Leoparda - Anja Schmitter - E-Book

Leoparda E-Book

Anja Schmitter

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Beschreibung

Kleo führt ein bürgerliches, angepasstes Leben - bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, an dem sie beschließt, dass sich etwas ändern muss. Während Zürich in einem apokalyptischen Hitzesommer zu schmelzen scheint, verkriecht sie sich in ihrer Wohnung und verwandelt sich langsam in ihr verwildertes Alter Ego Leoparda. Aus einem Sonnenbrand entsteht ein fleckiges Hautmuster, ihre Zähne werden immer spitzer, bald huscht sie nur noch nachts nach draußen. Als Raubkatze sucht sie die Menschen aus ihrer Vergangenheit heim: Adriano vom Tinder-Date, ihre Ex-Psychologin und beste Freundin Feli, die sie ständig belehrt, ihre Schülerinnen und Schüler, deren Teilnahmslosigkeit sie ärgert, und auch ihre Eltern, deren blankpolierte Glücksfassade endlich Risse bekommt. Leoparda teilt ihre Abenteuer auf Social Media, wo sie zum Star wird, während die alte Kleo immer mehr verschwindet. Anja Schmitters Debütroman ist ein furioser Seiltanz zwischen Imagination und Realität. In originellen Bildern und mit gesellschaftskritischem Blick erzählt sie vom Ausbrechen aus der Normalität, von Identitätssuche und Emanzipation.

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Seitenzahl: 204

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Anja Schmitter

Leoparda

Roman

Lenos Verlag

Die Autorin

Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. Leoparda ist ihr erster Roman.

Die Autorin dankt allen, die dieses Werk durch ihre wertvolle Unterstützung möglich machten. Besonderen Dank an Ruth, Sophia, Noëlle, Leticia, Lucia und das ganze Verlagsteam von Lenos.

E-Book-Ausgabe 2022

Copyright © 2022 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Grafikdesign: Sophia Becker

eISBN 978 3 03925 702 7

www.lenos.ch

Für meine Familie und FreundeFür Daisy und ihre verwilderte Schwester

Inhalt

Teil 1: Die Liebe

Teil 2: Die Hitze

Teil 3: Die Reise

Teil 4: Die Hoffnung

Who isAnd who wasAnd who is to come

Teil 1

Die Liebe

Über dem Lochergut kreisten Möwen. Sie stiegen vor der sandfarbenen Fassade des Hochhauses empor in den blendend weissen Himmel, standen dann einen Augenblick still im Zenit als flügellose schwarze Sicheln. Und liessen sich wieder fallen. Und flatterten und kreischten. Es war aussergewöhnlich warm für Januar, vermutlich dachten die Vögel, es würde bald Frühling.

Kleo stand am Fenster und betrachtete den grauen Topf, der auf dem Fensterbrett stand. Darin war eine braune Knolle, aus der etwas Hellgrünes, Fleischiges herausschoss. Jedes Jahr schenkte ihr Ernst eine Amaryllis zum Geburtstag. Jedes Jahr mit den Worten: Wenn du ihr gut schaust, ist sie mehrjährig. Kleo gab sich Mühe, doch die Pflanzen blühten jeweils nur einmal und mussten dann entsorgt werden. Sie nahm das halbvolle Wasserglas vom Schreibtisch und schüttete den Inhalt über die Knolle.

Am Vorabend hatten sie in Kleos Lieblingsrestaurant gefeiert. Ernst, Mutter, Vater und Kleo. Die Eltern hatten sich herausgeputzt, der Vater trug ein kariertes Hemd und die Mutter Lippenstift. Kleo ekelte sich vor dem Lippenstiftabdruck am Weinglas ihrer Mutter und versuchte, ihn zu ignorieren, aber ihr Blick blieb immer wieder daran haften. Der Fleck war dunkelrot und schmierig.

