Letzter Sommertag - Ian McEwan - E-Book

Letzter Sommertag E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Letzter Sommertag vereint eine Auswahl von Geschichten aus den Büchern Erste Liebe, letzte Riten und Zwischen den Laken, mit denen Ian McEwan berühmt wurde.

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Seitenzahl: 278

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Ian McEwan

LetzterSommertag

Stories

Aus dem Englischen von

Bernhard Robben,

Harry Rowohlt und

Michael Walter

Die hier versammelten Stories

wurden ausgewählt aus den beiden Bänden

›First Love, Last Rites‹ und ›In Between the Sheets‹

und erschienen in dieser Auswahl

erstmals 2005 in der Reihe ›Diogenes Bibliothek‹

Nachweis der einzelnen Stories und ihrer

Übersetzer am Schluβ des Bandes

Umschlagfoto: Philipp Keel,

›Palm Springs‹, 2001

(Ausschnitt)

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24013 9 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60328 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Letzter Sommertag  [7]

Gespräch mit einem Schrankmenschen  [44]

Erste Liebe, letzte Riten  [78]

Betrachtungen eines Hausaffen  [108]

Zwei Fragmente: März 199–

Samstag  [140]

Sonntag  [157]

Der kleine Tod  [180]

Zwischen den Laken  [216]

Hin und Her  [248]

Psychopolis  [265]

[7] Letzter Sommertag

Ich bin zwölf und liege fast nackt auf dem Bauch in der Sonne auf dem Hintergartenrasen, als ich zum ersten Mal höre, wie sie lacht. Ich weiß nicht, ich rühr mich nicht, ich mache einfach die Augen zu. Es ist ein Mädchenlachen, das Lachen einer jungen Frau, kurz und nervös, als würde über etwas gelacht, das gar nicht komisch ist. Ich habe das halbe Gesicht im Gras, ich habe das Gras vor einer Stunde gemäht, und ich kann die kalte Erde unter dem Gras riechen. Vom Fluß kommt eine schwache Brise, späte Nachmittagssonne brennt mir auf den Rücken, und dieses Lachen sticht so auf mich ein, und es ist, als wäre alles ein und dasselbe, ein einziger Geschmack in meinem Kopf. Das Lachen hört auf, und nun höre ich nur noch, wie die Brise in meinem Comic blättert, irgendwo oben im Haus weint Alice, und überall auf dem Garten liegt so etwas Schweres, Sommerliches. Dann höre ich, wie sie über [8] den Rasen zu mir herüberkommen, und ich richte mich so schnell auf, daß mir schwindlig wird und alles seine Farben verliert. Und da ist diese dicke Frau, oder dieses dicke Mädchen, zusammen mit meinem Bruder kommt sie näher. Sie ist so dick, daß ihre Arme nicht gerade von den Schultern herabhängen können. Sie hat Autoreifen um den Hals. Sie sehen mich an und sprechen über mich, und als sie ganz nah sind, stehe ich auf, und sie gibt mir die Hand, und während sie mich immer noch direkt betrachtet, macht sie so ein japsendes Geräusch wie ein höfliches Pferd. Das ist das Geräusch, das ich gerade gehört hatte, das Lachen. Ihre Hand ist heiß und naß und rosa, wie ein Schwamm, mit Grübchen an jedem Knöchel der Hand, dort, wo die Finger beginnen. Mein Bruder stellt sie als Jenny vor. Sie wird im Schlafzimmer auf dem Dachboden wohnen. Sie hat ein sehr großes Gesicht, rund wie ein roter Mond, und dicke Brillengläser machen ihre Augen so groß wie Golfbälle. Als sie meine Hand losläßt, fällt mir nichts ein, was ich sagen könnte. Aber Peter, mein Bruder, redet in einem fort, er erzählt ihr, welches Gemüse wir anbauen, welche Blumen, er sagt ihr, [9] daß sie sich dahin stellen soll, wo sie den Fluß durch die Bäume sehen kann, und dann führt er sie zum Haus zurück. Mein Bruder ist genau zweimal so alt wie ich, und er kann das sehr gut: in einem fort reden.

