Letzte Zugabe - Dieter Hildebrandt - E-Book

Letzte Zugabe E-Book

Dieter Hildebrandt

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Beschreibung

Das letzte Buch des großen Kabarettisten

Seit Beginn des Jahres 2013 beschäftigte sich Dieter Hildebrandt mit seinem letzten Buch. Anders als gedacht, früher als geplant war mit dem Arbeiten Schluss. Seine nachgelassenen und uns überlassenen Texte liegen nun als Letzte Zugabe vor. Sie zeigen Dieter Hildebrandt als Meister der satirisch-kämpferischen Auseinandersetzung mit den Zeitläuften, als witzigen Kommentator grotesker Vorgänge in unserem Land und als unerbittlichen Aufklärer, der kritisch war, aber auch lustig, ja von ungebremster Freude am Heiteren.

Mit einem Nachwort von Roger Willemsen und den pointierten Zeichnungen von Dieter Hanitzsch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 300

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Dieter Hildebrandt

Letzte Zugabe

Zeichnungenvon Dieter Hanitzsch

Karl Blessing Verlag

1. Auflage

Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert, München

Umschlagfoto: Rudolf Klaffenböck

Die Texte von Erich Kästner zitieren wir mit

freundlicher Genehmigung des Atrium Verlags.

Satz: Buch-Werkstatt, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14083-0

www.blessing-verlag.de

Inhalt

Zu diesem Buch

Rede anlässlich der Verleihung des Erich-Kästner-Preises

Gedankensplitter I

stoersender.tv

Drei Abschiede

Journalismus und Literatur

Aus deutschen Landen

Kirche und Glauben

Internationale Verwicklungen

Höhepunkte im Sport

Gedankensplitter II

Erinnerung an frühere Jahre

Unbeirrbar. Unermüdlich

Zu diesem Buch

Im Frühjahr 2013 rief Dieter Hildebrandt mich an und fragte, ob der Verlag vielleicht an einem Buch von ihm, seinem letzten, interessiert sei. Ich sagte nur, das sei eine erstaunliche Frage. Schließlich kam sein erstes Buch Was bleibt mir übrig 1986 bei Kindler heraus, dessen Chef damals Karl Blessing war. Und alle folgenden Werke erschienen im Karl Blessing Verlag. Ich fügte hinzu, dass Blessing, der ihm bis zu seinem Tod ein guter Freund gewesen war, darüber entzückt wäre. Auch ich, der ich ihn, den bewunderten Autor, seit damals als Lektor begleitet habe, würde mich sehr freuen, dieses Buch mit ihm zu machen. So würde sich der Kreis aufs Schönste schließen.

Nach unserem munteren Gespräch rief Hildebrandt seinen langjährigen Freund Dieter Hanitzsch an – in Zeiten des gemeinsamen Projekts stoersender.tv nannten sie sich HaDi und HiDi –, und dieser zeichnete sofort den hier abgebildeten Coverentwurf zum damals vorgesehenen Titel Kommen Siezum Schluss, Hildebrandt!, und HiDi begann zu schreiben. In der Mitte des Jahres wurde er zunehmend schwächer, das Schreiben fiel ihm schwerer, er blieb aber voller Enthusiasmus, voller Pläne.

Am 20. November 2013 starb Dieter Hildebrandt.

In mehreren Ordnern fand ich neben seinen Skizzen für dieses Buch Texte aus den Jahren 2011 bis 2013, die uns noch einmal den Witz, den Geist, die Ernsthaftigkeit, das Spielerische wie Politisch-Kämpferische dieses bedeutendsten deutschen Satirikers der letzten 50 Jahre zeigen.

Und für Roger Willemsen, Dieter Hildebrandts letzten Bühnenpartner, ihr grandioses, umjubeltes Programm hieß Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! Die Weltgeschichte der Lüge, war es ein Herzensanliegen, ein Nachwort zu schreiben.

So haben wir drei uns zusammengefunden, die Erinnerung an unseren Freund wach und lebendig zu halten.

Rolf Cyriax

München, im März 2014

Rede anlässlich der Verleihung des Erich-Kästner-Preises

Hochgeschätzte Damen und Herren des Dresdner Presseclubs, die als 160-köpfige Jury mich zum Preisträger des Erich-Kästner-Preises erkoren haben, und meine Damen und Herren, die sich diesen Vormittag freigehalten haben, um meinem Laudator Roger Willemsen zuzuhören, und nun gezwungen sind, meine Verteidigungsrede anzuhören.

Mir sind schon eine ganze Reihe von Preisen zugefallen, die, wie Gerhard Polt gesagt hat, unnachsichtig ihre Träger suchen und finden. Dieser Preis hat mich sehr gefreut. Ich danke Ihnen.

Die Reaktion einiger Kollegen war ungefähr so: »Was kriegst du schon wieder? Was? Den Erich-Kästner-Preis? Ja, schöön. Wieso das denn?«

Mein hochgeehrter Laudator Roger Willemsen hat versucht, in wohltuenden Sätzen die Gründe dafür darzulegen, und hie und da vielleicht etwas übertrieben. Aber gerade dafür danke ich ihm von Herzen. Das ist vielleicht das Einzige, das mich mit meiner Bundeskanzlerin verbindet: »Wir beide können Lob vertragen.«

Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit den Versuch wagen, ihn zu beschämen, indem ich Ihnen, meine Damen und Herren, ganz im Vertrauen mitteile: Einen Mann wie Roger Willemsen hätte ich, als ich in den 50er-Jahren in München in den Geisteswissenschaften herumstudierte, liebend gern als Professor gehabt. Ich hätte meine Doktorarbeit zu Ende gebracht, die ich abbrach, weil ich das peinigende Gefühl bekam, dass ich unwillentlich dauernd von jemandem abschreibe, und wäre etwas Vernünftiges geworden.

