" im Setting von "The End of the F***ing World".

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Murmel Clausen, 1973 in Schwabingen geboren, schrieb mit Michael »Bully« Herbig, Rick Kavanian und Christian Tramitz »die bullyparade« und »Der Schuh des Manitu«. Später war er u.a. Autor für Anke Engelkes Show »Ladykracher«. Von 2013 bis 2019 verfasste Clausen (zum Teil in Zusammenarbeit mit Andreas Pflüger) die Bücher zu den Weimarer Tatorten mit Christian Ulmen und Nora Tschirner. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: »Frettsack« (Heyne, 2012) und »Frettnapf« (Heyne, 2013). Der Autor lebt in Namibia.

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2024

Lektorat und Korrektorat: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: pingundpong Gestaltungsbüro

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius

ISBN 978-3-86391-401-1

eISBN 978-3-86391-408-0

www.voland-quist.de

Für alle, die von uns gegangen sind.

Dieses Buch behandelt das Thema Suizid und suizidale Gedanken. Leider wird beides in der Öffentlichkeit tabuisiert und damit stigmatisiert. Selbstzerstörerische Krisen entstehen meist aus tiefster Verzweiflung – sei es aufgrund von Einsamkeit, psychischen Erkrankungen, traumatischen Erfahrungen, Mobbing oder anderen Belastungen. Wenn sich jemand in einer scheinbar ausweglosen Situation befindet, ist es wichtig, darüber zu sprechen. Es gibt Hilfsangebote, die einen in solchen Momenten auffangen und unterstützen können. Jedes Leben ist kostbar.

Telefon: 116123

hier QR-Codes für:

Deutsche Telefonseelsorge

https://online.telefonseelsorge.de/

Internationale Telefonseelsorge

https://www.telefonseelsorge.de/international-helplines/

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Nachwort

1

Reinhold hatte nicht nur einen Scheißnamen, sondern auch einen tiefergelegten Audi A3. Der Vorbesitzer hatte damit angeblich bei einem Tuning-Treffen in Oschersleben einen Benzingutschein über hundert Euro gewonnen, was ich aber nicht glaubte, weil ich die lilafarbene Karre mit Regenbogeneffekt echt hässlich fand. Reinhold war achtzehn, ich zwei Jahre jünger, und wir wollten zum Plattensee fahren. Mit Verena. Die war so alt wie ich, und ihr Opa hatte da unten eine Datscha. Vor einigen Wochen kam von ihr der Vorschlag, dass wir uns dort gemeinsam das Leben nehmen könnten. Reinhold hatte sofort begeistert zugesagt. Und ich dann auch. Ich hatte ja keine andere Wahl. Irgendwer musste die beiden doch retten.

Kennengelernt haben wir uns alle im Internet, in so einem Ritzerforum, wo es aber nicht nur ums Ritzen ging, sondern auch mehr so allgemein um Tod, Ängste, Schule und Stress zuhause und so. Ich war darauf gestoßen, weil ich gegoogelt hatte, wie man sich am besten die Pulsadern aufschneidet, und mich sofort mit dem Pseudonym ajlok angemeldet, also meinem Realnamen in rückwärts. Mehr aus Neugierde als dass ich es wirklich machen wollte. Und irgendwie hat mich das Forum fasziniert. Weil die haben schon teilweise krasse Geschichten erzählt, so mit Alki-Eltern oder Drogen und Gewalt und noch viel schlimmeren Sachen. Ich hab sofort verstanden, dass bei denen innerlich was total kaputt gegangen war. Aber auch, dass die finale Entscheidung über Leben und Tod noch nicht gefallen war. Sie meldeten sich an, um sich unter Gleichaltrigen auszutauschen, statt von Erwachsenen beurteilt, abgestempelt und kategorisiert zu werden. Denn genau das trieb einen großen Teil der Leute überhaupt erst ins Forum. Und dann gab es sicher eine hohe Anzahl von Typen wie mich. Unglückliche und Unverstandene, die damit kokettierten, keinen Ausweg mehr zu sehen, um hier Anschluss zu finden. Abgerundet wurde der ganze Emozirkus durch die Eintagsfliegen. So nannten wir alle, die nicht klarkamen, weil sie sich zu dick fanden, es aber gar nicht waren, Liebeskummer oder schlechte Noten hatten und deswegen austickten. Die verabschiedeten sich in der Regel nach ein, zwei Beiträgen wieder in ihr normales Leben, statt wie groß angekündigt in den Tod.