Jenny nimmt das Zimmer auf dem Dachboden. Ich war ein paarmal dort und habe in den alten Kisten und Kästen Sachen gesucht oder durch das kleine Fenster den Fluß angeschaut. In den Kisten ist nichts Nennenswertes, nur Stoffetzen und Schnittmuster. Vielleicht haben ein paar sogar meiner Mutter gehört. In einer Ecke liegt ein Stapel Bilderrahmen ohne Bilder. Einmal war ich dort, weil es draußen regnete und weil Peter mit ein paar von den anderen Typen Krach hatte. Ich half José beim Aufräumen, damit man da oben ein Schlafzimmer einrichten konnte. José war Kates Freund gewesen, und dann schaffte er letzten Frühling seine Sachen aus Kates Schlafzimmer und zog in das leere Zimmer neben meinem Zimmer. Wir trugen die Kisten und Rahmen in die Garage, wir malten den Holzfußboden schwarz an und legten Teppiche aus. Wir nahmen das zweite Bett in meinem Zimmer auseinander und trugen es nach oben. Mit dem Bett, einem [10] Tisch und einem Stuhl, einem kleinen Schrank und der schrägen Zimmerdecke blieb noch Platz genug für zwei Personen (stehend). Jennys gesamtes Gepäck besteht aus einem kleinen Koffer und einer Tragetasche aus Papier. Ich trage das für sie nach oben, und sie folgt mir, atmet dabei immer schwerer, und bevor wir den dritten Treppenabsatz erreichen, muß sie Pause machen, um sich auszuruhen. Hinter uns kommt mein Bruder Peter herauf, und wir zwängen uns ins Zimmer, als wollten wir alle hier wohnen und sähen es zum ersten Mal. Ich zeige ihr das Fenster, damit sie den Fluß sehen kann. Jenny setzt sich an den Tisch und stützt ihre mächtigen Ellbogen auf. Manchmal betupft sie ihr feuchtes, rotes Gesicht mit einem großen, weißen Taschentuch, während sie einer von Peters Geschichten zuhört. Ich sitze hinter ihr auf dem Bett und sehe, wie ausladend ihr Rücken ist, und unter ihrem Stuhl kann ich ihre dicken rosa Beine sehen, wie sie sich nach unten verjüngen und sich in winzige Schuhchen quetschen. Sie ist überall rosa. Der Geruch ihres Schweißes erfüllt das Zimmer. Er riecht wie das frischgemähte Gras draußen, und mir kommt der Gedanke, daß ich ihn [11] nicht zu tief einatmen darf, weil ich sonst auch so dick werde. Wir stehen auf, damit sie mit Auspacken weiterkommt, und sie sagt, vielen Dank für alles, und als ich zur Tür hinausgehe, macht sie ihr kleines Japsen, ihr nervöses Gelächter. Ohne es zu wollen, sehe ich mich in der Tür noch einmal nach ihr um, und sie starrt mich mit ihren vergrößerten Golfball-Augen an.

»Du sagst wohl nicht viel?« sagt sie. Wodurch es irgendwie noch schwerer wird, etwas zu sagen. Also lächle ich sie einfach an und gehe die Treppe hinunter.

Unten bin ich an der Reihe, Kate beim Abendessen zu helfen. Kate ist groß und schlank und traurig. Das genaue Gegenteil von Jenny. Wenn ich mal Freundinnen habe, dann sollen sie so sein wie Kate. Sie ist allerdings sehr bleich, und das nach diesem Sommer. Ihr Haar hat eine merkwürdige Farbe. Ich habe einmal gehört, wie Sam sagte, daß sie Haare hat wie ein brauner Briefumschlag. Sam ist einer von Peters Freunden; er wohnt auch hier und wollte seine Sachen in Kates Schlafzimmer räumen, als José mit seinen Sachen ausgezogen war. Aber Kate ist irgendwie hochnäsig, [12] und sie mag Sam nicht, weil er ihr zu laut ist. Wenn Sam zu Kate ins Zimmer zöge, würde er ständig Alice aufwecken, Kates kleines Mädchen. Wenn Kate und José im selben Zimmer sind, passe ich immer auf, ob sie sich ansehen, und sie sehen sich nie an. Letzten April bin ich an einem Nachmittag in Kates Zimmer gegangen, um mir etwas auszuleihen, und sie lag mit José im Bett, und beide haben geschlafen. Die Eltern von José kommen aus Spanien, und seine Haut ist sehr dunkel. Kate lag auf dem Rücken, hatte einen Arm ausgestreckt, José lag auf ihrem Arm und schmiegte sich an sie. Sie hatten beide keinen Schlafanzug an, und das Laken ging ihnen bis über die Hüfte. Sie waren so schwarz und so weiß. Ich blieb lange am Fußende ihres Bettes stehen und betrachtete sie. Es war wie irgendein Geheimnis, das ich gelüftet hatte. Dann öffnete Kate die Augen, sah mich und sagte mir ganz leise, ich solle rausgehen. Es kommt mir sehr merkwürdig vor, daß sie da so nebeneinanderlagen und sich jetzt nicht einmal ansehen. Das wäre bei mir anders, wenn ich bei einem Mädchen auf dem Arm läge. Kate kocht nicht gern. Bei ihr geht die meiste Zeit damit drauf, daß sie aufpaßt, [13] daß Alice sich keine Messer in den Mund steckt oder kochendheiße Töpfe vom Herd zerrt. Kate wirft sich lieber todschick in Schale, und sie geht aus, oder sie telefoniert stundenlang, und das täte ich auch lieber, wenn ich ein Mädchen wäre. Einmal blieb sie lange fort, und mein Bruder Peter mußte Alice ins Bett bringen. Kate sieht immer traurig aus, wenn sie mit Alice spricht; wenn sie mit Alice spricht, spricht sie immer sehr leise, als würde sie in Wirklichkeit gar nicht gern mit Alice sprechen. Und wenn sie mit mir spricht, ist es das gleiche, als spräche sie in Wirklichkeit gar nicht. Als sie in der Küche meinen Rücken sieht, nimmt sie mich mit nach unten ins Badezimmer und bekleckst mich aus einem Wattebausch mit Zinksalbe. Ich kann sie im Spiegel sehen; sie scheint gar keinen bestimmten Gesichtsausdruck zu haben. Sie macht ein Geräusch zwischen den Zähnen, zur Hälfte ein Pfeifen und zur Hälfte ein Seufzen, und wenn sie einen anderen Teil meines Rückens bearbeiten will, schubst oder zieht sie mich einfach am Arm herum. Sie fragt mich schnell und still, was das Mädchen da oben für eine ist, und als ich zu ihr sage: »Sie ist sehr dick, und sie [14] lacht so komisch«, antwortet sie nicht. Ich schneide für Kate das Gemüse klein und decke den Tisch. Dann gehe ich zum Fluß hinunter, um mein Boot zu betrachten. Ich habe es gekauft, als ich etwas Geld bekam, weil meine Eltern gestorben sind. Bis ich zum Landesteg komme, ist die Sonne untergegangen, und der Fluß ist schwarz, mit roten Streifen, wie die Stoffetzen, die früher auf dem Dachboden waren. Heute abend ist der Fluß träge, und die Luft ist warm und mild. Ich mache das Boot nicht los; mein Rücken ist von der Sonne zu kaputt zum Rudern. Statt dessen klettere ich hinein und sitze nur so da, lasse mich vom stillen Auf und Ab des Flusses schaukeln, beobachte, wie die roten Stoffreste im schwarzen Wasser versinken und frage mich, ob ich zuviel von Jennys Geruch eingeatmet habe.

