Lesbe auf Butterfahrt - Sybille Schönherr - E-Book

Lesbe auf Butterfahrt E-Book

Sybille Schönherr

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Beschreibung

Jessi ist verzweifelt. Alles läuft aus dem Ruder, als die Liaison mit ihrer Chefin auffliegt. Folglich wirft sie alles hin und macht sich zu einer Weltreise auf. Schnurstracks fliegt sie – mit Rucksack und Flipflops ausgestattet – Richtung Osten, um als Backpackerin zu sich selbst zu finden. Doch auch das ferne Bangkok bewahrt sie nicht vor den heimatlichen Schwierigkeiten, alles ist „same, same, but different“. Ein Plan muss also her, wozu sonst führt Jessi einen „Lonely-Planet-Reiseführer“ mit sich? Kurzerhand bucht sie eine Reihe von Trips durch Thailand, Australien sowie Neuseeland, die sich allesamt als Butterfahrten der besonderen Art entpuppen. Da sollte sie keine Zeit mehr haben, sich Gedanken über die Probleme zu Hause zu machen – wären da nicht Facebook, WhatsApp und Skype … Ein liebevoll geschriebener Roman voller Witz, Charme und Abenteuer – eine wunderbare Geschichte über die Suche nach sich selbst, aber auch über das menschliche Bedürfnis, geliebt zu werden.

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Seitenzahl: 546

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Schönherr

Inhaltsverzeichnis

Lesbe auf Butterfahrt

Lesbe auf Butterfahrt

Impressum

Über die Autorin

Lesbe auf Butterfahrt

Lesson 1

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7-8

Tag 9

Tag 10-11

Tag 12-15

Tag 16-18

Tag 19-21

Tag 22-23

Tag 24-25

Tag 26-28

Tag 29-31

Tag 32

Tag 33

Tag 34-36

Tag 37-42

Lesson 2

Tag 43-45

Tag 46-48

Tag 49-50

Tag 51-53

Tag 54-58

Tag 59-63

Tag 64-65

Tag 66-68

Tag 69-70

Tag 71-73

Tag 74-76

Tag 77-78

Tag 79-80

Tag 81-83

Tag 84-88

Tag 89-92

Tag 93-112

Tag 113-118

Lesson 3

Tag 118-120

Tag 121-124

Tag 125-131

Tag 132-136

Tag 137-139

Tag 139-145

Lesson 4

Tag 146-200

Tag 201-218

Tag 219-224

Tag 225-239

Tag 240-248

Tag 249-255

Tag 256-257

Tag 258-259

Tag 260-266

Tag 267-281

Tag 282

Danksagung

Programm

Enge Bande

Das Leuchten des Almfeuers

Lesbian Summer Dreams

Herbstsplitter

Sybille Schönherr

Roman

Sybille Schönherr, Lesbe auf Butterfahrt

© HOMO Littera Romy Leyendecker e. U.,

Am Rinnergrund 14, 8101 Gratkorn,

www.HOMOLittera.com

Email: [email protected]

Coverfoto: © rogistok – Fotolia.de

Grafik und Gestaltung: Rofl Schek

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.

Handlung, Charaktere und Orte sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die geschilderten Handlungen dieses E-Books sind fiktiv! Im realen Leben gilt verantwortungsbewusster Umgang miteinander und Safer Sex!

Originalausgabe: Frühjahr 2018

ISBN PDF: 978-3-903238-07-7

ISBN EPUB: 978-3-903238-08-4

ISBN PRC/Mobi: 978-3-903238-09-1

ISBN Print: 978-3-903238-06-0

Über die Autorin

Sybille Schönherr ist eine deutsche Schriftstellerin, die in ihrer Freizeit gerne reist. Die dabei gewonnenen Impressionen nutzt sie oftmals als Grundlage für ihre Geschichten. „Lesbe auf Butterfahrt“ ist ihr erster veröffentlichter Roman.

Die Menschen machen immer die Umstände dafür verantwortlich, was sie sind. Ich glaube nicht an Umstände. Die Menschen, die vorangehen in dieser Welt, sind stets jene, die sich aufmachen, um die Umstände zu suchen, die sie brauchen, und die sie erschaffen, so sie sie nicht finden können.

George Bernhard Shaw

LESSON ONE

Same, same, but different!

TAG 1

Thailand: Bangkok

Wie soll ich beginnen?

Mit Bangkok, 11. April 2012?

Ich starre nun schon seit mehreren Minuten auf die leeren Seiten meines Tagebuchs.

Habe ich eigentlich jemals Tagebuch geschrieben?

Sprach- beziehungsweise wortlos blicke ich auf liniertes Weiß. Ich überlege. Wahrscheinlich schon, denn als Teenie macht das quasi jedes Mädchen irgendwann einmal. Erste Liebe, Herzschmerz, Probleme mit Eltern, Schule, der besten Freundin, was eben themenmäßig so reingehört ins Tagebuch. Ich kann mich nicht erinnern. Aber hier sitze ich nun. 32-jährig – der Teenie-Zeit knapp entwachsen. Und hey, ich habe allen Grund ein Tagebuch zu besitzen beziehungsweise zu beschreiben. Immerhin habe ich Herzschmerz und offensichtlich einige Probleme. Ansonsten würde ich wohl kaum mutterseelenalleine in einem Hostel in Bangkok sein.

Ich klappe es zu, um noch einmal einen Blick auf den Einband zu werfen. Eher kindlich beklebt von Mutter. Aber für Eltern bleibt man wohl immer das Kind. Auch mit 32 noch. Vor allem jetzt, wo ich wieder mit Sack und Pack ins elterliche Domizil eingezogen bin – und das tatsächlich in mein altes Kinderzimmer.

Ich schaue mich um. VIP prangt in großen weißen Lettern neben einem Cocktailglas mit giftgrünem Inhalt. Ob ich in den nächsten sechs Monaten wohl auch mal einen Cocktail in der Farbgebung schlürfen werde? Das VIP könnte auch für „Very Irritated Person“ stehen. Oder noch besser „Very Insane Person“. Das trifft es doch eher.

Ich sollte bei Gelegenheit an meinem Zynismus arbeiten.

Ist man in meinem Alter eigentlich schon zu alt für einen Hostelaufenthalt im Sechsbettendorm?

Verdammt, ich schweife doch schon wieder ab vom eigentlichen Thema – dem ersten Eintrag in mein Reisetagebuch. Ich bin schließlich schon seit 23 Stunden auf Reisen und sollte durchaus etwas zu sagen haben, oder nicht?

Anscheinend wohl nicht, denke ich und fühle, wie sich die kühle Luft der Klimaanlage schleichend auf meiner Haut ausbreitet. Ich schlage die erste Seite erneut auf.

Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich auf so eine bescheuerte Idee gekommen bin.

Mit diesen Worten sinkt die blaue Tinte in das weiße Papier ein. Ich ergänze um Bangkok, 11. April 2012 in der linken oberen Ecke der Seite und versehe meinen Satz mit einem Ausrufezeichen – so viel Zeit muss sein –, und klappe es zu.

Geschafft, Tag eins ist quasi abgehakt. Bleiben ja nur noch 174!

Zynismus, ik hör dir trapsen!

Ich fühle die Kälte der Zimmerwand an meinem Rücken hochkriechen und höre nichts, außer den Millionen von Regentropfen, die auf das kleine Wellblechdach vor dem Zimmerfenster prasseln. Ich lehne den Kopf zurück und atme tief ein. Mein Kopf ist total leer. Vielleicht kommt die Leere aber auch dadurch, dass ich mit den Bildern der letzten Monate überfüllt bin. Es ist kein spezielles Bild oder eine bestimmte Erinnerung, die ich zu packen kriege. Es rauscht einfach alles im Kreis, verheddert sich und wird zu einer gewaltigen Masse, die ein schwarzes Loch erzeugt, in das ich hineingesaugt werde. Ich spüre, wie Ungeduld sich in jeder Faser meines Körpers ausbreitet. Ich kann nicht erwarten, dass sich das Gewusel auflöst, dass endlich Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird.

Aber noch ist keine Zeit für Ungeduld, rufe ich mich schnell zur Ordnung. Schließlich habe ich die Reise ja gerade erst angetreten. Und wie schon erwähnt, ich habe ja durchaus noch ein paar Tage Zeit um … ja, um was eigentlich?

Alle Zelte abzubrechen und wegzulaufen war überraschend einfach, aber habe ich auch an die Konsequenzen gedacht? Nur, weil ich Tausende von Kilometern entfernt bin, sind die Probleme nicht weg, vielleicht nur etwas kleiner geworden aufgrund der räumlichen Distanz. Ach, was mach ich nur?

Okay, Geduld war auch noch nie meine Stärke!

Wenn nichts mehr geht, besinne dich auf die Fakten.

So, mal schauen, was haben wir da: Fakt 1: Ich sitze allein im Zimmer auf meinem Bett, meinem „Mietbett“ für die nächsten drei Tage. Fakt 2: Draußen regnet es in Strömen. Fakt 3: Ich friere mir wegen der unaufhörlich laufenden Klimaanlage gerade den Arsch ab. Dabei herrschen im sommerlichen Bangkok gerade rund 35 Grad – außerhalb dieses Zimmers natürlich. Fakt 4: Ich habe sechs Monate Zeit für meine Reise, davon sechs Wochen Thailand, sechs Wochen Australien und runde zwölf Wochen für Neuseeland. Fakt 5: Ich habe ein recht üppig gefülltes Bankkonto. Fazit: Es könnte mir schlechter gehen.

Obwohl, so berauschend ist meine Situation nun auch wieder nicht. Das Alleinsein, wenngleich es gerade erst ein paar Stunden andauert, macht mir zu schaffen. Wann ist man schon mal wirklich allein? Da ist doch immer die Möglichkeit zu telefonieren, zu chatten, Freunde zum Kaffee zu treffen oder Derartiges. Hier bin nur ich, und das lässt gerade leichte Panik in mir aufsteigen.

