Lesereise Dublin - Nicole Quint - E-Book

Lesereise Dublin E-Book

Nicole Quint

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Beschreibung

Vor lauter Pubs die Stadt nicht gesehen? Kann passieren, aber an Dublin hat das dann nicht gelegen, wohl eher am Klischee der Guinness-City, das an ihr haftet wie Seepocken am Schiffsrumpf. Wirklich nahe kommt man Irlands Hauptstadt aber nicht an den Tresen der Temple Bar, sondern bei Bloomsday-Feiern und Parkbank-Poeten. Mit dem Ziel, Neues, Verstecktes und Vergessenes zu finden, wählt Nicole Quint sich Heinrich Böll als Kirchenführer, testet das Grusel-Potenzial von Mumien, erkundet das alte jüdische Viertel und leistet Robben beim Sonnenbaden Gesellschaft. Eine der am schönsten gelegenen Metropolen Europas hat nämlich Strände und sogar Naturreservate zu bieten. Wenn Dublin einem jedoch das Blaue von Harry verspricht, geht es nicht an die Irische See oder den Liffey-Fluss. Stattdessen warten geniale Glasmalerei und Geschichten, die einen fortan ebenso durch das Leben begleiten werden wie all die mitreißende Musik, die jedem Dublin-Besucher den Soundtrack seiner Reise schenkt.

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Seitenzahl: 126

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Nicole Quint

Lesereise Dublin

Die Stadt der Städte

Picus Verlag Wien

Dublin can be heaven, with you – Thomas.

Copyright © 2024 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung:

© David Soanes/Adobe Stock

ISBN 978-3-7117-1119-9

eISBN 978-3-7117-5513-1

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Inhalt

Vorwort

Kevin, Böll und ich

Unsterbliche Stadt- und Seelenführer

Fließend Irisch

Wenn Geschichte ins Schwimmen gerät

Frischer Fisch und faule Fakten

Ein Hoch auf die Heldin der Arbeiterklasse

Eine Frage der Knolle

Nach den Schnecken ist vor dem Salat

Der Heuschnupfen des Geistes

Buchstäblich dem Blues entfliehen

Last order?

Eingedost und rattenarschig

Töne treffen

Hörenswerte Hauptstadtorte

Nonne, Dieb und Zwerg-Vampir

Nichts geschehen, viel zu sehen?

Fiktiv gelebt, real gestorben?

Leopold Blooms Halb-und-halb-Grab

Schalom Dublin

Give di kinder a piece of vursht

Beim Präsidenten brennt noch Licht

Die im Dunkeln sieht man nicht

Anonyme Attraktionen

Vom geretteten Jesus zum heiligen Paartherapeuten

Harrys Blau

Ein genialer Glasmaler

Heiligsprechung mit Hammer und Meißel

A Lad of Eighteen Summers

Vorauseilender Nachruf

In der Arche ist noch Platz, oder?

Die Autorin

Vorwort

Dear Dublin,

mit einer Mischung aus Mottenpulver und weit gereister Männersocke fing es in einem ranzigen B & B zwischen uns an. Diesem abgestandenen Ambiente folgten Einzelzimmer in Raumkapselgröße, einige Episoden schwerer Schlaflosigkeit zwischen schmuddeligen Sichtbetonwällen, Zebrafelllampen und stylishen Möbelmodulen, die Bequemlichkeit bloß optisch vortäuschten, aber garantiert meine zukünftigen Orthopädenbesuche mitverantworten. Mittlerweile könnte ich auch problemlos in die Produktion von Stadtplänen einsteigen, auf denen alle Hotels markiert sind, die einem bei der Buchung versichern, keine Stag-and-Hen-Partys auszurichten, auf deren Flure sich heiratswillige Hirsche und Hühnchen dann aber doch jaulend vom Junggesellendasein verabschieden. Den vorläufigen Herbergshöhepunkt erreichte unsere Beziehung, liebes Dublin, in einem vermeintlichen Luxusbad, dessen nicht ausschaltbarer Ventilator eiskalt eine Lungenentzündung herbeilüftete, während mich vier Spiegel bei dem Versuch beobachteten, die Dusche in Betrieb zu nehmen. Ohne eine professionelle Einweisung in den Gebrauch der digitalen Armatur duscht dort nur, wer sich schon mit Schaltanlagen im Cockpit auskennt.