Jetzt stand ich, wie über WhatsApp verabredet, auf dem Parkplatz vom McDonald’s beim Nordwestkreuz Frankfurt, und wartete. Es war kurz vor halb zehn und schon viel zu warm, bestimmt achtundzwanzig Grad. Mein Puls war dazu auch noch hoch. Klar, ich war nervös. Ich wusste nicht mal, wie Reinhold aussah. Er hatte sich als knautschig und haarlos beschrieben, bisschen wie Otto aus Captain Future. Das hatte ich googeln müssen und war danach auch nicht viel schlauer. Erkennen würde ich ihn also am Auto. Davon hatte er immer wieder Fotos ins Forum gestellt und jeden gesperrt, der sich darüber lustig gemacht hat.

Um mich herum hüpften ein paar Spatzen und stritten um die halben Pommes und Burgerkrümel der Drive-In-Kunden, die ihre Sachen auf dem Parkplatz fraßen und danach die Reste von den Sitzen aus dem Wagen wischten. Man musste wahrscheinlich ein eigenes Auto haben, um zu verstehen, warum die nicht wie normale Menschen an Tischen essen wollten.

Die Zeit schien fast stillzustehen, und ich ärgerte mich, keinen schattigeren Treffpunkt gewählt zu haben. Reinholds Zwei-Stunden-Prognose für die Fahrt von seinem Kaff in Thüringen bis hier war mir sofort suspekt gewesen. Ich wollte ihm gerade schreiben, dass ich mir beim toom nebenan was zu trinken hole, als ich die lilafarbene Bestie sah. Ihr Motor knurrte, die Sonne spiegelte sich in ihrer auf Hochglanz polierten Haut. Und ihre Augen begannen wie wild zu blitzen. Reinhold hatte wohl ein illegales Fernlicht-Stroboskop eingebaut. Völlig krank. Ich konnte mir direkt ausmalen, wie er damit über die Autobahn bretterte und die Leute vor sich aus der Spur flashte.

Auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, war garantiert lebensgefährlich. Ich konnte förmlich einen lilafarbenen Haufen Schrott vorne auf der Bild-Zeitung sehen: Jugendliche Todes-Raser – Inferno auf der Landstraße.

Reinhold stellte den Wagen ab und stieg aus. Er trug ein schwarzes T-Shirt der Böhsen Onkelz, viel zu weite Jeans und ein Beanie. Sein Gesicht war tatsächlich knautschig und erinnerte mich an ein alt geborenes Baby, falls das Sinn macht. Und er grinste.

»Kolja! Alter, ich war nicht sicher, ob du echt kommen würdest«, sagte er.

»Ehrensache.«

»Und? Hab ich dir zu viel versprochen?«

Ich schwieg, da unklar war, ob er sein Aussehen oder das Auto meinte. Weil er wirkte total freundlich und irgendwie niedlich. Die Lilalebendfalle hingegen furchteinflößend und aggressiv. Da aber beides für ihn extrem eng miteinander verbunden sein musste, wegen Kompensation und so, schüttelte ich einfach nur versuchslächelnd den Kopf.

