Let Me: Beide Bände der spannenden Romance-Suspense in einer E-Box! (Let Me-Dilogie) - Effy Hester - E-Book

Let Me: Beide Bände der spannenden Romance-Suspense in einer E-Box! (Let Me-Dilogie) E-Book

Effy Hester

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Beschreibung

»Mit ihm verlor sie die Kontrolle. Und obwohl sie das wusste, konnte sie nicht aufhören.« Als Skadis Vater ihr nach dem Uni-Abschluss einen Job als Privatlehrerin im texanischen Hill Country aufzwingt, muss sie sich nach Jahren der Einsamkeit in einer fremden Luxuswelt zurechtfinden, in der rätselhafte Geschäfte an der Tagesordnung sind. Auch der Halbbruder ihrer Schülerinnen macht ihr mit seiner abweisenden Art das Leben schwer. Drake Tò Blackburn löst Gefühle in Skadi aus, die sie noch nie zuvor empfunden hat. Doch der Schmerz in seinen Augen stellt sie vor ein Rätsel, genauso wie die unheilvollen Gerüchte über seine Familie. Tauche ein in die funkensprühende Liebesgeschichte von Skadi und Drake! //Diese E-Box enthält alle Bände der dramatischen New-Adult-Romance-Dilogie von Effy Hester. -- Let Me Drown With You -- Let Me Rise With You Diese Reihe ist abgeschlossen.// 

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www.impressbooks.de Die Macht der Gefühle

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH, Völckersstraße 14-20, 22765 Hamburg © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2023 Text © Effy Hester, 2023 Coverbild: Adodbe Stock / © Nabodin / © SMPTY Covergestaltung der Einzelbände: 100covers4you ISBN 978-3-646-61072-7www.impressbooks.de

© Maria Bauer

Effy Hester lebt im Bayerischen Wald zwischen grüner Friedlichkeit und Family-Chaos. Sie liebt es, inmitten von Buchstaben und Zeilen aus dem Alltag abzutauchen und sich an schönen Orten in fremden Schicksalen zu verlieren.

Wohin soll es gehen?

Vita

Let Me-Dilogie 1: Let Me Drown With You

Let Me-Dilogie 2: Let Me Rise With You

Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

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Effy Hester

Let Me Drown With You

»Mit ihm verlor sie die Kontrolle. Und obwohl sie das wusste, konnte sie nicht aufhören.«

Als Skadis Vater ihr nach dem Uni-Abschluss einen Job als Privatlehrerin im texanischen Hill Country aufzwingt, muss sie sich nach Jahren der Einsamkeit in einer fremden Luxuswelt zurechtfinden, in der rätselhafte Geschäfte an der Tagesordnung sind. Auch der Halbbruder ihrer Schülerinnen macht ihr mit seiner abweisenden Art das Leben schwer. Drake Tò Blackburn löst Gefühle in Skadi aus, die sie noch nie zuvor empfunden hat. Doch der Schmerz in seinen Augen stellt sie vor ein Rätsel, genauso wie die unheilvollen Gerüchte über seine Familie.

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Danksagung

Vorbemerkung

Liebe Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freunde oder suche dir professionelle Hilfe.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Effy Hester und das Impress-Team

Pleased to meet you

Hope you guess my name

But what’s puzzling you

Is the nature of my game

Sympathy For The Devil

The Rolling Stones

1

Die ganze Schule war neidisch auf sie. Skadi grinste zufrieden in sich hinein. Mit ihrer Vorstellung über den Bear Mountain hatte sie alle fertiggemacht, sogar Catwalk-Katie aus der Zwölften. Wie erwartet hatten die anderen die Lehrerjury mit ihren Vorträgen über die altbekannten Sehenswürdigkeiten von New York City zum Gähnen gebracht.

Skadi hatte gewusst, dass es mehr brauchte, um sich Cortland zu verdienen. Mehr Fantasie, mehr Hirn, mehr Mut. Sie hatte auch gewusst, dass sie das alles in sich hatte. Also hatte sie das getan, was sie sowieso am besten konnte: sich selbst in Szene setzen und andere durch ihre Emotionen mitreißen.

Ihr Referat sollte sich um das New Yorker Umland drehen. Mit Wanderstiefeln, Backpacker-Rucksack und Campingstuhl bewaffnet hatte sie die Jury auf einen Campingtrip zum Bear Mountain mitgenommen. Das Klassenzimmer war zu ihrer Bühne geworden. Und sie war der Star gewesen. Wie immer.

Jedes Jahr wurde nur ein einziger Austauschplatz für die ganze Schule vergeben. Der Gewinner des Vortragswettbewerbs durfte für vier Monate die Partnerschule in Cortland, einem Vorort von New York, besuchen. Skadi war mit vierzehn die Jüngste, die je ausgewählt worden war. Und sie war mega stolz darauf.

Endlich konnte sie aus Buching ausbrechen, diesem Kuhkaff, das jungen Mädchen einfach nichts bieten konnte. Bereits in drei Tagen ging der Flieger nach New York. Sie sah es schon vor sich: Vier Monate lang würde sie sich auf einer glitzernden, funkelnden, pulsierenden Flut an Leben treiben lassen können. Diese letzte Bio-Stunde bei Laber-Hager würde sie nun auch noch überstehen. Sie hatte ihren Kopf in die Hand gestützt, vorne am Pult laberte Herr Hager irgendwas von Antigenen und Antikörpern. Brav schrieb sie ab, was er an die Tafel pinselte, ohne eine Ahnung zu haben, was dieser Misthaufen aus Buchstaben und Pfeilen zu bedeuten hatte. Und es war ihr auch egal. Auf ihrer Stirn leuchtete das Besetztzeichen auf. Dahinter tanzte sie gerade als Cheerleaderin über das Football-Feld, während ihr hübsche Jungs aus dem Team zulächelten.

Es würde wunderbar werden, auf eine richtige amerikanische Highschool zu gehen. Klar würde sie auch einiges lernen müssen, um in der Schule mithalten zu können. Ihr Englisch war gut, aber vermutlich nicht so gut wie das von Katie, die sicher schon für Cortland gepackt hatte. Catwalk-Katie war es eigentlich gewohnt, dass ihr in Buching niemand das Wasser reichen konnte – egal in welcher Kategorie. Sie liebte das. Und sie liebte sich. Dass die Jury Skadis Vorstellung besser bewertet hatte, würde Katie sicher aus der Bahn werfen.

Skadi hatte am Thron der Königin von Buching gesägt. Irgendwie war das beängstigend. Aber irgendwie auch cool. Für die nächste Zeit wäre sie sowieso erst mal aus der Schusslinie der königlichen Giftpfeile.

Sie dachte an die Gastfamilie, die ihr bereits Fotos geschickt hatte. Besonders freute sie sich auf Treena. Ihre Gastschwester war ein Jahr älter als Skadi und ging auch auf die Cortland High. Anne und Frank, die Gasteltern, sahen nett aus. Sicher würde sie ihre eigene Mutter vermissen. Aber gerade sie hatte Skadi ermutigt, nicht zu zögern, sondern sich ins Leben zu stürzen. Und Papa? Ob es ihm überhaupt auffallen würde, wenn Skadi vier Monate nicht da war, so selten wie er zu Hause war?

Sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging und sie das tun würde, wovon all ihre Mitschüler nur träumen konnten. Die Begeisterung der Jury über ihr Referat in allen Ehren. Aber der Bear Mountain war nun nicht gerade Platz eins auf ihrer Bucketlist. Bäume und Berge hatten sie in Buching wirklich genug. Skadi wollte ins Getümmel. Über die Brooklyn Bridge laufen, sich durch die Menschenmassen am Times Square schieben, auf dem Dach des Empire State Building ein Selfie knipsen.

Gerade schaukelte sie im Traum auf einem Boot rüber zur Freiheitsstatue, als jemand an ihrem Arm rüttelte. Ein sanftes »Hallo« drang an ihr Ohr.

Skadi fuhr hoch und schnappte nach Luft. Als sie die Augen aufmachte, war da kein Laber-Hager mehr, der sie missbilligend anschaute. Stattdessen wurde Skadi von einem symmetrischen Paar reinweißer Zahnreihen geblendet. Umrandet wurden sie von schreiend pinken Lippen, die eine Nummer zu voluminös waren, um natürlich zu sein. Sie hob den Blick und schaute in halboffene blaue Augen, deren Lider gegen das Gewicht eines dichten Kranzes aus schwarzen Federn ankämpften. Weiter oben entdeckte sie einen Ansatz blonder Haare, auf denen ein dunkelblaues Schiffchen thronte.

»Miss, würden Sie sich bitte anschnallen?«, flötete das Colgate-Model auf Englisch. »Der Landeanflug auf Austin beginnt gleich.«

Als die Schiffchenfrau sich aufrichtete, erkannte Skadi auf der Brusttasche ihrer weißen Bluse verschwommen das Zeichen der Airline, mit der sie geflogen war.

»Austin?«, fragte sie irritiert. Sie musste noch träumen.

Die Stewardess lächelte nur, dann löste sie die Bremse ihres Getränkewagens und schob ihn eilig Richtung Heck davon.

Verwirrt tapste Skadi blind nach dem Gurt. Sie war noch so müde. Als sie das eine Ende gefunden hatte, linste sie verschlafen an sich herunter, um das andere zu suchen.

Unvermittelt fuhr sie zusammen.

Da waren Brüste. Und Hüften. Viel zu breite Hüften. Das waren nicht die Hüften einer Vierzehnjährigen. Der flauschige Kuschelschleier, den die Beruhigungspille über ihr Bewusstsein gelegt hatte, zerfiel in tausend spröde Fasern. Plötzlich war da wieder diese schreckliche Gewissheit, warum sie die Pille überhaupt eingeschmissen hatte.