Ich schweife mit meinem Blick zu den anderen Betten. Alle sind belegt, was sich unschwer an den zum Teil wild ausgebreiteten Klamotten erkennen lässt. Traveller-Rucksäcke mit unterschiedlichem Abnutzungsgrad stehen neben den Betten und zeugen davon, dass sich unter meinen Mitbewohnern einige erfahrene Weltenbummler befinden. Vielleicht beziehungsweise hoffentlich ging es denen ähnlich am ersten Tag: ohne Plan und mit Kopfchaos, verschüchtert auf dem Bett sitzend.

Ich schaue auf die Uhr und stelle erleichtert fest, dass es schon relativ spät ist und ich somit eigentlich schlafen gehen könnte.

Von der unteren Etage höre ich Stimmen, Lachen gepaart mit lauter Musik, heraufdringen, als ich mir den Weg über den Flur bis zum Toilettenbereich bahne. Direkt am ersten Abend jemanden kennenzulernen, damit das Alleinsein ein frühes Ende nimmt, halte ich doch für etwas übertrieben und definitiv zu anstrengend. Zudem bin ich nicht wirklich in Redelaune und in Englisch-Redelaune schon gar nicht.

Zurück in meinem Zimmer schaue ich mir noch einmal das erste und einzige Bild an, was ich am heutigen Tag gemacht habe: Meine liebsten Freunde Dirk und Katharina, links und rechts neben mir, aufgenommen am Flughafen in Düsseldorf. Ihr Überraschungsabschiedskomitee war das absolute Highlight des Tages, und ich fühle, wie sich meine Augen wieder mit Tränen füllen.

Gott, ich bin eine Heulsuse!

Vielleicht sollte ich ab heute immer mein Highlight des Tages aufschreiben, kommt mir der Gedanke. Aber für heute ist erst einmal Licht aus, Kopf aus, Feierabend!

TAG 2

Thailand: Bangkok

Ich wache früh auf – nach einer traumlosen Nacht, die mehrfach vom Hereinpoltern und Herumrödeln der Mitschläferinnen unterbrochen wurde.

Erste Lektion des Tages: Oropax immer tragen! Und dabei habe ich doch direkt drei verschiedene Ohrstöpselsorten eingepackt. Gute Vorbereitung ist alles!

Ich schleiche mich aus dem Zimmer und muss feststellen, dass eine Dusche göttlich sein kann. Sogar Föhne gibt es hier im Nasszellenbereich, und recht sauber ist es auch. Ich weiß gar nicht genau, was ich erwartet habe. Aber wenn man Leos „The Beach“ geschaut hat, erwartet man wohl eher heruntergekommene Bruchbuden in asiatischen Großstädten. Sicher gibt es die auch noch, aber direkt am Beginn der Reise in solch eine billige Absteige – nein! Noch ist ja genug Kohle da zum Verprassen. Auch wenn es leider zum größten Teil nicht mein Geld ist, was ich auf den Kopf hauen kann. Sollte ich deshalb ein schlechtes Gefühl oder Gewissen haben? Vielleicht ja. Aber wie Vater so schön sagte, das geht dir alles vom Erbe ab. Mit einem Augenzwinkern allerdings.

Ich schaue in den Spiegel. Blaue Augen, noch nicht viele Falten, bis auf die zwei tieferen um den Mund herum, auch Lachfalten genannt. Nun ja, viel zu lachen hatte ich in den letzten Monaten auf jeden Fall nicht, so viel steht fest. Ob Lachfalten durch aktives Nichtlachen wieder weggehen? Aber wer will das schon? Ein bisschen Farbe im Gesicht könnte auch nicht schaden.

Gott, ich sehe scheiße aus, machen wir uns nichts vor! Eine blonde, blasshäutige, blauäugige Europäerin.

Ich verabschiede mich gerne von meinem Spiegelbild und gehe hinunter in den Aufenthaltsraum. Zwei lächelnde Asiatinnen hinter der Rezeption flöten mir ein „Morning“ entgegen. Ich nicke mit einem flüchtigen Lächeln. Ansonsten bin ich recht allein hier, ist ja auch noch elend früh – 7:30 Uhr! Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und entdecke die „Büdchen-Ecke“. Ausgestattet mit Kleinkram, den man auch am Kiosk ums Eck bekommt: Bier, Cola, Chips, Schokoriegel sowie ein Frühstück werden angeboten. Ich trete näher heran und lese das Angebot: Breakfast Continental mit Croissant, Kaffee, Butter und Marmelade und Breakfast International mit Cornflakes, Milch und Kaffee. Bei solch einer reichhaltigen Auswahl entscheide ich mich spontan für Letzteres. Denn bei runden 16 g Fett pro Croissant schrillen bei mir sofort sämtliche Alarmglocken.

Ich weiß, in Bezug auf Essen und Nahrungsmittel habe ich tatsächlich einen kleinen bis mittelschweren Schaden, der mit der Fachvokabel Orthorexie-Syndrom bezeichnet werden kann. Seit nunmehr dreizehn Jahren halte ich mich an eine vegetarische Ernährung, die neben sämtlichem Fleischigem oder Fischigem mit diversen anderen Lebensmittelausschlüssen über die letzten Jahre komplettiert wurde. Das heißt im Detail: so wenig Fett und Zucker wie möglich. Zur roten Liste gehören: Sahne, Butter, Pizza, Pommes, Chips, alles in Öl Eingelegte, sämtlicher Süßkram wie Schokolade, Gummibärchen, Kuchen, Kekse, Fruchtjoghurt – 30 g Zucker pro Becher, die spinnen wohl! –, Softdrinks aller Art, keine Kohlenhydrate am Abend, wenn Kohlenhydrate vorm Sport – und diese werden abgewogen – und so weiter.

Hallo, mein Name ist Jessi und ich bin orthorektisch. Ob es dafür auch schon Selbsthilfegruppen gibt?

Mit Sicherheit, denn es gibt ja eigentlich nichts, was es nicht gibt. Nicht, dass ich jemals übergewichtig gewesen wäre. Vielleicht hatte ich zu Jugendzeiten 3 bis 5 kg mehr auf den Hüften beziehungsweise am Bauch, wo es bei mir vornehmlich zu Fetteinlagerungen kommt, aber ich war bei 1,75 m noch nie weit entfernt von den 60 kg, die ich im Moment wiege. Ach ja, gewogen wird sich jeden Morgen nach dem Aufstehen im Badezimmer. Eine Waage gibt es leider nicht hier im Hostel, oder?

„How can I help you?“ Ein freundlich-rundliches Gesicht blickt mich strahlend an und reißt mich aus meinen Frühstücksüberlegungen.

„Hey, I take a Continental Breakfast“, stottere ich meinen ersten englischen Satz seit einer gefühlten Ewigkeit. Das kann ja heiter werden.

Ich pimpe die Frühstücksflocken mit einer Banane auf. Kaffee dazu, und das alles für 100 Baht.

Tja, wenn ich nur wüsste, wie der aktuelle Umrechnungskurs ist. Bei meinen ganzen Vorbereitungen habe ich daran überhaupt nicht gedacht. Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Fein säuberlich habe ich alle Teile meiner Einpackliste in einer Excel-Tabelle aufgeführt, gegliedert nach Themenbereichen und versehen mit einem kleinen Abhakkästchen. Sämtliche Reiseunterlagen führe ich kopiert in dreifacher Ausführung mit mir und habe alles zusätzlich eingescannt und mir an zwei verschiedene E-Mail-Adressen geschickt – sicher ist sicher! Ich habe mich gegen Tollwut, Hepatitis A/B, Typhus und Tetanus/Diphtherie/Polio impfen lassen und führe ein Medikament gegen Malaria mit, weil es dagegen keine Impfung gibt. Zusätzlich verfüge ich dank Vater über eine Reiseapotheke, die Pillen, Salben etc. beinhaltet, mit denen ich jegliche Attacken bakterieller oder viraler Herkunft bekämpfen könnte – auch dank zahlreicher mehr oder weniger verschreibungspflichtiger Medikamente. Ich habe zwei Funktionshandtücher, ultraleicht und schnell trocknend, Duschgels, Cremes etc. in Reisegröße, eine Minitaschenlampe, Funktionsklamotten, atmungsaktiv und ebenfalls schnell trocknend, einen Reiseführer und so weiter und so fort, aber an eine Umrechnungstabelle habe ich nicht gedacht. Es ärgert mich, so etwas Elementares nicht bedacht zu haben.

Grübelnd setze ich mich an einen kleinen runden Tisch in einer Ecke des Raumes und baue mir mein Frühstück aus den einzeln verpackten Komponenten zusammen. Der Kaffee ist wirklich gut und heiß. Ich hasse lauwarmen Kaffee, und bei den gefühlten fünfzehn Grad, die Klimaanlage pumpt in Schüben unentwegt kalte Luft in den Raum, ist mir ein Heißgetränk sehr willkommen.

To-do-Liste: Umrechnungstabelle besorgen!

Oh Mann, Schätzchen, du hast Ferien oder zumindest so etwas in der Art, ermahne ich mich selbst. Da sollte ich morgens um halb acht nicht mit To-do-Listen anfangen. Mein Blick fällt auf die Computerbildschirme, sechs an der Zahl, die in der gegenüberliegenden Ecke aufgebaut sind. Da ließe sich doch der Wechselkurs blitzschnell googeln – und Facebook checken und meine E-Mails, und meinen Reiseführer muss ich auch noch studieren, was ich in den nächsten zwei Tagen hier in Bangkok sehen sollte. Die Weiterreise muss ebenfalls organisiert werden.

Ein Gefühl von Stress beschleicht mich. Ich denke, ich sollte etwas entspannter sein.

