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Sommer 1934. Die Meeresbiologin Gloria Hollister sitzt an Bord eines Schiffes in der Nähe der Atlantikinsel Nonsuch, mit einer Hand presst sie einen Hörer ans Ohr, mit der anderen schreibt sie fieberhaft in ein Notizbuch. Die Telefonleitung reicht über 900 m tief ins Meer hinab. Dort unten baumelt an einem Stahlseil eine Tauchkugel, in der William Beebe zusammengekauert sitzt. Durch winzige Fenster blickt er in die fremde Unterwasserwelt. Aufgeregt beschreibt er fantastische Kreaturen und wundersame Licht- und Farbeffekte. Brad Fox verknüpft Wissenschaftsgeschichte mit dem Bericht der ersten Tiefsee-Expedition und der ganz persönlichen Geschichte ihrer Teilnehmer. Er stützt sich dabei auf die Logbücher der Expedition – und lässt uns so teilhaben an der Begegnung mit dem Unbekannten.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Brad Fox
Leuchten am Meeresgrund
Aus dem Logbuch der ersten Tiefsee-Expedition
Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow
Die englische Originalausgabe ist 2023 bei Astra House, New York unter dem TitelThe Bathysphere Book. Effects of the Luminous Ocean Depths erschienen.
Published by special arrangement with Astra Publishing House in conjunction
with their duly appointed agent 2 Seas.
© 2023 John Brady Fox
wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
Umschlagmotive: Abbildungen aus dem Buch
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print: 978-3-534-61027-3
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61031-0
ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61032-7
1. Der erste Blick
2. Spektrale Erscheinungen
3. Weiter in die Tiefe
4. Kopfüber
5. Donnerbüchse
6. Im Sinken
7. Die tiefsten Tauchgänge
8. Risikoübernahme
9. An die Oberfläche
10. Sommer
11. Unsichtbarkeiten
12. Überall Tinte
13. Einsamkeit und Stille
14. Den Körper zurücklassen
15. Jüngste Sichtungen
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Über den Autor
Bildteil
Gloria Hollister schreibt mit.
Am späten Vormittag des 11. Juni 1930 dümpelt ein Lastkahn namens Ready vor der Küste der Insel Nonsuch auf den Bermudainseln, an Bord das Team des Instituts für Tropenforschung. Männer in Overalls und weißen Matrosenmützen scharen sich um eine Stahlkugel von knapp anderthalb Meter Durchmesser – die Bathysphäre –, während eine gewaltige Winde sie von Deck hebt. Die Männer stabilisieren die Kugel, als sie nach außen schwenkt und über dem Meer baumelt. Sie hat drei kreisrunde Löcher, die wie Augen eng zusammenstehen. Wie die Tauchkugel da am Kabel hängt, scheint sie aus den Bullaugen auf das unruhige Wasser hinabzublicken.
An Deck beobachtet Gloria Hollister, wie die Windenarbeiter die Kugel ins Meer hinablassen. Als sie spritzend eintaucht und in die Tiefe sinkt, setzt sie sich, nimmt ein Notizbuch zur Hand und macht sich bereit.
An diesem Tag ist ihr dreißigster Geburtstag.
Fotos zeigen sie mit konzentriertem Gesichtsausdruck, Kopfhörern und einer kleinen Sprechmuschel um den Hals, die das Aussehen eines alten Jagdhorns hat. Sie drückt ihr Kinn an die Brust, während sie zuhört und spricht und erste Notizen macht. Das Kabel läuft über den Rand des Decks und verschwindet im Wasser, angeschlossen an die sinkende Bathysphäre, die jetzt in die Tiefen des Ozeans vordringt.
In der Kugel kauern zwei dünne Männer, beschäftigt mit der Erfüllung verschiedener Aufgaben: Otis Barton und William Beebe. Sie mussten buchstäblich dünn sein, denn die Öffnung, durch die sie in die Tauchkugel klettern, ist weniger als 50 Zentimeter breit. Barton, der die Kugel entworfen und ihre Herstellung beaufsichtigt hatte, überwacht die Dichtung der 180 Kilogramm schweren Tür, die Sauerstofftanks, die für acht Stunden Atemluft sorgen, und die Schachteln mit Atemkalk, der das ausgeatmete Kohlendioxid absorbieren soll. Er überprüft die Telefonbatterie und das Gebläse, das die Luft umwälzt.
Er ist aufbrausend, eifersüchtig und leidet unter Seekrankheit.
Während die Tauchkugel sinkt, wird es im Inneren immer kälter. Wasser kondensiert an der Kugeldecke, tropft herunter und bildet Pfützen am Boden.