Ernst hatte sich für die zukünftigen Schwiegereltern rasiert. Er sah jünger aus ohne Dreitagebart, fast etwas jungenhaft, wie der Sänger einer Boygroup. Während des ganzen Abends lag seine Hand auf Kleos Oberschenkel, und wenn sie etwas sagte, trommelte er zärtlich, ihre Worte bestätigend, mit den Fingerkuppen. Der Vater hatte sich auch frisch rasiert und sich dabei am Hals geschnitten. Man sah den Schnitt kaum, doch der Vater hatte bereits beim Apéro lachend darauf hingewiesen mit der Bemerkung, dass seine Augen immer schlechter würden. Er war fröhlich, goss ständig Wein in alle Gläser, auch in die vollen, und die Mutter strahlte. Unser Kleines ist nun schon ein Vierteljahrhundert alt, sagte sie, und ihre Augen leuchteten stolz. Ich erinnere mich an deine Geburt, als wäre es gestern gewesen. Der schönste Tag meines Lebens. Weisst du noch, Paul, richtete sie sich an den Vater, wie wir das kleine Ding in den Armen hielten? Der Vater nickte bedeutsam in die Runde, sein Blick blieb auf Kleo ruhen, wie könnte ich das vergessen. Er seufzte und Ernst kicherte.

Du warst so klein, so winzig. Die Mutter deutete an, wie sie ein Baby auf dem Arm hielt, und wiegte es hin und her. Und jetzt bist du plötzlich so erwachsen! Mutters Augen waren feucht und glänzten, vermutlich würde sie bald weinen. Kleo blickte sich zu den Nebentischen um. Weine nicht!, zischte sie, doch die Mutter hörte sie nicht. So erwachsen, wiederholte sie, und Tränen perlten aus ihren Augen, vereinten sich mit Wimperntusche und flossen dunkel über ihre Wangen.

Als Kleo in der Nacht nach der kleinen Geburtstagsfeier neben Ernst im Bett lag, war sie schlaflos. Das Mondlicht drängte durch die Spalten der Rollläden und bestrich alles im Raum mit einem bleichen Schein. Ein silberner Speichelfaden lief aus Ernsts halbgeöffneten Lippen, Kleo konnte es genau erkennen. Er schnarchte leise. Sie drehte sich weg und schloss die Augen. Sie sass am Tisch, inmitten ihrer Lieben, strahlte, zeigte ihre Zähne und stiess an, auf ihre Geburt, das Vierteljahrhundert, das Glück und so weiter. Die Gläser klirrten, prost, auf dich, die Mutter lachte, und Ernsts Schnarchen pfiff an Kleos Ohr. Es pfiff in einem zuverlässigen Rhythmus, leise, sanft. Mit einem Ächzen drehte sich Kleo um, starrte auf das schlafende, glattrasierte Gesicht mit dem halbgeöffneten Mund. Sie knuffte Ernst, einmal normal und einmal fest, aber er wachte nicht auf.

Am Morgen, es war ein Sonntag, sassen Kleo und Ernst zusammen in der kleinen Küche und brunchten. Kleo war es, als könne sie nicht aus ihrem Kopf hinausschauen. Der Tag draussen war weiss.

Hast du einen Kater?, fragte Ernst.

Sie ignorierte seine Frage und rührte in der Müslischale. Uhrzeigersinn. Die kleinen Flocken schwammen im Strudel der Milch, wurden schneller, je schneller Kleo rührte. Dann schlug der Löffel in die andere Richtung. Der erste Milchstrom traf auf den zweiten, die Wellen schlugen hoch und flossen, zu einem neuen Strom vereint, in die andere Richtung weiter.

Hey, Ernst, sagte sie, ohne den Blick zu heben, lass uns das Ganze nicht so eng sehen.

Was denn?, fragte er.

Sie hob den Löffel. Die kleinen Haferflocken trieben weiter im Kreis.

Das mit der Beziehung.

Ach so.

Er griff zur Kanne und goss sich Kaffee nach.

Willst du auch?

Sie schüttelte den Kopf. Dann schaute sie in sein Gesicht. Er lachte sie liebevoll an, seine Zahnstellung war perfekt.

Ich bin jung, sagte Kleo, weisst du. Ich brauche mehr Abwechslung.