Sie saß in einem Flieger nach Texas, nicht New York. Und sie würde dort ein ganzes Jahr bleiben müssen, wenn nicht ein Wunder geschah. Damals mit vierzehn war es ihr Traum gewesen, in die USA zu gehen. Jetzt war sie vierundzwanzig. Aber sie hatte schon lange keine Träume mehr. Sie hatte nicht mal mehr Pläne, die über den Stundenplan an der Uni und das Mittagessen für Papa am nächsten Tag hinausgingen.

Jetzt würde sich auf einmal alles ändern. Bei dem Gedanken daran verknotete sich etwas in ihrem Inneren.

2

Der Flieger landete um drei Uhr nachts in Austin. In Deutschland war es jetzt zehn Uhr morgens und Skadi war hundemüde. Die Diazepam hatte ihr vollständig die Lichter ausgeknipst. Sie bereute, dass sie nach all der Zeit wieder dieses Gift eingeschmissen hatte. Ihr war nicht mehr bewusst gewesen, wie stark die Dinger waren. Hatte sie sich damals immer so müde gefühlt? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Generell konnte sie sich an fast nichts von damals erinnern.

Zuletzt war ihr Leben eigentlich okay gewesen. Vielleicht nicht so okay wie das Leben anderer Vierundzwanzigjähriger. Schließlich ging sie nicht aus, hatte keine Freunde und Jungs traf sie auch keine. Oder Männer. Aber sie schaffte es, jeden Morgen aufzustehen. Meistens ging sie sogar zu ihren Kursen an der Uni. Außerdem schmiss sie den Haushalt für Papa. Verglichen mit der Skadi von vor sechs Jahren war das eine Eins-a-Bilanz.

Und jetzt sollte sie sich in ein stickiges, staubiges, mit Kakteen bewachsenes Fragezeichen stürzen?

Es war definitiv nicht ihre Idee gewesen, den Job als Hauslehrerin in Texas anzunehmen. Sie wollte nicht weg von zu Hause. Aber ihr Vater hatte sie praktisch rausgeschmissen. Und dabei wusste er genau, wozu das führen konnte. »Ein Jahr in Texas – wenn du das schaffst, kannst du dein Leben von mir aus wegwerfen und in deinem Zimmer alt und runzelig werden.«

Ein Jahr. Das war seine Bedingung. Ein ganzes verdammtes Jahr. Wie sollte sie das überstehen? Skadi presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch die Nase.

An der Gepäckausgabe herrschte bereits reges Gedränge. Dabei war das Rollband noch nicht mal eingeschaltet. Neben Geschäftsleuten in Anzügen wartete noch ein Ameisenvolk an Touristen auf seine Koffer. Sie hatten tiefe Augenringe und im Neonlicht wirkte ihre Haut grün. Abwechselnd rissen sie ihre großen Mäuler auf, sodass man meinen konnte, sie warteten auf den Startschuss für die Zombie-Apokalypse, nicht auf ihr Gepäck.

Nach über fünfzehn Stunden Flug schienen die einzig noch menschlichen Wesen aus Skadis Flieger die drei kleinen Jungs zu sein, die zwei Reihen vor ihr gesessen hatten. Tick, Trick und Track hatten zwei Stunden lang ihre Schnäbel nicht halten können, bevor sie Gott sei Dank einer nach dem anderen eingeschlafen waren. Jetzt waren sie ausgeruht für ihr nächstes Abenteuer. Zwischen den Beinen der Passagiere wuselten sie umher und quakten lautstark. Onkel Dagobert war nirgendwo zu sehen. Irgendwann fuhr ein Mann seine Arme aus und fischte zwei von ihnen aus dem Ameisenhaufen. Eine große, schlanke Frau schnappte den dritten Ausreißer. Auf Deutsch gab es eine Standpauke für die drei. Wahrscheinlich machte die Familie Urlaub und flog nach zwei Wochen wieder zurück. Wenn Skadi doch nur mit ihnen tauschen könnte.

Als sie nach der Entenhausen-Familie auch noch Lucky Luke in der Menge der Wartenden entdeckte, wunderte sie sich, wie high sie noch immer von der Beruhigungstablette war. Sie blinzelte und schaute noch mal hin. Er trug einen weißen Cowboyhut, braune Stiefel mit gemustertem Schaft und ein kariertes Hemd. In Skadis Kopf ritt er auf Jolly Jumper mit einem »Yee-haw« dem Sonnenuntergang entgegen, als sein sonnengegerbtes Gesicht ihr einen Starr-mich-nicht-an-Blick zuwarf.

Das Rollband setzte sich in Bewegung und beförderte die ersten Koffer in die Gepäckhalle. Bevor Skadis orangefarbener Schalenkoffer in Sicht kam, hatte der halbe Ameisenhaufen die Halle bereits voll bepackt verlassen. Papa hatte den Koffer für Texas neu gekauft. Ihren alten Lederkoffer mit lila Blumen, den sie auf der letzten Reise mit ihrer Mutter dabeigehabt hatte, hatte er vor Jahren verschenkt. Skadi hatte sowieso keinen mehr gebraucht.

Ob ihr Flieger wieder zurück nach München ging? Sie könnte fragen, ob noch ein Platz frei war, und ihren Koffer einfach wieder in den Laderaum rollen lassen. Kurz lugte sie über die Schulter, ob jemand von der Fluggesellschaft zu sehen war. Aber da war nur ein Angestellter in Overall, der mit einem Wischtraktor ein glänzendes Kurvennetz auf die hellgrauen Fliesen zeichnete.

Was hätte ihre Mutter jetzt gesagt? Sie hatte viele Träume für Skadi gehabt. Träumen war sowieso ihre Hauptbeschäftigung gewesen, während sie der Realität wenig hatte abgewinnen können. Buching war für sie nur als Durchgangsstation gedacht gewesen, als sie von Norwegen nach Deutschland gekommen war. Sie hatte in eine deutsche Großstadt gewollt, dort Geld verdienen, sich ein neues Leben aufbauen. Zu Hause in ihrem Zweihundert-Einwohner-Örtchen hätte man ihr die Luft zum freien Atmen genommen, hatte sie einmal gesagt. Doch eine Begegnung bei ihrem ersten, äußerst mies bezahlten Job in einem Münchner Gasthaus hatte ihren Plan zunichtegemacht. Sie hatte dort Skadis Vater kennengelernt.

Daraufhin hatte er ihr einen neuen Job besorgt. Einen besseren. Mitten am Marktplatz von Buching im Gasthaus »Zum Kirchenwirt«.

Obwohl ihr dieses Mini-Dorf in den Alpen über dem Chiemsee wieder die Luft abgeschnürt hatte, obwohl sie irgendwann hatte einsehen müssen, dass Papa niemals von dort weggehen würde, war sie geblieben. Wegen dem kleinen Mädchen, das ihrem schmerzenden, schwitzenden, kotzenden Körper bereits alles abverlangt hatte, als es noch in ihrem Bauch gesteckt hatte.

Als Kind hatte Skadi nicht gesehen, wie einsam ihre Mutter gewesen war. Sie hatte nur das quietschbunte Märchen wahrgenommen, zu dem sie das Leben ihrer Tochter gemacht hatte. Die Kinder in ihrer Klasse hatten Schlange gestanden, um bei ihr eingeladen zu werden. Skadi hatte das coolste Zimmer, das größte Baumhaus, die ausgefallensten Kostüme, die besten Cupcakes gehabt. Jeder Nachmittag war von ihrer Mutter zu einem Kindergeburtstag gemacht worden. Immer neue Spiele hatte sie sich ausgedacht, Waffeln gebacken und die Musik so laut aufgedreht, dass man die Frey’schen Partys im ganzen Dorf gehört hatte.

Nur manchmal, in vermeintlich unbeobachteten Momenten, hatte ihre Mutter seltsam verloren von der Terrasse aus über die Berge auf den See hinuntergeschaut. Diese Momente waren nicht für Skadis Augen bestimmt gewesen, das hatte sie schon als Kind gewusst. Ihre Mutter hatte sich gewünscht, dass Skadi zu einem selbstsicheren Mädchen heranwächst. Mitten im Leben sollte sie stehen. Anders als ihre Mutter. Sie sollte glücklich sein. Anders als ihre Mutter. Und das war Skadi gewesen. Bis zu diesem Abend im April, als sie auf die Terrasse gekommen war und ihre Mutter in Unterwäsche auf dem Geländer gestanden hatte. Es war das erste von vielen Malen gewesen, dass sie sie am Rande des Abgrunds gefunden hatte.

Als Skadi sich wieder zum Rollband umdrehte, war der hässliche Karottenkoffer direkt vor ihr. Ohne weiter nachzudenken, packte sie ihn am Griff. Der Versuch, ihn vom Band zu heben, scheiterte kläglich. Sie stemmte sich gegen die Bande und zog daran, als müsste sie einen Baum mitsamt der Wurzel ausreißen. Das Ungetüm hatte sie schon zwei Meter mitgeschleift, als eine große Hand den seitlichen Griff packte.

»Ich helfe Ihnen, Fräulein«, sagte Lucky Luke in schwäbischem Dialekt und hievte das leuchtende Monstrum mit einer schwungvollen Bewegung vom Band.

»Danke«, säuselte Skadi und traute sich nicht, den Blick zu heben, damit der Cowboy aus dem Ländle ihre roten Wangen nicht bemerkte.