Sollen, müssen, können.

Ich atme tief ein und konzentriere mich auf das Löffeln meiner Cornflakes. Es ist niemand da, der mir etwas vorschreibt oder vorschlägt, es hängt ganz allein von mir ab, was ich tun will. Nur ich und Millionen Möglichkeiten, wie ich meine freien Tage verbringen kann. Und davon kommen ja noch so einige!

Zum ersten Mal ganz ohne Fremdbestimmung zu sein, fühlt sich befremdlich an. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Geschwindigkeit der Nahrungsaufnahme langsam steigere und den letzten Rest der Milch in einem mehr als zügigen Tempo aus der Schale löffele. Heimat, bin ich unentspannt, regelrecht gehetzt! Aber das nur von mir selbst. Vielleicht sollte ich mal einen Yogakurs besuchen, denn Entspannung ist doch erlernbar, und es könnte wirklich nicht schaden, meinen Kopf hin und wieder auszuschalten.

Ich gehe hinüber zu den PCs, nachdem ich brav meine Essensrückstände der freundlichen Asiatin retourniert habe.

PC-Nutzung für Hostelgäste kostenlos!

Wenn das kein Service ist, freue ich mich.

Meine E-Mails geben bis auf ein paar Spammails nichts sonderlich Interessantes her. So schaue ich bei Facebook rein und siehe da, eine Nachricht von Sylvia. Gespannt klicke ich auf den Posteingang.

Hey Jess,

bist du eigentlich schon unterwegs? Ich habe gestern mit meiner Schwester Anja gesprochen, die zufällig gerade ihren Freund Danthai in Bangkok besucht. Wenn du Lust hast, kannst du sie ja mal anschreiben und ihr unternehmt was zusammen. Natürlich nur, falls du überhaupt schon vor Ort bist. Du findest sie auch bei Facebook. Ansonsten hoffe ich, dass es dir gut geht und ich bald mal wieder was von dir höre!

Dicker Drücker

Sylvi

Was für ein Zufall, mein Herz macht wirklich einen kleinen Sprung, als ich die Mail erneut lese. Was für ein perfektes Timing! Ich mache mich sofort daran, Anja bei Facebook zu suchen und schreibe eine Nachricht, in der ich meine Handynummer hinterlasse. Jetzt heißt es abwarten und hoffen, dass es klappt, und ich den ersten Tag in fernen Landen nicht allein bestreiten muss.

Ich gönne mir einen weiteren Kaffee, jedoch erst, nachdem ich den aktuellen Umrechnungskurs gegoogelt habe, und schlage meinen Reiseführer als Begleitlektüre auf. Eigentlich bin ich nicht so ein Freund von Reiseführern, aber wie sonst soll ich beginnen?

So langsam füllt sich der Raum mit mehr oder weniger ausgeschlafenen Reisenden – ein buntes Treiben. Ich beobachte die Szenerie, während ich belanglos Bilder in der Reiselektüre anschaue. Wirkliche Hammerbilder von weißen Sandstränden, türkisfarbenem Wasser, buntem Nachtleben. Ich hatte eigentlich schon im Flugzeug mal einen Blick hineinwerfen wollen, aber irgendwie konnte ich schon kaum dem seichten Unterhaltungsprogramm folgen – ich habe mich durch den neuen James Bond, einen Actionfilm mit Jason Statham und der Liebeskomödie Marley & ich gekämpft. So blieb es bei dem guten Vorsatz.

Auch jetzt habe ich keine Lust zu lesen.

Heimat deine Sterne, hier laufen aber auch Gestalten rum! Als Backpacker kann man sich quasi alles erlauben, so scheint es zumindest. Wilde Dreadlock-Frisuren, zerrissene Klamotten, Barfußgänger mit mehr als dreckigen Füßen, daneben geschminkte und stark parfümierte Damen mit rosafarbenen Handys – und ich mittendrin, mit Funktionsklamotten und den „Lonely Planet Reiseführer“ wälzend. Das ist aber echt übelst tourimäßig und alles andere als cool.

Das alles trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühle. Ich stürze den letzten Schluck des nunmehr kalten Kaffees hinunter und gehe zurück zu meinem Zimmer. Drei Betten sind noch belegt, und so versuche ich möglichst leise ein paar Klamotten zu sortieren und meinen Rucksack startklar zu machen. Ausschlafen scheint auch eine der für Backpacker üblichen Herangehensweisen an den neuen Tag zu sein. Es gibt offenbar noch viel zu lernen in meiner neuen Rolle.

Der erste Schritt hinaus ins morgendliche Bangkok ist wie vor eine Wand zu laufen. Ich trete aus gefühlten 20 Grad indoor in 35 Grad bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit outdoor. Ich bleibe stehen. Das Atmen fällt mir sofort schwerer, und die feuchte Hitze legt sich wie ein Mantel auf meine Haut. Doch nur im Hostel zu sitzen und auf Anjas Antwort zu warten, dazu habe ich keine Nerven. Dann doch lieber ein bisschen rumlaufen, ziellos, aber immerhin ausgestattet mit einem Stadtplan, der als hundertfaches Abreißblatt an der Rezeption lag. Ich schaffe es genau einmal um den Block herum und halte bei einem 7-Eleven, wo ich mir, nach ausgiebigem Studieren der Angebote, eine kalte Cola gönne, light selbstverständlich.

Die Stadt pulsiert um mich herum, und die Straßen sind gesäumt von Kleinhändlern, die allerhand Essbares lautstark anbieten. Ich fühle mich wie in einer kleinen Mikrokapsel, an der der Trubel und das Leben geradezu abzuprallen scheinen – eine kleine, verspannt betrübte Mikrokapsel, um genauer zu sein.

„Wanna pineapple, cheap cheap.“

„No, thank you.”

„Wanna drink lady, cheap cheap.”

„No!“ Ich schüttle den Kopf.

Nach weiteren unzähligen Offerten von schwarzäugigen Händlern auf dem Weg zurück zum Hostel beschränkt sich meine Antwort lediglich auf ein Kopfschütteln.

Ich schwitze und sinke auf einen Stuhl vor dem Hosteleingang, als ich mein Handy hervorkrame. Eine Nachricht wird mir im Display angezeigt.

Bitte lass es Anja sein und keine Tarifinfo oder ähnlich unwillkommenes Zeug!

Ja, sie ist es!

Hey Jessi, wie schön, dass du in Bangkok bist. Ich habe leider nur heute Zeit, aber wir können gerne etwas unternehmen! Melde dich, wenn du magst. LG Anja.

Ein weiteres Mal an diesem Tag hüpft mein Herz, und ich spüre ein Gefühl der Erleichterung. Nicht allein sein, hat oberste Priorität an meinem ersten Alleinreise-Tag. Ich verabrede mich mit Anja in einer Stunde an der Haltestelle Siam des Skytrains, welche wohl ganz in der Nähe meines Hostels sein soll.

Etwas erfrischt und vollständig ausgerüstet mit Wasserflasche, Kamera, Stadtplan, Lonely Planet, Sonnenbrille, Sonnencreme, Stift, Zettel und einigem mehr bepackt, bahne ich mir den Weg gen Siam Station. Zum Glück kann ich mich nicht großartig verlaufen, da es nach einmaligem Linksabbiegen nur noch geradeaus geht. Es sind kaum Touris zu Fuß unterwegs, wie ich erkennen kann, aber die Straßen sind überfüllt mit hupenden Tuk Tuks – dreirädrige Gefährte mit Dach, so eine Art Taxi –, bunt lackierten „echten“ Taxis in Rosa oder Blau-gelb, Mopeds und Autos. Mut zur Farbe haben die Thais ja.

Die Luft ist stickig heiß und angereichert von Abgasen, was ich sofort als sanften Druck auf meinem Brustkorb spüre. Eine Raucherlunge wäre mit den gegebenen Umständen sicher besser klargekommen.

Schnell lerne ich Lektion zwei des Tages: die Straßenüberquerung. Eine solche kann schnell zu einem lebensgefährlichen Unterfangen werden, denn auch wenn eine Fußgängerampel vorhanden ist, rasen Fahrzeuge stetig durch, und das, wo ich zudem mit schöner Regelmäßigkeit in die falsche Richtung schaue – da ja Linksverkehr.

Also: An der Kreuzung auf Einheimische warten, genaues Beobachten derer Körpersprache, sich ein Objekt aussuchen, Anspannung halten, warten, warten und dann los. Ich renne so schnell es geht über die Straße immer dicht dem erfahrenen Bangkokianer hinterher, unter vollständiger Missachtung jedweder Ampelphasen. Mit dieser mir neu erworbenen Fertigkeit schaffe ich den Weg in 20 Minuten, auch wenn sich mein Verschwitztheitsgrad um hundert Prozent gesteigert hat. Bereits aus einiger Entfernung sehe ich Anja oben am Treppenaufgang zur Skytrainstation stehen. Sie ist aber auch wirklich nicht zu übersehen: hellblondes Haar, knapp 1,60 m groß, langer beigefarbener Rock und dazu ein schwarzes Top. Umringt von der sich hektisch vorbeidrängenden Masse an kleinen schwarzköpfigen Thais ist sie der leuchtende Punkt in der dunklen Strömung. Sie hat sich äußerlich quasi nicht verändert, obwohl unser letztes Aufeinandertreffen schon mehrere Jahre zurückliegt, wenn ich mich recht entsinne. Dabei ist sie ihrer älteren Schwester Sylvia, mit der ich lange Jahre zusammen die Schulbank drückte, wie aus dem Gesicht geschnitten.