Ernst war fünf Jahre älter, schon dreissig, und verstand das Problem gut.

Können wir machen, meinte er.

Sie einigten sich darauf, dass beide ab sofort auch andere Menschen zu Dates treffen durften. Und vielleicht, wenn es sich so ergeben würde, auch zu mehr. Aber nur mit Kondom, sagte Kleo mit erhobenem Finger. Ernst neckte sie: Da ist er wieder, der Lehrerinnenfinger, und sie lachten beide. Sie versprachen sich gegenseitig, sich bei allen Plänen auf dem Laufenden zu halten.

Nach dem Brunch sagte Kleo zu Ernst, dass sie noch Hausaufgaben korrigieren musste, und er verabschiedete sich.

Kleo nahm die Amaryllis vom Sims, stellte sie auf den Boden und öffnete das Fenster. Die Möwen flatterten, sie schrien, und es klang wie Kinderlachen. Das Treiben amüsierte Kleo gewöhnlich, sie versuchte häufig ihren Spiralen mit dem Blick zu folgen, bis ihr schwindlig wurde, manchmal ahmte sie auch das Kreischen nach. Doch an diesem Tag drückte die bereits aussergewöhnlich starke Januarsonne durch die weisse Wolkendecke, drückte auf den Kopf, drückte in die Augen, blendete. Sie schloss das Fenster, liess den Rollladen bis auf halbe Höhe herunter und setzte sich auf die Couch am Fenster.

Ernst würde keine andere Frau treffen. Sie war sein Ein und Alles, das zeigte er ihr deutlich und unverändert seit sechs Jahren. Er lachte über all ihre Witze, bewunderte ihren Verstand, ihr Aussehen, die er beide scharf nannte. Und ihr Haar. Niemand hat so schönes goldenes Haar wie du. Er liebte sogar ihre schiefe Zahnstellung und neckte Kleo, bis sie die Lippen hob und ihm lachend die Zähne zeigte, was sie sonst nie freiwillig tat. Ich liebe dein Raubtiergebiss, sagte er dann, und Kleo versuchte ihn zu beissen.

Ausserdem gab er ihr immer recht. Kleo konnte aus dem Nichts Streit mit ihm anfangen, und wenn sie später darüber redeten und Kleo ihm sagte, Ernst, du hast das und das gemacht, dann meinte er immer: Tut mir leid, Baby, du hast recht. Du hast recht, Baby, hatte er gesagt, als sie die Beziehung öffnete. Wenn du mehr Abwechslung brauchst, dann machen wir das. Ernst wollte nur sie und fertig.

Kleo erhob sich, ging ins Bad, wühlte dort eine Weile in einer Kiste mit Kosmetikartikeln herum, bis sie einen Lippenstift hervorzog. Sie musste ihn voll aufdrehen, nur noch ein kleiner Stummel war da. Etwas zwischen Pink und Rot. Sie schmierte den Stummel über die Unterlippe, rieb dann die Unterlippe an der Oberlippe und verfeinerte mit dem Finger den Amorbogen, bis die Farbe perfekt sass. Sie küsste ein paarmal in die Luft. Dann beugte sie sich vor und küsste ihr Spiegelbild. Als sie den Abdruck am unteren Spiegelrand betrachtete, lächelte sie zufrieden. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, holte die Schultasche hervor und begann die Aufsätze ihrer Schüler zu korrigieren.

Später probierte Kleo ihre alten Partyoutfits an, glitzernde und samtene Kleider, die sie schon lange nicht mehr getragen hatte. Am schönsten war der schillernde Overall – er war ihr früher immer etwas zu gross gewesen, nun sass er wie eine zweite Haut. Kleo bewegte sich, drehte sich und beobachtete im Spiegel, wie ihre Glieder den elastischen Stoff dehnten und ihre Muskeln sich spannten. Sie hörte Musik, spazierte durch die Wohnung, der alte Parkettboden knarrte laut bei jedem Schritt. Jedes Mal, wenn sie an einem Spiegel vorbeikam, zwinkerte sie sich zu, verzog dann den Mund und lachte über sich selbst.