»Das Navi meinte, dass man drei Stunden für die Strecke braucht. Hab’s in zweieinviertel geschafft.«

»Krass.«

»Pommes und Milchshake?«

Reinhold schaute zum goldenen M. Ich schüttelte wieder den Kopf. Ich hatte einmal in einer McD-Filiale beobachtet, wie die Hamburger gebastelt werden, und es einfach nur eklig gefunden. Klar, die Mitarbeiter tragen Handschuhe, grabbeln mit denen aber alles an: die Ketchup-Pistole, die kleine Schublade, in der die fertigen Patties vor sich hinschmoren, zwischendurch mal die eigene Nase. Reinhold hörte sich das alles an, hob die Schultern und sagte: »Dann kannst du ja hier warten und überlegen, ob wir Verena echt mitnehmen sollen. Die war seit acht Tagen nicht online.«

Das konnte Reinhold nur wissen, weil er der Admin von dem Suizid-Forum war. Er hatte es auf einer .ws-Domain geparkt, auf die unsere Behörden keinen Zugriff hatten. ws stand für West Samoa, ein kleiner Inselstaat im Südpazifik, dem Seelsorge für deutsche Teenager offensichtlich am Arsch vorbeiging.

Dass Ritzen in den meisten Fällen erstmal nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit ist, muss ich niemandem erklären. Es ist so ’ne Art Einstiegsdroge ins Selbstverletzen. Wäre es für mich auch gewesen, wenn ich mich getraut hätte. Aber ich war noch nie gut mit Schmerzen, und die Narben bleiben ein Leben lang, um daran zu erinnern, wie beschissen es einem in der Jugend ging. Für alle, die nicht nur da waren, um sich schnell wieder zu verabschieden, sobald der Liebeskummer vergessen oder die befürchtete Sechs in Mathe doch eine Drei war, gab es eine WhatsApp-Gruppe, von der die meisten nichts wussten. Und in die man nur reinkam, wenn einen Reinhold einlud.

Er hatte mir im Forum eine PN geschickt, als ich einen anderen User gedisst habe. Das war eigentlich nicht meine Art, weil ich den Leuten meistens aufbauende Nachrichten schrieb. Ihnen zuhörte und, ohne Übertreibung, manchmal sogar echt neuen Lebensmut vermitteln konnte. Ich war bisschen sowas wie das kleine Helferlein im Forum und hatte mir auch sehr viel Literatur zu dem Thema reingezogen.

Aber legolas2 hatte ich komplett falsch eingeschätzt. Das begann schon bei seinem Usernamen, der völlig bescheuert war, weil es keinen anderen legolas im Forum gab. Er hat eines Abends rumgeweint, dass der Bildschirm von seinem neuen iPhone kaputt ist und er sich jetzt die Pulsadern aufschneiden will. Fand ich extrem dünn als Grund für sowas. Deswegen wollte ich erstmal rausfinden, ob der nur da war, um abzunerven. Weil solche gab es auch manchmal. Trolle, die sich einzig und allein anmeldeten, um zu stressen und zu verarschen. Es gab sogar welche aus einem anderen Forum, wo es ebenfalls um Selbstmord und so ging, die regelmäßig versuchten, bei uns für Ärger zu sorgen, aber das jetzt alles zu erzählen, würde, glaube ich, langweilen. Auf jeden Fall waren wir immer auf der Hut, und ich war gerade der Einzige online, als legolas2 losflennte. Er wolle gar nicht mehr leben, weil bei ihm alles dauernd schiefgeht und er nur Pech hat.

Ich hab ihn angechattet und geschrieben, dass andere genauso viel Pech haben und das nur eine Frage der Perspektive ist. Dass er sicher auch Glück hat, aber das nicht wahrnimmt, weil er so auf sein Unglück fokussiert ist. Das stimmte, das hatte ich gelesen. legolas2 blaffte sofort zurück, dass ich ihm nicht mit einem Dreck wie dem Lucky-Girl-Syndrom kommen soll. Das kannte ich natürlich. War so ein TikTok-Trend. Da behaupteten Influencerinnen, dass man jedes Unglück durch positive Gedanken wegdenken kann. Also antwortete ich, dass es nicht ganz so simpel sei, der prinzipielle Ansatz jedoch gar nicht so verkehrt. Klar, das mit dem Handy war scheiße. Aber am Ende des Tages auch nur ein Handy.