Stattdessen hörte ich missmutig Professoren zu, die die Weimarer Republik und das Dritte Reich mühelos überstanden hatten, schrieb Referate über Malte Laurids Brigge, Andreas Gryphius und seinen Horribilicribrifax, nahm an Kolloquien teil, in denen von Ossietzky, Tucholsky, Jacobson oder Erich Kästner nie die Rede war, geschweige denn von Erich Mühsam, Toller oder Feuchtwanger, begann mich zu ärgern, schrieb einige Texte, spielte sie in Laienspielgruppen vor, sofern ich Zeit dafür fand, denn ich musste mein Studium verdienen. Und da hatte ich das unverschämte Glück, einen Freund zu finden, der einen Fuß in die Tür meines angebeteten Theaters, nämlich der Kammerspiele, gebracht hatte und in diesem Haus eine Blitzkarriere startete – und das war August Everding. Ich wurde da nichts, aber reingelassen, wenn ich wollte.

Eines Vormittags, es war im November 1954, hielt Erich Kästner anlässlich des Gedankens an die Frauen und Männer des deutschen Widerstands eine Rede über die deutsche Vergesslichkeit. Unten, in den ersten Reihen des Theaters, saßen alle wiedergekehrten Emigranten, saßen Kortner, Hollaender und sein bester Freund Hermann Kesten. Kästner hat an diesem Morgen eine Rede gehalten, die meine Ohren für die Politik dieser neuen Republik weit geöffnet hat. Sie war eine der Ursachen, die mich bewogen haben, alle anderen Ziele aufzugeben und einen Platz zu finden, an dem ich meine Gedanken äußern könnte. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich einen Teil der Rede zitieren.

Von der deutschen Vergesslichkeit

Als Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Soldatenkönig, eben jener Hohenzoller, der den Sohn und präsumptiven Nachfolger beinahe hätte hinrichten lassen, ein Regiment inspizierte, schlug er, aus geringem Anlass, einen Major mit dem Krückstock. Daraufhin zog der Major, angesichts der Truppe, die Pistole und schoss, knapp am König vorbeizielend, in den Sand.

»Diese Kugel«, rief er, »galt Ihro Majestät.«

Dann jagte er sich, unter Anlegen der bewaffneten Hand an die Kopfbedeckung, die zweite Kugel in die eigene Schläfe.

Es lohnte sich nicht, diese kleine Geschichte zu erzählen, wenn es in unserer großen Geschichte viele ihresgleichen gäbe. Aber es ist eine verzweifelt einsame, eine zum Verzweifeln einsame kleine deutsche Geschichte.

Wir stehen vor jeder Autorität stramm. Auch vor dem Größenwahn, auch vor der Brutalität, auch vor der Dummheit – es genügt, dass sie sich Autorität anmaßen. Unser Gehorsam wird blind. Unser Gehorsam wird taub. Und unser Mund ruft: »Zu Befehl!« Noch im Abgrund reißen wir die Hacken zusammen und schmettern: »Befehl ausgeführt!« Wir haben gehorcht und sind es nicht gewesen. Und Courage blieb ein Fremdwort. Die Frauen und Männer des deutschen Widerstands haben versucht, haben wieder versucht, dieses Wort einzudeutschen. Sie setzten Ehre und Leben aufs Spiel, und sie verloren beides. Ihr Leben konnte man ihnen durch kein Wiedergutmachungsverfahren rückvergüten.

Stellen Sie sich vor, man hätte es gekonnt. Stellen Sie sich die allgemeine und die amtliche Ratlosigkeit nur vor. Diese Frauen und Männer als Heimkehrer aus dem Jenseits mitten unter uns! Welch ein Drama. Was für eine deutsche Tragikomödie.

Sie opferten Leben und Ehre. Hat man ihnen wenigstens ihre Ehre wiedergegeben? Nicht ihre Offiziersehre, nicht ihre Pastorenehre, nicht ihre Gewerkschaftsehre, nein, ihre mit Gewissensqualen und dem Tod besiegelte, mit Folter und Schande besudelte, am Fleischerhaken aufgehängte menschliche Ehre und wahre Würde?

Ich denke dabei nicht an die Umbenennung von Straßennamen, die Niederlegung von Behördenkränzen und ähnliche Versuche, den Dank des Vaterlandes nach dem Muster des Teilzahlungssystems in bequemen Raten abzustatten. Sondern ich frage: Hat man versucht, diese Männer und Frauen in unserer vorbildarmen Zeit zu dem zu machen, was sie sind? Zu Vorbildern?

Man gedenke ernstlich der Beispiele. Man schaffe die Vorbilder. Und man tue es, bevor der Hahn zum dritten Male kräht.

Als Erich Kästner diese unvergessliche Rede hielt, wusste er, dass im deutschen Bundestag Abgeordnete saßen, die nicht einmal hohe Nazis waren, sondern lediglich die Nachkommen der alten Deutschnationalen aus der Weimarer Republik, die laut verkünden durften, dass sie die Männer des 20. Juli für Verräter halten, die zu Recht aufgehängt worden seien.

Aber die nächsten Vorbilder, die wahrhafte Vorbilder bis zum heutigen Tage sind, wurden Monate später in diesem Jahr 1954 gefeiert. Es waren die »Helden von Bern«. Der Fußball gab uns die Ehre zurück. So wird es heute noch gesehen.

Mit Kästner gesagt:

»Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel:

Im Tunnel bleibt es immer dunkel.«

Erich Kästner war und ist mein Vorbild. Es begann mit den Kästnerkindern in seinen Kinderbüchern, die nicht über Kinder, sondern für sie geschrieben waren. Dann wurde es still um ihn. Bis Hans Habe die erste deutsche Zeitung nach Kriegsende herausgab. Die Neue Zeitung aus München. Kästner war ihr Feuilletonchef. Kurz danach gründete er das Kabarett Die Schaubude in der Münchner Reitmorstraße. Viele seiner Leser hatten nicht gewusst, dass Kästner in den Jahren von 1925 bis 1933 zu den wichtigsten politischen Satirikern Deutschlands gehörte. Neben Tucholsky, neben Mühsam und Ossietzky in der Weltbühne von Siegfried Jacobson, die allesamt zutiefst verhasst waren bei den Nazis, denn ihre klare politische Haltung, die sich in Verachtung von Krieg, Revanchismus und Kapitalismus ausdrückte, brachte sie auf die vordersten Plätze der schwarzen Liste der Braunen.