Zwei 7,5 Zentimeter dicke Quarzglasfenster sind in die Kugel eingelassen. Es sollten eigentlich drei sein, aber eine der Quarzglasscheiben war fehlerhaft gewesen, sodass die Öffnung mit Stahl verschlossen werden musste.
Beebe, seines Zeichens Ornithologe und Ökologe, hält sich so nah an den Gucklöchern wie möglich. In seinem Entzücken über die Unterwasserwelt ist ihm vollkommen bewusst, dass er gerade Zeuge von etwas wird, das noch nie ein Mensch gesehen hat. Der dynamische Mann mit der ansteckenden Begeisterung hat bereits Berühmtheit erlangt: durch die Bücher, in denen es um seine Reisen um die Welt auf den Spuren von Fasanen ging, und durch eine Expedition in den Himalaya und einen lebensgefährlichen Ausflug zu einem Vulkanausbruch auf den Galapagosinseln. Er ist 52 Jahre alt, glatzköpfig, knochig und x-beinig. Mit dünner, aber würdevoller Stimme vermeldet er seine Beobachtungen während des Hinabsinkens. Er war schon überall auf der Welt, spricht aber noch immer mit dem Akzent seiner Heimat, des Bundesstaates New Jersey; worlds und birds klingen bei ihm wie woylds und boyds.
Die Windenarbeiter wickeln das Kabel ab, und als die Bathysphäre weiter in die Tiefe gleitet, verändert sich allmählich das Licht. Die warmen Töne der Erdoberfläche werden vom Wasser absorbiert. In 30 Meter Tiefe hält Beebe eine rote Farbtafel in die Höhe und stellt fest, dass sie vollkommen schwarz erscheint. Fische schwimmen in der kühlen Klarheit der Grün- und Blautöne des Wassers vor den Bullaugen ins Blickfeld. Beebe beschreibt Hollister, was er sieht; sie hält alles fortlaufend in ihrem Notizbuch, dem Logbuch, fest:
100 ft (30 m)
Rot weg, Farbtafeln schwarz.
Fingerhutquallen.
200 (61)
Pilotfische um Köder, 15 cm lang, reinweiß mit 8 pechschwarzen Bändern.
250 (76)
Kein Rot oder Gelb im Sonnenlicht.
Mehr Quallen, wieder Schwanz von Pilotfisch zu sehen.
300 (91)
Otis sah Pilotfisch, Fisch an der Oberfläche vielfarbig, wirkt aber weiß.
400 (122)
Zwei Salpenkolonien.
Garnelen wirken reinweiß.
500 (152)
Transparenter Fisch, nur Nahrung sichtbar.
550 (168)
Temperatur 24 Grad. Große Weidenblattlarve.
Viele Cavolinia. Mehrere Laternenfische.
650 (198)
Lichtblitze in der Ferne.
800 (244)
Ziemlich düster. Messrad zeigt 237 nm.
900 (274)
Mehrere Wolken aus kleinen Garnelen.
Großer Serrivomer.
Licht aus.
Während die Bathysphäre in die Tiefe sinkt, setzt sich dieses Zusammenspiel fort: die Verschiebung des Spektrums, bis die Welt außerhalb der Stahlkugel blau ist, blau und sonst nichts, langsam in Schwarz übergehend, aber immer noch erleuchtet von einer merkwürdigen Helligkeit, die Beebe nicht in Worte fassen kann. Der Scheinwerfer der Bathysphäre schickt einen trüben Strahl durch die Quarzglasscheiben, doch hier, in 300 Meter Tiefe, verliert er sich schnell.
Der Strahl erlischt, und das Wasser ist erfüllt von Mini-Explosionen. Winzige Garnelen. Beebe hatte gesehen, wie sie in Netzen hochgezogen wurden, leblos. Jetzt konnte er sie zum ersten Mal in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten, wo sie die schwarze Tiefe mit raschen Oxidationsvorgängen einer Chemikalie in ihrem Körper erleuchten, der Luciferase.
Als die Explosionen aufhören, kommt das seltsame Leuchten zurück, und es ist, als hätte es im Universum nie eine andere Farbe gegeben. Beebe ist sich sicher, dass die Helligkeit zum Lesen reicht, doch als Barton ein Blatt Papier hochhält, erkennt er kein einziges Wort. Beebe dreht sich wieder zum Bullauge, beobachtet und spricht weiter, und Hollister an Deck füllt eifrig die linierten Seiten des Logbuchs:
1050 ft (320 m)
Schwärzer als die schwärzeste Nacht und doch hell leuchtend.
Luft herrlich. 20 kleine Fische, könntenArgyropelecus sein.