Der Gedanke an Sylvia hält mich für einen Moment fest. Sie war wohl die erste Frau, in die ich mich ein bisschen verliebt hatte. Ich weiß gar nicht, ob ich ihr das jemals gesagt habe, wahrscheinlich nicht. Ich war am Anfang viel zu schüchtern und überfordert, und als sich unsere Wege nach dem Abi komplett trennten, war der Zeitpunkt auch verpasst. Mittlerweile lebt sie mit Mann und zwei Kindern in Hamburg. Da wäre mein schüchterner Annäherungsversuch sicher nicht auf fruchtbaren Boden gestoßen. So etwas wie Homosexualität gab es auch gar nicht in unserem Fünfhundert-Seelen-Dörfchen oder den anderen Ortschaften im tiefen Sauerland. Anders gesagt: Es wurde einfach fein säuberlich unter den Teppich gekehrt. Noch heute wird hinter vorgehaltener Hand getratscht, wenn ich mich wieder einmal im Dorf blicken lasse, denn mein „alternativer“ Lebenswandel ist quasi ein offenes Geheimnis, welcher zumindest erduldet wird. Wahrscheinlich sollte ich es aber nicht wagen, unsere katholische Dorfkirche zu betreten, ohne Gefahr zu laufen, an der Eingangspforte direkt zu Staub zu zerfallen oder ewiglich im Höllenfeuer zu schmoren. Eine exkommunizierte Lesbierin – da hört der Spaß auf!

Und da wartet nun Anja.

Was weiß ich eigentlich von ihr? Nicht so sonderlich viel, muss ich gestehen, aber warten wir es mal ab.

Bangkok, 12. April

Frühstück, Cornflakes mit Banane und Kaffee – lecker. Treffen mit Anja um 10:00 Uhr. Sie redet ohne Punkt und Komma, aber es war sehr informativ. Waren im Wat Pho (großer Buddha) im Einkaufszentrum Papayasalat essen (super lecker), und ich habe ihren Freund Danthai kennengerlernt. Der große Palast war aufgrund einer Feierlichkeit leider geschlossen. Ich weiß nun wie man Wassertaxi und den Skytrain benutzt und aufdringliche Thais abwehrt. Ungünstigerweise beginnt am 13.04. das sogenannte Songkran-Fest, Neujahrsfest, wodurch Bangkok für mehrere Tage im Ausnahmezustand und eine Weiterreise kaum möglich ist. Klasses Timing!

Highlight: Tag mit Anja.

Erschreckende Erkenntnis: Alles wird aus Plastik konsumiert! Getränke reicht man in Mini-Plastiktüten, die als eine Art Handtasche getragen werden, Strohhalm rein, fertig!

Hey, für den zweiten Tag doch gar nicht so schlecht, mein Tagebucheintrag.

Ich sitze komplett erledigt in der gleichen Position auf meinem Bett, welche ich schon am Vorabend eingenommen hatte. Das war aber auch ein recht ereignisreicher Tag, dazu die ungewohnte Hitze und die Schlepperei meines viel zu beladenen Rucksacks. Meine Schultern und mein Nacken schmerzen ganz ordentlich. Die Lektion daraus: Weniger ist mehr!

Wohl auch beim Tagebuchschreiben. Ich hätte eigentlich noch viel mehr schreiben können, aber ich kann mich nicht mehr aufraffen.

Mit Anja hatte ich wirklich eine absolut kompetente Fremdenführerin an meiner Seite, welch glückliche Fügung! Wie sie uns durch das Chaos der Stadt manövriert hat: Ich bin wirklich beeindruckt. Den wahren Grund meiner Reise habe ich ihr allerdings größtenteils verschwiegen. Ich finde es schwierig abzuschätzen, wie Menschen darauf reagieren, gerade wenn ich sie eher flüchtig kenne. Es tut auch in den meisten Fällen nichts zur Sache beziehungsweise wirft nur weitere Fragen auf, über deren Beantwortung ich mir selbst erst klar werden muss.

Aber ab morgen bin ich definitiv allein, so viel steht fest. Und übermorgen wollte ich ja eigentlich schon gen Süden reisen und das Großstadtchaos hinter mir lassen, was definitiv lang genug war. Großstädte haben immer etwas Beklemmendes für mich. Ich habe das Gefühl nicht atmen zu können, weil sich so viel Mensch/Infrastruktur auf so wenig Fläche ballt. Zudem mag ich fremde Personen allgemein nicht um mich herum: Ich hasse Bahnfahren, das beengte Stehen neben Menschen, die schwitzen, riechen, telefonieren und essen, die sich voranschiebende Masse in Kaufhäusern, langsames Gehen in Fußgängerzonen oder Einkaufspassagen. All das macht mich wahnsinnig, vielleicht weil ich ein Dorfkind bin und sich quasi noch heute Fuchs und Hase hinter dem Haus meiner Eltern gute Nacht sagen. Da kennt man keine Platzprobleme und keine Enge, nur Weite und Wiesen und Wälder. Selbst in Heidelberg, wo ich seit dem Studium lebe, habe ich immer am Stadtrand gewohnt. Deshalb wird es Zeit, dass ich hier rauskomme. Aber wie? Eine der Rezeptionsdamen deutete ja schon an, dass gerade die denkbar ungünstigste Zeit zum Reisen sei – aufgrund des Songkran.

Eine leichte Panikattacke überkommt mich, und ich merke, wie sich jeder Muskel anspannt und die Gedanken in meinem Kopf sich wieder einmal wie in einem Tunnel bündeln und verzweifelt nach einer Lösung suchen, die auch bei intensivstem Nachdenken nicht gefunden werden kann. Aus dem einfachen Grund: Mir fehlen entscheidende Infos, die sich leider auch nicht dem Reiseführer entlocken lassen. Diese innere Unruhe halte ich nicht lange aus und getrieben von dem Bedürfnis einer sofortigen Klärung der unsicheren Reiselage, kraxle ich vom Bett und begebe mich eine Etage tiefer zur Rezeption.

Oh, die Damen kenne ich noch nicht! Sofort wird mir aber auch klar: Shit, jetzt musst du den Sachverhalt auf Englisch erläutern! Hätte ich mir besser mal Gedanken über mögliche Formulierungen gemacht. Gute Vorbereitung ist alles!

Wie sich herausstellt, ist es aber kein Problem, denn die Rezeptionsdame, ich entscheide mich spontan für die in meinen Augen Hübschere von beiden namens Mi, ist sehr entspannt, kompetent und versteht meine Lage ohne ausschweifende Erklärungen. Nach ein paar Telefonaten, in denen von ernsten Mienen und Kopfschütteln bis zu einem lächelnden Nicken alles vertreten ist, kritzelt sie ein paar mir vollkommen unverständliche Zeichen auf ein abgerissenes Blatt Papier, mit dem ich zum nahe gelegenen 7-Eleven-Supermarkt geschickt werde. Das fängt ja schon abenteuerlich an!

Ich gehorche und überreiche kurze Zeit später das Schriftstück dem hektischen Kassierer hinterm Tresen, der mir daraufhin einen grünen Zettel mit Nummern und ebenso unverständlichen Symbolen in die Hand drückt und dafür umgerechnet 15 Euro kassiert. Der Trip gen Khao Lak ist für asiatische Verhältnisse relativ teuer, aber auf Anraten der netten Hosteldame buche ich einen VIP-Bus. Was an der Reise VIP ist, konnte mir Mi allerdings nicht sagen, aber schaden kann es ja nicht, und es war nur 5 Euro teurer. Eine Zugreise war aufgrund des Songkrans nicht möglich, und laut Mi sei Khao Lak eine gute Station auf dem Weg gen Süden.

Wieder zurück im Hostel ruft die Dame mich wild gestikulierend zu sich und stellt zufrieden fest, dass alles geklappt hat.

„Good, good, good!“ Sie strahlt und legt ihre perfekt weißen Zähne bis zum Anschlag frei. Dann schreibt sie mir ein für mich lesbares Pendant des Tickets, in dem sie auch die weiteren Schritte erklärt.

Ich soll morgen Abend um 18:00 Uhr am Busbahnhof sein. Diesen erreiche ich mit einem Taxi, circa 30 Minuten Fahrtzeit. Den grünen Zettel muss ich an Schalter neun eintauschen gegen mein „richtiges“ Busticket. Die Fahrt geht los um 19:00 Uhr, und ankommen in Khao Lak werde ich gegen 7:00 Uhr morgens. Fertig, so einfach kann reisen sein!

Zufrieden, meine Tagesaufgabe bewältigt zu haben, sinke ich, nicht ohne mich mehrfach bei der jungen Frau bedankt zu haben, auf einen Stuhl in der Ecke des Raumes. Jetzt ein kaltes Bier, überkommt es mich. Ich bin stolz auf meine „Leistung“ und absolut ausgedörrt. Da würde mir ein solches Kaltgetränk gerade ganz hervorragend munden. Aber hier allein ein Bier zu trinken, kommt mir irgendwie komisch vor, noch dazu als Frau.

Hey, ich bin alt genug, zumindest viel älter als die meisten der herumlaufenden oder sitzenden Backpacker. Hier kümmert es wirklich niemanden, ob beziehungsweise was man trinkt, und so assi ist das doch auch nicht, oder? Wenn ich nun ein Mann oder junger Bursche wäre, würde ich mir gar keine Gedanken machen.

Oh Mann, ich sollte wirklich dieses anerzogene „Was-könnten-die-Leute-denken“-Denken ganz schnell ablegen.

Scheiß der Hund was drauf, oder Scheißen wir auf die Hunde, wie der italienische Arbeitskollege meines Vaters fälschlicherweise immer sagt, ich will eins!

Das „Tiger“-Bier schmeckt herrlich, und ich merke, wie sich bereits nach dem ersten Schluck ein entspannendes Gefühl in meinem Körper breitmacht. Bei der Hitze und ohne wirklich viel gegessen zu haben, außer dem köstlichen Papayasalat mit Anja, spüre ich den Alkohol schon nach dem ersten Schluck.