Natürlich wurde Kästner nach 1945 gefragt, was ihn denn nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland gehalten hat. Hat er sich arrangiert? Wie kam es, dass er überlebt hat? Waren es die berühmten Detektive? War es Emil? Hatte er Gönner?

Die Wahrheit ist, dass er es selbst nicht gewusst hat. Er rechnete ständig damit, dass morgens um sechs Uhr die Gestapo an seine Tür klopft. Zweimal wurde er verhaftet, aber wieder freigelassen. Vielleicht haben ein paar Geliebte ihre Hand im Spiel gehabt. Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Kästner war ein Vielgeliebter, ein »womanizer« würde man heute sagen. Nach eigenen Aussagen hat er natürlich in Angst gelebt.

Seine Freunde, die das Land verlassen hatten und in Angst um ihn im Ausland lebten, sagten: Er hat das Land nicht verlassen, weil er Angst hatte um seine Karriere, er hatte Angst um seine Mutter. Die Karriere war nie abgebrochen. Als er das erste Kabarett nach dem Kriege, Die Schaubude, eröffnete, strömten die Menschen wie ausgehungert in das kleine Theater. Den Großteil der Texte schrieb Kästner, ein paar Freunde aus alten Berliner Zeiten steuerten dieses oder jenes bei, und sein Star, die wunderbare Ursula Herking, riss die Menschen mit.

Es war schwer, sehr schwer, für diese Vorstellungen Karten zu bekommen. Für Geld bekam man nichts. Es spielte damals wirklich keine Rolle. Wer hineinwollte, musste mit Speck, Eiern oder Briketts bezahlen. Als dann, plötzlich und unerwartet, die Währungsreform kam, blieben die Zuschauer weg. Das Haus wurde geschlossen.

In dieser Zeit kästnerte es in München allerorten. Kästner-Abende – Kästner-Chansons – Kästner-Lesungen in Schwabing. Mitleidlos wurden seine Gedichte vertont, bearbeitet, inszeniert, verfeatured und massakriert. Niemand, so dachte man, wird ihn überreden können, selbst noch einmal in das politische Kabarett einzugreifen.

Trude Kolman, aus London gekommen, hat es geschafft. Sie gründete mit ihm zusammen Die Kleine Freiheit. Ein Kellerraum mit 160 Plätzen, einer kleinen Bühne, aber mit einem hochkarätigen Ensemble, in dem ich mit Glück den Job als Kartenabreißer, Programmheftverkäufer und Platzanweiser bekam. Der Lohn war auch für damalige Verhältnisse ein Mindestlohn. Aber für einen armen Studenten waren vier Mark ein Zehntel der Miete.

Als ich das erste Mal das Theaterchen betrat, das Haus, in dem der große Erich Kästner die Texte schrieb, hatte ich das Gefühl, einen großen Schritt auf meinem Weg zum Ziel, nämlich eines Tages ein großer Theatermann zu werden, getan zu haben. Natürlich konnte ich nicht diese wichtige Position übernehmen, ohne mir einen dunklen Anzug zu besorgen. Ich zahlte einen schon recht abgetragenen an, stellte aber fest, dass an der linken Schulter ein hässlicher, glänzender Fleck war, der nicht zu beseitigen zu sein schien. Das machte mich zutiefst unsicher.

Eines Tages stapfte ein sehr rundbäuchiger Mann schnaufend die Treppe zu unserem »Foyer« herunter, und ich sagte zu unserer Kassiererin: »Der hat das Wirtschaftswunder schon vorgefressen.« In dem Moment deutete er auf meine unangenehme Glanzstelle an der Jacke und brüllte mit einer fetten Lache: »Geiger, wat?«, und ich, beleidigt, deutete auf seine Wampe und sagte: »Schwanger, wie?« Da lachte neben mir ein elegant gekleideter, gutaussehender Herr laut, und das war Erich Kästner.

Dann verlangte er ein Programmheft und gab mir eine Mark Trinkgeld. Immerhin 25 Prozent meines Einkommens. Große Leute nehmen kleine Leute wahr.

Ein ganzes Jahr später – ich hatte meine einträgliche Stellung als Programmheftverkäufer inzwischen aufgegeben und ein Studentenkabarett gegründet – traten wir bei einer Gewerkschaftsmatinee auf, die die Wiederbewaffnung zum Thema hatte. Und während meines Solos sah ich Erich Kästner in der ersten Reihe mehrmals locker lachen. Sofort verlor ich den Faden, rutschte aus der Form und war ganz schlecht.

Nach der Vorstellung, ich wollte mich deprimiert aus dem Saal schleichen, stand Kästner lächelnd vor mir, sagte etwas Tröstendes und lud mich zu einem Kaffee ein. Es war der Beginn einer Reihe von kleinen Höhepunkten in meinen Anfängerjahren. Falsch, es war der Höhepunkt. Denn von diesem Augenblick an nickte er mir zu, wenn wir uns begegneten. Das taten wir täglich. Pünktlich um 10 Uhr. Er saß an jedem Morgen in einem Café, dem Café Freilinger in München-Schwabing, mit seiner Sekretärin und schrieb. Schrieb an einem Theaterstück, schrieb Artikel. Das heißt, er ließ schreiben. Er diktierte. Auf diese Weise konnte ich mir jeden Morgen ein Lächeln von Erich Kästner holen.

Dies war zu einer Zeit, als er sich für die Probleme der neuen Republik Deutschland stark engagierte. Er marschierte bei Demonstrationen in der ersten Reihe, veranstaltete Mahnwachen gegen Krieg und Rüstung, hielt Reden gegen die Atombewaffnung und seine alten Feinde, die Nazis, und zwar die, die den sogenannten Zusammenbruch glänzend überstanden hatten, die in den Chefetagen von Daimler-Benz und Thyssen und Ruhrstahl saßen, die sich noch aus alten SS-Zeiten kannten und gute Verbindungen zu dem Chef des Bundesnachrichtendienstes Gehlen pflegten, der wiederum die guten Zeiten bei der Gestapo hatte.