1100 (335)
Dicker, rattenschwänziger, langer, fahlweißer, grenadierfischartiger Fisch mit sechs Leuchtorganen um Schlauchkrümmung geschwommen.
1150 (351)
Lichtstrahl deutlich zu sehen – Licht an.
1200 (366)
Idiacanthus. Zwei Astronesthes.
1250 (381)
Fisch 13 cm lang, geformt wie Stomias
Garnelen 7,5 cm, ganz weiß.
Argyropelecus in Lichtstrahl.
2 leuchtende fahlweiße Quallen.
1300 (396)
6 bis 8 Garnelen. 50 bis 100 Lichter wie Glühwürmchen.
Kleiner Kalmar im Lichtstrahl,
scheint keine Leuchtorgane zu haben, ging runter zum Köder.
Cyclothones. Garnelen 5 cm.
1350 (411)
Licht sehr blass.
Temp. 22 Grad. Messrad zeigt 403 nm.
1400 (427)
Blick gerade nach unten, sehr schwarz.
Schwarz wie die Hölle.
Dann ein kräftiger Lichtblitz. Wie ein Blitzlicht, das etwas vor dem Fenster erleuchtet. Was hat das verursacht? Er kann nichts außer Garnelen und Quallen erkennen, aber eine Gestalt hat sich in seine Netzhaut eingebrannt.
Es war eine dicke, aalartige Kreatur, mit spitzen Zähnen. Beebe hat ein weit geöffnetes Maul gesehen, kleine, scharfkantige Zähne wie Nägel in einem Brett, doch mit klaffendem Maul. Was für ein Grauen hatte er da gerade erblickt? Ein kurzer Schaltfehler im Getriebe der Realität hatte ihn in einen Albtraum aus fluoreszierendem Reißen und Knirschen katapultiert. Und dann war es auch schon vorbei, und er war wieder in der Tauchkugel. Draußen die vertrauten Wellenbewegungen der Quallen.
Genug. Beebe weist Hollister an, der Besatzung zu sagen, es sei an der Zeit, sie wieder an die Oberfläche zu ziehen. Als sie bis auf 50 Meter aufgetaucht sind, kann die Mannschaft das Gefährt unter Wasser erkennen.
Die Windenarbeiter holen die Bathysphäre an Bord und lösen die Bolzen, damit die Männer in die Nachmittagssonne, das fast fremde Tageslicht hinausklettern können. Beebe streckt seine knotigen Knie und stampft mit den
Füßen auf das Bootsdeck. Er blickt auf die sanften Hügel von Bermuda in der Ferne und weiß, dass etwas in ihm sich ein für alle Mal verändert hat. Später würde er versuchen einzuordnen, was genau das war. Es hatte etwas mit dem Licht zu tun, das er gesehen hatte.
Das Gelb der Sonne, schrieb er, »kann von nun an nie mehr so herrlich sein, wie es das Blau sein kann«.
Einband des Log of the Bathysphere, 1932.
Eine Seite aus dem Logbuch.
Gloria Hollister begann schon als kleines Mädchen, die Unterwasserwelt zu erkunden, indem sie mit einem aus einer Ölkanne und einem Luftschlauch gebastelten Helm in den Mahwah River hinabtauchte.
Sie machte sich einen Namen durch die Entwicklung einer neuartigen Methode, Fische so einzufärben, dass ihre Haut und Organe durchsichtig wurden und ihr Skelett unter ultraviolettem Licht in kräftigen Farben leuchtete. Nun konnten Forschende ihre Knochenstrukturen untersuchen, ohne sie zu sezieren.
1926 nahm ein Kollege aus dem Zoo sie in Beebes Büro mit. Sie war Mitte zwanzig, ernsthaft und intelligent und kräftig – Otis Barton nannte sie »eine Wissenschaftlerin mit goldenem Haar und dem Körperbau einer Amazone«.
Telegramm von Gypsy Rose Lee an Gloria Hollister, undatiert
Sie war ein privilegiertes Kind wohlhabender Eltern aus New York. Als sie sich Beebes Team im Institut für Tropenforschung anschloss, veröffentlichte das New York Evening Journal einen Artikel mit der Überschrift: »Mädchen entflieht den Lichtern des Broadways und findet sie am Meeresgrund«. Auf dem Bild drückt sie mit starrem Blick ihr Hündchen Trumps an sich. Im zugehörigen Interview beschrieb sie, wie die Farben der Unterwasserwelt, die biolumineszenten Organismen, heller leuchten als die Lichter am Broadway.