Papayasalat – grüner Papayasalat!

Bei dem Gedanken daran fühle ich einen Faustschlag in meine Magengrube und das so heftig, dass es mir kurz den Atem raubt. Ich habe den Tag über wirklich nicht so viel an sie gedacht. Ich hatte ja auch jede Menge neue Eindrücke, und Anja war eine super Ablenkung. Aber jetzt legt sich der Gedanke an Ines wie ein erdrückender in Wasser getränkter Wollmantel Größe XXL über mich, und die Tatsache, dass ich die Flasche „Tiger“-Bier schon halbwegs geleert habe, tut ihr Übriges. Der Alkohol macht mich sentimental. Ich knibble nachdenklich am Papier der Flasche. Das Rezept des Papayasalates müsste sich sogar noch unter meinen E-Mails befinden ...

Stillstand und die Möglichkeit ins Grübeln zu kommen, scheint gerade alles andere als gut zu sein. Ich atme tief aus und sacke automatisch ein wenig in mich zusammen. Nach einem Pärchenabend bei Anke und Ines habe ich das Rezept mal zum Nachkochen angefordert, als sie uns von ihrer Thailandreise erzählten, mir und meiner Freundin Janine. Das war damals wohl die Ruhe vor dem großen Sturm.

„Can I take a seat?”, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und bringe zumindest ein „Yeah, yeah” hervor. Ich blicke auf und in das Gesicht eines älteren Mannes, dessen hagerer Körper nicht wirklich zu seinem eher rundlichen Gesicht passt. Er trägt eine abgewetzte Nike-Mütze und einen Dreitagebart, der schon grau meliert ist. Dazu ein zu weit sitzendes orangefarbenes T-Shirt mit einer Shorts in beige. Okay, was kommt jetzt?

„I am Kevin.“ Er streckt mir seine Hand entgegen, ein fester Händedruck, nicht unsympathisch.

„Hey, I am Jessi“, erwidere ich kurz, noch leicht irritiert. Dann beginnt er auch schon mit einem starken britischen Akzent zu erzählen und geht damit gekonnt über den einen Moment hinweg, als unangenehme Stille zwischen uns herrschte. Meine Redeanteile in unserer Unterhaltung machen nur einen Bruchteil aus, aber mit meinem Schulenglisch ist es echt nicht einfach – weder ihn zu verstehen, noch längere Passagen fließend zu sprechen. So bin ich recht froh, dass mein neuer Bekannter in einer Tour von seiner Exfrau, seinen diversen Häusern und seinem Hobby Marathonlauf erzählt. Dabei hält er dann und wann kurz inne und lässt mir, höflich abwartend, Raum für einen Kommentar oder auf eine seiner Fragen zu antworten. Mit ansteigendem Bierkonsum, Kevin ist auch in dieser Hinsicht sehr aufmerksam und sorgt stetig für Nachschub, wird auch mein Englisch besser – oder es kümmert mich weniger, dass ich Fehler mache und andauernd nach fehlenden oder vergessenen englischen Wörtern suchen muss.

Bangkok, 12. April: Nachtrag

Mein Englisch ist sooooo schlecht! Aber es war ein schöner Abend mit einem netten Engländer namens Kevin. Ablenkung ist alles!

TAG 3

Thailand: Bangkok

Nach dem erneuten Genuss eines Breakfast Continental am Morgen, mache ich mich frühzeitig auf den Weg zum Grand Palace. In Bewegung bleiben, scheint das Rezept der Stunde zu sein. Ich habe zum Glück keine Nachwehen vom gestrigen Alkoholgenuss. Dass ich mit Anja gestern schon vor verschlossenen Türen des großen Palastes stand, hat zumindest den Vorteil, dass ich den Weg dorthin weiß.

Auf den Straßen herrscht reges Treiben. Stände werden aufgebaut, bis zum Äußersten bepackt mit Wasserpistolen und anderem Wasserspaßzubehör. Daneben sieht man lange Tische, befüllt mit bunten Plastikeimern und kleinen durchsichtigen Plastiksäckchen, die eine Art Pulver enthalten. Uralte Pickups und kleine Lkw bringen Fässer und postieren diese neben die Stände. Was geht denn hier ab?

Mir wird heute wenig Beachtung geschenkt, was mir sehr willkommen ist, denn beim gestrigen Gang zum Skytrain wurde ich mehr als einmal angequatscht und zum Kauf irgendwelchen Plunders animiert.

Die Fahrt zum Grande Palace klappt einwandfrei. Welch Prunk und Pracht in Gold mir entgegenschlägt. Das ist schon wirklich spektakulär, und ich versuche mir auch alle kleineren Tempelanlagen anzuschauen, trotz der fast unerträglichen Hitze. Die größte Herausforderung besteht allerdings darin, seine Schuhe nach jedem Tempelrundgang wiederzufinden. Vor dem Eingang befinden sich Regale, in die man seine Schuhe stellen soll. Da diese aber meist hoffnungslos überfüllt sind, wird der Platz davor gnadenlos ausgenutzt. Ein unendliches Gewirr aus Menschen, die sich aneinander vorbeiquetschen, um Fußbekleidung abzulegen, anzuziehen und zu suchen. Diese Praktik nagt schwer an meinem ohnehin recht dünnen Nervenkostüm, was die Ertragbarkeit von Menschen um mich herum angeht. Aber es hilft ja nix. Zum Glück ragen meine Riesenlatschen, Flipflops in Größe 42, recht gut aus der Masse an Mini-Asiatentretern heraus. Sonderlich viele europäische Touris sind tatsächlich nicht darunter. Lucky me!

Der Komplex besteht aus einem etwa 2,6 km² großen Gelände am Ostufer des Chao Phraya nahe dem Königsplatz, dem Sanam Luang. Hier sind verschiedene Bauwerke und Anlagen angeordnet, deren wichtigstes das Wat Phra Kaeo, der Tempel des Smaragd-Buddhas, ist. Der heutige Palast besteht aus vier Teilen, dem Äußeren Hof, dem Zentralen Hof, dem Inneren Hof und dem Wat Phra Kaeo. Jeder der Teile war funktionell auf diejenigen zugeschnitten, die dort lebten oder arbeiteten, überfliege ich die Zeilen der Broschüre, die ich mir am Eingang mitgenommen habe. Die Kapelle des Smaragd-Buddhas (Thai: Phra Ubosot) – hier ist die Hauptattraktion, die den Smaragd-Buddha beherbergt. Der Smaragd-Buddha sitzt auf einem vergoldeten Thron, der bereits während der Regierungszeit von König Phra Phuttayodfa Chulalok (Rama I.) hergestellt wurde. König Phra Nang Klao (Rama III.) fügte unter dem Thron noch eine zusätzliche Basis ein, sodass der Smaragd-Buddha jetzt in der luftigen Höhe von 11 m thront. Der Smaragd-Buddha besitzt drei verschiedene Gewänder, die vom König oder einem prinzlichen Stellvertreter dreimal im Jahr in einer feierlichen Zeremonie gewechselt werden. Die Gewänder sind dem Wetter der jeweiligen Jahreszeit angepasst: Es gibt ein Gewand für die heiße Jahreszeit, eins für die kühle Jahreszeit und eins für die Regenzeit.

Dem Smaragd-Buddha werden magische Kräfte zugeschrieben. Es wird gesagt, er bringe Legitimität und Wohlstand demjenigen, der ihn besitzt. Er soll auch Epidemien abwenden, wenn ich das so alles richtig auf Englisch verstanden habe.

Ich suche mir einen freien Platz in der Menge und setze mich auf den kühlen Steinboden. Das Sonnenlicht, welches durch die Türen hereindringt und auf Gold und Jade trifft, flutet den Raum mit einer warmen und behaglichen Ausstrahlung, die mich sofort komplett durchdringt. Die Ausstrahlung des Buddhas, der aus seiner Meditationspose hinabblickt, empfinde ich dabei gleichsam als ehrfurchteinflößend wie auch beruhigend.

Meine staunenden Blicke auf den thronenden Buddha werden jäh unterbrochen, als ich eine Art Peitschenhieb auf nacktem Fleisch aufklatschen höre. Eine Frau, die ein paar Meter neben mir sitzt, hat gerade mit einer Minipeitsche von einem Ordner eins übergebraten bekommen. Sie verändert daraufhin, mit angsterfüllten Augen, ihre Sitzposition, indem sie ihre Füße, die sie nach vorne ausgestreckt hatte, mit einem Ruck unter ihren Po befördert, sodass sie auf ihnen sitzt. Ich tue es ihr gleich, ohne genau zu wissen, worin nun genau der Fauxpas lag, aber mit dem peitscheschwingenden Ordner will ich mich nicht anlegen. Mit der Anweisung „Schulter und Knie stets bedeckt zu halten“ beim Eintritt in Tempelanlagen bin ich vertraut, aber was das jetzt war, weiß ich nicht. Ich suche nach Anhaltspunkten dafür in meiner Infobroschüre und genieße noch ein wenig die Atmosphäre und die Kühle des Steinfußbodens. Ich werde tatsächlich fündig. Die Füße gelten in Thailand als schmutzig und niedrig, und so gilt das Entgegenstrecken von Füßen als eine der schlimmsten Beleidigungen, natürlich besonders bei heiligen Buddhastatuen in Tempelanlagen.

Okay, das erklärt einiges. Würde mich mal interessieren, wie viele ahnungslose Touris durchschnittlich pro Tag einen Peitschenhieb verpasst bekommen. Der uniformierte Thai scheint ganz gut zu tun zu haben, denn ich sehe aus den Augenwinkeln heraus, wie das Züchtigungsgerät schon wieder zum Einsatz kommt.