Dabei bekam sie plötzlich Lust zu rauchen, so wie früher. Es war jahrelang ihre schlechte Angewohnheit gewesen, die sie aber aufgegeben hatte, weil es anscheinend die Zähne gelb machte. In einer Handtasche fand sie schliesslich eine alte Schachtel Zigaretten. Sie setzte sich auf den Fenstersims, liess ein Bein in die Tiefe baumeln und rauchte. Der alte Tabak schmeckte eklig, trotzdem fühlte es sich gut an, den Rauch auszublasen und die Asche in die Luft zu schnippen.

Unten ging eine Nachbarin vorbei. Es war die alte Frau, die ein Stockwerk unter Kleo wohnte, sie kreuzten sich manchmal im Treppenhaus. Die Frau hatte Haarausfall, Kleo konnte die kahle Stelle am Hinterkopf genau erkennen. Als hätte sie den Blick gespürt, blieb die alte Frau plötzlich stehen und starrte nach oben. Sie fuchtelte mit der Hand und rief etwas. Kleo verstand nicht, was die Frau sagte. Sie winkte ihr zu, drückte die Zigarette aus, stieg vom Sims und schloss das Fenster.

An einem Wochenende im Februar führte die Lehrerschaft von Kleos Sekundarschule einen Teamevent durch. Lange wurde im Lehrerzimmer debattiert, ob es nicht zu früh sei, in die Berge zu fahren. Doch in diesem Jahr war der Winter besonders frühlingshaft warm, und der Schnee war bereits landesweit bis auf fast 1800 Meter Höhe weggeschmolzen. Zudem war für jenes Wochenende Sonne angesagt, und mit gutem Schuhwerk wäre auch der Schneematsch an den schattigen Bergflanken kein Problem. Es gibt keine schlechten Bedingungen, sagte der Schulleiter, nur schlechte Ausrüstung.

Besammlung war um sieben Uhr früh beim Hauptbahnhof. Kleo war noch früher unterwegs, kurz nach sechs, denn Kleo hatte allein mit der Möglichkeit, zu spät zu kommen, ein Problem. Sie durchquerte die grosse Bahnhofshalle, ging unter dem dicken Schutzengel, der friedlich an der Decke hing, durch, als sie plötzlich stolperte und hinfiel. Ein paar betrunkene Jugendliche, die auf den Bänken in der Halle herumsassen, zeigten mit dem Finger auf sie und lachten. Kleo beachtete sie nicht, richtete sich auf, wollte weiter, aber wieder stolperte sie über den linken Fuss: Die Schuhsohle hatte sich gelöst. Sie flappte bei jedem Schritt auf und ab wie eine leckende Zunge, und das vertrocknete Material unter der Sohle bröckelte zu Boden. Der Wanderschuh war im Arsch.

Sofort dachte Kleo an Ernst. Ernst hatte kleine Füsse und Kleo ziemlich grosse. Viel zu gross für eine Frau, das sagte die Mutter ständig, von der Kleo diese Grossfüssigkeit geerbt hatte.

Ernsts und Kleos Füsse trafen sich bei der gleichen Nummer. Es war diese Gemeinsamkeit gewesen, die sie vor sechs Jahren zusammengeführt hatte, als Kleo beim Tanzen jemandem auf die Füsse getreten war, sich entschuldigte, der Betreffende sich sofort ebenfalls entschuldigte – tut mir leid, nein, mir tut es leid –, sich dann beide anlachten und später im Morgengrauen zusammen heimgingen. Kleo hastete los, Ernst wohnte gleich hinter dem Bahnhof. Die Jugendlichen grölten, als sie an ihnen vorbeirannte, und einer warf ihr eine leere Bierdose hinterher.