Mit jedem Besuch bei dir entwickelten sich meine Erwartungen an deine Hotels umgekehrt proportional zu ihren Zimmerpreisen. Trotzdem ist das mit uns beiden was geworden, was ganz Großes sogar. Ich kehre seit zwei Jahrzehnten immer wieder zu dir zurück, denn hinter deinen Backsteinmauern warten sie, die legendären Fifty Shades of Grey – grauer Himmel, graues Wasser, graue Gassen und eine gramgraue Geschichte voller toter Helden und so vieler gescheiterter Revolutionen, dass dir auf jeden weiteren Aufstand mindestens zwanzig Prozent Rabatt gewährt werden müssten. Unter karibischer Sonne kann jeder fröhlich und fidel sein, den Jackpot allen Reiseglücks knackt aber der, der sich von deinen Grauzonen nicht entmutigen lässt. Für den wird ein Rendezvous mit dir zum Ereignis, auch weil nie so ganz klar ist, mit welchem Dublin man das Date eigentlich hat. Mit der schwer malochenden Hafenarbeiterin oder der tätowierten Partytussi, mit der betagten, schon arg schwerhörigen Briten-Lady oder der in Stahl und Glas gehüllten IT-Expertin, mit der backsteinbiederen Hausfrau oder der raffgierigen Immobilienspekulantin, der frömmelnden Katholikin oder der flippigen Künstlerin? Die Vielfalt deiner verschiedenen Stadtviertel, oder soll ich besser sagen, deine multiple Persönlichkeit, ist ein Grund, warum du nie aufgehört hast, mich zu überraschen. Die Psychoanalyse sähe heute jedenfalls gewiss anders aus, wenn Sigmund Freud nicht in Wien gelebt, sondern zwischen Docklands und Grafton Street, Guinness-Brauerei und Glasnevin Friedhof Seelenforschung betrieben hätte, im widersprüchlichen, unvollkommenen und zutiefst menschlichen Dublin.

Deine eigenen großen Geister stellen dir leider nur selten Empfehlungsschreiben aus. Viele hielten es nie lange bei dir aus. Der in Dublin geborene Literaturnobelpreisträger Samuel Beckett ging ins Pariser Exil. James Joyce klagte, »die ganze Stadt leidet an halbseitiger Willenslähmung«, bevor er Irland schon mit zweiundzwanzig Jahren verließ, und der Schriftsteller George Bernard Shaw bekannte freimütig: »Bis auf den heutigen Tag dehne ich meine gefühlsmäßige Vorliebe für Irland nicht auf seine Hauptstadt aus.« Viele Irlandreisende teilen seine Ansicht. Ihr ideales Irland liegt auf den grünen Weiden und Hügeln, in den Mooren, an Seeufern und am Atlantik. Du bist für sie nur eine Durchreisestation auf ihrem Weg nach Kerry und Cork, dabei gehörst du zu den am schönsten gelegenen Hauptstädten Europas und schmiegst dich im Halbkreis um eine breite Bucht an die Irische See. Deine pubs sind legendär, deine Strände, Naturschutzgebiete, Wälder und Berge liegen jedoch allzu oft im toten Winkel der touristischen Aufmerksamkeit. Dabei warten die heidevioletten Hügel der Halbinsel Howth direkt vor deiner Haustür, und knapp dreizehn Kilometer von der wuseligen O’Connell Street entfernt führen weitläufige Wanderwege zum Two-Rock-Gipfel hinauf. Dort oben zieht das Naturkino alle Farbregister und präsentiert deine Bucht in Ginstergelb, Granitgrau, Farngrün und allen Blautönen, die der irische Meeresgott Manannán mac Lir auf seiner Mischpalette hat. Würde nicht jeder, der nicht gerade eine merkwürdige Vorliebe fürs Mittelmaß pflegt, bei diesem Panorama auf die Idee kommen, hier wohnen zu wollen? Bloß keine übereilten Entschlüsse fassen, sorry, Dublin! Auch im Fall schwerster Verliebtheit gilt: Do as the locals do. Von denen würden auf dem Antragsformular für Wiedergeburten nur die wenigsten Dublin als Wunschort fürs nächste Leben ankreuzen. Warum? Du warst nicht immer nur gut zu den Deinen.