Ich frage mich, was all die knienden Menschen um mich herum wohl denken. Manche haben die Augen geschlossen und scheinen zu beten, die Lippen formen unhörbare Worte. Andere wiederum schauen recht unbedarft und staunend ob der ganzen Pracht umher. Vielleicht sollte ich auch irgendetwas tun, etwas Geistiges, meine ich. So etwas wie ein Gebet sprechen, bevor ich den Tempel wieder verlasse, denn dafür sind Tempel doch da, oder nicht?

Aber was ist eigentlich Beten? Dieses Bittstellertum der katholischen Kirche war mir schon immer ein Gräuel. Für meine Begriffe ist das Beten dort vielmehr ein Betteln. So empfand ich es zumindest in der Zeit, als ich noch zur Kirche ging beziehungsweise dazu genötigt wurde. Aufgewachsen in besagtem kleinen, katholischen Dorf kam man nicht um Kommunion und Konfirmation sowie diverse erwartete Kirchgänge am Sonntag herum. Da wurde um Vergebung der Sünden gebettelt, um Gesundheit, um alles, was gerade schlecht lief. Das kleine Individuum auf den Knien vor der Gottheit, hilflos, verwundbar und auf das Wohlwollen des Übermenschen angewiesen – keine Vorstellung, die ich teile und teilen will. Zudem geht Homosexualität und Katholizismus von vornherein nicht konform, sodass mein Kirchenaustritt mit Mitte 20 nur eine logische, wenn auch späte Konsequenz war.

Dieser Buddha soll Wohlstand bringen und über magische Kräfte verfügen – schwer vorstellbar, und wenn überhaupt, dann sicher nicht für eine Ungläubige wie mich. Ein bisschen Magie und Befreiung von „Altlasten“ könnte ich aber gut vertragen, allerdings wäre das der typische Fall von: Ich bete nur, wenn es mir schlecht geht. Das muss anders gehen. Da fühlt sich doch jede Gottheit verarscht, welche Religion auch immer sie vertritt!

So verlasse ich wort- und gebetlos den Tempel, verabschiede mich von der kühlen Stille und lasse mich mit dem Strom hinaustreiben auf den Vorplatz. Die Hitze schlägt mir entgegen, und ich merke, wie dringend ich Flüssigkeit und eine Pause brauche. So sinke ich nieder im Schatten und trinke hastig von meiner Flasche Wasser. Ich fühle mich leer, so allein, und frage mich ernsthaft, was ich hier mache. Klar, es ist das Sightseeing-Touristen-Programm, aber interessiert mich dieses Kulturprogramm ernsthaft?

Ich lasse den Kopf zwischen meine Knie sinken und versuche gegen den Kloß, der sich unaufhörlich in meinem Hals breit und breiter macht, anzukämpfen. Nur nicht nachdenken, ruhig atmen … aber es wird nicht besser. Ich entscheide, dass ich genügend Bilder gemacht habe, um behaupten zu können, im Grande Palace gewesen zu sein und suche den Weg gen Ausgang. Weitergehen, nur weiter.

Dort angekommen, blicke ich mit weit geöffneten Augen die Treppe hinunter, und für Sekunden bleibt mir der Mund offen: Das kann doch nicht wahr sein! Ich hatte zwar heute Morgen einen Flyer im Hostel gelesen, auf dem das Songkran-Fest beschrieben wurde und welche „Sicherheitsmaßnahmen“ man ergreifen solle, aber so wirklich für voll genommen, habe ich das nicht. So findet das thailändische Neujahrsfest vom 13. bis 15. April statt, und irgendwas mit „Zeit der Säuberung und Erneuerung“ stand da noch. Und das die ehemalige rituelle Waschung sich dahingehend gewandelt hat, dass sich zu Songkran alle Personen gegenseitig mit Wasser übergießen, was in größeren Städten auch exzessiv sein kann. In dem Flyer wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, sich mit Brille, wasserkonformer Bekleidung, einer wasserdichten Tasche für mitgeführte Habseligkeiten und einer Wasserpistole auszurüsten ... Das hätte ich wohl besser wörtlich nehmen sollen.

Ich reiße mich von dem Anblick vor mir los und lege meinen einzigen Schutz über meinen Rucksack an, in Form eines integrierten Regencapes, schiebe meine Sonnenbrille so dicht an meine Augen wie möglich und gehe die Treppen hinunter.

„Ahh!“ entfährt es mir, als mir der erste Eimer mit eiskaltem Wasser unverblümt in den Nacken geschüttet wird. Schon nach ein paar Metern bin ich quasi bis auf die Unterwäsche nass – von auf mich feuernden Wasserpistolen. Ein Entkommen ist aussichtslos, und die Thais lachen und schreien vor Freude. Eine riesige Wasserschlacht, die etwas von einem Flashmob hat. Das hebt auf jeden Fall meine Laune, auch wenn das Wasser, welches unaufhörlich von allen Seiten auf mich einschießt, zum Teil eiskalt ist und mir immer wieder einen Schauer über den Rücken laufen lässt.

„Happy Songkran!“ Eine kleine Thaifrau schmiert mir mit diesen Worten eine ockerfarbene Paste unters Kinn, die sie aus einem dieser bunten Eimerchen schöpft. Das war anscheinend das Pulver, das ich auf dem Hinweg in den kleinen Tütchen gesehen habe. Ich grinse nur zurück, leicht überfordert mit der Praktik, von wildfremden Menschen ohne Vorwarnung im Gesicht angefasst zu werden. Und schon treibe ich weiter in der Menge und spüre Hände in meinem Gesicht, Wasser im Ohr und nasse Körper, die sich an meinem vorbeidrängen.

Auch vor unserem Hostel beginnen die Damen sich gerade mit Wasserpistolen auszurüsten, und ich schlüpfe schnell ins rettende Innere. Erst da sehe ich, wie ich wirklich ausschaue: klatschnass und im Gesicht Schichten von der schon angetrockneten oder noch nassen Paste, die mir vom Kinn tropft. Ich gehe erst einmal zügig zum Toilettenbereich, um mich vom Gröbsten zu reinigen. Zum Glück lässt sich das Zeug recht gut wegwaschen, und die Haut darunter fühlt sich weich und geschmeidig an. Hatte die Gesichtsmaske auch noch was Gutes. Mein Rucksack und der Inhalt haben die Aktion dank Überzieher auch gut überstanden.

Im Zimmer stolpere ich fast über zwei junge Mädels, die sich auf ausgebreiteten Turnmatten räkeln.

„Hello.“

Beim Kramen in meinen Sachen kriege ich mit einem Ohr mit, dass die beiden mit schweizerischem Akzent sprechen.

Yeah, kein Englisch!

Gleich quatsche ich sie an: „Hey, höre, ihr sprecht deutsch. Ich bin Jess, hallo.“

„Hi, wir sind Moni und Anna aus der Schweiz“, presst eine der beiden unter Anstrengung ob der Turnübung hervor.

Ich erfahre, dass sie sich zur körperlichen Ertüchtigung extra Spezialturnmatten gekauft haben. Seit sechs Monaten unterwegs, machen sie nun seit einer Woche ihr Programm, um die zugelegten Pfunde wieder von den Hüften zu bekommen.

Mit dem Geräkel in der Horizontalen verliert ihr kein einziges Gramm, denke ich, und packe schmunzelnd ein paar trockene Sachen aus meinem Rucksack. Sieht aber auch zum Schießen aus, wie sie versuchen, unter Zuhilfenahme einer Fitnesszeitung, die dort illustrierten Übungen nachzuahmen und im Schnitt gefühlte fünf Sekunden pro Übung durchhalten, bevor sie in sich zusammensacken.

„Hast du Lust mit uns zur Khao-San-Road zu kommen? Wir wollen was essen gehen und uns das Songkran ansehen“, presst eine der Schweizerinnen während einer Übung unter offensichtlicher Anstrengung hervor.

Natürlich sage ich zu. Hunger habe ich nicht wirklich, aber der Nachmittag in Begleitung ist mir umso willkommener. Khao-San-Road, die berühmt-berüchtigte Backpackermeile in Bangkok – wenn es da nur halb so wild abgeht wie auf der Straße eben, lohnt sich ein Wechsel der Klamotten kaum, denke ich.

Bangkok, 13. April

Neujahrsfest. War morgens im großen Palast, bevor ich mit zwei Schweizerinnen das Songkran in der Khao-San-Road miterlebe. Nach gefühlt einer Minute sind wir komplett durchnässt, es ist die Hölle los und wir gönnen uns eine Auszeit im Restaurant: Massaman-Curry! Das beste ever für nur 80 Baht – also 2 Euro!

In Gesellschaft essen, geht. Die Mädels wollen noch weiter, ich aber muss zurück. Lasse mich zur Teilnahme an der Wasserschlacht vorm Hostel überreden, ein bisschen Zeit bleibt noch bis zur Weiterreise. Für den besonderen Kick werden überdimensionale Eisblöcke ins Wasser gelegt und ganze Eimerladungen voll Wasser auf Mopeds, Busse und auf alles geschleudert, was vorbeiläuft oder fährt. Eine der Rezeptionsdamen meint, dass dadurch allein heute 80 Personen in Thailand durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen sind.

Die spinnen, die Thais!

Aber es macht auch tierischen Spaß.

So viel für den Moment, und ich schlage mein Tagebuch zu.

„Your Taxi“ ruft Mi von draußen herein. Sie ist komplett durchnässt, ihre überdimensionale Wasserpistole im Anschlag haltend, und strahlt dabei wie ein kleines Kind. Sie geleitet mich raus zum wartenden Taxi und drückt mich herzlich einige Male, wünscht mir eine gute Reise, während der Fahrer meinen 16 kg schweren Rucksack ins Gefährt wuchtet. Zum Glück gab es einen Trockner in der formidablen Herberge, sodass ich nach einer halbstündigen „Hausfrauenaktion“ alles relativ trocken in meinem Rucksack verstauen konnte und mein Wäschebeutel „zum-außen-Dranhängen“ noch nicht zum Einsatz kommen musste – ich bin gut ausgerüstet!