Als ich zurückkomme, sind sie gerade dabei, mit Essen anzufangen. Jenny sitzt neben Peter, und als ich hereinkomme, blickt sie nicht von ihrem Teller auf, nicht einmal, als ich mich auf die andere Seite neben sie setze. Sie ist so groß neben mir, aber trotzdem dermaßen über ihren Teller gebeugt, sie sieht aus, als wollte sie eigentlich gar nicht existieren, daß sie mir irgend[15] wie leid tut und ich mit ihr sprechen möchte. Aber mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte. Sowieso hat bei dieser Mahlzeit niemand etwas zu sagen; alle schieben Messer und Gabel auf ihren Tellern herum, und hin und wieder murmelt jemand, ob man ihm mal etwas herüberreichen könne. Normalerweise ist das nicht so, wenn wir essen, normalerweise ist irgendwas los. Aber Jenny ist da, sie ist stiller als wir alle, und größer ist sie auch, auch sie sieht nicht von ihrem Teller auf. Sam räuspert sich und blickt um den Tisch herum, dorthin, wo Jenny sitzt, und alle anderen gucken ebenfalls, außer Jenny, und alle warten, daß etwas geschieht. Sam räuspert sich noch einmal und sagt:

»Wo hast du vorher gelebt, Jenny?« Weil vorher niemand etwas gesagt hat, kommt das ganz platt heraus, als säße Sam in einem Büro und füllte für sie ein Formular aus. Und Jenny, immer noch in den Anblick ihres Tellers vertieft, sagt:

»Manchester.« Dann sieht sie Sam an. »In einer Wohnung.« Und sie läßt ein kleines Lachjapsen hören, wahrscheinlich weil wir alle lauschen und sie ansehen, und dann sinkt sie wieder in ihren Teller, während Sam so etwas [16] wie »Ah ja, verstehe« sagt und überlegt, was er als nächstes sagen kann. Im oberen Stock fängt Alice an zu weinen, also steht Kate auf und bringt sie herunter und setzt sie sich auf den Schoß. Als sie aufhört zu weinen, zeigt sie nacheinander auf jeden von uns und sagt: »Uh, uh, uh«, und so weiter, um den ganzen Tisch herum, und wir sitzen alle da und essen und sagen keinen Ton. Es ist, als würde sie uns auszählen, weil uns nichts einfällt, was wir sagen könnten. Kate sagt ihr, sie soll still sein, und das tut sie auf diese traurige Weise, die sie bei Alice immer drauf hat. Manchmal glaube ich, daß sie so ist, weil Alice keinen Vater hat. Sie sieht überhaupt nicht aus wie Kate, sie hat sehr blondes Haar, und ihre Ohren sind viel zu groß für den Kopf. Bis vor einem oder zwei Jahren, als Alice noch ganz klein war, dachte ich, José wäre ihr Vater. Aber er hat schwarzes Haar und kümmert sich nie um Alice. Als alle mit dem ersten Gang fertig sind und ich Kate beim Einsammeln des Geschirrs helfe, bietet Jenny an, Alice auf den Schoß zu nehmen. Alice schreit immer noch und zeigt auf verschiedene Sachen im Zimmer, aber sobald sie bei Jenny auf dem Schoß sitzt, wird sie ganz [17] ruhig. Wahrscheinlich, weil das der größte Schoß ist, den sie jemals gesehen hat. Kate und ich bringen Obst und Tee herein, und als wir unsere Apfelsinen und Bananen schälen und die Äpfel vom Baum in unserem Garten essen, Tee einschenken und Zuckerdose und Milchkännchen weiterreichen, fangen alle an zu reden und zu lachen, wie immer, als hätte es nie etwas gegeben, das sie davon abgehalten hat. Und Jenny macht es Alice auf ihrem Schoß richtig gemütlich, läßt sie auf ihren Knien galoppieren wie auf einem Pferd, läßt ihre Hand wie einen Vogel auf Alices Bauch herniederstoßen und macht ihr Tricks mit ihren Fingern vor, so daß Alice die ganze Zeit »Mehr! Mehr!« schreit. So habe ich sie noch nie lachen hören. Und dann schielt Jenny dorthin, wo Kate sitzt, und Kate beobachtet die beiden beim Spielen, und sie hat den gleichen Gesichtsausdruck, den sie auch hätte, wenn sie vor dem Fernseher säße. Jenny trägt Alice zu ihrer Mutter, als fühlte sie sich plötzlich schuldig, weil sie Alice so lange auf dem Schoß gehabt hat und weil es so viel Spaß gemacht hat. Alice schreit: »Mehr! Mehr! Mehr!«, als sie wieder am anderen Ende des Tisches ist, und sie schreit fünf Minuten [18] später immer noch, als ihre Mutter sie ins Bett trägt.

Weil mein Bruder mich darum bittet, bringe ich Jenny ihren Kaffee am nächsten Morgen ganz früh auf ihr Zimmer. Als ich hereinkomme, ist sie schon aufgestanden, sitzt an ihrem Tisch und klebt Briefmarken auf Briefe. Sie sieht kleiner aus als am vorigen Abend. Ihr Fenster ist weit offen, und ihr Zimmer ist voller Morgenluft, man hat das Gefühl, als sei sie schon lange auf. Aus ihrem Fenster kann ich sehen, wie sich der Fluß zwischen den Bäumen streckt, hell und still in der Sonne. Ich will nach draußen, ich will vor dem Frühstück mein Boot ansehen. Aber Jenny möchte reden. Ich soll mich auf ihr Bett setzen und ihr von mir erzählen. Sie stellt mir keine Fragen, und weil ich nicht weiß, wie ich damit anfangen soll, jemandem von mir zu erzählen, sitze ich nur so da und beobachte, wie sie Adressen auf ihre Briefe schreibt und an ihrem Kaffee nippt. Aber das stört mich nicht; Jennys Zimmer ist in Ordnung. Sie hat sich zwei Bilder an die Wand gehängt. Das eine ist ein gerahmtes Foto, in einem Zoo geknipst, und es ist ein Affe drauf, der mit dem Kopf nach unten an [19] einem Ast klettert, und das Baby des Affen klammert sich an seinen Bauch. Daß es ein Zoo ist, sieht man, weil unten in der Ecke eine Zoowärtermütze und ein Teil vom Gesicht des Zoowärters ist. Das andere ist ein Farbfoto aus einer Illustrierten, und es sind zwei Kinder drauf, die Hand in Hand am Strand entlanglaufen. Die Sonne geht unter, und alles auf dem Bild ist ganz rot, sogar die Kinder. Es ist ein sehr gutes Bild. Sie ist fertig mit ihren Briefen und fragt mich, wo ich zur Schule gehe. Ich berichte ihr von der neuen Schule, in die ich nach den Ferien gehen werde, die große Gesamtschule in Reading. Aber ich war noch nicht da, und deshalb kann ich ihr nicht viel darüber erzählen. Sie sieht, daß ich wieder aus dem Fenster gucke.