In Ernsts Wohnung war in der Küche noch Licht, es roch nach Zigarettenrauch und etwas Süsslichem, vermutlich Räucherstäbchen, vielleicht hatte er auch wieder gekifft. Auf dem Tisch zwei Sektflaschen, zwei halbleere Gläser, in der Spüle Teller mit Tomatensauce. Kleo lehnte einen Moment im Türrahmen, schüttelte den Kopf und lächelte. Dann öffnete sie das Fenster, liess Wasser über die Teller laufen und löschte das Küchenlicht. Sie hastete weiter zum Schuhschrank im Flur und wühlte durch Ernsts Sachen. Einen Wanderschuh hatte sie bereits gefunden, als sie plötzlich innehielt und horchte.

Kleo hatte angenommen, Ernst wäre aus und immer noch feiern. Ihr Lieblings-DJ legte auf in dieser Freitagnacht, und Ernst hatte mit ihr hingehen wollen. Er hatte lange auf Kleos Schulleiter geschimpft und genauso lange versucht, sie umzustimmen. Baby, lass doch mal diese Lehrer. Scheiss aufs Wandern, sag, du bist krank. Kleo verdrehte die Augen. Geh doch allein hin, hatte sie ihm geraten, und Ernst hatte mit den Schultern gezuckt, okay, wie du meinst.

Vielleicht hatte sie etwas gehört. Vielleicht auch gerochen. Jedenfalls wusste sie: Er war da. Sie schnupperte. Sie horchte angestrengt. Alles war ruhig. Doch dann eine Frauenstimme. Im Schlafzimmer. Und Ernst. Er kicherte.

Kleo krampfte zusammen. Ihr war auf einen Schlag eiskalt. Sie hörte das Kichern, hell und fröhlich, und ihr Körper erstarrte. Sie kauerte immer noch vor dem Schuhschrank. Weit weg, in der Ferne, spürte sie ihre Hände zittern. Etwas schlug wie wild an ihre Brust, schlug an die Ohren, von innen. Und plötzlich schoss es heiss in alle Zellen. Kleo schnellte hoch.

Ernst!, schrie sie.

Stille.

Sie stand jetzt vor der angelehnten Schlafzimmertür, den Wanderschuh in der Hand.

Ernst!, schrie sie.

Kleo wusste nicht, ob sie die Tür aufgerissen hatte oder nicht, doch sie sah die beiden, wie sie nackt dalagen. Ernst hielt die Frau an der Hüfte, ihre Gesichter waren sich ganz nah, dann plötzlich erschrocken Kleo zugewandt.

Ernst liess die Frau los, setzte sich auf und sagte zaghaft: Ja?

Du bist so ein Arschloch! So ein verficktes Arschloch!

Sie drehte sich um und stob Richtung Ausgang, schmetterte unterwegs den Wanderschuh in die Küche, die Gläser schlugen vom Tisch, zerbarsten.

Sie rannte aus der Wohnung, schlug die Tür zu, die Treppe hinunter, die lose Schuhsohle flatterte.

Oben hörte sie Ernst rufen: Baby, was ist denn los?

Sie stürzte aus dem Haus. Du Arsch!, schrie sie nach oben, und das war das Ende der offenen Beziehung.

Kleo zerrte die Amaryllis aus dem Topf, feuchte Erde tropfte zu Boden, hinterliess eine schwarze Spur bis in die Küche. Sie schmiss das Ding in den Mülleimer.

Doch als sie den Deckel auf den Eimer setzen wollte, sah sie die bleichen weissen Wurzeln der Amaryllis, wie sie nackt und hilflos aus dem Müll ragten. Kleo bückte sich nach der Knolle, trug sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sie wieder in ihren Topf. Der fleischige Stängel war zwar durch den Sturz geknickt, doch als Kleo sanft mit dem Finger über den erdigen Körper fuhr, spürte sie, dass daneben bereits ein zweiter Stängel im Begriff war, auszuschlagen.

Kleo schrieb in den Familienchat, der aus Mami, Papi und Kleo bestand: Habe mich von Ernst getrennt.

Die Mutter rief sofort an und wollte wissen, was denn los sei.

Wir passen einfach nicht zusammen, erklärte Kleo.