In der Zeitschrift Popular Mechanics erschien im Oktober 1930 eine Reportage über die Bathysphäre, eingeschoben zwischen Artikeln über das Nähen, eine stumme Violine und Tierzahnheilkunde. Eine Illustration zeigt Hollister, wie sie während eines Tauchgangs Notizen im Logbuch macht. Sie schreibt konzentriert, die Knie geschlossen, um das Notizbuch abzustützen, sie trägt weiße Tennisschuhe mit knöchelhohen Socken.
Beebe führte ausführliche Tagebücher, aber er wollte nicht, dass das zukünftige Lesepublikum etwas über sein Privatleben herausfand. Er schrieb über seine frühen Romanzen, riss diese Seiten später jedoch heraus. Er entwickelte auch einen Substitutionscode – ein Affe war der Buchstabe a, ein kleines Insekt b –, damit er Dinge schreiben konnte, die niemand verstehen würde. Die Biografin Carol Grant Gould knackte den Code erst Jahrzehnte nach seinem Tod und enthüllte die jugendlichen Gedanken eines mittelalten Mannes:
»Ich habe Gloria geküsst, und sie liebt mich.«
Ausschnitt aus Beebes Tagebuch, 31. Mai 1930, mit Einträgen in seinem Geheimcode
Beebe und Hollister hatten zum Zeitpunkt des ersten Bathysphären-Tauchgangs schon vier Jahre zusammengearbeitet. Gould beschreibt, wie sie sich vor tropischen Stürmen in Höhlen auf Nonsuch flüchteten und wieder auftauchten unter Regenbögen, die im Nebel leuchteten. Tagsüber katalogisierten sie zusammen Pflanzen und Tiere – alles, was sie auf der Insel und im Meer fanden.
»Nachts besuchten sie sich«, schreibt Gould. »Jedoch mit einer Vorsicht, die das Erleben noch steigerte.«
Hollister führte ebenfalls Tagebuch, mit Bleistift auf Stapeln von ungebundenem weißem Papier in ihrer verschnörkelten Handschrift. Nirgendwo erwähnt sie, Beebe geküsst oder sich mit ihm in Höhlen auf Nonsuch versteckt zu haben. Sie schreibt kryptisch, introspektiv, kämpft mit den Vorstellungen, die sie von ihrem Leben hat und die sich nun aufzulösen beginnen. Sie beobachtet einen scharlachroten Sonnenuntergang und staunt über die »kristallhellen Planeten«.
*
Der nächste Tag war so perfekt, dass Beebe dem Team freigab und alle nach Castle Island schickte außer Hollister, die krank gewesen war. Sein verschlüsselter Eintrag vom nächsten Tag vermeldet, sie habe »die Krankheit sehr gut überstanden«.
In ihren eigenen Unterlagen von diesem Tag findet sich eine Kopie von Howard Barnes’ Arbeit zu Krebstieren. Über den wissenschaftlichen Ergebnissen hatte Hollister in zartem Bleistiftstrich und kopfüber, als hätte sie es Beebe verstohlen und flüchtig gezeigt, als sie an gegenüberliegenden Seiten eines Labortisches arbeiteten, geschrieben: »Ich bin für immer dein.«
Als ihre Mutter über Ostern zu Besuch kam, gingen sie zusammen zum Gottesdienst, Hollisters erster Kirchenbesuch seit vielen Monaten. Es kostete sie all ihre Kraft, gelassen zu bleiben, weil sie eine Welle starker widerstreitender Gefühle in sich aufsteigen spürte. Wie hatten sich die ersten Christen an Ostern gefühlt – »diejenigen, die das Bild eingefangen hatten – die Vision«.
Selbst in Verzweiflung und Depression, dachte sie, müsste das die richtige Einstellung zum Tod gefördert haben.
Zwei Wochen nach Ostern liegt sie schlaflos im Bett, als eine seltsame Empfindung sie überkommt: »Es fällt mir schwer zu schreiben, weil meine Ideen noch nicht ganz ausformuliert sind. Mir kam der Gedanke, dass meine Welt ganz und gar nicht materiell ist. Es ist eine Welt der Deutung und Gedanken. Ich blicke über Zedern und die Brandung hinaus auf eine bestimmte Gottheit der Schönheit, Gottheit des Richtigen.«
Und weiter: »Das Christentum gründet sich auf eine Doktrin des Falschen. Wie wäre es mit einem Glauben, der Kraft und Inspiration aus der Schönheit der Natur schöpft statt aus einer ›sündigen‹ Tat eines Menschen? Ein sonderbares Gefühl von Stärke überkommt mich und ein Verständnis der Kräfte um mich herum.«
Hollister liegt nachts oft wach, aufgewühlt von Gedanken an das, was sie auf ihren Tauchgängen gesehen hat. Was, wenn die ganze Welt beim Aufwachen anders ist? Was, wenn der eigene Körper sich verändert hat?