Im Laufschritt verließ sie die Gepäckhalle. Sie sollte am Flughafen abgeholt werden. Damit der Fahrer wusste, wo sie ankam, hatte Skadi Mrs Beltrán, ihrer künftigen Chefin, die Flugnummer geschrieben. Doch wo genau sie ihn treffen sollte, hatten sie nicht ausgemacht.

Die Ankunftshalle war voller wartender Menschen. Zwei ältere Damen hinter der Absperrung reckten die Köpfe und verzogen den Mund zu einem verzückten Grinsen, sobald sie ihre Lieben entdeckten. Tick, Trick und Track stürzten auf sie zu und schmissen sich in ihre Arme.

Andere warteten mit Pappschildern in der Hand auf ihre Feriengäste. Einige Passagiere waren bereits mit einem Schildträger auf dem Weg nach draußen. Am Restbestand schlich Skadi mit klopfendem Herzen vorbei und blickte immer wieder hoffnungsvoll zwischen Gesichtern und dem Papier des Begehrens hin und her. Doch nirgendwo stand ihr Name.

Irgendwas musste Mrs Beltrán dem Fahrer gesagt haben, damit er sie erkannte. Sie hatte ihr ein Foto von sich geschickt.

Am Ende der Halle angekommen, öffnete sich die gläserne Tür automatisch. Die heiße Luft traf Skadi mit einer Wucht, die sie nach hinten taumeln ließ. In Deutschland war noch Frühling und der klimatisierte Flughafen hatte sich in der Temperatur nicht sehr von der zu Hause unterschieden. Als sich die Tür erneut öffnete, japste sie nach Luft. Draußen zeigte eine Anzeigetafel 84,2 Grad Fahrenheit. Das waren 28 Grad Celsius. Nachts um 3. Die Luft war trocken und roch nach Benzin, das von den laufenden Motoren der wartenden Autos verbraucht wurde.

Während sie gegen die tanzenden Wattebausche hinter ihren Augen ankämpfte, versuchte sie, sich in der grell erleuchteten Zufahrt zu orientieren. Neben dem Gehsteig reihten sich Uber und Taxis aneinander. Ein Fahrer öffnete den Kofferraum, um das Gepäck seines Gastes zu verstauen. Das wäre im Notfall auch eine Möglichkeit, dachte Skadi. Was das wohl kostet?

Vielleicht hatte Mrs Beltrán vergessen, jemanden zu organisieren, der sie nach Christiana brachte. Schließlich war der Flieger mitten in der Nacht gelandet. Oder der Chauffeur wartete am falschen Terminal. Mit jedem Szenario, das ihr durch den Kopf ging, vermehrten sich die Wattebausche und sie musste sich an einer Wand abstützen. Mit geschlossenen Augen atmete sie dreimal tief ein und aus.

Als sie die Lider wieder öffnete, nahm sie einen Mann wahr, der breitbeinig an einer Säule auf der anderen Seite der Zufahrt lehnte. Die Beleuchtung reichte nur bis zu seiner Fußspitze. Der Rest seiner Gestalt lag im Schatten. Aber dass der Riese sie mit seinem Blick taxierte, spürte Skadi unter der Haut. Der Kerl schien auf sie zu warten. Also los.

Während sie sich von der Wand abstieß und langsam auf ihn zubewegte, rührte er sich keinen Millimeter. Seine Arme, die bis zum Ellbogen in einer offenen dunklen Jacke steckten, hielt er verschränkt vor dem Körper und sein Gesicht blieb starr auf sie gerichtet.

Skadis Schritte verlangsamten sich, je näher sie ihm kam. Das Weiß seiner Augen leuchtete in der Dunkelheit so gruselig, dass es ihr einen Schauder über den Rücken jagte, obwohl sie sich mit ihrer Jeans und dem Hoodie wie in einer Sauna fühlte. Zaghaft formte sie ihre Lippen zu einem Lächeln.

Doch der große Mann mit Siebentagebart und langen braunen Haaren zeigte weiter keine Regung. Kurz blieb Skadi stehen. Vielleicht war er gar nicht ihr Fahrer. Bitte, bitte nicht!

Als ein lautes Hupen ertönte, merkte sie, dass sie mitten in der Zufahrt stand. Wankend schleifte sie ihren Koffer zur Seite und fuchtelte entschuldigend mit der Hand in Richtung des Ubers, dem sie den Weg versperrt hatte.

»Skadi Frey«, hörte sie eine tiefe Stimme sagen. Als sie sich nach rechts wandte, zuckte sie zusammen. Sie stand direkt vor einer breiten Brust, deren markante Linien das fusselige graue T-Shirt darüber nicht verhüllen konnte. Er war sicher eineinhalb Köpfe größer als sie. Noch immer hatte er seine Körperhaltung nicht verändert. Skadi hob den Blick. Er musterte sie mit unverhohlener Verachtung.

»Um dich vor ein Auto zu werfen, hättest du nicht extra nach Texas kommen müssen.«

Skadis Wangen fingen an zu glühen. Wie alt er war, konnte sie schwer einschätzen. Angesagte Klamotten trug er nicht – was nichts heißen musste. Denn seine goldene Haut war glatt und makellos, zumindest dort, wo sie nicht von seinem Bart verdeckt war.

Seine Augenbrauen wölbten sich abschätzig über seine Augen, deren Form an Buchenblätter erinnerte. Ihre Farbe konnte Skadi nicht erkennen. Im Schatten wirkten sie braun wie seine Haare, deren Wellen an seinem versteinerten Gesicht züngelten.

»Hat es dir die Sprache verschlagen, Mädchen? Oder verstehst du überhaupt, was ich sage?« Höhnisch lachte er.

Die Flauschekugeln tanzten nicht mehr. Doch das pelzige Gefühl war von Skadis Hirn nach unten gewandert, in ihre Stimmbänder. Die waren jetzt genauso betäubt wie ihr Gesicht, das zu nichts weiter imstande war, als mit Augen und Mund drei große O’s zu formen. Ihr Gegenüber schob herausfordernd seinen Kopf nach vorne. Sein Atem streifte ihr Haar und sie wich zwei Schritte zurück.

Endlich räusperte sie sich und fragte auf Englisch: »Sind Sie der Fahrer der Familie Beltrán?« Sie bemühte sich, möglichst amerikanisch zu klingen. Raus kam ein Gegluckse, als hätte sie einen Golfball verschluckt.

Was hatte dieser Uni-Dozent über ihre Aussprache gesagt? »Kompetenzniveau C2. Glückwunsch, Sie sind fast Muttersprachlerin.« Bei Trockenübungen vielleicht. Aber jetzt musste sie schwimmen.

Der Langhaarige schnaubte und schüttelte den Kopf. Dann riss er ihr mit einer raschen Bewegung den Koffer aus der Hand und berührte dabei ihre Haut. Er fühlte sich warm an. Menschlich. Seltsamerweise.

Skadi stand am Bordstein, als hätte man sie dort in den Teer eingelassen. War das noch wegen der Medikamente oder war es inzwischen schon so weit gekommen mit ihr? Okay, sie hatte vielleicht lange keine fremden Kontakte gehabt. Aber sie konnte das. Mit Menschen umgehen. War sie darin früher nicht ein Naturtalent gewesen? Konnte man das überhaupt verlernen?

Während sie sich über das Ausmaß ihrer sozialen Inkompetenz wunderte, wuchtete er ihren Koffer und den großen Rucksack, den er ihr unsanft von den Schultern gezerrt hatte, in den Kofferraum eines alten schwarzen Sportwagens.

»Kommst du jetzt oder willst du lieber laufen, Skadi Frey?«, raunte er genervt.

Er kannte ihren Namen, also musste Mary Beltrán ihn geschickt haben. Skadis Beine fühlten sich taub an, bewegten sich aber irgendwie trotzdem an seinem fahrenden Gruselkabinett entlang.

Das alles war surreal. Er. Dieses Auto. Die Tatsache, dass sie jetzt diese Beifahrertür öffnete und in einen tief geschnittenen schwarzen Ledersitz rutschte. Gott sei Dank hatte der die perfekte Form, um sich so klein wie möglich zusammenzukauern. Der Wunschtraum ihres Vaters, dass ihr das alles hier irgendwie helfen konnte, war absurd.

Skadis Hand zitterte, als sie nach dem ausgefransten Gurt griff. Um ihn zu befestigen, musste sie sich widerwillig nach links wenden. Der Fahrer stierte sie an, während sie an der Gurthalterung herumnestelte. Das machte sie noch zittriger und sie hatte Mühe, sich überhaupt anzuschnallen. Es schien diesem Menschen größten Spaß zu machen, sie noch mehr zu verunsichern.

»Kann’s endlich losgehen?«, fragte er übertrieben genervt, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Fahr«, sagte Skadi, obwohl sie eigentlich lieber zurück ins Flughafengebäude gerannt und in den nächsten Flieger nach Deutschland gestiegen wäre.

3

Sie hätte jetzt zu Hause am Frühstückstisch sitzen und die Lokalnachrichten lesen können. Später hätte sie das Geschirr abgeräumt und für das Mittagessen gedeckt. Dann hätte sie das Esszimmer gesaugt, etwas Nettes gekocht, vielleicht ein paar Hemden gebügelt und dann gewartet, bis Papa zum Essen nach Hause käme. Stattdessen saß sie hier mit einem fremden Typen, der dreinschaute, als würde er in der Geisterbahn arbeiten, und ließ sich von ihm an einen Ort bringen, an dem sie nicht sein wollte.

Im Auto roch es stark nach Leder. Die Armaturen hatten einige Gebrauchsspuren und die Anzeigetafeln verstrahlten ein gelbliches Licht. Wie früher, als es noch keine LEDs gegeben hatte. Aber ein neues Auto hätte zu diesem Kerl auch nicht gepasst. Ein ziemlich fertiges Auto für einen ziemlich fertigen Typen. Das passte.