How can I leave the town that brings me down

That has no jobs

Is blessed by God

And makes me cry

Dublin.

Seit der Rockmusiker Phil Lynott über seine emotionale Ambivalenz gedichtet und dich im Jahr 1971 für London verließ, hast du dich allerdings enorm verbessert. Wo einst in deinem alten Hafenviertel Arbeiterkaschemmen, Lagerschuppen und Kräne verrotteten, verleihen Dir heute Kongress- und Finanzzentren, Hotels, Cafés, Restaurants und ein von Stararchitekt Daniel Libeskind entworfenes Theater Weltflair. Schicke Appartement- und Bürohäuser balancieren auf Stelzen über dem alten Kanalbecken, und die gereizte Katerstimmung einer von Priestern dominierten und von britischen Grundherren kolonisierten Stadt hat sich längst verzogen. Die meisten Dubliner freuen sich, dass du so viel Farbe und Dynamik bekommen hast und vom dirty old Dublin nicht mehr allzu viel übrig ist. Dein besserwisserisches Studienratspublikum wühlt aber lieber in der Schublade mit der Aufschrift »Früher war alles besser«. Mit wetterfester Überheblichkeit rümpft es die Nase über die neue Hipness deines Temple-Bar-Viertels, die es humorvoll-herablassend auch gern mal Templebarbarisierung schimpft, und trauert den alten Zeiten nach, in denen Dublin noch ein idyllisches Dorf war. Das warst du aber nie, im Gegenteil, und das Problem wäre auch nicht deine glänzende neue Urbanität, wenn sie sich nur alle leisten könnten. In Sachen bezahlbare Wohnungen, Kinderbetreuung und Gesundheitsvorsorge schneidest du im Vergleich zu anderen europäischen Städten schlecht ab, und welche Verheerungen der Freibeuterkapitalismus amerikanischer IT-Konzerne in dir anrichtet, können einem die Obdachlosen berichten, die vor dem Luxushotel campieren und auf dich schimpfen. Ich aber liebe dich, so wie es eben nur ein Besucher kann, und beginne dich bereits auf der Heimreise heftig zu vermissen – die grauen Wolken über deinem Kopf, die flitzenden Austernfischer am Strand von Sandymount, das schäumende Wasser der Irischen See, das sich in hohen Wellenkämmen bricht, die scones im Café der National Library, meine morgendlichen Spaziergänge zum Poolbeg Lighthouse, die Statue Patrick Kavanaghs, der ich so gern auf ihrer Bank am Grand Canal Gesellschaft leiste, die frittierten Freuden bei meinem liebsten chipper, Mitternachtsvorstellungen im Stella-Kino und die blaue Stunde über der Liffey, wenn sich Tag und Nacht während der Dämmerung begegnen. Nur dann kommt dieses magische Blau hervor, das dich in eine sanfte Umarmung hüllt und deinem Himmel eine besonders verträumte Färbung verleiht.

Du siehst – ich kann dich zwar verlassen, aber du verlässt mich nicht. Als ich nach meinem ersten Besuch auf dem Fährdeck stand, um Abschied zu nehmen, hast du mir mit leisem Zischen dein Brandzeichen aufs Herz gedrückt und mich damit für alle Zeit an dich gebunden. Das ist vermutlich die einzige Gemeinsamkeit, die sich zwischen James Joyce und mir feststellen lässt. Als er gefragt wurde, ob er nicht doch noch einmal nach Irland zurückkehren wolle, antwortete er: »Habe ich es je verlassen?«