»Was geschieht mit dem Gehirn einer Flunder, während ihr Auge wandert?«, fragt sie sich. »Man stelle sich vor, mit Augen an der üblichen Stelle einzuschlafen und flachgesichtig wieder aufzuwachen!«
*
Die Lebewesen, die sie auf ihren Entdeckungsfahrten vor Nonsuch kennenlernte, eröffneten ihr eine ganz neue Welt von Möglichkeiten.
In diesem ersten Sommer brachten sie mit dem Schleppnetz in tiefen Gewässern einen Fisch von der Gestalt einer großen Kaulquappe herauf, einen Schuppenlosen Drachenfisch, und es gelang ihnen, ihn lebend ins Labor zu transportieren. Zunächst verharrte er ruhig, fast bewegungslos, doch als Hollister nach ihm griff, um ihn in eine flache Schale zu legen, fuhr er herum und grub seine spitzen Zähne in ihren Finger. Sie zuckte zusammen, doch der Biss war nicht schmerzhaft. Sie hielt ihre Hand mit dem am Finger baumelnden Drachenfisch in die Höhe. Beebe sah zu, wie sie ihn über die andere Schale bewegte und schüttelte, bis er hineinfiel.
Dann trug sie den Fisch in den angrenzenden Raum, der im Dunkeln lag, und stellte die Schale auf einen Tisch. Sie wollte sich gerade umdrehen, als der Fisch eine ruckartige Bewegung machte. Er sprang in die Höhe, und gleichzeitig blitzten irgendwo unter seinen Augen zwei weiße Lichter auf. Hollister hörte sich aufschreien, als eine Reihe von Leuchtorganen an seinem Bauch erstrahlten und den Schatten des Fisches an die Decke warfen. Gerade als der Fisch in die Schale zurückfiel, machte sie einen Schritt nach vorn. Sie stand über ihm und sah auf ihn herab, wie er bewegungslos dalag, nun ganz farblos.
*
Bald darauf tauchte sie an einem Riff – zwölf Meter unter einem nackten Felsvorsprung – mit dem Namen Gurnet Rock.
Durch ihren kupfernen Tauchhelm erspähte sie einen großen Fisch und mehrere Haie. Sie hatte keine Angst vor Haien – sie war an sie gewöhnt. Doch als sie ihnen nachblickte, verlor sie den Halt. Instinktiv griff sie nach der Leiter neben sich, doch die war weg.
Hollister sah hoch, die Leiter verschwand gerade über die obere Riffkante aus ihrem Blickfeld. Sie hielt einen Augenblick inne und blickte ihr nach, winkte ihr sogar zum Abschied, bevor sie sich umdrehte, um die Situation abzuschätzen.
Um sie herum glitten die Haie gespenstisch durchs Wasser. Sie spürte, wie ein Gefühl absoluter Einsamkeit über sie hinwegglitt, während sie überlegte, was sie tun sollte.
Sie erinnerte sich an ihre Reitstunden, bei denen sie in Reitkleidung angetreten war, um auf den schönen Tieren durch die Gegend zu traben. Doch bevor ihr etwas so Elegantes gelingen konnte, musste sie eine Grundregel verinnerlichen. Bleib um jeden Preis ruhig, hatte ihr Lehrer immer wieder gesagt. Ein Pferd spürt die Angst, und dann kann es die Oberhand gewinnen.
Wussten diese Monsterfische, dass sie in Schwierigkeiten steckte? Haie greifen selbst ihre Artgenossen an, wenn diese unter Stress stehen.
Sie zwang sich zur Ruhe und wägte ihre Möglichkeiten ab. Es gab nur zwei Wege, dieser einsamen, mitleidlosen Welt zu entfliehen: Entweder riss sie sich den Helm vom Kopf und schoss an die Wasseroberfläche, oder sie kletterte am Luftschlauch entlang nach oben. Sie entschied, dass die Aufgabe ihres Helms der letzte Ausweg war. Sie würde es mit dem Schlauch versuchen. Aber würde er ihr Gewicht tragen?
Als sie zog, fielen ihr viele Meter schlaffen Schlauchs in die Arme und verwickelten sich in den Felsen unter ihr. Das Boot musste inzwischen das Riff passiert haben. Eine weitere Welle der Verzweiflung erfasste sie.
Ich werde zurückkommen, sagte sie sich immer wieder. Ich werde zurückkommen.
Als sie die Geschichte später mit Bleistift in ihr Notizbuch schrieb, wollte sie sich an ihre Entschlossenheit erinnern, ihren eisernen Willen. Doch stattdessen erinnerte sie sich daran, dass der Moment der Krise sie für eine andere Versuchung anfällig gemacht hatte: sich aufzugeben.