»Gehst du an den Fluß?«

»Ja, ich muß mein Boot sehen.«

»Kann ich mitkommen? Zeigst du mir den Fluß?« Ich warte bei der Tür auf sie, schaue zu, wie sie ihre runden, rosa Füße in kleine, flache Schuhe zwängt und sich mit einer Bürste, auf deren Rückseite ein Spiegel ist, ihre ganz kurzen Haare kämmt. Wir gehen über den Rasen bis zu der schmalen Tür am Ende des Gartens [20] und weiter auf dem Pfad durch den hohen Farn. Auf halbem Weg bleibe ich stehen, um einer Goldammer zuzuhören, und sie sagt, sie könne keinen einzigen Vogel an seinem Gesang erkennen. Die meisten Erwachsenen würden einem nie sagen, daß sie irgendwas nicht wissen. Deshalb bleiben wir weiter unten auf dem Pfad, bevor der Bootssteg anfängt, unter einer alten Eiche stehen, damit sie sich eine Amsel anhören kann. Ich weiß, daß da oben eine sitzt, morgens um diese Zeit sitzt sie immer da oben und singt. Als wir hinkommen, hört sie sofort auf, und wir müssen leise sein und warten, bis sie wieder anfängt. Ich stehe neben dem halbtoten alten Baumstamm und kann andere Vögel auf anderen Bäumen hören, und ich höre den Fluß, wie er hinter einer kleinen Biegung unten am Bootssteg leckt. Aber unser Vogel macht Pause. Still auf etwas zu warten – das scheint Jenny nervös zu machen, und sie kneift sich die Nase zu, um ihr Lachjapsen zu unterdrücken. Ich möchte so sehr, daß sie die Amsel hört, daß ich die Hand auf ihren Arm lege, und als ich das tue, nimmt sie die Hand von der Nase und lächelt. Nur ein paar Sekunden später setzt die Amsel zu ihrem [21] langen, komplizierten Lied an. Sie hatte die ganze Zeit darauf gewartet, daß wir endlich zur Ruhe kommen. Wir gehen weiter zum Bootssteg, und ich zeige ihr mein Boot, das dort vertäut ist. Es ist ein Ruderboot, außen grün und innen rot, wie eine Frucht. Ich war jeden Tag im Sommer hier, bin damit gerudert, habe es angemalt, runtergewaschen und manchmal auch nur betrachtet. Einmal bin ich sieben Meilen stromaufwärts gerudert und habe den übrigen Tag damit verbracht, mich wieder stromabwärts treiben zu lassen. Wir sitzen auf dem Rand des Landungssteges und betrachten mein Boot, den Fluß und die Bäume auf der anderen Seite. Dann folgt Jennys Blick der Strömung, und sie sagt:

»Da unten ist London.« London ist ein schreckliches Geheimnis, das ich dem Fluß vorenthalten möchte. Er weiß noch nichts davon, wenn er an unserem Haus vorbeifließt. Also nicke ich nur und sage gar nichts. Jenny fragt mich, ob sie sich in das Boot setzen darf. Zunächst mache ich mir Sorgen, weil sie vielleicht zu schwer ist. Aber das kann ich ihr natürlich nicht sagen. Ich lehne mich weit über den Rand des Landungsstegs und ziehe den [22] Festmachertampen heran, damit sie bequem einsteigen kann. Mit viel Gegrunze tut sie das dann auch, und sie macht einen gehörigen Wirbel dabei. Und da das Boot nicht so aussieht, als liege es wesentlich tiefer als normalerweise, steige ich ebenfalls ein, und wir betrachten den Fluß von diesem neuen Blickwinkel aus und sehen, wie stark und alt er tatsächlich ist. Wir sitzen lange da und reden. Zuerst erzähle ich ihr, wie meine Eltern vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und wie mein Bruder sich gedacht hatte, daß man das Haus in eine Art Kommune umwandeln kann. Erst mal wollte er etwa zwanzig Leute hier wohnen lassen. Aber inzwischen, glaube ich, will er das auf acht beschränken. Dann erzählt Jenny mir von der Zeit, als sie an einer großen Schule in Manchester Lehrerin war, wo alle Schüler immer lachten, weil sie so fett war. Es macht ihr aber anscheinend nichts aus, darüber zu reden. Sie hat ein paar komische Geschichten über diese Zeit auf Lager. Als sie mir erzählt, wie die Kinder sie im Bücherschrank eingeschlossen haben, lachen wir beide so sehr, daß das Boot wackelt und kleine Wellen auf den Fluß hinausschickt. Diesmal ist [23] Jennys Lachen unbeschwert und irgendwie rhythmisch, nicht hart und japsend wie vorher. Auf dem Rückweg erkennt sie zwei Amseln an ihrem Gesang, und als wir über den Rasen gehen, zeigt sie mir noch eine. Ich nicke nur. In Wirklichkeit ist es eine Singdrossel, aber ich bin zu hungrig, um ihr den Unterschied zu erklären.