Die Mutter lachte und sagte: Kleoparda! Schau dir mal den Paul und mich an. Wir passen auch nicht zusammen, aber wir lieben uns. Und schau mal, was aus unserer Liebe geworden ist: Du! Du bist ein Leopard, eine Königin! Dein Vater und ich sind unterschiedlich, aber du hast von uns beiden das Beste. Gell, Paul, rief sie im Hintergrund dem Vater zu, unser Kleines hat von uns beiden nur das Beste geerbt! Sie kicherte, und dann sagte sie wieder zu Kleo: Das ist Liebe, mein Schatz.

Ihr seid auch Eltern, sagte Kleo, da müsst ihr euch lieben. Oder so tun, als ob.

Die Mutter lachte wieder und sagte: Ach, mein Kleines, sei nicht so eingeschnappt. Das wird schon wieder mit dem Ernst, da bin ich mir sicher. Ihr seid ja schon ewig zusammen. Das darf man nicht einfach wegwerfen. Sonst kann ich ihn auch mal anrufen, wenn du magst, und mit ihm reden.

Kleo lehnte dankend ab und sagte, sie habe Essen auf dem Herd. Sie wechselten noch kurz zwei abschliessende Sätze über die Arbeit und legten auf, bevor Kleos imaginäre Spaghetti überkochten.

Auf dem Foto waren der Vater und die Mutter auf ihrer Hochzeitsreise zu sehen, beide strahlten vor Glück und Jugend. Im Hintergrund ragte eine Pyramide ins orange Abendlicht. Deswegen heisst du Kleoparda, hatte die Mutter Kleo als Kind häufig erklärt und mit dem Finger auf die Pyramide gezeigt. Ähnlich wie die ägyptische Königin. Ähnlich, mein Schatz, aber nicht gleich. Du heisst auch wie der Leopard, das war die Idee vom Papa. Denn du bist was Besonderes, mein Schatz.

Die Mutter hatte damals schon die Haare gefärbt, doch auf dem Bild liess das gelbe Blond sie noch jugendlich aussehen. Der Vater trug ein Tropenhemd und eine Pilotenbrille. Er war schlaksig, schlecht rasiert und grinste verwegen.

Ein paar Seiten weiter klebten Fotos von der Mutter, wie sie im Spital lag und wie irre strahlend die neugeborene Kleo an sich drückte. Kleo war ein hässliches Baby gewesen, das war auf den Nahaufnahmen ihres weinenden Gesichtes deutlich zu erkennen. Kleo klappte das Album zu, schmiss es unter die Couch. Es war ziemlich dunkel im Raum, die Rollläden blieben während des ganzen Wochenendes geschlossen. Trotzdem wuchs der neue hellgrüne Stängel der Amaryllis um sicher zwei Zentimeter.

Kleos Kolleginnen waren enttäuscht, das zeigten ihre Kommentare im Lehrerchat. Das ganze Wochenende empfing Kleo Bilder aus Engelberg und dazu Sprüche wie: Bergluft hilft dem Immunsystem. Kleo wusste, wie sie das meinten, schliesslich war sie bereits beim Minigolfausflug krank gewesen. Doch als die Kolleginnen am Montag ihr Gesicht sahen, wünschten ihr alle gute Besserung, und einige fragten, ob dieser Schnupfen nicht ansteckend sei. Ich befürchte es, erwiderte Kleo, und sie liessen sie in Ruhe.

In der Zehnuhrpause sass sie im Lehrerzimmer etwas abseits am Tischende.

Isst du denn gar nichts?, fragte Brigitte, eine mittelalte Kollegin mit schulterlangen grauen Haaren und einer orientalisch gemusterten Baumwollbluse, die am anderen Tischende sass und Kleo sorgenvoll musterte.

Doch, doch, sagte Kleo und deutete auf den Joghurtbecher, der ungeöffnet vor ihr auf dem Tisch stand. Dann erhob sie sich und verliess den Raum.

Vor der Lehrerinnentoilette stand ein Putzwagen. Als Kleo trotzdem den Kopf in den Raum steckte, fuhr sie der Hauswart an: Hier wird geputzt! Sie sehen ja den Wagen! Kleo ging zur Schülerinnentoilette.