Der mit einer winzigen Mehrheit, die aus ihm selbst bestand, gewählte Konrad Adenauer hatte keine Bedenken, mit Schurken zusammenzuarbeiten, um die erste Demokratie in Deutschland aufzubauen. Mit großem Nachdruck und grotesker Feierlichkeit betonte er bei jeder Gelegenheit, dass dieser neue Staat auf christlicher Grundlage gesockelt sei. Was er nicht betonte, was aber jeder wusste, war die Tatsache, dass es sich dabei um einen katholischen Sockel handelte.

Die Wahl der neuen Hauptstadt, kopfschüttelnd nahm man das Ergebnis zur Kenntnis: Bonn? Wie? Bonn! Dieses kleine unschuldige Städtchen sollte das Zentrum dieser Republik sein? Natürlich, denn es war das Zentrum des rheinischen Katholizismus mit guten Bindungen an den bayerischen Klerikalmonarchismus. Der überwiegend evangelische Osten konnte nicht mehr stören, besonders nicht mehr nach dem Bau der Mauer, und eine sogenannte Wiedervereinigung wurde in Bonn nur noch an diesbezüglichen Feiertagen beflissen erwähnt.

Kästner, der Sachse aus Überzeugung, hämmerte mit seinen Texten für Die Kleine Freiheit auf die Scheinheiligen in Bonn ein. Er hatte inzwischen einen Mitstreiter, Martin Morlock, den ich heute noch zu den besten deutschen Kabarettautoren zähle. Frühere Kollegen aus Berlin-Zeiten Kästners stießen dazu, und ich erinnere mich an wunderbare Szenen der Wiederbegegnung.

Hermann Kesten hatte einmal in den Kammerspielen an den Tag des 9. November 1938 erinnert und Kästners Gedicht zitiert, das erst nach 1945 veröffentlicht werden konnte.

Als die Synagogen brannten

Der junge SA-Mann:

Wo steckt Jehova nun, der nie verzeiht?

Ist er, Adresse unbekannt, verzogen?

Der alte Jude:

Gibt’s einen Gott, gibt’s auch Gerechtigkeit,

Wenn’s keinen gibt, was braucht’s da Synagogen?

Würde Kästner heute von leitenden Damen und Herren sowohl der öffentlich-rechtlichen als auch der privaten Fernsehsender umworben werden?

Ich habe das einmal wissen wollen und fragte einen Frager in einem Interview zurück, was er von dem politischen Satiriker Erich Kästner halte. Mein Interviewer, 31 Jahre alt, offensichtlich ein Mann von Bedeutung in seinem Sender, schaute mich verdutzt an und wollte wissen, ob es den politischen Kästner überhaupt gegeben hätte. Er kenne Kästner nur aus seinen Kinderbüchern. Der junge Mann war leitender Redakteur, Dr. phil. und hielt Nestroy für einen englischen Operettenkomponisten. Gewiss wird dieser wackere Mann gute Arbeit leisten für seinen Sender. Bestimmt kennt er sich in allen Ausformungen der Medien aus, weiß um die magnetische Kraft der wissensentkernten Jugend, wäre ein fabelhafter Redakteur für Sendungen über »Leute von heute« oder Geschlechterquizevents.

Das alles hat es freilich schon gegeben. In der Weltbühne des Jahrgangs 1930 fand ich ein Gedicht von Kästner, das im Zeitalter der Heidi Klum hätte geschrieben werden können.

Sogenannte Klassefrauen

Sind sie nicht pfui teuflisch anzuschauen?

Plötzlich färben sich die ›Klassefrauen‹,

Weil es Mode ist, die Nägel rot!

Wenn es Mode wird, sie abzukauen

Oder mit dem Hammer blauzuhauen

Tun sie’s auch. Und freuen sich halbtot.

Wenn es gälte, Volapük zu lernen

Und die Nasenlöcher zuzunähn

Und die Schädeldecke zu entfernen

Und das Bein zu heben an Laternen –

Morgen könnten wir’s bei ihnen sehn.

Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln

Immer auf den ersten besten Mist.

Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln!

Und sie sind auf keine Art zu zügeln,

Wenn sie hören, dass was Mode ist.

Wenn’s doch Mode würde, zu verblöden!

Denn in dieser Hinsicht sind sie groß.

Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten

Jede Öffnung einzeln zuzulöten!

Denn dann wären wir sie endlich los.

Käme Erich Kästner nur für einen Tag zurück, er würde nicht ausreichen, um ihm zu erzählen, wie weit wir bereits auf diesem Wege gekommen sind.

Gegenwärtig erregen sich Parteien, Journalisten, Professoren und ganze Regimenter von Beobachtern der politischen Szene über die sensationelle Mitteilung eines »Whistleblowers« (zu Kästners Zeiten hätte man vielleicht Betriebspetzer gesagt), dass die Amerikaner uns Deutsche seit vielen Jahren überwachen, dass sie unsere Daten haben. Als Kästner für Die Neue Zeitung arbeitete, als er für das Kabarett Die Schaubude schrieb, wer SS-Standartenführer oder Fähnleinführer gewesen ist, wurden sämtliche Gespräche abgehört. Gewundert haben sich die Bürger jetzt nur, dass ihre Regierung nichts davon gewusst hat.

Das ist ein Grund dafür, dass Zeitungen bei uns nie abgeschafft werden können! Warum? Weil unsere Regierenden solche Sachen, nach eigenen Aussagen, immer erst aus der Zeitung erfahren.

Natürlich haben wir sofort wütend protestiert. Unser Innenminister, der, als bekannt wurde, dass Neonazis neun Menschen ermordet hatten, spontan ausrief: »Die RAF ist wieder da.« Dieser Innenminister Friedrich, eine bayerische Leihgabe, ist spontan nach Washington geflogen, um sich bitterlich zu beschweren.

In ganz Europa hat sich Empörung verbreitet. Anhand dieser Whistleblower-Causa ist jetzt bewiesen worden, dass der Mensch doch nicht vom Affen abstammt, sondern von der Duckmaus. Ebenso ist klar, dass die Apokalypse nicht, wie immer wieder behauptet wird, die Ratten überleben, sondern die Wanzen.

Sie werden mir zustimmen, meine Damen und Herren, wenn ich in diesen Krisenjahren behaupte: Ein Kästner täte uns gut.