Drei Tage später höre ich, wie Jenny singt. Ich bin auf dem Hinterhof und versuche, aus verschiedenen Einzelteilen ein Fahrrad zusammenzusetzen, und da höre ich sie durch das offene Küchenfenster. Sie ist in der Küche und macht Mittagessen und paßt auf Alice auf, während Kate bei Freunden zu Besuch ist. Es ist ein Lied, dessen Text sie nicht kennt, halb fröhlich, halb traurig, und sie singt Alice vor wie eine alte, heisere Negerin. New morning man la-la, la-la-la, l’la, new morning man la-la-la, la-la, l’la, new morning man take me ’way from here. Am Nachmittag rudere ich mit ihr auf den Fluß hinaus, und sie hat ein neues Lied mit einer ähnlichen Melodie, aber diesmal ganz ohne Text. Ja-la-la, ja-laaa, ja-iiiii. Sie streckt die Hände aus und rollt mit den großen vergrößerten Augen, als wäre das eine Serenade ganz [24] speziell für mich. Nach einer Woche ist das ganze Haus mit Jennys Liedern erfüllt, manchmal mit ein bis zwei Zeilen Text, wenn sie ihn sich merken kann, aber meistens ganz ohne Worte. Sie hält sich immer lange in der Küche auf, und da singt sie auch am meisten. Irgendwie gelingt es ihr, dort alles geräumiger zu machen. Sie kratzt Farbe vom Nordfenster ab, damit mehr Licht hereinkommt. Es hat sowieso niemand eine Ahnung, warum das Fenster zugestrichen war. Sie trägt einen alten Tisch weg, und als er weg ist, fällt allen auf, daß er immer im Weg gestanden hatte. Eines Nachmittags streicht sie eine Küchenwand ganz weiß an, damit die Küche größer aussieht, und sie räumt die Töpfe und Teller so auf, daß man immer weiß, wo sie sind und sogar ich sie erreichen kann. Sie macht die Küche zu einem Zimmer, in dem man herumsitzen kann, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Jenny backt ihr eigenes Brot und verschiedene Kuchen, Sachen, die wir normalerweise im Geschäft kaufen. Als sie drei Tage bei uns ist, ist plötzlich mein Bett frisch bezogen. Sie nimmt mir die Bettwäsche, die ich den ganzen Sommer lang benutzt hatte, weg und das meiste von meinen Sachen und [25] wäscht den ganzen Kram. Sie verbringt einen ganzen Nachmittag damit, ein Curry zu machen, und an dem Abend esse ich so gut wie seit zwei Jahren nicht mehr. Als die anderen ihr sagen, wie gut sie es finden, wird Jenny nervös und fängt mit ihrem japsenden Lachen an. Ich sehe, daß es die anderen immer noch stört, wenn sie das macht, dann sehen sie irgendwie woandershin, als wäre es etwas Widerwärtiges und als wäre es unhöflich, wenn man dabei zusieht. Aber mir macht es überhaupt nichts aus, wenn sie so lacht, ich höre es schon gar nicht mehr, außer wenn die anderen am Tisch sitzen und weggucken. Nachmittags gehen wir meistens zum Fluß hinunter, und ich versuche, ihr Rudern beizubringen, und ich höre zu, wenn sie Geschichten erzählt, wie sie Lehrerin war und wie sie im Supermarkt gearbeitet hat, wie sie immer alte Leute beobachtet hat, die jeden Tag kamen, um Speck und Butter zu klauen. Ich bringe ihr noch den Gesang von anderen Vögeln bei, aber richtig merken kann sie sich nur den ersten Vogel, die Amsel. In ihrem Zimmer zeigt sie mir Bilder von ihren Eltern und ihrem Bruder, und sie sagt:

»Ich bin die einzige Dicke.« Ich zeige ihr [26] auch Bilder von meinen Eltern. Eins ist einen Monat vor ihrem Tod aufgenommen worden, und sie gehen Hand in Hand irgendwelche Stufen hinunter und sehen lachend etwas an, das nicht mit auf dem Bild ist. Sie haben über meinen Bruder gelacht, der Faxen machte, damit sie auf dem Bild, das ich knipste, lachen. Ich hatte den Fotoapparat gerade zum zehnten Geburtstag gekriegt, und das war eins der ersten Bilder, die ich damit gemacht habe. Jenny betrachtet das Foto lange und sagt, sie sähe aus wie eine sehr nette Frau oder so, und plötzlich sehe ich meine Mutter wie irgendeine Frau auf einem Bild, sie könnte sonstwer sein, und zum ersten Mal ist sie weit weg, nicht in meinem Kopf, aus dem sie herausschaut, sondern außerhalb meines Kopfes, und sie wird angeschaut von mir oder von Jenny oder von wem auch immer, der das Foto zufällig in die Hand nimmt. Jenny nimmt es mir aus der Hand und tut es zurück zu den anderen im Schuhkarton. Als wir hinuntergehen, beginnt sie mit einer langen Geschichte von einem Freund, der ein Theaterstück produziert hatte, das einen ganz merkwürdigen stillen Schluß hatte. Der Freund wollte, daß Jenny am Schluß mit dem Applaus [27] anfängt, aber irgendwie hat Jenny dann alles durcheinandergebracht, und dadurch klatschten die Zuschauer fünfzehn Minuten vor Schluß während einer stillen Szene, so daß der Schluß verlorenging, und der Applaus wurde noch lauter, weil keiner wußte, worum es in dem Stück überhaupt ging. Das alles ist wahrscheinlich dazu bestimmt, daß ich nicht mehr an meine Mutter denke, und es klappt auch.