Nur er passte nicht zu Mary Beltrán. Skadi hatte die Familie gegoogelt, für die sie arbeiten sollte. Mit einem guten Riecher für innovative Start-ups fuhr Carlos Beltrán als Investor jedes Jahr zig Millionen ein. Sie hatte ein Foto von seiner Frau Mary gefunden. Darauf hatte sie nicht so ausgesehen, als würde sie in einem heruntergekommenen Auto Platz nehmen und sich von einem Proll übelster Sorte von Geschäftstermin zu Geschäftstermin fahren lassen. Das hier konnte unmöglich der Fahrer der Beltráns sein.

Aber was war er dann?

»Bist du der Fahrer von Mary Beltrán?«

»Es geht dich einen Scheiß an, was ich für sie bin«, fuhr er sie an. Der Motor röhrte auf, als er das Gaspedal durchtrat.

Skadi zog scharf die Luft ein. Doch sie traute sich nicht, sie wieder auszuatmen. Während sie ihre Lunge in Raten leerte, beschloss sie, den Typen besser zu ignorieren. Er war geschickt worden, um sie abzuholen. Das musste ihr als Info reichen. Wenn sie Glück hatte, hatte sie ihn heute zum ersten und letzten Mal gesehen.

Etwa eine halbe Stunde lang schwiegen sie hartnäckig. Er stellte einen Kassettenrekorder an, der uralte Rocksounds in die Lautsprecher schickte. Wie alt war dieser Kerl? Skadi war nun auch nicht gerade Trendsetterin. Aber der war ja mal komplett aus der Zeit gefallen. Gut, dass sie nicht in New York waren. Sonst wäre er vermutlich jeden Moment Richtung Woodstock abgebogen.

Einige der Lieder hatte Skadi schon mal gehört. War nicht das gerade von den Beatles? Hätte der Typ eine Brille gehabt, wäre er gar nicht weit weg gewesen von John Lennon. Die langen Haare, der Bart – eine gewisse Ähnlichkeit konnte man nicht abstreiten. Aber ihm fehlte der sanfte, nachdenkliche Blick. Er glich eher einem bluthungrigen Wikinger auf Beutezug. Aber für einen Nordmann passte die Hautfarbe nicht.

Skadi versuchte, sich auf die fremdartige Landschaft zu konzentrieren, die in der Dämmerung langsam vor ihrem Auge erwachte. Unter anderen Umständen wäre sie gefesselt gewesen vom Anblick der felsigen Ebene, die in leicht orangefarbenes Licht getaucht und von niedrigen Büschen durchzogen war. Doch sie schaffte es nicht, das geladene Artillerie-Geschütz auf dem Sitz neben sich auszublenden. Und das nicht nur, weil der Zünder jeden Moment wieder losgehen konnte. Sie war noch nie so lange auf so kleinem Raum mit einem unbekannten Mann eingesperrt gewesen.

Als ihre rechte Hand anfing zu schmerzen, bemerkte sie, dass sie ihre Finger knetete, wie sie es immer tat, wenn die Unruhe in ihrem Kopf zu groß wurde. Sie ballte die Hände zu Fäusten und biss sich auf die Lippe.

»Wir brauchen noch eine gute halbe Stunde.« Seine brummende Stimme durchschnitt das Schweigen, Skadi zuckte zusammen.

»Hm«, gab sie nur zur Antwort. Sie wusste nicht, was sie anderes hätte sagen sollen.

Ihre Finger machten sich wieder selbständig. Dieses Mal hatte er sie nicht angeschnauzt. Aber das reichte nicht, um ihn in eine andere Schublade einzusortieren. Er war schon gefaltet, beschriftet und unter »Fick-dich-doch-selber-du-Arschloch« abgelegt.

Trotzdem wanderte ihr Blick schon nach kurzer Zeit wieder nach links. Irgendwie passte die widerspenstige Mähne zu diesem Freak. Die Haarspitzen, die etwas heller waren, fielen ihm bis knapp über seine riesigen Schultern. Leider musste sie sich eingestehen: Er war eigentlich nicht hässlich. Aber auch nicht gepflegt. Sein Auto war im Gegensatz dazu relativ ordentlich. Offensichtlich verwendete er darauf mehr Zeit als auf seine eigene Erscheinung.

Nach einer langen Strecke durch das Niemandsland sah Skadi wieder vereinzelte Häuser. Ein Schild wies nach »New Braunfels« und »Fredericksburg«. Täuschte sie sich oder klang das deutsch? Vorsichtig spähte sie aus dem Augenwinkel zum Fahrersitz. Nein, sie wollte seinen patzigen Kommentar dazu nicht herausfordern.

In immer kleiner werdenden Abständen zogen einfache, meist einstöckige Bauten an ihr vorbei. Wie schnörkellose Schmuckanhänger an einer Kette waren sie an überirdischen Stromkabeln aufgefädelt. Von zu Hause kannte sie solche einfachen Häuser nicht, die aussahen, als könnte der geringste Windstoß sie fortwehen. Die Menschen, die darin lebten, schienen nicht besonders wohlhabend zu sein.

Wenige Minuten später passierten sie ein Schild, das sie in Christiana nicht nur »Welcome«, sondern auch »Willkommen« hieß. Skadi war neugierig, was das zu bedeuten hatte. Aber sie beschloss, einen erträglicheren Menschen danach zu fragen. Irgendwer an diesem Ort würde sie hoffentlich nicht wie eine lästige Stubenfliege behandeln.

Die Steppenlandschaft hatte sich in eine akkurat mit rechtwinklig angeordneten Straßen durchkämmte Vorstadt verwandelt. Hübschere Häuser mit kleinen Gärten lösten die trostlosen Holzbauten ab, die sie zuvor gesehen hatte.

An einer Kreuzung bog der Wikinger nach rechts ab. Eine Allee aus Palmen säumte jetzt die Straße. Man konnte hinter hohen Zäunen die Häuser meist nur noch erahnen, denn die hochgewachsene Bepflanzung der Grundstücke versperrte die Sicht.

Vereinzelt konnte man symmetrische Gebäude erkennen, deren Eingangssäulen, Fensterlisenen und Portale eine altehrwürdige Eleganz ausstrahlten. Besser zu sehen waren die moderneren Stadtvillen mit großflächiger Verglasung, da das Grün in den zugehörigen Gärten noch nicht so hochgewachsen war. Skadi spürte einen diffusen Druck im Bauch. Gleich würden sie in eines dieser Bonzen-Grundstücke einbiegen.

Als dann aber ein Schild dem Besucher »Good Bye« und »Auf Wiedersehen« wünschte, war sie verwirrt. Die Adresse, die sie von der Familie hatte, war in Christiana.

Bald waren keine Häuser mehr zu sehen. Die Ebene war einem hügeligen Gebiet gewichen, das aufgrund vieler dünn bekrönter Laubbäume ziemlich unübersichtlich war. Dieses Labyrinth aus verrunzelten Holzstämmen, die verzweifelt ihre Klauen in die Erde schlugen, erschien Skadi wie der Vorraum zur Unterwelt. Unbehagen kroch ihr langsam den Rücken hoch, während sie ihre Beine in den Fußraum stemmte und sie Christiana immer weiter hinter sich ließen. Als sie endlich den Mut aufbrachte, den Schweigsamen zu fragen, wo er hinwollte, verlangsamte er den Wagen mitten im Niemandsland. Skadi schluckte. Ihre Frage blieb ihr im Hals stecken.

Der Fremde bog nach links in einen schmalen, bröckelnden Teerweg. Mit jedem Meter, den sie sich von der Hauptstraße entfernten, beschleunigte ihr Puls.

Er wird mich vergewaltigen. Oder gleich umbringen. Erst vergewaltigen, dann umbringen. Skadis Kopf fieberte, während die Rolling Stones im Hintergrund »Sympathy For The Devil« sangen. Welch eine Ironie.

Dann hielt das Auto. Vor sich sah sie ein unscheinbares, aber ziemlich hohes schmiedeeisernes Tor, das an steinernen Säulen befestigt war. Ein roter Lichtpunkt blinkte ihr von einer der Säulen entgegen. Was hinter dem Tor lag, verbargen hohe Sträucher, die an einem Lanzenzaun entlang wucherten.

Skadis Herz trabte immer noch, doch ihr war auch klar, dass ein Gossenkiller mit abgetragenen Klamotten keinen Zugang zu einem derartig gesicherten Grundstück haben dürfte.

Wie durch Geisterhand öffneten sich die Torflügel. Langsam rollte das Auto in eine mit Stein gepflasterte Auffahrt. Von der wilden Steppe, durch die sie eben gefahren waren, war keine Spur mehr zu sehen. Links und rechts beleuchteten im Boden versenkte Lichter die geometrisch angeordneten Ziersträucher und Palmen neben dem Weg. Ein gepflegter Rasen erstreckte sich dahinter. In der Morgendämmerung konnte sie schemenhaft ein einstöckiges Haus erkennen, zu dem eine Zufahrt nach rechts vom Weg abging. Doch John Lennons böser Bruder bog nicht ab, sondern folgte weiter der beleuchteten Straße, die sich kurvig durch den Park leicht bergauf schlängelte.

Die Anhöhe, auf die sie zufuhren, war mit einer Thujenhecke eingefasst. Erst als sie diese passierten, sah Skadi die riesige Villa.

»Wir sind da«, sagte der Typ gleichgültig.