Sie dachte an all die depressiven Episoden im Lauf der Jahre, die vielen Male, als sie sich nach einem Ausweg aus dem Elend des Lebens gesehnt hatte. Hier war eine Möglichkeit. Sie musste es nur zulassen, und es wäre erledigt. Die Befreiung war so nah, wie es die Leiter noch vor wenigen Augenblicken gewesen war.
Aber jetzt, in dem Bewusstsein, dass ein einziger Fehltritt oder eine falsche Bewegung ihre Existenz beenden konnte, erkannte sie, dass sie leben wollte: »Meine ganze Seele wollte auf meine Erdenwelt zurückkehren und weitermachen.«
Sie zog erneut am Schlauch und bekam erneut einen Arm voll Durchhang. Als sie näher an das Riff herantrieb, überlegte sie, ob sie hinaufklettern könnte, um an die Leiter zu kommen. Genau in diesem Moment erfasste sie eine Strömung und drohte, sie unter den überhängenden Vorsprung zu spülen. Sich an das Riff klammernd, sah sie den Boden des Schiffes auf den Felsen zusteuern, als ob die Besatzung an Bord nicht aufpasste, wo sie hinfuhr. Sie mussten wohl am Heck stehen und nach ihr Ausschau halten.
Sie unternahm einen letzten Versuch zu klettern. Sie strampelte und mühte sich an der Seite des Riffs hinauf, bis sie schließlich die unterste Sprosse der Leiter zu fassen bekam. So schnell sie konnte, kletterte sie an Bord, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie es auf die Steilwand einer Klippe zusteuerte.
Als sie sich später an diesen Tag erinnerte, schrieb sie: »Ich hoffe, die Götter der Aufregung bitten mich noch einmal an den Rand des Abgrunds. Ich fühle mich wohl bei ihnen, und ein Blick über den Rand hilft gegen diesen seltsamen, beinahe unwiderstehlichen Sog, der meine Seele heimsucht.«
*
An diesem Nachmittag hatte Beebe alles vorbereitet, damit sie von Bord der Ready mit seinem Assistenten John Tee-Van in der Bathysphäre hinabtauchen konnte – eine Geburtstagsüberraschung. Sie krabbelte durch die kleine Öffnung und lauschte über das Telefon dem rhythmischen Klirren, mit dem die zehn großen Bolzen eingeschlagen wurden.
Während sie in die Tiefe hinabsank, sah sie eine Rippenqualle so nah vorbeischweben, dass sie ihre acht Reihen Geißeln erkennen konnte. Eine große, geisterbleiche Schirmqualle tauchte im Blickfeld auf, vier nesselnde Tentakel hinter sich herziehend, und verschwand im Blaugrün. In 60 Meter Tiefe verlor das Blau jede Spur von Gelb. Farblose Garnelen und stachelmakrelenartige Fische stießen heftig gegen das Bullauge. Galeerenfische schossen umher. Eine lange, schlanke, aalähnliche Weidenblattlarve schob sich mit wellenförmigen Bewegungen ins Blickfeld, wie ein Streifen Seidenpapier mit einem glitzernden Auge.
Die Windenarbeiter entrollten 120 Meter Kabel, bevor Beebe sie anhalten ließ. Um sich selbst hatte er niemals Angst, doch er konnte es nicht ertragen, dass seinen beiden Gefährten etwas passieren könnte, zumal Hollister zu seinem zweiten Paar Augen geworden war. Sie bat ihn, länger bleiben und tiefer gehen zu dürfen, doch Beebe blieb hart.
Hollister spähte aus den Fenstern der Bathysphäre in eine grenzenlose Tiefe von überwältigendem Blauviolett. Diese »schreckliche Farbe«, schrieb sie, fesselte ihre Aufmerksamkeit wie eine unbeschreibliche Macht und rief ihr zu, tiefer und tiefer hinabzutauchen, »hinunter ins Dunkel, ins absolute Dunkel, wo die blinden weißen Seeschlangen sind«.
Gloria Hollister, um 1934
Nach Hollisters Geburtstags-Tauchgang schickten Beebe und Barton die Bathysphäre unbemannt hinunter, nur mit einer Filmkamera an Bord. Über einen Fernauslösemechanismus drehten sie 450 Meter Film an. Als er entwickelt war, zeigte er »nichts Sichtbares«.
Als Beebe elf war, brachte seine Mutter ihn zu einem Phrenologen am Broadway. Dieser bescheinigte ihm einen regen, kritischen Geist und ein gutes Urteilsvermögen, was den Charakter eines Menschen anging, sagte jedoch, sein Körper könnte ihn hintergehen. Beebes Verständnis zufolge bedeutete das, er würde nie ein Intellektueller sein, weil sein Kopf zu klein war.