Das Taxi schlängelt sich schwerfällig durch den dichten Stadtverkehr, während aus dem Radio unaufhörlich eine Männerstimme auf Thai spricht. Es ist stickig, trotz der ratternden Klimaanlage, falls das nicht nur die Lüftung ist. Meine Gedanken driften ab, und ich lasse mich zurück auf das Lederpolster sinken. Hoffentlich klappt das gleich alles mit dem Bus. Ich krame den Zettel aus meinem kleinen Rucksack hervor und gehe die Anweisungen erneut durch: zuerst zu Schalter neun. Das werde ich ja wohl hinkriegen.

Es wäre schön, nun jemanden dabeizuhaben, der die Unsicherheit nimmt und mit dem man sich austauschen könnte – Ines zum Beispiel.

Ein kleiner Seufzer entkommt mir, und ich schaue aus dem Fenster und den Mopeds hinterher, die sich im Zickzack durch die Blechlawine kämpfen, während wir uns in einem nicht enden wollenden Stop-and-go-Rhythmus befinden. Was mache ich hier nur? War es die richtige Entscheidung, zu gehen?

Der Verkehr löst sich schließlich mehr und mehr auf, und wir fahren über den Highway. Tatsächlich erreichen wir den Busbahnhof verspätet um 18:14 Uhr, was mir einen kurzen Stressmoment beschert. Ich schleppe mich zügig mit zwei Rucksäcken bepackt durch die Schalterlandschaft. Ein System lässt sich leider nicht erkennen, und so dauert es, bis ich Schalter neun neben Schalter fünfzehn gefunden habe. Erleichtert reiche ich der Dame meinen Zettel, die nicht mal aufblickt, und mir im Austausch ein grünes Blatt hinlegt, auf dem im Gewirr aus Thaisymbolen eine 29 eingekringelt ist. Farblich sind die Thais wirklich ganz weit vorne!

Sie tippt mit einem Stift auf die Zahl und zeigt hinter sich. Dabei nuschelt sie etwas, was sich wie „Go, go!“ anhört. Ich nehme nickend meinen Zettel und gehe in die von ihr angezeigte Richtung. Mann, die 16 kg auf dem Rücken und noch dazu den voll bepackten kleinen Rucksack vorne … das ist nicht ohne.

Die Bushalteplätze sind glücklicherweise fortlaufend nummeriert, wobei 29 natürlich der Letzte am anderen Ende ist. Die Motoren der parkenden Busse verströmen heiße Abgase und vermischen sich mit der ohnehin schon schwül-warmen Luft – ein Cocktail, der wirklich alles andere als angenehm ist und mit der Zusatzlast auf Rücken und Brust in mir ein leichtes Gefühl von Schwindel verursacht.

Endlich die 29. Der Busfahrer reißt mir förmlich mein Gepäck vom Rücken, verstaut es im Fach, um sich erst dann mein Ticket anzuschauen, welches er in der Brusttasche seines blauen Hemdes kommentarlos verschwinden lässt.

Das ist wirklich ein Phänomen. Wie heiß es auch sein mag, in den letzten zwei Tagen sind mir nie sonderlich schwitzende oder gar nach irgendwas riechende Thais begegnet, und gerade so ein hellblaues Hemd neigt ja dazu, schwitzfleckenunfreundlich zu sein. Aber nichts, alles tipptopp. Ich habe dagegen das Gefühl, dass ich vor Schweiß triefe und eine neue Ladung Deo vertragen könnte. Egal. Da der gute Mann sich den nächsten Ankömmlingen widmet, besteige ich den Bus und folge dem einzigen Weg die Treppe hinauf. Ich bin die erste Passagierin, und es herrscht freie Platzwahl, wenn ich die Geste der mit einer blauen Uniform und einem passenden Hütchen ausgestatteten Stewardess richtig deute – ja, ich fühle mich wie ein VIP!

Heißt eine solch bekleidete Dame in Bussen eigentlich auch Stewardess? Egal, ich verwerfe die Frage und schaue mich um. Die Sitze sind recht geräumig, und so entscheide ich mich für einen Einzelsitz ganz hinten rechts. So habe ich alles im Blick und muss nicht befürchten, dass sich jemand Unangenehmes neben mich setzt. Wer weiß, wie voll es noch wird.

Nach und nach steigen ein paar Leute zu, und schräg gegenüber setzt sich ein Mann, der auch gut einen thailändischen Indianer-Häuptling in einem Western spielen könnte. Von der Sonne gegerbte Haut, langes schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, seine tief dunklen Augen blicken ruhig, aber wachsam. Er trägt ein kurzärmeliges Jeanshemd, dazu eine dunkle Stoffhose und abgenutzte Stiefel. Seine Hände ruhen in seinem Schoß. Offensichtlich hat er kein Gepäck dabei, zumindest kein Handgepäck. Weiter vorne sitzen zwei Thai-Frauen, die tuschelnd ihre Köpfe zusammenstecken. Dann noch ein Paar, ebenfalls Thais, und ein Mann mit einer Holzkiste. Das wars.

Der Bus setzt sich in Bewegung und sodann schaltet sich ein Video auf den im Bus verteilten Fernsehern ein – ohne Ton. Das Intro dauert ewig, ohne zu verraten, worum es in dem Streifen geht, und so lasse ich mich von den Lichtern der Stadt ablenken, die in der Dämmerung vorbeifliegen.

19:05 Uhr. Wie viel Uhr ist es jetzt zu Hause?

Ich rechne, 14:00 Uhr, wenn ich mich nicht täusche.

Ich schaue auf mein Handy, keine neue Nachricht. Natürlich nicht, ich habe erst vor einer Stunde im Taxi nachgesehen.

Eine gute Idee, dass ich mir vor meiner Reise ein Smartphone gegönnt habe. Die Schweizerinnen haben erzählt, dass man in den meisten Hostels das WiFi nutzen könne. So wird es zumindest einfach sein, den Kontakt nach Hause zu halten.

Kontakt halten, ob das eine gute Idee ist?

Aber ich vermisse sie so. In welchem Bett sie wohl gerade liegt? Bei ihren Eltern, in ihrer gemeinsamen Wohnung auf dem Sofa oder doch neben Anke? Bilder ihrer Hochzeit verursachen mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Eine wirklich schöne Feier, im engsten Familien- und Freundeskreis, zu dem ich mich bis vor ein paar Wochen auch noch zählen durfte. Die Standesbeamtin verhaspelte sich bei der Zeremonie vor Aufregung einige Mal und verbesserte sich selbst, in dem sie das Wort Ehe durch eingetragene Lebenspartnerschaft ersetzte. Das war ganz zu Anfang, als die „Homohochzeit“ quasi noch in den Kinderschuhen steckte und die Ansprachen mit „Homovokabular“ noch nicht so geübt waren. Beide Bräute im Hosenanzug, ein bisschen förmlich alles, aber ich hätte mir keine von beiden im weißen Kleid vorstellen können. Auf den Austausch von Ringen und Namensänderungen wurde gänzlich verzichtet. Das überraschte niemanden, da für beide die Notwendigkeit einer juristischen Absicherung im Vordergrund stand und nicht das romantische Bekunden der gegenseitigen Liebe. Diese war auch ohne öffentliche Kundgabe für jedermann mehr als offensichtlich. Als Geschäftsführerin und Erbin eines Familienunternehmens wollte Anke dahingehend sichergehen, dass Ines im Falle des Falles abgesichert wäre, sollte ihr etwas zustoßen. So warteten sie mit dem Eheversprechen so lange, bis eine Gesetzesangleichung für Homos bezüglich des Erbrechts stattgefunden hatte.

Über zehn Jahre kenne ich sie jetzt und frage mich ernsthaft, wie so etwas nach dieser langen Zeit passieren konnte – und dann noch als „Worst-Case-Szenarie“. Nun ja, ich war ja schon immer eine Drama Queen, das muss ich leider zugeben. So endete meine Wunschliste auch in einem solchen.

„The Secret – Wunsch ans Universum!“ Meine Mutter, beziehungsweise M, wie ich sie immer nenne, hat mir das Buch zugeschickt. Sie besitzt nun einmal die besondere Gabe, zur richtigen Zeit das richtige Buch für diejenigen aufzuspüren, die sich gerade in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Ich bekam „The Secret“ zu einer Zeit, wo ich im Privat- sowie Berufsleben dringend eine Veränderung brauchte. Das Buch besagt, kurz zusammengefasst, dass man alles haben, alles sein und erreichen kann, wenn man es nur will und es durch Gedanken in sein Leben zieht. Glaube fest daran, und deine Wünsche ans Universum werden in Erfüllung gehen! Sämtliche Frauen in meiner Familie sind spirituell angehaucht, so nenne ich es einmal, und so glaubte auch ich daran, dass das Buch mir helfen könnte. Ich erstellte also eine Wunschliste, denn so besagte es das Buch, und versuchte so genau wie möglich meine Vorstellungen und Wünsche zu definieren.

1. Wunsch: Freundin

Nach sechs Jahren des Single-Daseins möchte ich eine Beziehung. Sie sollte sein: nahezu gleichaltrig, größer, sportlich, schlank, liebevoll, treu, großzügig, spontan, humorvoll, tierlieb.

2. Wunsch: Job

Zu diesem Zeitpunkt wollte ich mich mit meinen Ansprüchen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn es musste ja auch die Chance bestehen, eine Frau aus meinem Wunschdenken überhaupt zu materialisieren. Dies kann nur geschehen, so sagt es das Buch, wenn ich an die Verwirklichung meiner Träume auch glaube. Und so glaubte ich und leitete alle relevanten Schritte ein, die das Buch als notwendig erachtete. Ungünstigerweise vergaß ich auf meiner Wunschliste „Freundin“ den Punkt „keine übertriebene Eifersucht (Freak)“ aufzuführen. Aber wer hätte auch gedacht, dass es überhaupt so präzise funktionieren würde?