Truly yours,

Nicole

Kevin, Böll und ich

Unsterbliche Stadt- und Seelenführer

Dublin ist nie mein Dublin gewesen. Ich bin nicht berechtigt, Besitzansprüche zu erheben, denn abgesehen davon, dass ich weiß, wo es das garantiert ruhigste Hotelzimmer der Stadt gibt, verfüge ich über keinerlei Insiderwissen. Ich werde in der altehrwürdigen Bibliothek des Trinity College nostalgisch, höre im O’Donoghues Pub irischen Folk, lasse mich bei einem Bootsausflug über die Wellen der Dublin Bay schaukeln und grusle mich vor den Moorleichen im National Museum, wie alle anderen Besucher der Stadt auch. Intime Kennerschaft wäre aber nötig, um von meinem Dublin sprechen zu dürfen. Ich darf also nicht, so richtig wollen will aber anscheinend auch sonst niemand. Wenn schon Ansprüche erhoben werden, dann nämlich nicht nur auf die Stadt, sondern gleich auf das ganze Land. Von meinem Irland schwärmt, wer erlebt hat, was keinem sonst vergönnt war. Hat man den authentischsten pub gefunden, vertraute die B & B-Besitzerin einem das geheime Sodabrotrezept der Urgroßmutter an oder ist einem ein alter Kauz begegnet, der noch ganz ohne Strom in seinem alten reetgedeckten cottage haust, dann gestatten einem diese Erlebnisse, Irland aus einer einzigartigen Perspektive heraus zu sehen und, für den Fall, dass man Autor ist, auch zu beschreiben. Das fing schon mit Heinrich Böll und seinem »Irischen Tagebuch« an. Fast siebzig Jahre sind seit der Erstveröffentlichung seines meistgelesenen Werkes vergangen, und noch immer geht die Saat der Geschichten über fabulierende Lebenskünstler und mystisch schöne Landschaften im Herzen der Leser als zeitlos blühende Irlandliebe auf. Mit Bölls Tagebuch als Baedecker-Ersatz kommen noch immer viele Reisende auf die Grüne Insel, um den beschriebenen Dreiklang aus Bier, Torf und Frömmigkeit zu suchen. Vom Wunsch getrieben, originale Schauplätze zu finden, landen sie auf Achill Island. Eine Insel in der nordwestlichen Ecke Irlands, die dem Kölner Schriftsteller zu einer zweiten Heimat wurde.

Ich aber bleibe in Dublin, um mir aus den Böll’schen Erinnerungen an die Stadt ein Bild zusammenzusetzen und mit dem zu vergleichen, was ich heute dort finde. Einen einsamen Schornstein aus rotem Backstein zum Beispiel, der vor dem Abriss bewahrt und als markanter Fremdkörper in einen gläsernen Bürokomplex integriert wurde. Der Schlot ist das Einzige, was übrig blieb von der Swastika Laundry, einer Wäscherei, die rund fünfundsiebzig Jahre im Stadtviertel Ballsbridge in Betrieb war. Böll wäre sie fast zum Verhängnis geworden. Kurz nach seiner Ankunft in Dublin im Jahr 1955 wollte er eilig eine Straße nahe der heutigen Heuston Station überqueren und wäre um ein Haar von einem Lieferwagen der Swastika Laundry überfahren worden – ausgerechnet. Als Soldat mehrfach verwundet und kurz vor Kriegsende desertiert, glaubte Böll beim Anblick des Hakenkreuzes auf dem Transporter, der dicht vor ihm zum Stehen kam, beinahe unter die Räder eines ausgemusterten Wagens des Völkischen Beobachters geraten zu sein. Die Inhaber der Wäscherei hatten sich die Swastika, ein uraltes indisches Glückssymbol, jedoch lange vor den Nationalsozialisten als Logo für ihre 1912 gegründete Firma ausgesucht und es damit immerhin zu einer Fußnote in der Literaturgeschichte gebracht, nachzulesen im »Irischen Tagebuch«. Was nicht dort steht, ist, dass Böll den heranfahrenden Wagen nicht hören konnte, weil dieser mit einer Batterie betrieben wurde. Wäschereiinhaber John W. Brittain war seiner Zeit weit voraus. Hohe Geschwindigkeiten konnten die kleinen roten Elektroautos allerdings nicht erreichen, ein Glück für Böll, der später erleichtert notierte: »… der Fahrer bekreuzigte sich, als er mir lächelnd signalisierte, dass ich weitergehen sollte.«