Als Teenager sah er an Deck einer Fähre nach Nova Scotia erstmals, wie Wale Fontänen aus ihren Atemlöchern spritzten und aus dem Wasser sprangen. Auf ihn wirkten die Tiere urzeitlich und vollkommen frei, er beschrieb sie als »herrenlos, in der endlosen Weite tobend«. Da verstand er zum ersten Mal die Grenzenlosigkeit des Ozeans.
1903 schlug er einem Eimer den Boden aus und ersetzte ihn durch Glas. Er drückte ihn ins Meerwasser vor der Küste von Florida und erklärte, was er dort gesehen habe, sei ein Wunder.
Er hatte ein Fernglas in der Feldstation, damals noch eine Seltenheit. Neuankömmlinge wies er an, das Fernglas auf den Mond zu richten. Ihre Reaktion auf den Anblick sagte ihm alles, was er wissen musste. Nur sprachloses Staunen zeugte für ihn von einem edlen Charakter. Weniger Begeisterung bedeutete, das Leben des Besuchers war nur ein bedeutungsloser Marsch dem Tod entgegen.
Er spielte Ukulele und Banjo und trank gern Cocktails. Für die Geburtstagsfeier eines Kollegen rasierte er sich den Schnurrbart ab, zog ein Rüschenkleid an und legte Lippenstift auf. Er lehrte seine Freunde, dass ein Wissenschaftler sich manchmal auch in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnen, die Füße hochlegen und »mit einer Dame über das richtige Kostüm für den Beaux-Arts Ball« diskutierten sollte.
Er war der erste Wissenschaftler, der spielende Vögel beschrieb.
*
Im Jahr 1900 führte er Mary Blair Rice in die neue Musicalrevue Florodora aus, die Geschichte einer Jagd nach einem seltenen Parfüm auf einer philippinischen Insel. Eine Figur namens Tweedlepunch gibt sich darin als Phrenologe aus und untersucht die Höcker an den Köpfen aller jungen Frauen auf der Suche nach dem Liebeshöcker. Währenddessen singen sechs beinewerfende Mädchen den Refrain Hey! Hey! Alack-a-day! Our loving hearts asunder. (»Hey! Hey! Ach und weh! Unsere liebenden Herzen entzwei.«)
Nach ihrer Hochzeit machten er und Blair, wie sie sich gern nannte, sich auf eine Reise um die Welt, um Fasane aufzuspüren, doch sobald sie wieder in New York waren, brannte sie mit einem Nachbarn durch. Jahre später veröffentlichte sie einen Roman über Weiße, die Harlem erkunden, mit einer kaum maskierten Version von Beebe als trockenem, engagiertem Mann der Wissenschaft.
Dann lernte er Harriet Ricker kennen, eine 26-jährige Romanautorin mit dem Pseudonym Elswyth Thane, die gerade Riders on the Wind beendet hatte. Es war die Geschichte einer jungen Frau namens Sandy, die ihren langweiligen gelehrten Ehemann verlässt, um dem Entdecker Blaise Dorin alias Dodo auf ein Abenteuer durch das Pamir-Gebirge in Zentralasien zu folgen. Dodo sucht nach einem rituellen Gewand aus gewebtem Gold, über und über mit Topasen besetzt, das er einem zwielichtigen Händler in New Orleans versprochen hat. Das Abenteurerpaar entkommt Schießereien und trickst Schwertkämpfer aus. Einer Gefahr entrinnen sie gerade noch, weil Sandy in die Rolle der Göttin Shir Shan schlüpft. Sie haben das Gewand bereits, verlieren es jedoch in letzter Sekunde wieder und kommen gerade noch mit dem Leben davon.
Die New York Times sagte voraus, das Buch würde noch gelesen werden, »lange nachdem die gesellschaftlichen Analysen und erwachsenen Geständnisse der Mehrheit unserer eulenhaften jungen Männer untergegangen sind«.
Und auch wenn ihre Heldin die Ehe für »ein heidnisches Ritual« hielt, ähnlich »dem Einsperren in eine Kiste«, heiratete Thane Beebe ein Jahr später. Die Hochzeit fand auf einer extravaganten Yacht namens The Warrior statt, mit Edith Roosevelt als Ehrengast.