Ein Kiesweg, der in einem Rondell endete, führte auf das gewaltige Eingangsportal zu. Vier dicke Säulen stützten den gemauerten Balkon im ersten Stock und tauchten die darunter liegende umlaufende Veranda in den Schatten. Neben dem kunstvoll beleuchteten, gigantischen Gebäude fühlte Skadi sich winzig. Unwillkürlich hatte sie den Impuls, einen Hofknicks zu machen, um die Erlaubnis zum Eintreten zu erhalten. Hier sollte sie ernsthaft wohnen?

»Steigst du endlich aus, oder was?«

Sie zuckte zusammen. Seine schneidende Stimme holte sie wieder in die Realität zurück. Er stand an der Beifahrertür und hielt sie ungeduldig auf.

Helles Licht schien durch drei der unteren Fenster und sie sah eine Gestalt, die sich dahinter bewegte. Wenig später hörte sie ein hölzernes Klacken und die Haustür öffnete sich einen Spaltbreit. Ein kleiner Schatten lugte daraus hervor und beobachtete, wie der Fahrer den Koffer mit einem hässlich knirschenden Rums in den Kies schmiss.

Skadi versuchte zu erkennen, wer sich dort versteckte. Aber in der Dämmerung war es immer noch zu dunkel dafür.

Gerade wollte sie ihren Rucksack am Henkel fassen, als der Typ ihn packte und sich, ohne Skadi eines Blickes zu würdigen, damit auf den Weg in Richtung der Villa machte. Sie beschloss, sich nicht weiter wegen jemandem aufzuregen, den sie in fünf Minuten sowieso los war. Was in diesem Haus auf sie wartete, war schon beunruhigend genug.

»Guten Morgen, Drake«, tönte es vom Eingang aus. Eine kleine, rundliche Dame mit schwarzem Haar blickte freundlich von der Veranda aus in ihre Richtung. Sie trug ein schwarzes Kostüm und eine Schürze. »Herzlich Willkommen, Miss. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.« Ihre sonore Stimme und das ehrliche Lächeln, das ihr tiefe Furchen um die Augen grub, fühlten sich an wie ein wärmender Kakao nach einer Wanderung durch die Antarktis.

Skadi lächelte zurück. »Danke. Es … ging«, antwortete sie.

»Drake! Was mach ich nur mit dir?«, rief sie mit unüberhörbarem mexikanischem Akzent in Richtung des Unsympathen und blickte ihn dabei gespielt streng an. »Du kannst die junge Dame doch nicht gleich am ersten Tag verschrecken.«

»Hallo Renata.« Ein winziges Lächeln kam ihm über die Lippen. Er trug Skadis Koffer über die Stufen auf die Veranda und sie folgte ihm.

»Ich bin Renata, die Hausdame der Familie Beltrán«. Sie streckte Skadi die Hand hin und lächelte sie weiter gutmütig an.

»Ich bin Skadi Frey«, antwortete sie und schüttelte Renatas Hand. Die Hausdame war ihr sofort sympathisch.

»Skadi. Ein ungewöhnlich schöner Name! Ärgere dich nicht über das Verhalten dieses Bengels«, flüsterte sie verschwörerisch. »Ich weiß, wie er sein kann.«

Skadi bemühte sich zu schmunzeln. Aber das Restlachen, das sie sich trotz der ganzen absurden Texas-Sache für Notfälle bewahrt hatte, war ihr dank diesem seltsamen Drake endgültig vergangen.

»Ich bin dann wieder weg, Renata.« Er hatte bereits den halben Weg zum Auto zurückgelegt.

»Pass auf dich auf, Junge.« Renata winkte ihm hinterher, obwohl er den Frauen bereits den Rücken zuwandte.

Erleichtert atmete Skadi aus. Drake blieb offensichtlich nicht hier im Haus.

»Nun komm erst mal rein, Kleine. Du brauchst jetzt auf alle Fälle eine Stärkung nach der anstrengenden Reise.«

Renata meinte es zu gut mit Skadi. Zu Kaffee und Weißbrot gab es neben Rührei mit Bacon auch noch Pancakes. Dabei hatte Skadi nicht den geringsten Appetit. Sie würde schließlich gleich die Menschen kennenlernen, unter deren Dach sie das nächste Jahr überleben musste.

»Die Señora kommt meist um sieben herunter«, plapperte Renata. »Die Kleinen schlafen in der Regel bis acht. So ruhig wie jetzt gerade ist es dann den ganzen Tag nicht mehr.«

Skadi sah sich in der weitläufigen Küche um. Die Einbauschränke waren in die Wand eingelassen und besaßen keine Griffe an den mattschwarzen Türen. Man nahm sie kaum als Schränke wahr, da sie so tadellos aussahen, als würden sie nie geöffnet werden. Hätte Renata nicht soeben ein üppiges Frühstück zubereitet, hätte man meinen können, diese Küche wäre nur zum Anschauen. Die steinerne Arbeitsplatte war auf Hochglanz poliert. Nur auf der Kücheninsel standen Pfanne, Rührschüssel und Öl, mit denen Renata gerade gearbeitet hatte.

Während Skadi versuchte, aus Höflichkeit zumindest einen Bruchteil des Essens, das vor ihr stand, hinunterzuwürgen, war die Küchenfee bereits eifrig damit beschäftigt, das Kochgeschirr zu beseitigen und alles sauber zu zaubern. In der Mitte des Tisches aus massivem Eichenholz, an dem Skadi saß, war eine schmale Steinplatte befestigt. Der asymmetrische Unterbau aus schwarzem Metall glich eher einem Kunstwerk als Tischbeinen. Ringsum standen gepolsterte Drehstühle aus grünem und braunem Leder.

Skadi dachte an die gemütliche Sitzecke neben der Küche in ihrem Elternhaus. Sie hatte ihre Familie nie für reich gehalten. Mittelständisch halt. Ihr Vater besaß ein Transportunternehmen, das ihnen ein solides Einkommen bescherte. Sie konnten sich alles leisten, was sie brauchten, und vieles, das sie wollten. Aber verglichen mit dem hier, waren sie Sozialfälle.

Obwohl die Villa sehr alt zu sein schien, war nichts abgewohnt. Das Mobiliar war nicht nur hochwertig, sondern teilweise auch nagelneu. Moderne Stücke waren auf die gepflegten alten Räume abgestimmt. Und diese waren klimatisiert, wie Skadi gleich beim Eintreten erleichtert festgesellt hatte. Bisher hatte sie nur die Küche und die Eingangshalle gesehen, aber schon jetzt war offensichtlich, dass Geld bei Familie Beltrán keine Rolle spielte. Oder die Hauptrolle, wie man’s nahm.

Das Treppenhaus hinter dem Eingangsportal war in einem noch älteren Zustand – aber die kostbare Version von alt. Wände aus Stein und antike Möbel rahmten die Halle im Erdgeschoss ein. Eine breite Treppe aus hellem Marmor führte ins Obergeschoss.

Überall standen Vasen mit frischen Blumenbouquets. Schon beim Eintreten ins Haus hatte Skadi den üppigen Duft in sich aufgesaugt, der von Sommer und Sonne erzählte.

In der Küche dominierte der Geruch nach neuen Möbeln, obwohl Renata gerade allerhand Fettiges gebraten hatte. Der Dunstabzug inmitten des Kochfeldes hatte am Ende sogar die Bacon-Rauchwolken geruchlos in seinen Schlund gesaugt.

Als um sieben Uhr fünfzehn die Tür aufging, war auf der Anrichte keine Spur mehr vom Frühstück zu sehen. Auch Skadis Teller und all das Essen, das sie nicht angerührt hatte, waren irgendwo in der Versenkung verschwunden, ohne dass sie hätte sagen können, wohin. Nur eine appetitlich angerichtete Früchte-Bowl mit Joghurt auf dem Sitzplatz ihr gegenüber deutete darauf hin, dass in diesem Raum für gewöhnlich gegessen wurde.

»Guten Morgen, Señora Beltrán«, sagte Renata und eilte geschäftig mit einer Tasse Kaffee in der Hand Richtung Tisch.

Bevor Skadi ihre zukünftige Chefin sah, hörte sie ihre Pumps auf den Holzdielen klappern. Zögerlich drehte sie sich um. Das Foto von Mary, das sie im Internet gefunden hatte, war nur ein fader Remix dessen gewesen, was in der Realität eine meisterhafte Komposition war. Ihre Erscheinung erfüllte den ganzen Raum, als sie eintrat. Sie war groß und sehr schlank. Das cremefarbene, knielange Kleid, das sie trug, war ziemlich eng und betonte zusätzlich ihre tolle Figur. Skadi errötete. Seit mehr als 24 Stunden hatte sie nicht mehr geduscht. Der Ansatz ihrer langen dunkelblonden Haare musste schon fettig sein von den erwarteten und unerwarteten Turbulenzen der langen Anreise. Sie wusste es nicht, denn sie hatte sich seit dem Toilettengang am Münchner Flughafen nicht mehr im Spiegel angeschaut.

Was sie wusste, war, dass sie neben dieser Lady lächerlich aussah. Ihr grauer Hoodie hatte einen Spongebob-Aufdruck und war schon etwas fusselig. Ihre hellblaue Mom-Jeans fand sie eigentlich ganz ok. Doch Mrs Beltrán fixierte den großen Riss am Knie, als Skadi vom Tisch aufstand, um ihr die Hand zu reichen.