Dresden, 1. September 2013

Gedankensplitter I

Als dem kleinen Detlev die Zähne übereinanderwuchsen, sagte der Zahnarzt: »Keine Sorge, die regulieren sich von selbst.« Seitdem hat sich Detlev das Lachen abgewöhnt.

*

Nachdem K. gestorben war, sagte sein Arzt: »Schade, ich hatte so auf die Selbstheilungskräfte gesetzt.«

Als von den Selbstheilungskräften der Märkte geredet wurde, brachten Tausende ihr Vermögen in Sicherheit.

*

Wir sind reich. Wir leben gut. Wir profitieren sogar von den Krisen. Der Dax grüßt aus der Höhe. Häuser wachsen aus dem Boden. Prächtige Wohnungen warten auf glückliche Mieter mit guten Gehältern.

*

Lebensmittel? Also was zu essen? Food. Uneatable food.

Als Kind habe ich gelernt: Man isst nicht mit den Fingern. Man benutzt Messer und Gabel. Meine Frage damals schon: »Warum? Damit ich mir die Hände nicht schmutzig mache? Das heißt, ich soll essen, womit man sich schmutzig macht?« »Nein«, hieß es, »du sollst mit deinen Händen das Essen nicht schmutzig machen.« Darum: »Nach der Arbeit vor dem Essen – Händewaschen nicht vergessen.«

Nein, »nach dem Stuhlgang – vor dem …« genau.

Nachdem ich jetzt weiß, wie gefährlich Lebensmittel heute sein können: Vor dem Stuhlgang nach dem Essen Händewaschen nicht vergessen.

*

Bayern sind harte Typen. Und selbstbewusst. Andere Menschen kommen mit dem Dativ aus. Bayern brauchen zwei. Sie schlagen sich auf die Brust und brüllen: »Mir san mir!«

*

Fußballtrainer entwickeln aus ihrer Tätigkeit immer mehr philosophische Hintergründe. Labbadia: »Mein Credo ist, dass die Metaphysik oder Standardsituation die Philosophie meiner Spielanalyse in großem Ausmaß beeinflusst und damit auch die Architektur meines Systems …«

Jetzt ist mir klar, warum Fußballtrainer schon nach einer Saison wieder gefeuert werden. Länger hält das auch keiner aus.

*

Irgendwann würde ich gern einer wohltätigen Einrichtung die Summe überweisen, die die BILD-Zeitung täglich bezahlt für Informationen aus nicht dichten Ministerien, Gerichten, Parteizentralen und anderen Klatsch-Clustern. Die Summe, die man auch Judaslöhne für Petzer nennen könnte.

*

Große Koalitionen sind nicht dazu da, nun endlich die großen Probleme zu lösen, sondern vier Jahre lang um sie herumzukommen.

*

Gut zu wissen

Es geht das Gerücht, dass für alle Wissenden ein Eid gilt, den alle, die vor Gericht aussagen müssen, leisten müssen:

Ich weiß noch nicht, was ich alles wissen werde, aber wenn ich weiß, was ich alles nicht gewusst haben darf, weiß ich auch, was ich wissen muss, wenn ich gefragt werde, was ich alles gewusst habe, als noch keiner wissen wollte, was ich alles gar nicht wissen konnte. Kurz, ich weiß nichts – das weiß doch jeder.

*

Energie

Man ging früher liebevoller miteinander um. Als die Zeitungen damals noch Zeichen setzten mit zärtlichen Karikaturen, zum Beispiel Helmut Kohl als Birne. Alles gewann später an Schärfe, als man im Osten einen Zusatz fand, der sein tatsächliches Wirken in den neuen Ländern präzisierte, nämlich Abriss-Birne. Und Blüm wurde als Rentner-Pflaume gezeigt, später noch Altmaier als Spar-Birne.

Altmaier, der Energiezentner, soll geweint haben, als er die Zeichnung sah. Mein Gott, wie energisch ist er und wie selbstbewusst in den Kampf um die Energiewende eingestiegen. Als Eisbrecher im Packeis der Energiekonzerne … und gelandet ist er als Schlauchboot in den Kühlteichen der Konzerne.

*

Jobwunder

In der Tat: Ab 26.9. neue Jobs. 620 Abgeordnete – 620 MdB-Berater – Präsidenten – Staatssekretäre – Oberbürgermeister – Ministerpräsidenten – Bankdirektoren – Europakommissare – Minister. Oder sind die anderen Wunderjobs gemeint? Parkwächter – Nachtwächter – Schneeschipper – Warenhauseinsortierer – Hostessen?

*

Der neue Papst

Der neue Papst wird dem Vatikan auf die Nerven gehen, wenn er so weitermacht, wie er angefangen hat. »Schluss mit dem Maskenball!«, hat er deutlich vernehmbar gerufen, als sie ihm die roten Schühchen andrehen wollten. Nach Lampedusa ist er gefahren und hat Asylanten per Handschlag begrüßt. Sein frommes Gefolge, der klerikale Höflingsschwarm, schaute entgeistert zu. Missbilligend.

Womöglich kümmert er sich jetzt wirklich um die Armen. Womöglich verschenkt er das mühsam ergaunerte Geld aus aller Welt an die Armen? Ist dieser Franziskus lebensmüde? Welcher Papst hat jemals gesagt, er müsse gegen die Globalisierung der Gleichgültigkeit kämpfen. Es wird ihm die Heiligsprechung versalzen.

*

Parteiensterben

Alte Parteien haben das Recht zu sterben, wenn sie den Höhepunkt ihrer Überflüssigkeit erreicht haben.

Als die FDP gestern ihr großes Come-together hatte, hat Brüderle das große Wort geführt! Er war richtig komisch, wie er seine Fäustchen ballte und damit auf die Pauke haute – raus kam aber bloß eine kleine Blähung.

Als die FDP schon so weit war, den Löffel wegzulegen, kamen plötzlich drei neue Löffel und haben die alten vom Stuhl gemotzt. Diese Krabbelgruppe hat erst mal mächtig angegeben, herumgeschrien, und der vorlauteste (der Vizekanzler Rösler!) rief: »Wir werden liefern.« Es wurde aber nicht ganz klar, was genau er meinte.