Auf der Klobrille glitzerten mehrere kleine gelbe Tropfen. Sie rümpfte die Nase, wischte die Spritzer mit Klopapier ab, legte danach fein säuberlich zwei Lagen Papier auf den Ring und setzte sich. Als sie sass, stützte sie ihren Kopf in die Hände und atmete tief ein und aus. Sie rieb sich die Schläfen, atmete ruhiger.

Da krachte plötzlich die Tür auf.

Alte, schon wieder Montag, sagte eine Schülerin.

Ich bin viel zu müde, stöhnte ihre Freundin. So kein Bock.

Jemand versuchte, die Tür zu Kleos Kabine zu öffnen.

O nein, hier ist besetzt!

Die Mädchen warteten, unterhielten sich einen Moment.

Bis eins rief: Was ist denn da los? Da sitzt eine voll lang.

Hallo! Es wurde an der Tür gerüttelt.

Die Mädchen kicherten.

Alte, ich piss mir noch in die Hose.

Hallo! Diesmal polterten sie mit ihren Fäusten an die Tür.

Dann sagte das zweite Mädchen: Komm, gehen wir zum anderen Klo. Hier hat sicher eine Durchfall. Da will ich gar nicht mehr aufs Klo. Wieder kicherten beide. Viel Glück!, riefen sie zur Kabine, verliessen den Raum, und die Tür knallte hinter ihnen zu.

Als die Schülerinnen weg waren, setzte Kleo ihre Füsse auf den Boden. Ganz intuitiv hatte sie sie hochgehoben, war verkrampft dagehockt, ihre schönen Lederschuhe waren schliesslich einzigartig. Dann zog sie ihre Hose hoch und öffnete vorsichtig die Tür.

Vor dem Waschbecken musterte sie sich im Spiegel. Unter ihren Augen waren dunkle Schatten. Mechanisch hob sie die Lippen. Sie grinste in den Spiegel und verharrte ein paar Sekunden. Dann blies sie die Backen auf, schüttelte die Kiefer, ihr Gesicht verfiel wieder in den vorherigen Ausdruck. Sie nahm ihr iPhone und schrieb ihrer besten Freundin eine Nachricht: Hast du heute Zeit?

Felicitas war online, antwortete sofort: Ja, aber nicht allzu lange.

Kleo kannte Felicitas schon seit sieben Jahren. Damals, es war kurz nach Kleos Schulabschluss gewesen, ging es Kleo nicht so gut. Sie wusste nicht, was sie mit ihrer frisch erworbenen Matura anfangen sollte. Du kannst damit alles machen, sagten die Eltern, du bist ja so begabt. Doch Kleo sass zu Hause und tat nichts. Sass auf der Couch, ohne sich nützlich zu machen.

Bald wurde sie von den Eltern in Therapie geschickt. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen, sagten sie. Jeder und jede kann schliesslich mal eine Zeitlang die Orientierung verlieren, eine Therapie ist nichts Peinliches. Heutzutage machen sowieso mehr Leute eine Therapie, als man denkt.

Felicitas Fürst war damals noch nicht ganz dreissig, kam direkt von der Uni, und die beiden verstanden sich auf Anhieb. Sie sind ein Glied der Gesellschaft, sagte Frau Fürst. Sie sass auf einem schwarzen Ledersessel, trug einen mintfarbenen Blazer, die Brille auf der Nasenspitze, lächelte wohlwollend. Sie müssen sich nützlich machen. Wissen Sie, Faulenzen macht nicht glücklich. Kleo nickte. Bald begann sie das Lächeln zu erwidern, und bereits nach drei Sitzungen entschloss sie sich zu einem Studium an der Pädagogischen Hochschule. Es war naheliegend: Kleo mochte Kinder, und ihre Eltern waren auch Lehrer. Sie schrieb sich an der PH ein.