Zurück kam, dass ich ihn einfach in Ruhe lassen soll. So hatte noch keiner reagiert, mit dem ich in einer ähnlichen Situation geschrieben hatte. Warum schlug er die von mir so offensichtlich angebotene Hilfe also aus? Für mich stand fest: legolas2 wollte nur nerven. Meine nächste Nachricht lautete: »Schau, ich könnte es auch als Pech interpretieren, dass du Hirni hier reinkommst und so eine Scheiße redest. Ich wette, du hast nicht mal ein iPhone, du Troll.« Kann gut sein, dass sich da auch noch das ein oder andere obszöne Wort reingeschlichen hatte.

Das ging leider total nach hinten los, weil er hat dann einen Stream gestartet und sein iPhone gezeigt. Er erklärte, dass er ein Jahr für das Teil arbeiten musste, zweimal die Woche Zeitungen austragen und dann noch Einkaufen für die alten Nachbarn und so. Sein Zimmer war total klein, und da wusste ich sofort: Das wird jetzt ’ne richtige Shitshow.

Also ich so: »Sorry, sorry, sorry, ich dachte du trollst«, aber das dürfte er gar nicht mehr gelesen haben, weil er zeitgleich vor der Kamera ein Taschenmesser aufklappte und sich ohne zu zögern den rechten Arm aufschnitt. Ich hätte fast gekotzt, weil sehen will man das echt nicht. Zum Glück plärrte er aber so laut, dass seine Mutter reinkam. Sie sah ihren Sohn, den offenen Laptop, schrie ebenfalls auf und klappte den Computer zu. Am nächsten Tag wurde sein Account gelöscht. Keine Ahnung, was aus dem geworden ist.

Auf jeden Fall bekam ich von Reinhold eine Einladung zur WhatsApp-Gruppe Leming. Er sagte mir, dass ich alles andere einfach ignorieren und bitte niemanden mehr absnobben soll, weil man nie wisse, was in den Leuten abging. Entsprechend snobbte ich ihn nicht dafür ab, dass er im Gruppennamen ein M vergessen hatte. Ich fragte mich zudem, ob er meine Chatnachrichten an legolas2 gelesen hatte oder einfach davon ausging, dass ich ihn irgendwie getriggert hatte. Ich wusste schließlich nicht, wie weit er als Admin da Zugriff hatte. Auf meine Nachfrage antwortete er nur, dass er sehen kann, wer wann online ist. Und da er nicht auf die erste Nachricht einging, hakte ich die Sache ab.

Auf WhatsApp selbst ging es deutlich gechillter zur Sache, aber mit klaren Regeln: Keine Ankündigungen. Keine Seelsorge. Kein Verrat. Und so hart wie das mit keine Seelsorge für Ausstehstehende klingen muss – ich glaube, das hat vielen tatsächlich geholfen, weil sie zum einen mit ihren Gedanken nicht mehr allein waren, auf der anderen Seite aber nicht dauernd falsche Versprechungen wie »das wird schon wieder alles gut« oder solchen Unsinn zu hören bekamen. Weil das wurde es eigentlich nie. Aber ich schwöre, dass sich keiner von den siebzehn Freaks echt umgebracht hat, obwohl da üble Härtefälle dabei waren.

Über die nächsten Wochen entwickelte sich ein verdammt guter Dialog zwischen Reinhold und mir. Wir erzählten uns alles. Also vorrangig er mir, weil ich ihn nicht belügen und mir irgendwelche Suizidgründe aus den Fingern saugen wollte. Zum Glück bohrte er da nie nach. Ich verstand schnell, warum er keinen Bock mehr auf sein Leben hatte. Nur so viel: Er war mit einem Gendefekt zur Welt gekommen, durch den er eben so knautschig aussah und nur sehr wenig Haare hatte, mehr so Flaum, weshalb er immer eine Mütze trug. Dazu kam aber die größte Arschlochmutter, die man erwischen konnte, und dass er in so einem vollkommen kaputten Dorf voll Neonazis wohnte, die ihn immer Missgeburt nannten, weil seine Mutter, die da angeblich mit jedem ins Bett ging, allen das mit dem Gendefekt erzählt und ihn auch so genannt hatte. Seine Mutter!