Rösler ist wieder ganz oben und hat seinen Kommandoton wieder drauf. Und dann machte er den nächsten Fehler. Er blies sich auf und tat so, als wenn er dem politischen Gegner die Zähne zeigen wollte, das heißt, er hat sogar behauptet, er hätte der Kanzlerin die Zähne gezeigt!

Aber hinter seinem Rücken sagte da Brüderle: »Das waren gar nicht seine, das waren meine.«

Trotzdem bleibt diese Partei in der Nachkriegsgeschichte ein kleines Wunder. Fünf Prozent von 30 Millionen Wählern haben bestimmt, wer uns regiert. Also eine verschwindende Minderheit. Die aber nicht verschwindet.

Selbst wenn ich wollte … wen soll ich denn wählen? Rösler, Lindner, Brüderle? Bahr? Gut. Rösler kann dem Lindner das Wasser nicht reichen – Lindner ist wasserscheu – der Bahr kann’s nicht halten. Und Brüderle meint, er kann drüberlaufen.

Der aber, der nicht einmal mit dem Wasser kochen kann, der Niebel, der mit der albernen Wehrmachtsmütze unterwegs ist, weiß nicht einmal, dass er sich in akuter Notwehr befindet, wenn er Schriftsteller anpinkelt, wenn er den schon angeschlagenen Grass anrempelt und sagt: »Israel hat jedes Recht der Welt, ehemalige SS-Leute nicht ins Land zu lassen.« Vielleicht hätte er mal jemanden fragen sollen, wie das war damals … 1944 … mit 17 Jahren und von der Schulbank aus eingezogen … Man kann sich aufregen, ja. Man kann sich wundern, den Kopf schütteln, bitte, wenn man keine Ahnung hat, aber man kann sich nicht so anwanzen, so ranschmieren bei den Israelis.

Herbert Wehner würde sagen: »Niebel! In Ihnen steckt was. Schau’n Sie zu, dass Sie das loswerden.«

*

Lidln oder schleckern

Seit einiger Zeit gibt es das Tätigkeitswort lideln oder schleckern. Manchmal weiß man nicht, ob Schlecker lidelt oder Lidl schleckert. Bleiben wir bei Lidl.

Es hat wenig zu tun mit Lidl singen, es ist das, was in der berüchtigten Angestelltenkaserne der Dumpingpreisbaracke Lidl täglich stattfindet. Man muss sich Lidl-like verhalten. Das heißt: Die Arbeit im Laufschritt verrichten – im Sitzen an der Kasse schneller sitzen als die Konkurrentinnen. Kollegen gibt es nicht. Jede Frau, jeder Mann muss, ohne nachzudenken, seine Konkurrenten niederarbeiten und vor allem jung bleiben, sonst ist man sofort ausgemistet.

Überall, in den Ecken, hinter den Kassen, oben in Glaskabinen stehen Elitebubis in schwarzen Anzügen mit Stoppuhren in der Hand und kontrollieren die festgesetzten Zeiten fürs Kassieren, Sortieren und Pausieren. Überall hängen Stechuhren. Wer pinkeln geht, ohne die Stechuhr zu betätigen, betrügt die Firma. Weil er in dieser Zeit nicht arbeitet. Wer beten will, Moslems zum Beispiel, nicht ohne Stechuhr. Teppich stellt Lidl für Betgebühr.

Es hagelt Strafpunkte. Die jungen schwarzen Karrierebubis kriegen selbst Strafpunkte, wenn sie nicht genügend Strafpunkte verteilen. Wer grundlos singt während der Arbeitszeit, fliegt. Wer zu alt ist, fliegt auch, weil er dauernd Strafpunkte kriegt, und die kriegt er deshalb, weil er zu alt ist.

Wenn gar nichts hilft, greift der Schwarze mal so nebenbei in den Arbeitskittel der Frau Schmidt und findet? Ein leeres Bonbonpapier von einem Hustenbonbon, das eindeutig im Haus verkauft wird. Man ist sie los. Dagegen prozessieren hilft nichts, die Richter entscheiden gerecht, immer für die Firma.

In den Büros der Lidlmacher wird erwogen, die Kosten für die teuer präparierte Luft in der Halle den Lohnsklaven vom Lohn abzuziehen. Wer protestiert, wird sofort an die frische Luft gesetzt.

Im Falle des Eintretens von Selbstmord lehnt die Firma jegliche Anteilnahme oder Kostenbeteiligung jedweder Art ab. Klar nachgewiesen werden konnte, dass einer der Jungmanager eine Eingestellte in den Tod gemobbt hatte. Darauf sagte er cool: »Ich kann doch auch nichts dafür.«

stoersender.tv

DIE GEBURTSSTUNDE VON STOERSENDER.TV

Die Entstehung des Stoersenders? Ist schnell erzählt. Dieter Hildebrandt hatte den Namen innerhalb von zwei Sekunden erfunden. Der Reihe nach: Hildebrandt wollte eine neue Webseite, und er beauftragte mich, mir etwas auszudenken. Die meisten Internetauftritte von Künstlern sind identisch aufgebaut. : mein Tourplan, mein Kleinkunstpreis, mein Buch. Ich wollte etwas machen, was besser zu Hildebrandt passte.

November 2011, bei Hildebrandts in der Küche. Im Gespräch über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), über NS-Geheimdienst-Gehlen, der sofort BND-Präsident wurde, und über Schredderminister Friedrich, im Gespräch über Sinn und Ziel der Occupy-Proteste, kurz: Im Gespräch über Gott und die Welt kam mir die Idee für Hildebrandts neuen Internetauftritt.

»Lass uns anstatt einer normalen Internetseite eine demokratische Plattform aufbauen. Mittelpunkt ist ein Internet-TV-Magazin«, sagte ich zu Hildebrandt, der zwei Sekunden nachdachte und sagte: »So eine Art Störsender?!« – »Genau, und das ist schon der Name.«

So einfach. So gut. Blieb nur noch die Frage, wer das Ganze bezahlen sollte. Ich schlug vor, das Projekt durch den Schwarm finanzieren zu lassen, also durch mehrere tausend Investoren, in einem Wort: durch Crowdfunding. Das bedeutet: maximale künstlerische und redaktionelle Freiheit. Natürlich ohne Werbung und frei zu empfangen.