»Guten Morgen allerseits«, sagte Mary Beltrán. »Sie müssen Skadi sein.«

Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie Richtung Tisch. Als sie näherkam, fiel Skadi ihr perfekt geschminktes Gesicht auf, das kaum Falten hatte und verdammt sicher auch ohne den auffälligen Lippenstift und die dunkel betonten Augen atemberaubend ausgesehen hätte. Ihr braunes Haar trug sie in einem geglätteten schulterlangen Bob. »Ich bin Mary Beltrán.«

Die schlanke, manikürte Hand fühlte sich so knochig und kalt an, dass Skadi zusammenzuckte. Irritiert blickte Mrs Beltrán sie an.

»Guten Tag«, erwiderte Skadi und schaute zu ihr auf. Mary Beltrán war fast einen Kopf größer als sie selbst, sodass sie sich neben der Schönheit vom Format einer altgriechischen Göttin winzig vorkam.

Sie zwang sich, ihrem Blick standzuhalten, obwohl sie eigentlich Augenkontakt mied. Schon lange. Aber sie wollte sich nicht schon am ersten Tag blamieren. Schließlich sollte diese Frau Skadi ihre Kinder anvertrauen.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte sich Mrs Beltrán bereits abgewandt, um Renata einige Anweisungen zu geben.

Mit einem dumpfen Klopfen im Brustkorb lauschte Skadi der Unterhaltung. Ihre Finger fingen wie von selbst an, sich zu kneten. Diese Frau schien nicht gerade zimperlich mit ihren Angestellten umzugehen. Renata sollte das Abendessen, das sie für die Familie geplant hatte, streichen.

»Ich hasse Kapern. Das sollten Sie inzwischen wissen«, sagte Mrs Beltrán in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Außerdem hatte Renata vergessen, ein Kleid zu bügeln, das die Hausherrin an diesem Abend tragen wollte. »Hätte ich das Kleid nicht gerade zufällig hängen sehen, hätten wir heute Abend ein Problem. Ich hoffe doch sehr, dass das nicht mehr vorkommt. Tragen Sie sich in Zukunft meine Anordnungen in einen Terminplan ein, wenn es sein muss«, fauchte sie.

»Ja, Señora«, antwortete Renata leise und mit gesenktem Kopf.

»Und nun zu Ihnen«, fuhr Mrs Beltrán fort und drehte sich um.

Automatisch bog Skadi den Rücken durch und hielt die Luft an.

»Entschuldigen Sie. Jetzt habe ich Zeit für Sie«, sagte sie in einem völlig veränderten, weichen Tonfall und lächelte Skadi dabei an. Nur erreichte das Lächeln ihre Augen nicht. Es sah so gekünstelt aus, dass es die bildhübsche Frau entstellte. »Können Sie jetzt gleich anfangen?«

Als Skadi sie verdutzt ansah, fügte sie hinzu: »Ich weiß, Sie hätten sich an Ihrem ersten Tag sicher erst mit dem Haus und dem Lehrplan der Kinder vertraut machen wollen. Aber ich bin gewissermaßen …« Sie schien nach den passenden Worten zu suchen. »In einer Zwickmühle. Sie müssen heute noch nicht mit dem Unterricht beginnen. Ich hatte meinen Töchtern versprochen, dass ich den Tag mit ihnen am See verbringe. Aber ein Geschäftstermin hat sich unvorhergesehen nach vorne verschoben.«

»Ähm, ja?«, krächzte Skadi.

»Fein!«, flötete die Hausherrin und wandte sich bereits zum Gehen.

»Zeigen Sie ihr die Zimmer der Mädchen, Renata. Sie wird mit ihnen klarkommen. Und entschuldigen Sie mich bei Lucida und Nerea.«

»Wollen Sie nichts essen, Señora?«

»Nein. Ich bin gegen Abend zurück.«

»In Ordnung, Señora.« Renata senkte den Kopf, als Mary an ihr vorbeistöckelte.

Fehlte nur noch die Verbeugung.

Würde Skadi sich in ein paar Wochen auch derart in den Staub werfen vor diesen Leuten? Nein, auf keinen Fall. Zugegeben, sie war aktuell nicht gerade der Inbegriff von Selbstbewusstsein, aber keiner konnte sie zwingen, hierzubleiben. Sie brauchte diesen Job nicht so wie Renata. Im Grunde wollte sie ihn nicht mal.

Als hätte das Dienstmädchen ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Die Señora ist ein guter Boss. Manchmal ist sie leicht reizbar, aber sie hat sehr viel zu tun. Sehr viel Verantwortung. Sie muss sich einfach auf ihre Angestellten verlassen können.«

Ob sie das zu sich selbst sagte, um zu rechtfertigen, wie sie sich behandeln ließ? Skadi empfand Mitleid mit dieser guten Seele, die kein schlechtes Wort über ihre Chefin verlor, egal, wie man mit ihr umsprang. Sie konnte nichts darauf antworten. Am wenigsten wollte sie Renata verletzen.

»Wollen Sie die Mädchen kennenlernen?«, fragte die Hausdame aufgekratzt. Jetzt leuchteten ihre Augen wieder.

Skadi musste schlucken, nickte aber. Nun würde sie die beiden treffen, wegen denen sie überhaupt hier war. Und mit denen sie künftig ihre Tage verbringen musste.

4

Als Renata und Skadi die Galerie im oberen Stockwerk erreichten und sich nach rechts in einen langen Flur wandten, kam Skadi sich vor wie in einem Adventskalender. Links und rechts folgte ein Türchen dem nächsten. Was tat eine vierköpfige Familie mit all diesen Räumen? Und den gegenüberliegenden Trakt gab es ja auch noch.

Vor einer der letzten Türen blieb Renata stehen und drehte sich schmunzelnd zu Skadi um. Aus dem Zimmer waren leise Stimmen zu hören.

»Nerea ist schon wach«, flüsterte sie, als könnte das Mädchen hinter der schweren Holztür sie hören.

Skadi hatte Herzklopfen. Sie fühlte sich wie die Reinkarnation von Fräulein Rottenmeier in »Heidi«, fehlten nur noch der Dutt und die Brille auf der Nase. Ob sie die beiden Mädchen halbwegs mögen würde? Mit Heidi und Klara würde sie klarkommen. Aber die würde sie da drin vermutlich nicht antreffen. Schließlich war Mary Beltrán auch nicht der Almöhi. Wenn sie es mit zwei schwer erziehbaren Mini-Diven zu tun bekam, würde sie das hier nicht überstehen. Sicher, sie könnte einfach abbrechen. Aber nicht nach Hause fahren. Ein Zurück in ihr altes Leben gab es nicht, das hatte ihr Vater Skadi deutlich gemacht. Er wollte das alles nicht länger mitansehen, hatte er gesagt.

Skadi hatte Grundschullehramt studiert, an einer kleinen Uni eine gute Autostunde von ihrem Zuhause im Chiemgau entfernt. Dafür umzuziehen, war nie der Plan gewesen. Es hatte problemlos funktioniert, die Kurse so zu wählen, dass sie nur selten zur Uni hatte fahren müssen. Nur das war ihr wichtig gewesen bei der Wahl ihres Studienfachs. Das Studium war die perfekte Tarnung gewesen. Keiner war ihr mehr mit Ratschlägen auf die Nerven gegangen. Es hatte so gewirkt, als wäre sie wieder normal geworden.

Nach dem Examen im vergangenen Herbst wäre der nächste logische Schritt das Referendariat gewesen. Aber sie hatte die Bewerbungsunterlagen nie abgeschickt. Sie wollte gar keine Lehrerin sein. Lockte man Kinder bei der Einschulung noch mit Schokolade und Bonbons, kam bald die Ernüchterung, wenn die Schüsseln mit bitterem Zahlensalat täglich neu gefüllt wurden.

Anfangs hatte ihr Vater es geduldet, dass Skadi immer zu Hause gewesen war. Jeden Tag hatte sie eine warme Mahlzeit auf den Tisch gebracht, um ihn milde zu stimmen. Außerdem hatte er die Putzfrau entlassen können und das Haus war trotzdem stets blitzeblank gewesen. Und an zwei Vormittagen die Woche hatte Skadi in der Firma ausgeholfen. Eigentlich hatte alles gepasst. Bis er im Februar zum ersten Mal den Namen Beltrán erwähnt hatte.

»Wozu hast du Englisch im Hauptfach studiert, wenn du nicht mal in die Welt raus gehst?«, hatte er argumentiert.

Seine Firma war einer der Logistik-Partner der Beltrán-Holding für deren Europa-Geschäfte. Dass die Familie eine Nanny suchte, die den Beltrán-Töchtern Deutsch beibringen sollte, hatte er von einem der Geschäftsführer erfahren. Die Mädchen gingen auf eine angesehene private Elementary School, an der ab der ersten Klasse Deutsch gelehrt wurde. Der kleineren Tochter fiel es schwer, im Unterricht mitzuhalten. Da war es ihrer Mutter Mary sehr gelegen gekommen, dass Skadis Vater ihr eine ausgebildete Lehrerin vermitteln konnte.

Der Job war auf ein Jahr befristet. Dann würde die eigentliche Nanny aus der Elternzeit zurückkehren. Skadi war aus allen Wolken gefallen, als ihr Vater davon angefangen hatte, und hatte ihm den Vogel gezeigt.

Er wusste genau, warum sie nicht von zu Hause weg wollte. Aber er hatte nicht nachgegeben. Als sie nach tagelangem Drängen immer noch nicht zugesagt hatte, hatte er das für sie erledigt.

Einen einzigen Vorteil hatte die Anstellung in Texas: Da waren zwei Persönchen, die Skadis Hilfe brauchten. Es war einfacher, sich um andere zu kümmern als um sich selbst.

Renata hatte die Hand schon auf der Türklinke. Jetzt gab es also kein Zurück mehr. Und das verschlug Skadi den Atem.