Daraufhin wäre eigentlich ein Guinness fällig gewesen. Sich an Bölls Fersen zu heften, um ihm nach diesem Beinahe-Unfall weiter durch Dublin zu folgen, heißt jedoch nicht pubs, sondern Gotteshäuser zu sammeln, denn kaum einer hat die katholische Kirche so kritisiert, das katholische Irland aber so geliebt wie er. St. Patrick’s Cathedral, Irlands größtes Gotteshaus, bereitete Böll allerdings eine herbe Enttäuschung. Wo er damals auf einen armlosen Bettler traf, dem er die Zigarette »angezündet zwischen die Lippen, Geld ihm in die Rocktaschen stecken« musste, kassiert heute eine adrette Empfangsdame von mir das Eintrittsgeld ab. Böll würde sein Irland, wo der Kapitalismus den Katholizismus längst als neues Idol abgelöst hat, vermutlich nicht mehr verstehen. Der Kreuzzug des Konsums war hier so gnadenlos erfolgreich, dass die Kommerzialisierung selbst vor dem kulturellen Erbe keinen Halt gemacht hat, und so ist auch St. Patrick’s Cathedral zu einem gewöhnlichen Kassenschlager Dublins geworden.

Ein besonderer Ort bleibt die Kirche dennoch. Hier soll der heilige Patrick Gläubige mit dem Wasser einer geweihten Quelle getauft haben, und hier liegt auch Jonathan Swift, Schriftsteller und langjähriger Dekan der Kathedrale, gemeinsam mit seiner Gefährtin Esther Johnson unter blank geputzten Messingplatten begraben. Für Bölls Empfinden viel zu blank. »An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren«, beklagte er sich über die fast keimfreie Kirche. Gedanken eines Autors, die sieben Jahrzehnte später zu einem eigenen Gefühl des Wiedererkennens werden, während ich fröstelnd im porentief reinen Schauraum der Religion stehe. St. Patrick’s ist nicht zum Benutzen da, so scheint es noch immer, sondern bloß zum Betrachten. Niemand, der niederkniet, betet oder sich bekreuzigt. Die glänzend geputzten Requisiten des Glaubens sind da. Die Gläubigen fehlen. Über diesen Mangel täuscht auch die Masse der Touristen nicht hinweg, die zu kleinen Haufen zusammengekehrt um ihre Reiseleiter stehen, in der Souvenirecke stöbern oder achtlos an einer Vitrine vorbeigehen, in der neben Erstausgaben von Swifts Werken auch eine Totenmaske des Schriftstellers gezeigt wird. Deren außerordentliche Spitznasigkeit lenkt von der eigentlichen Attraktion im Glasschrank ab: einem eisernen Kienspanhalter. Vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert hinein fertigten Schmiede solche Gestelle an, in die harzreiche Hölzer geklemmt und angezündet werden konnten. Arme-Leute-Lampen wurden sie auch genannt, weil sie weit günstiger waren als teure Wachskerzen. Den ausgestellten Kienspanhalter sollen einst Jonathan Swift und seine Esther, von ihm liebevoll Stella genannt, abwechselnd in den Händen gehalten haben, um in der düsteren Kathedrale eng beieinander sitzen und gemeinsam in einem Buch lesen zu können. Welche Art Beziehung sie genau zueinander pflegten, blieb ein großes Geheimnis. Einige Historiker glauben, Swift hätte Stella 1716 heimlich geheiratet, andere behaupten eine zwar innige, aber rein platonische Bindung zwischen den beiden. Sicher ist, dass in St. Patrick’s Cathedral nichts so romantisch und berührend ist wie diese kleine Lampe. An der hätte auch Böll seine verschnupfte Seele wärmen können. Heilung für sein erkältetes Herz fand er aber erst in einer anderen Kirche – der St. Nicholas of Myra, in der Böll glaubte, einen ganz besonderen Ort gefunden zu haben: »Schön war St. Patrick, hässlich ist diese Kirche, aber sie wird benutzt«, freute er sich, als er kurz nach dem enttäuschenden Besuch der Kathedrale in ein Gotteshaus voller Gläubiger trat, in der »Religion bis zur Neige ausgekostet« wurde. Die cremeweiße Eleganz im Inneren von St. Nicholas lässt mich allerdings an Bölls