Auf diesen Vorschlag reagierte Hildebrandt, der das Internet bis dato, so gut es ging, ignoriert hatte, diesmal ohne Nachdenken: »Das klingt gut, das machen wir.«

Dieter Hildebrandt stellte das Projekt im Dezember 2012 in der Münchner Lach- undSchießgesellschaft vor und sagte: »Das wird eine schöne Sache. Hier können Verrückte Dampf ablassen.«

Die Crowdfunding-Kampagne auf startnext war mit 150 000 Euro an Einlagen ein großer Erfolg und zu diesem Zeitpunkt Rekord in Deutschland.

Dieter Hildebrandts Erben wollen und werden weiterstören und bleiben dem Stoersender treu.

Stefan Hanitzsch

GEDANKEN VOR DER EINFÜHRUNG DER AKTION »STOERSENDER.TV«

Was das alles wird, weiß ich nicht, ich weiß nur, wie es werden könnte, wenn es so wird, wie wir uns das vorstellen. Wir stellen uns vor, dass wir uns ganz spontan aufregen darüber, wie wir als Bürger, als vorhandenes menschliches Verdummungspotential, in die Pläne von Parteien, Medien und Kirchen sowie allen Organisationen und Institutionen, die das wiederum mit Parteien, Medien und Kirchen vorhaben, verkauft werden. Die Berliner sagten, als sie die Mauer plötzlich vor sich sahen und das gar nicht so falsche Gefühl hatten, dass sich die Sowjetunion und die Alliierten über die beruhigende Wirkung dieses Schutzwalls durchaus einig waren: Jekooft sind wa schon, jeliefert sind wa noch nich.

Ich will Sie jetzt nicht überschwemmen mit großartigen Zielen … das endet dann meistens mit Freiheit-Demokratie-Entlarvungs-Maske vom Gesicht reißen … wer will, hört das ohnehin raus … ich mache weiter, was ich zuvor gemacht habe, nur jetzt wieder mit einem Ensemble, das hat mir gefehlt … aber nicht nur mit Freund Dieter … wir haben jetzt zwei davon, wir nennen uns HiDi und HaDi … nein, auch mit Freunden und Kollegen, die vorbeikommen, ein Gedicht mitbringen, ein Lied, ein Stück, ein Buch oder einen ganz neuen Witz … wenn wir Lust haben, singen wir zwischendurch die Nationalhymne oder kriegen uns in die Krache, Frank-Markus Barwasser hat das schon abgenickt, Roger Willemsen und Conny Wecker auch und … jawohl: Georg Schramm. Und Gerhard Polt und Sigi Zimmerschied machen mit. Nach dem minimalistischen Motto: Hier können Familien Kaffee kochen, bei uns abgewandelt: Hier können Verrückte Dampf ablassen.

Das war immer schon mein Traum: Da steht eine kleine Kamera rum, im Studio HaDi, also vom Dieter Hanitzsch. Ich erinnere mich: Einer machte mal in meiner Wohnung ein Interview. Einer fragte, ich antwortete. Zwei Personen. Als ich dann die Aufstellung derer las, die an dem Interview beteiligt waren, zählte ich 27 Personen.

Ganz zu schweigen von den Verträgen. Bevor ich gelesen hatte, wozu der Sender alles berechtigt war und welche Rechte ich an meinen eigenen Texten nicht mehr hatte, begann schon die Sendung. Was unsere Arbeit ausmacht: Wir sind billiger, also das Risiko ist vergleichsweise minimal. Verglichen mit einem Film, der 100 Millionen kostet, der dann zur Premiere kommt, ein Kritiker ruft den anderen an: »Scheiße, oder?« Und weg ist er. Wir haben Zeit für die Entwicklung. Wir können auch was ausprobieren. Zum Beispiel: Wie weit kann eine Karikatur gehen in einem christlichen Land?

Ich habe dem Dieter Hanitzsch zur Osterzeit mal vorgeschlagen, Folgendes zu zeichnen: Jesus steht vor Pontius Pilatus, und der fragt: »Jesus von Nazareth, hast du gesagt, du seist der Sohn Gottes?« Und Jesus sagt: »Nageln Sie mich jetzt nicht fest.« – »Schön«, sagte Hanitzsch, »und kannst du mir jetzt auch dazu sagen, welche Zeitung das in Deutschland macht?«

Wir machen das. Wir scheuen uns auch nicht, Gedichte einzuschieben. Nicht nur eigene. Auch vergessene Literatur. Aus der Weltbühne Ossietzkys. Vergessene Autoren.

Tucholsky zitierte 1929 mal sein Lieblingsgedicht. Er schrieb, es handle sich dabei um das schönste Gedicht im Lyrikbestand des Landes. Trennungsschmerz – Wohnungsnot – Beziehungskrise, alles in vier bedeutenden Zeilen:

»Lass du doch das Klavier in Ruhe,

es hat dir nichts getan;

nimm lieber deine Gummischuhe

und bring mich an die Bahn.«

Wir werden auch jede Art von Ratlosigkeit in Kauf nehmen. Der deutschen Sprache werden wir höchste Aufmerksamkeit schenken.

Einer der wichtigsten deutschen Sprachschöpfer, Schäuble, antwortete auf die Frage, wie er sich denn einen »sozial gerechten« Sozialstaat vorstelle, mit der Gegenfrage: »Wie können wir den Mehltau aus der strukturellen Erstarrung beseitigen, ohne das Wurzelwerk des sozialen Friedens zu beschädigen?«

Wir werden, das verspreche ich, um die Beantwortung dieser Frage ringen. Ohne das Wurzelwerk mit dem Mehltau in dem Brei zu verrühren, um den ein Politiker schleicht. Und zwischendurch wehen Gedanken und Erinnerungsschnipsel von früher herein. Aus Büchern, die man weggestellt hat.

»Wie rasch altern doch die Leute in der SPD –!