Ganz ehrlich: Ich hab mich gefragt, warum er es nicht schon längst hinter sich gebracht hatte. Aber er wollte vorher einmal in seinem Leben eine geile Zeit haben, so wie in den debilen Liedern, die er immer hörte. Um die passenden Leute dafür zu finden, hatte er das Forum gegründet. Und weil ich parallel mit Verena chattete, die so eine Fantasie hatte, von einem Felsen in einen erloschenen Vulkan zu springen, irgendwo da beim Plattensee, entstand die Idee mit der Reise.

Jetzt fuhr sich Reinhold erstmal einen Milchshake und Pommes ein, angeblich die geilste Food-Kombi aller Zeiten. Und kam wieder darauf zu sprechen, ob es überhaupt Sinn machen würde, jetzt noch nach Mannheim zu fahren, um Verena abzuholen. Für mich war klar: Entweder wir machen das zu dritt oder gar nicht.

»Ja, müssen wir, ich hab’s ihr versprochen«, antwortete ich deswegen und fügte hinzu, dass wir schließlich in das Haus von ihrem Opa am Plattensee wollten, mit Betonung auf ihrem, nicht auf Opa.

»Aber wir wissen doch ungefähr, wo das steht. Da können wir auch ohne sie hin«, sagte Reinhold, schob sich fünf Pommes in den Mund und saugte an seinem Shake.

»Alter, das wär total asi, sie einfach dazulassen. Nee. Die muss mit. Außerdem ist ungefähr der behinderte Bruder von gar nicht.«

Sofort pochte spürbar der Puls an meinen Schläfen, weil ich behindert gesagt hatte, also vor Reinhold. Es war genau das eine Wort, das ich nicht benutzen wollte. Warum, konnte ich mir auch nicht so recht erklären, vielleicht, weil ich als Kind in einen Topf Moralin gefallen war. Er störte sich aber offenbar gar nicht daran, sondern kratzte sich lediglich mit seinen Pommesfingern durch sein Beanie am Hinterkopf. Dann lächelte Reinhold, sagte: »Na, denn«, und schlug vor, ein Foto vor dem Audi zu machen. Es war schließlich ein großer Moment, weil wir uns gerade das erste Mal in der analogen Welt getroffen hatten, und vor uns die beste und vermeintlich letzte Reise unseres Lebens lag.

Wir brauchten fünf oder sechs Versuche, weil immer irgendwas schieflief. Augen zu, blöd geguckt, Handy umgefallen und so. Irgendwann passte alles, und schon ging es ab nach Mannheim, um Verena einzusammeln. Also, nachdem ich mir die Regeln angehört hatte, die es im Wageninneren zu beachten galt: kein Essen, keine Getränke, keine der glänzenden Flächen anfassen, Schuhe am besten ausziehen und auf die Gummimatte stellen, keine Knöpfe drücken, sondern alle Wünsche in Sachen Fenster oder Klimatisierung an den Fahrer richten und bitte vor dem Einsteigen kurz den Staub von der Hose klopfen.

»Hast du die auch schriftlich? So als AGBs?«

»Ich will nur, dass du mein Auto und die Arbeit respektierst, die ich da reingesteckt hab.«

»Was ist mit furzen?«

»Sag einfach, wenn du musst, dann mach ich das Fenster auf.«

Ich musste lachen, weil ich eher platzen würde, als in seinem Auto zu furzen. Reinhold nahm meine Tasche, öffnete den Kofferraum, holte eine kleine Bürste heraus und bearbeitete die Unterseite, als hätte sie die letzte Stunde in einem Petrischälchen voll Pestviren, Kolibakterien und Asbest gestanden. Ich verkniff mir zu fragen, warum er sie nicht in eine sterilisierte Tüte oder ein schönes Sagrotanbad packte. Nachdem er per Finger-Abstrichtest sichergestellt hatte, dass mein Gepäck frei von Schmutzpartikeln war, verlud er es samt der Bürste im Heck, stieg auf der Fahrerseite ein und bedeutete mir, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Machte ich. Ohne mir den Staub vom Arsch zu klopfen, so weit kommt’s noch. Allerdings konnte ich drinnen verstehen, weshalb er so pingelig war, denn der immerhin dreizehn Jahre alte Prollschlitten sah aus wie neu. Das Armaturenbrett glänzte, als wäre es gerade nass gewischt worden, die Aluminiumleisten hatten keinen einzigen Fingerabdruck drauf, und selbst die Fußmatten wirkten, als wären sie noch nie mit einem Schuh in Kontakt gekommen.