Es reichte eine Nacht, die ich in meiner alten Studienstadt Heidelberg verbrachte, um mir beides zu bescheren: ein Jobangebot und eine Freundin mit Namen Janine – und das in Heidelbergs einziger Tabledance-Bar mit dem klangvollen Namen „Queens“. Zugegeben, ein seltsamer Ort für die Verwirklichung meiner Träume, aber wer fragt schon danach, wenn er beides quasi auf einem Silbertablett serviert bekommt?

Die Stewardess bahnt sich ihren Weg in den hinteren Teil des Busses und überreicht dem Indianer etwas. Dann kommt sie auf mich zu. So schnell kann ich nicht erkennen, worum es sich handelt. Wort- und ausdruckslos wird mir etwas in die Hand gedrückt: ein Trinkpäckchen mit Orangensaft. Welch nette Aufmerksamkeit!

Sodann eilt sie den Gang zurück und die Treppe hinunter. Ich habe beim Einstieg nur die Toilettentür geradeaus entdeckt. Wie es scheint, gibt es neben der Toilette noch weitere Räumlichkeiten im unteren Stock, woher die Stewardess die Getränkepäckchen geholt haben muss.

Es vergehen keine drei Minuten, und schon wiederholt sich das Übergabe-Szenario. In diesem Fall reicht man ein Fläschchen Wasser, aufs Haus natürlich. Es gibt eine weitere Runde mit Serviette und Becher, dicht gefolgt von einem kleinen braunen Pappschächtelchen, welches mich an Fast-Food-Burger-Verpackungen erinnert. Dabei ändert sich der Gesichtsausdruck der Servicedame kein einziges Mal, sie vermeidet jeglichen Blickkontakt. Nun ja, nicht wundern, lieber nachsehen, was sich in der kleinen Überraschungsbox befindet. Ich hebe den Deckel ab, und der Inhalt lässt mich breit grinsen. Eingeschweißt in durchsichtige Folie liegt dort ein Gebäckstück, was der deutschen „Mohnschnecke“ mehr als ähnelt. Mit Zuckerguss überzogen, klebt das eingerollte Backwerk an der Klarsichtfolie. Ich verstaue alles in dem Netz, welches am Vordersitz angebracht ist, und tu es so dem Indianer gleich, den ich Häuptling „Wachsames Auge“ nenne, da er ohne Unterlass vor sich hinstarrt. Mein Blick fällt auf den Fernsehschirm, wo allerhand Gemetzel gezeigt wird. Nichts für meine Stimmungslage, so stöpsle ich mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren. Ich entscheide mich nach langem Durchstöbern der Bibliothek für Helene Fischer.

Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Normalerweise höre ich fast nur Punk oder Rockmusik, aber Andrea, meine Freundin und großer Helene-Fan, bestand darauf, dass ich deutsches Liedgut mit um die Welt nehme. Ich konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen, als sie mir strahlend die CD überreichte.

So, Helene, dann zeig mal, was du kannst und vertreibe meine traurigen Gedanken. Bisschen seichte Unterhaltung kann ja nicht schaden.

Ich brauch’ keine Villa in der Schlossallee

Gold und Glamour, so von Kopf bis Zeh

Was mein Herz begehrt

Das ist mehr als alles wert

Ich will Liebe pur

Das zählt für mich allein

Das Gefühl zu Haus’ zu sein.

Na, herrlich, nur schmachtende Heulmusik, aber vielleicht passt das ja gerade ganz gut.

Mich mit allen Mitteln abzulenken, das war ja definitiv nicht der Grund meiner Reise, aber das ist das Einzige, was gerade hilft. So schließe ich die Augen und lasse mich von Frau Fischer berühren, und langsam hinterlassen Tränen eine feuchte Spur auf meiner Wange und bahnen sich einen Weg hinunter zu meinen Mundwinkeln. Ich kann ein Aufschluchzen unter massivem Willenseinsatz gerade noch verhindern. Schlimm genug, dass ich hier heulend sitze, ob der ganzen scheiß verfahrenen Situation.

Der Bus stoppt, und ich schlage die Augen auf. Ich muss wohl kurz eingenickt sein, denn es ist 10:00 Uhr, wie mein iPod verrät. Ich befreie mich von den Kopfhörern und der Helene-Endlosschleife und setze mich auf, sodass ich sehen kann, was im Bus vor sich geht. Langsam bewegen sich die wenigen anwesenden Personen Richtung Treppe und damit zum Ausgang. Ich kann eine Art Markt erkennen, hell erleuchtet und von Menschen überfüllt. Jede Menge Busse stehen um uns herum.

Sich ein bisschen die Beine vertreten, kann nicht schaden, und so folge ich den anderen hinaus. Häuptling „Wachsames Auge“ verharrt in seiner Position.

Lag ich ja gar nicht so schlecht bei meiner Namensgebung, lobe ich mich selbst.

Tatsächlich erstreckt sich etwas Basarartiges vor mir. Geschützt durch ein Wellblechdach kann man einiges erwerben. Getrocknete Früchte, aber auch zahlreiche Süßigkeiten, bunt verpackt, wenn ich das richtig erkenne. Eine Art Mini-Restaurant gibt es auch, bei der man, dem Geruch nach zu urteilen, Fleisch in unterschiedlichen Zubereitungsweisen bekommt. An einem Stand werden blaue Plastikboxen an eine Schlange Wartende verteilt.

Oh Mann, das ist ja die reinste Butterfahrt hier!

Etwas überfordert von den Menschen, Gerüchen und Farben suche ich das WC. Ahnungslos betrete ich die kleine Kabine und blicke staunenden Auges in ein Loch am Boden. Es ist recht dunkel, und ich entscheide mich, noch eine andere Kabine anzusehen, um festzustellen, ob das so sein muss oder ich versehentlich einfach nur eine ungünstige Tür gewählt habe. Aber nein, auch Kabine zwei eröffnet mir den gleichen Anblick. Daneben befindet sich ein viereckiges Steingefäß, in dem eine mit bunten Blümchen bedruckte, neongelbe Plastikschale schwimmt.

Das ist doch ein Scherz! Wie soll ich denn hier? Also mir fehlen die Worte. Die Suche nach Toilettenpapier bleibt ebenso erfolglos, aber ich muss dringend, und zwar genau jetzt. So hocke ich mich breitbeinig über das Loch im Steinfußboden, und es fühlt sich tatsächlich so an, als würde ich hier gerade meine Notdurft verrichten. Wahrscheinlich kommt die Redewendung vom Benutzen solcher Toiletten, weil man etwas Notwendiges dürftig verrichten muss.

Wenigstens habe ich ein Taschentuch in meiner Hosentasche, mit dem ich mich abwischen kann. Zu allem Überfluss habe ich seit heute Morgen auch noch meine Periode, und so tropft nun das Pipi von der Tamponschnur ins Loch. Ich frage mich kurz, ob es schon Zeit zum Wechseln ist, aber selbst wenn, hier mache ich das sicher nicht. Buxe hochziehen, fertig.

Ich schöpfe Wasser aus der Steinschale und spüle mit dem Plastikgefäß nach. Ich hoffe, dass die korrekte Benutzung dieser „Exkremente-Abführ-Öffnung“ damit abgeschlossen ist. Sicher verbotenerweise habe ich mein Stück Tempo in die Öffnung geworfen, dafür spüle ich jetzt ein zweites Mal nach.

Wenn das mal nicht das Highlight des Tages ist. Lesbe auf Butterfahrt, das kann ja noch heiter werden.

Ich gehe zurück zum Bus und mache es mir in meinem VIP-Sitz so bequem wie möglich. „Wachsames Auge“ sitzt und starrt. Nach zehn Minuten wird die Fahrt fortgesetzt, die Fernseher ausgestellt und das Licht im Bus gedimmt. Vielleicht kann ich ja noch etwas schlafen, denn ankommen werden wir erst um 7:00 Uhr morgens.

Ich werde einige Male des Nachts unsanft aus meiner Schlafposition katapultiert, weil der Bus stetig Vollgas fährt, alle Bodenunebenheiten ignorierend. Um 5:30 Uhr ist definitiv nicht mehr an Schlaf zu denken, da mir jeder einzelne Knochen wehtut und ich partout keine Position mehr finden kann, die ertragbar wäre. Ich setze mich auf. Ob ich mal ein Stück der Mohnschnecke probieren soll? Wenn die so wie zu Hause schmeckt? Ich meine, es ist Jahre her, dass ich mir solch eine Paarung aus Fett und Zucker einverleibt habe. Ansonsten besteht mein Proviant aus einer Banane, einer Packung Rice Cracker und der obligatorischen Flasche Wasser. Ich schaue auf die Zutatenliste des Trinkpäckchens: Wasser, Zucker, Orangensaftkonzentrat, Farbstoffe. Okay, das brauche ich definitiv nicht. Irgendwie ist mir nicht so recht nach frühstücken.

Langsam wird es hell draußen. Zu Hause sind alle schon beim Arbeiten, beschäftigt mit der Alltagsroutine – 12:30 Uhr, das heißt Mittagspause. Komische Vorstellung, dass ich gerade erst aufgewacht bin und hier die Sonne aufgeht, während man in Good old Germany zu Mittag isst. Sicher sitzen sie jetzt in der Kantine um die Ecke, die zumindest eine ordentliche Salatbar zu bieten hat. Wenn ich daran denke, dass es nie wieder so sein wird, überkommt mich ein Gefühl der tiefen Traurigkeit. Warum konnte das alles passieren? Dabei ist beziehungsweise war Ines überhaupt nicht mein Typ.

Scheiße, verdammte!