Wenn sie dreißig sind, sind sie vierzig;

wenn sie vierzig sind, sind sie fünfzig,

und im Handumdrehn ist der Realpolitiker fertig.«

Stammt aus der Weltbühne aus dem Jahr 1932 und ist von Tucholsky.

Ganz so vernichtend ist der Wille zu Opposition nicht zu beurteilen. Immerhin hat der Vortragskünstler und Eurojäger Steinbrück unser Verhältnis zur Schweiz schon in die angemessene Schieflage gebracht. Also in Opposition zum Weichwinkelkurs der Kanzlerin. Seit Jahren schon behaupte ich: Wenn alle Diktatoren, Spekulanten, Steuerhinterzieher und andere Kriminelle eines Tages zu ihrem Geld ziehen wollen, wird’s eng werden in der Schweiz.

Dem Euro geht’s jetzt gut. Obwohl er einen Migrationshintergrund hat, kommt er rein. Obwohl er meistens schmutzig ist, wenn er in Zürich ankommt. Er wird sorgfältig gewaschen, und wenn er die Brust braucht der Schweizer Banken, wird er angelegt und kommt wie neugeboren zu uns zurück.

Die Schweizer sind böse, sie sagen, eher würden sie sich einen Finger abhacken, als so was zu machen, und ich sehe vor meinen Augen lauter neunfingrige Bankerhände. Und die Banker sagen dann, sie hätten ihre Finger überall drin – aber nicht alle!

Danach werden wir uns gemeinsam von unseren Plätzen erheben und, wie schon erwähnt, die Nationalhymne singen:

»Arbeitslos mit Recht auf Freizeit

hier im deutschen Muttiland

wirste wohl noch lange leben

mit ’nem Euro in der Hand,

den wir bei Hartz IV abgeben –

freu dich deutsches Muttiland.«

Und wir werden Fragen stellen. Zum Beispiel:

Darf man als Abgeordnete Annekathrin Giegengack heißen?

Wer wird Tour-de-France-Sieger zwischen 1998 und 2005? Ein Radfahrer kann’s nicht sein.

Weiß man eigentlich, in welch großen Schwierigkeiten sich die katholische Kirche befindet? Der Weihrauchmarkt ist gestört. Die Kessel sind leer. Öl ist teurer geworden. Für die letzte Ölung. Die Oblatenindustrie meldet Verluste. Reliquien sinken im Preis. Fälschungen werden immer raffinierter. Es gibt inzwischen 15 Originalvorhäute von Jesus.

Und wir werden auch fragen:

Warum richten sich die Öffentlichen Anstalten bei Wiederholungen nach dem Geschmack der Aufsichtsräte? Warum verstecken sie die Beweisstücke ihrer großen Zeiten in den Archiven? Wo sind die großen Fernsehspiele von großen Regisseuren? Von Peter Beauvais – Rolf Hädrich – Axel Corti?

Warum bekommen wir drei-, viermal den ödesten Klamottenrest aus der UFA-Herrlichkeit des Dritten Reiches, Trachtenschnulzen mit Alpendödeln-Tanztrampeln aus deutschen Musikfilmen? Ununterbrochen rufen die Berge, muhen die Rindviecher und singen tränenumflossene Wiener Heurigentenöre. Sitzt auf den alten Schätzen immer noch der Leo Kirch? Leo Kirch ist tot.

Leni Riefenstahl lebt. Lebt wieder auf. Diese eine Totenfrau des Dritten Reiches, die alle diese Hunderttausende bei ihrem absolut unpolitischen Reichsparteitagsfilm photographiert hat, die dann alle auf den Feldern der Ehre gestorben sind. Eine so bedeutende Frau, der Hitler, Goebbels und die gesamte kriminelle Vereinigung zu Füßen lag, Leni, die man damals die Reichsgletscherspalte nannte, hat, aus rein künstlerischen Gründen, den Marschtritt der 400 000 SS-Männer und der 100 000 SA-Leute zur Kunst erhoben. Der Schritt zur Macht.

Leni, die Schrittmacherin Adolf Hitlers, muss jetzt, von Frau Furtwängler gespielt, zur Abschreckung natürlich in die Kinos. So wie Bruno Ganz später mit Hitler verwechselt wurde, wird von da an Maria Furtwängler die Riefenstahl sein. Peinlich wird es nur, wenn Leni Riefenstahl den Bambi bekommt.

Noch peinlicher, wenn jetzt alle wissen, dass Saudi-Arabien keine Parkplätze für Panzer hat. Hunderte von deutschen Leo-Panzern werden das Land verstopfen. Was machen sie dort? Die Antwort bekam ich vorgestern im Radio.

Ein Waffenexperte der Regierungspartei war ins Studio gekommen, um dem Vorurteil, dass Panzer einen unfriedlichen Eindruck vermitteln, die Stirn zu bieten. Nach seinen Ausführungen zu urteilen, sind Leo-Panzer Friedens- und Freiheitssymbole, sie sichern die Sicherheit in diesem Krisenland.

»Krisenland?«, kam die richtige Gegenfrage, »dann ist das ja ein Spannungsgebiet, und da gibt’s doch so was wie ein Verbot, in Spannungsgebiete keine Waffen … nein? Kann man das nicht kritisch sehen?«

»Nein«, sagt der Experte, »das kann man nur differenziert sehen.«

Man versteht: Die Differenz zwischen Heuchelei und Profit. Ganz abgesehen davon, wie um den Waffenhandel herumgeeiert wird … an der Spitze die erfolgreichste Waffenvermittlerin, Frau Merkel, die erfolgreichste Eierfrau … man versteht sie ja, denn sie verkauft, abgesehen von der verblüffenden These »Sicherheit durch Waffen« schaffen, mit diesem Leo-Panzer die absolute deutsche Wertarbeit. Die ganze Welt will den Leo. In dubio pro Leo.

Früher waren Panzer nur zum Panzern da, heute kann man drin wohnen. Es ist eine Toilette da – schnell noch mal drauf, bevor die Schlacht beginnt –, ein Fernseher soll drin sein – für die Gefechtspausen. Und 100 Kilometer schnell ist er.