Kate ist jetzt häufiger bei ihren Freunden in Reading. Eines Morgens bin ich in der Küche, als sie sehr schick angezogen hereinkommt; sie hat so einen Lederanzug an und lange Lederstiefel. Sie setzt sich mir gegenüber hin und wartet, daß Jenny herunterkommt, damit sie ihr sagen kann, was Alice heute zu essen bekommen soll und wann sie wieder nach Hause kommt. Das erinnert mich an einen anderen Morgen vor fast zwei Jahren, als Kate mit einem ganz ähnlichen Anzug in die Küche kam. Sie knöpfte sich die Bluse auf und knetete mit den Fingern bläulichweiße Milch aus der einen Titte in eine Flasche und dann aus der anderen. Sie schien nicht zu bemerken, daß ich auch da war. »Warum machst du das?« fragte ich sie.

[28] Sie sagte: »Das ist für Janet, damit sie es nachher Alice gibt. Ich muß heute weg.« Janet war ein schwarzes Mädchen, das damals hier wohnte. Es war merkwürdig, wie Kate sich selber in diese Flasche melkte. Ich mußte daran denken, daß wir nur Tiere mit Kleidern sind, die ganz merkwürdige Sachen machen, wie Affen auf einer Teegesellschaft. Aber meistens gewöhnen wir uns so sehr aneinander. Ich frage mich, ob Kate jetzt an diese Zeit denkt, wo sie mit mir ganz früh am Morgen in der Küche sitzt. Sie hat sich die Lippen orange angemalt und die Haare zurückgebunden, und dadurch sieht sie noch dünner aus als gewöhnlich. Ihr Lippenstift hat irgendwie Leuchtfarbe, wie ein Verkehrsschild. Jede Minute sieht sie auf die Uhr, und ihr Leder knarrt. Sie sieht aus wie eine wunderschöne Frau aus dem Weltraum. Dann kommt Jenny herunter, sie hat einen großen, alten Morgenrock aus Stoffresten an und gähnt, weil sie eben erst aufgestanden ist, und Kate spricht sehr schnell und leise mit ihr über das Essen, das Alice heute kriegen soll. Es ist, als machte es sie traurig, über solche Sachen sprechen zu müssen. Sie nimmt ihre Tasche, rennt aus der Küche und [29] ruft »Bye!« über die Schulter. Jenny setzt sich an den Tisch und trinkt Tee, und es ist, als sei sie in Wirklichkeit die fette Amme, die zu Hause bleiben muß, um auf die Tochter der reichen Dame aufzupassen. Yo’ daddy’s rich and yo’ mama’s goodlookin’, lah la-la-la la-la don’ yo’ cry. Und dann ist da noch etwas an der Art und Weise, wie die anderen Jenny behandeln. Als wäre sie weg von allem und eigentlich gar kein Mensch wie sie. Sie haben sich daran gewöhnt, daß sie riesige Mahlzeiten kocht und Kuchen backt. Niemand verliert mehr ein Wort darüber. Manchmal sitzen Peter, Kate, José und Sam abends zusammen, rauchen Haschisch aus Peters selbstgemachter Wasserpfeife und hören dem voll aufgedrehten Stereo zu. Wenn sie das tun, geht Jenny gewöhnlich in ihr Zimmer, sie ist nicht gern dabei, wenn sie so was tun, und ich merke, daß ihnen das irgendwie auf den Wecker geht. Und obwohl sie ein Mädchen ist, ist sie nicht schön, wie Kate oder Sharon, die Freundin meines Bruders. Sie trägt auch keine Jeans und indische Hemden wie sie, wahrscheinlich weil sie keine finden kann, die ihr passen. Sie trägt Kleider mit Blumen drauf und ganz gewöhnliche Sachen wie [30] meine Mutter oder die Dame auf dem Postamt. Und wenn sie etwas nervös macht und sie mit ihrem Lachen anfängt, weiß ich, daß sie sie für eine Art Pflegefall halten, ich weiß das, weil sie die Augen abwenden. Und sie denken immer noch daran, wie dick sie ist. Manchmal, wenn sie nicht dabei ist, nennt Sam sie Slim Jim, den Schlanken Jim, und darüber lachen die anderen dann immer. Sie sind nicht unfreundlich zu ihr oder so was, aber sie halten sie sich irgendwie, es ist schwer zu beschreiben, wie, irgendwie vom Leibe. Als wir einmal draußen auf dem Fluß sind, fragt sie mich über Haschisch aus.