Frau Fürst hatte Kleo in der letzten Stunde ihre Handynummer gegeben: Melden Sie sich, wenn Sie das Gefühl haben, es gehe Ihnen nicht gut. Manchmal fragte sich Kleo, ob es Feli gefallen hätte, wenn sie die Therapie fortgesetzt hätte. Sind Sie sicher?, hatte Felicitas gesagt, als Kleo meinte, sie sei nun wieder glücklich. Doch Kleo ging es tatsächlich ausserordentlich gut, und sie wollte Felicitas an diesem Glück teilhaben lassen. Sozusagen als Dankeschön, denn schliesslich war sie diejenige, die sie zu dieser Hochform gebracht hatte.

Auf die ersten Fotos, die Kleo ihr aus ihrem Alltag schickte, antwortete Felicitas relativ knapp mit »schön, dass es Ihnen gutgeht, Kleoparda«. Doch irgendwann begann sie Kleo ebenfalls zu duzen, und ihre Antworten wurden länger. Kleo freute sich sehr, als Felicitas zum ersten Mal etwas Persönliches aus ihrem Leben erzählte. Kleo hatte ihr von ihrem neuen Freund Ernst berichtet, und als Antwort gab Felicitas ein Beispiel aus ihrer eigenen Beziehung preis. Ich kenne das von meinem Schatz, schrieb sie, dazu ein Zwinkersmiley.

Für das erste Treffen nach der Therapie brauchten die beiden einen Vorwand. Felicitas wollte Kleo ein Buch leihen, einen Ratgeber über Selbstliebe, Selbstmotivation und so weiter. Zur Übergabe trafen sie sich in einem Café. Felicitas wirkte zuerst etwas angespannt und einsilbig. Sie meinte gleich zu Beginn: Weisst du, es geht eigentlich nicht, dass ich zu Patienten eine persönliche Beziehung pflege. Doch Kleo erinnerte sie daran, dass ihre Therapie ganz kurz gewesen war, nicht von Bedeutung und sowieso schon längst vergessen. Felicitas lächelte und bestellte für beide einen zweiten Mocaccino. Sie waren jetzt Freundinnen.

Am Montagabend trafen sich Kleo und Felicitas nach der Arbeit im Starbucks am Central. Feli hatte es vorgeschlagen, da der Standort praktisch wäre: Kleo kam von ihrer Schule in der Agglo mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und Feli von ihrer Praxis mit dem Tram vom Seefeld. Doch Kleo wusste, dass Feli eigentlich wegen der süssen Getränke zu Starbucks wollte, auch wenn sie das nicht offen zugab, weil es ungesund war.

Felicitas sass da, strenger Pferdeschwanz, die Brille etwas zu weit vorn auf der Nase, wie immer, wenn es um Probleme ging. Also, was ist denn los?, fragte sie.

Kleo berichtete vom Ende der Beziehung mit Ernst, erzählte alle Details, während Felicitas geräuschlos an ihrem Mocaccino schlürfte und Kleo dabei nicht aus den Augen liess.

So ein Scheissarschloch!, schloss Kleo.

Felicitas zeigte keine besondere Reaktion darauf, dass Kleo ihr erst jetzt von der Sache mit der offenen Beziehung erzählte. Von wo hast du denn diese Schnapsidee?, fragte sie nur.

Kleo erklärte ihr, dass sie von vielen Kolleginnen gehört und auch im Internet gelesen habe, dass so was sehr spannend sein könne. Sie habe Aufregung gesucht und niemals damit gerechnet, dass Ernst sie so kalt betrügen und links liegenlassen würde.

Wie man sich in Menschen täuschen kann, sagte Kleo.

Kleoparda, sagte Felicitas, sie war ernst geworden und musterte Kleo forschend. Du musst dir bewusst sein, dass du ihn dazu getrieben hast.

Ich? Kleo wurde fast laut. Er hat die einfach so gevögelt, ohne mich zu fragen, das egoistische Schwein!

Ich glaube, du tust ihm unrecht, sagte Felicitas ruhig. Bestimmt ist er sehr traurig und vermisst dich.

Kleo schnaubte. Und wennschon …