Der Raum, in den sie eintraten, war kein Kinderzimmer, sondern ein Zoogehege. Skadi hatte einen Albtraum aus rosa Zuckerwatte erwartet. Aber nicht das.

Hoch oben in dem zweistöckigen Saal befand sich eine Himmeldecke, die mit blauen Stoffbahnen und flauschigen Wolken abgehängt war. Eingerahmt war alles mit langen Trögen voller Palmen und Farnen, die zwar bei genauerer Betrachtung nicht echt waren, der Wirklichkeit aber ziemlich nahekamen. Sie entdeckte einen Plüschgorilla, der an einer Liane hing. In den künstlichen Baumwipfeln saßen große und kleine Stoffvögel in orange, rot und pink.

Der Boden war mit einem weichen Rasenteppich ausgelegt, auf dem sich ein lebensgroßer Kuscheltiger ausstreckte. In der Mitte des Teppichs führte ein verschlungener Weg aus glitzernden Mosaikfliesen zu einem Baumhaus.

Das asymmetrische Holzhäuschen war an einem dicken Baumstamm befestigt, der bis in die Stoffwolken ragte. Die Fensteröffnungen waren mit Farnen und Tarnnetzen verkleidet. Um ein Balkongeländer wand sich eine gelbe Schlange. Lianen führten zum Boden und es gab auch eine grüne Wendelrutsche.

Erst auf den zweiten Blick fiel Skadi das hinter grünen Vorhängen versteckte Himmelbett unter dem Baumhaus auf. Der seidene Stoff war überall mit winzigen leuchtenden Sternen-Spots versehen. Die Geräusche, die sie vor der Tür gehört hatten, kamen aus einer kleinen pinken Soundanlage, die auf einem Nachttisch in Steinoptik stand. Skadi verstand nicht richtig, worum es ging. Aber sie hörte zwischen den Dialogen immer wieder Laute heraus, die sich wie das Schnattern von Delphinen anhörten. Eingekuschelt zwischen getigerten und gepunkteten Decken bemerkte sie ein kleines Wesen, das seinen weißen Fellhasen an die Wange drückte, während es Skadi interessiert musterte. Prompt kam der Hase auch schon in Skadis Richtung geflogen. Sie konnte ihn im letzten Moment fangen.

»Nerea!«, mahnte Renata mit spitzer Stimme.

»Gut gemacht!«, kicherte das kleine Wesen und richtete den Blick auf das Fellknäuel in Skadis Händen.

»Das hier ist …«

»Die neue Nanny«, unterbrach das Mädchen die Haushälterin in altklugem Tonfall.

»Ähm, ja.« Renata räusperte sich. »Ihr Name ist Skadi. Sie wollte euch beide gleich kennenlernen.«

Skadi kam näher ans Bett und lächelte Nerea an.

Die Kleine blickte erwartungsvoll zurück. Nicht herausfordernd. Aber erst recht nicht schüchtern.

»Skadi«, wiederholte sie langsam. »Kannst du einen Salto machen?«

»Einen Salto?«, wiederholte Skadi verdutzt.

»Ich will endlich mal eine Nanny, die was Cooles kann. Patricia kann nur dasitzen und reden. Und Hausaufgaben kontrollieren.« Nerea blickte grübelnd zur Himmeldecke. »Und dasitzen und nicht reden kann sie auch.« Nereas große braune Augen leuchteten. Sie war bildhübsch mit ihren langen braunen Locken und der bronzefarbenen Haut.

»Ich kann zwar keinen Salto. Aber ich kann ein Rad schlagen.« Zumindest konnte ich’s mal. »Wenn du willst, bring ich’s dir bei. Hast du nachher Lust?«

»Sicher!« Die Kleine klatschte in die Hände, schlug die Bettdecke zurück und rannte ins nächste Zimmer.

»Was soll ich heute anziehen?«, tönte es aus dem Raum.

»Ähm, ich weiß nicht?!« Hilfesuchend wandte Skadi sich an die Hausdame.

»Such ihr einfach etwas heraus, Liebes«, flüsterte Renata schmunzelnd. »Sie ist nicht wählerisch und hat eine Unmenge schöner Kleider. Das da drüben ist ihr Kleiderschrank. Daneben ist ihr Kinderbad. Kannst du ihr beim Waschen helfen? Ich wecke inzwischen Lucida. Sie braucht immer ein paar Minuten, bis sie Unbekannten gegenüber auftaut. Ich muss sie erst vorwarnen, dass du da bist.«

»Ist gut. Ich werd’s versuchen.«

Nerea war niedlich. Fräulein Rottenmeier wäre hier fehl am Platz gewesen. Möglicherweise konnte Skadi stattdessen ein wenig Mary Poppins aus sich herauskitzeln. Sie schöpfte neue Hoffnung: Das hier konnte funktionieren. Wenn nichts dazwischenkam. Oder jemand.

Bisher war die Hälfte der Menschen, die sie getroffen hatte, merkwürdig gewesen. Kein guter Schnitt. Wenn jemand merkwürdiger als sie selbst war, musste das was heißen. Aber die Hauptrolle in Skadis Leben würden die Mädchen spielen. Ihre Mutter würde sie tagsüber nicht allzu oft sehen. Und den Wikinger von heute Morgen mit etwas Glück nie wieder.

Nereas Ankleide war so groß wie das Wohnzimmer in Skadis Elternhaus. Alle Wände waren voller Ablagen, Stangen und Schubladen, die bis zur Decke reichten. Sie alle waren prall gefüllt. Der Boden war mit hellem weichem Teppich ausgelegt.

»Auf was hättest du denn heute Lust?«, fragte Skadi.

Die Kleider und Oberteile waren nach Farben geordnet. Doch knallige Töne suchte man hier vergebens. Der Übergang von einem Pastellshirt zum nächsten Teil in gedeckten Farben war fließend. An der gegenüberliegenden Wand lagen in sauberen Stapeln Jeans, Stoffhosen und Shorts.

Nerea stand ratlos in der Mitte des Zimmers. »Ich mag gerne bunt«, sagte sie.

Dürfte schwierig werden. »Lass mal sehen. Es wird sicher sehr warm, wenn eure Mom mit euch baden gehen wollte.« Unter den Kleidern war neben 50 Shades of White wenig zu entdecken. Wer kaufte einem Kind fünfundzwanzig verschiedene weiße Kleider? Skadi kramte die Shorts durch. »Nehmen wir die kurze hellblaue Jeans und dieses, ähm, gelb … beige Shirt? Okay?« Das Oberteil hatte kurze, flatternde Seidenärmel und ein Blumenmuster auf der Vorderseite.

»Ist gut.«

Während Nerea sich anzog, warf Skadi einen Blick in ihr Badezimmer. Am Boden glänzten großformatige graue Fliesen. Von der Tür aus konnte sie einen dunklen Waschtisch erkennen, auf dem eine steinerne Waschschüssel thronte. Sonst sah sie nur noch die Hälfte einer freistehenden Wanne.

Kinderbad hatte Renata das genannt. Der Raum musste riesig sein, wenn sich darin auch noch eine Dusche und eine Toilette befanden. Aber kindgerecht wirkte das alles nicht, von der Höhe des Waschtisches mal abgesehen.

»Wann kommt Mama eigentlich?«

Skadi wandte sich wieder Nerea zu, die inzwischen fertig angezogen war.

»Deine Mama meinte, sie kommt abends wieder.«

»Aber …« Nerea schnaubte. »Sie wollte heute mit uns schwimmen gehen. Nie hält sie sich an Versprechen.«

Hilflos versuchte sich Skadi an einem entschuldigenden Lächeln. Darauf seufzte das Mädchen langgezogen und schlurfte an ihr vorbei ins Bad.

Doch ihr Regenwetter-Gesicht war schnell verflogen. Noch vor dem Frühstück hüpfte sie wie ein Kobold durchs Haus und zeigte Skadi die wichtigsten Räume – allen voran das Spielzimmer im Erdgeschoss, das Fernsehzimmer und den Tanzsaal. Die Kleine tanzte in der Schule Hip-Hop und führte stolz einige Schritte vor, die sie zuletzt einstudiert hatte.

Lucida reagierte zurückhaltender. Sie war zehn, vier Jahre älter als ihre kleine Schwester. Die beiden sahen sich sehr ähnlich, aber anders als Nerea hatte Lucida keine Locken. Und sie war auch nicht ein solcher Wirbelwind wie Nerea, die mit Skadi umging, als würde sie sie seit Ewigkeiten kennen. Luci – wie ihre jüngere Schwester sie nannte – tat, was man ihr sagte, und antwortete, wenn man sie fragte. Sie erinnerte Skadi sehr an sich selbst.

Früher war Skadi eine Nerea gewesen. Nie hatte ein Abenteuer zu groß oder ihre Klappe zu laut sein können. Mit vierzehn hatte sie sich dann verändert. Und ihre Freunde wollten sich nicht mehr mit dem Mädchen abgeben, das nie lächelte, selten sprach und kaum das Haus verließ.

Erst im vorletzten Schuljahr hatte Skadi sich wieder mit jemandem angefreundet. Mia. Eines Tages hatte sie sich auf den jahrelang freien Platz neben ihr gesetzt. Mia war zu ihrem persönlichen Bumerang geworden, der immer wiedergekommen war, egal, wie weit sie ihn weggeschleudert hatte. Nie hatte Mia blöde Fragen gestellt. Stattdessen war sie lebenslustig, laut und vergnügungssüchtig gewesen. In ihrem Leben war kein Platz für Skadis Drama gewesen. Sie hatte ausreichend mit sich selbst und ihren Jungs-Geschichten zu tun gehabt. Keiner hatte verstanden, warum Mia sich mit ihr abgegeben hatte – nicht mal Skadi selbst.