»Was hältst du von der ganzen Sache?« sagt sie, und ich sage ihr, daß mein Bruder es mich nicht probieren läßt, bevor ich fünfzehn bin. Ich weiß, daß sie es haßt wie die Pest, aber sie erwähnt es nicht wieder. Am selben Nachmittag knipse ich sie, wie sie sich an die Küchentür lehnt, mit Alice auf dem Arm, und in die Sonne blinzelt. Sie knipst mich auch, wie ich freihändig mit dem Fahrrad, das ich aus Einzelteilen zusammengebaut habe, über den Hinterhof fahre.

Schwer, genau zu sagen, wann Jenny Alices [31] Mutter wird. Zuerst paßt sie nur auf sie auf, wenn Kate bei Freunden zu Besuch ist. Dann werden die Besuche immer häufiger, bis sie fast jeden Tag fort ist. Also verbringen wir drei – Jenny, Alice und ich – viel Zeit miteinander am Fluß. Beim Bootssteg ist das Ufer grasig und fällt ab zu einem winzigen Sandstrand hin, der etwa zwei Meter breit ist. Jenny sitzt im Gras und spielt mit Alice, während ich an meinem Boot arbeite. Als wir Alice zum ersten Mal mit ins Boot nehmen, quiekt sie wie ein Schweinebaby. Sie traut dem Wasser nicht. Es dauert lange, bis sie es wagt, auf dem kleinen Strand zu stehen, und als sie es doch schließlich tut, läßt sie das Wasser nie aus den Augen, um sicherzugehen, daß es nicht doch bis zu ihr hinaufkriecht. Aber als sie sieht, wie Jenny ihr vom Boot aus zuwinkt und völlig in Sicherheit zu sein scheint, ändert sie ihre Meinung, und wir machen einen Ausflug zum anderen Flußufer. Alice macht es nichts aus, daß Kate fort ist, denn sie mag Jenny, die ihr die Stücke aus Liedern vorsingt, die sie kennt, und die ständig mit ihr spricht, wenn sie auf dem Stück Gras am Fluß sitzen. Alice versteht kein einziges Wort, aber sie mag den Klang von Jennys [32] Stimme, der immer so weitergeht und nie aufhört. Manchmal zeigt Alice auf Jennys Mund und sagt: »Mehr, mehr.« Kate ist immer so still und traurig, wenn sie mit ihr zusammen ist, daß Alice nicht oft Stimmen hört, die sich direkt an sie wenden. Einmal bleibt Kate über Nacht weg und kommt erst am nächsten Morgen zurück. Alice sitzt auf Jennys Schoß und verteilt das Frühstück über den Küchentisch, als Kate hereingerannt kommt, sie aufhebt, umarmt und immer wieder fragt, ohne jemandem Zeit für eine Antwort zu lassen:

»Ist es ihr auch gutgegangen? Ist es ihr auch gutgegangen? Ist es ihr auch gutgegangen?« Am selben Nachmittag ist Alice wieder bei Jenny, denn Kate muß wieder irgendwohin. Ich stehe im Flur vor der Küche, und ich höre, wie sie zu Jenny sagt, daß sie am frühen Abend zurück ist, und ein paar Minuten später sehe ich, wie sie mit einem kleinen Koffer zur Gartentür geht. Als sie zwei Tage später zurückkommt, steckt sie nur kurz den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, ob Alice noch da ist, und dann geht sie hinauf in ihr Zimmer. Manchmal ist es nicht so gut, daß wir Alice ständig bei uns haben. Wir können mit dem Boot nicht sehr [33] weit weg. Nach zwanzig Minuten wird Alice das Wasser wieder verdächtig, und sie will zurück ans Ufer. Und wenn wir irgendwohin gehen wollen, muß Alice den größten Teil des Wegs getragen werden. Das bedeutet, daß ich Jenny einige meiner speziellen Stellen am Fluß nicht zeigen kann. Wenn es ein bißchen spät wird, fängt Alice wegen nichts und wieder nichts an zu quengeln und zu weinen, weil sie müde ist. Ich habe es allmählich satt, so viel Zeit mit Alice zu verbringen. Kate bleibt fast den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Eines Nachmittags bringe ich ihr Tee nach oben, und sie sitzt auf einem Stuhl und schläft. Weil Alice jetzt meistens auch dabei ist, reden Jenny und ich jetzt nicht mehr soviel wie früher, als sie zu uns kam. Nicht, weil Alice zuhört, sondern weil Jenny mit ihr völlig ausgelastet ist. Sie denkt echt an gar nichts anderes mehr, es sieht so aus, als wollte sie nur noch mit Alice reden. Eines Abends sitzen wir alle nach dem Abendessen im Wohnzimmer. Kate steht im Flur und hat eine lange telefonische Auseinandersetzung mit jemandem. Dann hängt sie auf, kommt rein, setzt sich mit ziemlichem Gepolter hin und liest weiter. Aber ich kann sehen, daß sie wütend ist [34]