Dass Reinhold fuhr wie eine gesengte Sau, passte absolut nicht zu dem Theater, das er vor dem Einsteigen veranstaltet hatte. Damit riskierte er schließlich, sein Baby zu schrotten. Wahrscheinlich fühlte er sich aber so sicher hinterm Lenkrad, dass ihm das gar nicht in den Sinn kam. Wäre es die Karre von jemand anders gewesen, hätte ich mir gedacht, boah, was ein Proll. Aber Reinhold kannte ich und wusste, dass er echt viel zu kompensieren hatte. Wenn ihm dieses Geschoss dabei half, meinetwegen. Und mal derb fast & furious-mäßig über die Autobahn zu heizen, hatte auch was.

Die ganze Zeit lief grauenhafter Deutschrock, was für mich stimmungsmäßig jetzt nicht so der Bringer war. Klar, wir waren womöglich auf dem Weg in den Tod, aber da muss man ja vorher nicht die ganze Zeit melodisch einfältige Lieder hören, in denen Typen mit tiefen Stimmen über zerbrochene Beziehungen oder ihre Freiheit grölen. Und, wie schon gesagt, war mein Plan auch ein ganz anderer.

»Wir wär’s mit bisschen was anderem?«

»Hab nichts.«

»Nicht mal sowas wie, keine Ahnung, Metallica?«

»Nee, da versteh ich kein Wort.«

»Das ist ja genau, was ich daran gut finde.«

»Kauf dir ein eigenes Auto, da kannst du deine Musik drin hören.«

Ich hatte keinen Bock auf Diskussion. Die Idioten plärrten weiter, dass sie zurückschlagen, wenn sie auf die Fresse bekommen, dass sie nie aufhören werden, sie selbst zu sein und dieses Lied zu singen und ähnlichen Quatsch, dann zur Abwechslung irgendwas mit Bier und wie goil alles ist, um sich danach in einer unterkomplexen Ballade verletzlich zu zeigen und gegenüber einer garantiert erfundenen Ex-Freundin einzuräumen, dass sie Scheiß gebaut haben. Der gefühlt hundertste Song, ebenfalls eindeutig an ein männliches Publikum in Muskelshirts gerichtet, ließ mich meine Absichten für die Reise nochmal hinterfragen. Weil, wenn ich auch springen würde, müsste ich so eine Kackmusik nie mehr ertragen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, drehte Reinhold in dem Moment den Sound ab, grinste und meinte, dass er mich nicht zu Tode quälen will.

»Die meisten checken die Musik nach ’ner Stunde.«

»Sorry, ich nicht.«

»Aber dein Leonhard Cohn läuft auch nicht, verstanden?«

»Leonard Co-hen. Und den hör ich auch nicht immer. Das hab ich nur einmal geschrieben.«

»Whatever … Und? Freuste dich auf Verena?«

»Klar.«

Dass auch ich seit einer Woche gar nichts mehr von ihr gehört hatte, verriet ich besser nicht. Ihr Handy war aus, und auf meine Nachrichten und Emails antwortete sie nicht. Aber wir hatten oft über den Trip gesprochen, und sie hatte immer gesagt, dass sie auf jeden Fall dabei wäre und dafür alles stehen und liegen lassen würde. Darauf verließ ich mich. Und auf mein Bauchgefühl, das mir sagte, dass zwischen uns eine ganz besondere Verbindung bestand. Dabei wusste ich nicht mal, wie sie aussah – aber ich stellte sie mir total hübsch vor.