»Du bist gar nicht so eingebildet, wie ich dachte«, hatte Mia einmal gesagt.

»Eingebildet?« Skadi hatte sie ausgelacht. »Auf was sollte ich mir was einbilden?«

Die Leute hatten alle möglichen Theorien gefunden, warum sie nicht mehr wie früher war. Manche hatten die Wahrheit geahnt. Aber keiner hatte es mit Sicherheit gewusst. Dafür hatten die Freys gesorgt.

Es gab gute Gründe, wenn jemand sich nicht öffnen wollte. Gründe, die niemand kannte. Das wusste Skadi besser als jeder andere. Also drängte sie Lucida nicht.

5

Am späten Vormittag sollten die drei von Mary Beltráns Fahrer zum See gebracht werden. Mit Renatas Hilfe packte Skadi die Sachen der Mädchen zusammen und hatte gerade noch Zeit, einen Bikini und ein Handtuch aus dem Koffer zu kramen, als es draußen hupte.

Bitte lieber Gott, mach, dass es nicht der Wikinger ist!

Vorsichtig schob sie die Seidengardine zurück und spähte aus dem Fenster. Ein glänzender weißer Mercedes parkte in der Auffahrt. Davor stand ein rasierter und frisierter Mann im Anzug.

Erleichtert griff Skadi Nereas Hand und machte sich mit ihren beiden Schützlingen auf den Weg nach draußen.

»Ich habe euch ein Picknick vorbereitet«, rief Renata ihnen hinterher, als sie schon auf halbem Weg zum Auto waren. »Kannst du das sicher verstauen, Hugo?«

»Guten Morgen, Señoritas«, sagte der Mann und griff nach den Badetaschen. Er hielt die Tür auf, damit die Mädchen auf den Rücksitz klettern konnten. Währenddessen stellte Renata Skadi als die neue Nanny vor, was Hugo mit einem seltsamen Lächeln quittierte. War es Mitgefühl, das Skadi darin lesen konnte?

Während der etwa halbstündigen Fahrt zum See konnte sie den Blick nicht von der Landschaft abwenden. Sie beugte sich vor, um zu den Seitenfenstern hinausschauen zu können. Das da draußen war so anders als das, was sie von der Welt kannte. Abgesehen davon, dass ihr bisheriger Radius ungefähr so groß war wie der eines querschnittgelähmten Frosches. Für ihren Vater war Urlaub schon immer ein Fremdwort gewesen. Früher war sie mit ihrer Mutter alle paar Jahre mal in Norwegen gewesen. Und von einem Verwandtenbesuch zum nächsten gerannt.

Texas im Frühling war grüner, als Google Skadi hatte weismachen wollen. Die Landschaft hinter Christiana hatte auf den Bildern staubig und unwirtlich gewirkt. Nur die vielen niedrigen Buschgewächse hatten auf den Sommerfotos eine geschlossene Grünfläche gebildet.

Doch derzeit wuchsen hier Unmengen gelber und blauer Blumen auf einer satten Grasdecke. Bald würde sich vermutlich kaum mehr ein Halm auf dem trockenen Boden halten. Doch bis dahin bestaunte Skadi die atemberaubende Verwandlung, die dieses Gebiet im Frühling durchmachen musste. Hill Country. So hieß die Region, zu der Christiana gehörte. Das passte angesichts der vielen Anhöhen, die aus hellem, kantigem Gestein geformt waren. Auf ihnen konnten sich sogar vereinzelt Bäume halten. Zwar zeugten die zerklüfteten Stämme von einem Leben voller Entbehrungen und auch die Blätter- und Nadeldächer waren ziemlich löchrig. Doch bedurfte es schon einiger Kraftanstrengung, um auf dem Steingeröll überhaupt gedeihen zu können.

Je näher sie dem Plinpool-See kamen, desto vielfältiger wurde die Vegetation. Alle paar Meter standen Gruppen aus Eichen am Straßenrand und verdichteten sich schließlich zu einem richtigen Wald, dem der dünne Unterwelt-Laubwald rings um das Beltrán-Areal nicht das Wasser reichen konnte.

Skadi hatte als Mädchen davon geträumt, die Ostküste zu bereisen. New York. Boston. Das war für sie als Teenager das große Wow gewesen. Texas wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Doch das Vokabular, mit dem sie ihrem Vater versucht hatte zu verdeutlichen, was sie von Texas hielt, war wohl doch etwas überzogen gewesen.

Früher hatte er ihre Begeisterung für die USA eine fixe Idee genannt. »Dort gibt es nichts als Größenwahnsinnige und Kriminelle«, hatte er sie ausgelacht. Als er von ihrem Cortland-Stipendium gehört hatte, war sein Kopf dunkelrot angelaufen. Doch nachdem Skadi das von Mama erfahren hatte, waren alle Auslandspläne geplatzt und sie hatte auch nie wieder mit ihrem Vater darüber gesprochen.

Bis zu diesem Tag im Februar, als er aus der Firma nach Hause gekommen war. Seit einer Ewigkeit hatte sie ihn nicht mehr so aufgekratzt erlebt wie in dem Moment, als er ihr von dem Job bei Mary Beltrán erzählt hatte.

Kurz blickte Skadi zu den Mädchen. Sie waren gerade genauso still wie sie. Nicht einmal die quirlige Nerea sagte etwas. Während Skadi das Land um sich herum scannte wie einen kryptischen Code, machten die Kinder das Gleiche mit ihr.

»Du bist hübsch.« Das kam nicht von Nerea, sondern von Lucida. Ihre Wangen röteten sich, als Skadi sie anlächelte.

»Du bist auch sehr hübsch«, antwortete sie. »Und du natürlich auch«, fügte sie mit Blick auf Nerea hinzu.

»Wo kommst du eigentlich her?«, fragte Lucida.

»Aus Deutschland.« Die Kinder schauten erwartungsvoll. »Dort kann man jetzt nicht in kurzen Kleidern rumlaufen.«

»Bist du deshalb zu uns gekommen, weil es hier wärmer ist?«

Skadi musste lachen. »Nein. Ich bin gekommen, weil … ich euch beide kennenlernen wollte. Eure Mom hat jemanden gesucht, der auf euch aufpasst und mit euch lernt.«

Obwohl sie nur eine Schreibtisch-Mary-Poppins war, fiel es ihr leicht, mit den Mädchen zu plaudern. Sie hatte keinerlei Praxis mit Kindern. Und was noch schlimmer war: Sie hatte keinerlei Praxis im Führen einer Unterhaltung. Aber vielleicht war Reden ja wie Fahrradfahren.

»Du hast Glück, dass du zu uns gekommen bist«, sagte Nerea. »Mit uns wirst du sicher mehr Spaß haben als zu Hause.«

Das ist nicht schwer.

»Hast du keine Kinder?«, fragte Lucida weiter.

»Nein.«

»Und einen Freund?«

»Du bist aber neugierig.«

»Ich bin sicher, sie hat keinen Freund, Luci«, mischte sich Nerea ein. »Sonst wäre sie sicher nicht hergekommen.«

Skadi presste die Lippen zusammen.

»Wie alt bist du?«, fragte Nerea.

»Ich bin 24.«

»Du bist noch nicht sooo alt. Nur ein bisschen alt«, kicherte sie.

»Unser Bruder ist fast genauso alt. Er ist 23«, sagte Lucida.

»Ihr habt einen Bruder?«

»Señoritas, wir sind da«, unterbrach Hugo.

Er stellte den Wagen ab und öffnete die Tür. Vor ihnen lag ein steiler Abhang. Dieser war mit jungen Bäumen bewachsen, die von stacheligen Sträuchern bewacht wurden. Weiter unten, viel weiter unten, erstreckte sich das Blau.

Die Mädchen stiegen aus, aber Skadi verstand nicht. Sie parkten vor einer Leitplanke.

»Was jetzt?«, fragte sie in die Runde.

Die Schwestern kicherten.

»Komm!« Nerea fasste Skadi bei der Hand und kletterte über die Leitplanke.

»Warte! Unsere Sachen!«, rief Skadi.

Sie wandte sich zu Hugo um. Der war dabei, alles auszuladen.

»Nur zu, Miss. Ich folge Ihnen«, rief er.

Skadi hatte keine Zeit zu protestieren, denn Nerea zog sie so fest am Arm, dass sie Skadi über die Leitplanke zwang.

Erst jetzt fiel ihr der schmale Trampelpfad auf, der den Höllenhang hinabführte. Sie schnaubte entnervt. Trail-Running hatte sicher nicht in der Jobbeschreibung gestanden. Für eine Downhill-Piste hatte sie genau die richtigen Schuhe gewählt. Sie konnte ihre abgetreten Gummi-Flip-Flops kaum mit den Zehen festhalten, während sie sich in Trippelschritten den staubigen Pfad hinunter quälte. Von Nerea und Lucida war nur noch aus der Ferne ein vergnügtes Quietschen zu hören.

»Soll ich Ihnen helfen, Señorita?«

Skadi nahm aus dem Augenwinkel Hugos zuckende Lippen wahr.

»Nein danke«, murmelte sie hinter zusammengebissenen Zähnen.

Immer wieder trat ihr Fuß neben die Sohle ihrer Schlappen. Der Gummiriemen zog sich dabei in die Länge wie ein Kaugummi. Als Skadi über einen Felsen gleiten wollte, verlor sie das Gleichgewicht und rutschte ohne Schuh in eine Felsspalte. Ein stechender Schmerz schoss ihr ins Knie.

»Scheiße! Auch das noch«, fluchte sie auf Deutsch.