2

Um nochmal zum Thema Verrat zu kommen: Ich war kein Verräter, auch wenn ich von Anfang an verhindern wollte, dass sich Reinhold und Verena das Leben nehmen. Mein Plan war, dass wir uns gegenseitig irgendwie Kraft geben, so peinlich das auch klingen mag. Ich glaubte einfach, dass wir Außenseiter auf der Suche nach Zugehörigkeit waren. Unsere gemeinsame Reise sollte den beiden deutlich machen, dass wir schon die Gemeinschaft waren, die uns fehlte, auch wenn es nur so eine Art Suicide Squad war. Wobei wir durch unseren Pakt sogar mehr waren. So eine Vereinbarung triffst du nur mit deinen besten Freunden.

Allein die Tatsache, dass wir seit über drei Wochen fast jeden Tag miteinander über den Trip kommunizierten, statt mit dem Auto über eine Klippe zu rasen, Reinholds ursprüngliche Exit-Strategie, war ein klares Zeichen, dass da was entstanden war. Und dass wir nicht ausschließlich über den Sprung quatschten. Nee, wir chatteten über Gott und die Welt, simsten wegen anderer Probleme, schickten PNs über den Stress im Alltag, lästerten am Telefon über die Leute im Forum. Damit brachten wir einander immer wieder auf bessere Gedanken als Suizid. Genauer gesagt, schaffte ich das bei Reinhold und Verena, bei mir war es ja nie ernsthaft Thema gewesen. Bloß gesehen hatten nur sie mich, weil beide bei meinen Videochatversuchen ihre Kameras nicht eingeschaltet hatten. Bei ihm konnte ich das verstehen, bei Verena fand ich es doof, aber sexy.

In meinem Leben gab es nur einen bescheuerten Vater. Andere würden ihn vielleicht sogar Arschlochvater nennen, aber das fände ich übertrieben. Er war einfach extrem pedantisch und hatte wahrscheinlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, weil ich unter alles, was die ausmacht, einen Haken bei Wikipedia setzen konnte. Ob sein Narzissmus grandios-maligne oder schon exhibitionistisch war, keine Ahnung. Aber eher bösartig, wie sich herausstellte, als meine Mutter sich von ihm scheiden ließ. Da war ich dreizehn und konnte ihr den Schritt nicht verübeln. Eher hätte ich ihr vorgeworfen, ihn überhaupt geheiratet zu haben. Ging nur nicht, weil ich ja sonst nicht existieren würde.

»Ich ertrage das einfach nicht mehr«, hatte sie eines Abends gesagt. »Alles, was ich mache, mache ich seiner Meinung nach falsch. Aber das stimmt nicht. Ich hatte ein Leben, bevor ich ihn kennengelernt habe. Und da bin ich auch zurechtgekommen.«

Das konnte ich mir gar nicht vorstellen, also wie sie allein klargekommen war. Aber ich verstand, was sie meinte, weil er auch bei mir bei allem ankam, was ich machen wollte, um mir zu erklären, dass ich im Grunde zu doof dazu war. Fahrrad putzen, Zimmer aufräumen, Schnitzen, Bogenschießen. Sogar wie ich ging, im Sinne von sich vorwärtsbewegen.

»Viel Spaß mit deinen Bandscheiben in zwanzig Jahren«, hatte er da gesagt, weil er der Meinung war, dass ich krumm lief, und ich wünschte, nachdem ich gegoogelt hatte, was das mit den Bandscheiben bedeutete, dass zwischen allen seinen Wirbeln das Bandscheibengewebe hervorquellen würde. Gut, das war mindestens sechs Jahre her und ich hatte inzwischen begriffen, dass es mich nicht glücklich machen würde, wenn er Schmerzen hätte, sondern vermutlich eher traurig, weil man auf irgendeine kaputte Art seinen Eltern am Ende fast alles verzeiht, was sie einem antun. Ich begreif nur noch nicht, warum. Oder weshalb man sie lieben muss. Schließlich hatte man sich ja nicht sie als Eltern ausgesucht, sondern sie hatten sich ein Kind gewünscht (meistens). Einen kleinen Erlöser für die Wohnzimmercouch, der ihrer Existenz einen Sinn geben würde. Der ihnen endlich das große Glück beschert. Einen Sonnenschein, immer zufrieden, erfolgreich und alles, was sie selbst nicht waren und niemals sein würden. Dass ihnen die Realität einen introvertierten, unsportlichen und sozial inkompatiblen Trauerkloß servieren könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Aber das geht jetzt zu weit, ich war ja bei meinen Eltern und ihrer Scheidung.

Zwischen den beiden hatte es, soweit ich mich erinnern kann, mit der Spülmaschine angefangen so richtig zu eskalieren. Da hat mein Vater eines Abends erst wortlos alles umsortiert, damit mehr reinpasste, und dann irgendwann einen kompletten Ausraster gekriegt, weil Mama seiner Meinung mal wieder alles total schwachsinnig eingeräumt hatte. An einem eigentlich friedlichen Samstagnachmittag hat er sie dann richtig angeschrien deswegen. Ich habe nichts gesagt, sondern mich nur geschämt, weil die zwei Müslischalen, die im oberen Fach falsch waren, hatte ich da so reingestellt. Mama hat zurückgebrüllt, dass er die beschissene Spülmaschine dann ja selbst einräumen und sich danach gerne gehackt legen kann, und da ist er ganz ruhig geworden, und wir beide kannten ihn ja sehr gut und wussten, dass er dann am fiesesten wurde. In der Ruhe lag seine Kraft.

Als er ihr ganz sachlich erklärte, sie könne doch nicht so verblödet sein, nicht zu erkennen, dass sie mit ihrer Art, die Maschine einzuräumen, dreißig Prozent Ladefläche verliere, und entsprechend mehr Wasser, Strom und Spülmittel verbrauche, begann Mama zu weinen. Was vollkommen bescheuert war, also nicht das Weinen, sondern sein Argument, weil es plötzlich indirekt um Geld und die Umwelt ging, was wirklich nie ein Thema in unserem Haushalt war. Ich glaube, dass er sie nur kaputtmachen wollte und es ihm einen Kick gab, sie für blöd zu erklären. In den folgenden Tagen ist er dann jeden Abend mit ihr zur Spülmaschine gegangen und hat ihr mit seiner ekelhaft herablassenden Pseudofreundlichkeit gezeigt, wie sie die Ladung optimieren könne.

Kurz darauf hat er begonnen, ihr montags eine Liste mit den Dingen auf den Küchentisch zu legen, die sie die Woche über erledigen sollte, weil sie angeblich den ganzen Haushalt nicht richtig gebacken bekam. Am Anfang waren das noch mehr Stichpunkte, aber irgendwann wurde ein durchgetakteter Stundenplan draus, sogenannte Beschäftigungsblöcke, die so überhaupt nicht zu schaffen waren. Nach der Scheidung hat sie mal gesagt, dass er, der große Hundehasser, sie wie einen Köter brechen und dressieren wollte. Und sie hat danach eine ganze Reihe von echt heftigen Schimpfwörtern benutzt, die ich so von ihr noch nie gehört hatte. Da musste ich laut lachen und sie auch, und wir waren froh, dass sie endlich frei war, und dann haben wir ihre neue Spülmaschine komplett falsch eingeräumt und darüber noch mehr gelacht.

Total irre fand ich, wie verschieden meine Eltern nach der Trennung wurden. Weil Mama schon bald tausendmal so locker war wie vorher und er millionenmal so kleinlich und spießig. Ich hab mich nie getraut, sie zu fragen, ob sie wieder so wurden, wie bevor sie sich kennengelernt hatten, oder ich es nun mit komplett neuen Versionen von ihnen zu tun hatte. Weil eins wusste ich sicher: So hätten sie sich nie im Leben ineinander verliebt und schon gar nicht geheiratet. Ich konnte das gut beurteilen, weil ich ja ständig pendelte.