Doch anders als ihre Protagonistin brachte Thane keine Geduld für interkontinentale Abenteuer auf und lebte lieber allein in New England. Später zog sie nach London, um die Inszenierung ihres Stücks »Das Mädchen aus dem Hause Tudor« vorzubereiten. Beebe ging mit und stellte sie seinen englischen Freunden vor. Er wählte Nonsuch als Standort für seine Feldstation, teilweise deshalb, weil er dachte, Bermuda würde ihr gefallen. Es gab ein achteckiges Haus auf Nonsuch, das zum Arbeiten für sie vorgesehen war, und es gab ein wenig Gesellschaftsleben, von dem er glaubte, es könne ihre Aufmerksamkeit fesseln. Sie segelte mit ihm auf die Inselgruppe und verbrachte einige Tage im achteckigen Haus, kehrte jedoch bald nach New York zurück. Das Inselleben war nichts für sie.
In den Jahrzehnten ihrer Ehe sahen sich Beebe und Thane selten. Thane beschrieb ihr Arrangement anerkennend als modern. 1939 schrieb sie einen Roman mit dem Titel Tryst über eine Frau, die einen Geist liebt.
Otis Barton war Doktorand des Ingenieurwesens an der Columbia University, als er über einen Artikel von Beebe stolperte, in dem dieser einen Plan für ein Unterseeboot beschrieb, mit dem er die Tiefsee erkunden wollte. Beebe hatte sich das Gefährt zusammen mit Theodore Roosevelt ausgedacht – einen Stahlzylinder, der in die Tiefe hinabgelassen werden konnte.
Die Idee entzündete einen Funken in Bartons Verstand. Er hatte denselben Traum gehabt. Der Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, als er Perlentaucher in Asien beobachtete – wie tief kommen wir? Nach seiner Rückkehr in die Heimat baute er ein provisorisches Unterseeboot und erkundete die seichten Gewässer vor der Küste von Massachusetts, wobei er sich zuerst so viel Gewicht anhängte, dass es ihn beinahe zerriss. Er begriff etwas Wesentliches in Bezug auf Beebes und Roosevelts Zylinder: Der gewaltige Druck unter dem Meer würde ihn zerquetschen wie ein Fuß eine Blechdose.
Barton ersann eine einfache Kugel, die den Druck gleichmäßig verteilen würde. Sie war ebenso elegant wie genial. Und Barton hatte Geld, das er bereitwillig in das Projekt stecken würde, denn er hatte von seinem Vater ein Vermögen geerbt.
In einem Brief an Beebe schlug er ihm eine Partnerschaft vor, doch Beebe bekam Hunderte verrückter Angebote von begeisterten Amateuren, und Bartons Brief landete erstmal auf diesem Stapel. Doch als Barton ihm erneut schrieb und anbot, selbst für das Projekt zu zahlen, stimmte Beebe zu.
Zur Gestaltung der Bathysphäre, gab Beebe freimütig zu, konnte er nur seinen Enthusiasmus beisteuern. Barton war neidisch auf Beebes Ruhm und murmelte immer wieder Vorbehalte hinsichtlich seiner Kolleginnen und Kollegen im Institut für Tropenforschung vor sich hin: Gloria die Amazone, Beebe die Diva.
Besonders verwirrte den Ingenieur die Anwesenheit der Teammitglieder, die er als Forschungsfräulein bezeichnete. Vielleicht ganz nett anzusehen, aber doch nur zum Katalogisieren und Organisieren geeignet. Sollte er sie etwa ernst nehmen?
Barton bestand darauf, bei allen tiefen Tauchgängen in der Bathysphäre dabei zu sein. Diese Bedingung hielt Beebe davon ab, Hollister mitzunehmen, die seine Beobachtungen hätte bestätigen, seine Erkenntnisse ergänzen oder eigene Entdeckungen machen können.
Barton war kein Naturwissenschaftler; er beschäftigte sich damit, die Ladestände von Batterie und Gas zu überprüfen, am Gebläse herumzufummeln oder sich in Unterwasserfotografie zu versuchen. Das Wippen und Schaukeln der Bathysphäre machte ihn seekrank; oft konnte er nicht an sich halten und übergab sich in dem winzigen, beengten Raum.
Bei einer dieser Gelegenheiten hörte Gloria Hollister Beebe durch ihren Hörer an Deck der Ready schreien: »Oh Gott, Otis – nicht jetzt!«
Und das Team wiederholte, kichernd vor Vergnügen: Oh Gott, Otis. Nicht jetzt!
Unsere größte Gefahr, Zeichnung von Helen Damrosch Tee-Van, aus: Beebe, Adventuring with Beebe, 1934
Diesmal wurden sie von der Freedom gezogen. Dieses Schiff konnte die Bathysphäre nicht nur halten, sondern dabei auch noch vorwärtsfahren, sodass Beebe die abfallende Küstenlinie kartieren und Veränderungen in der marinen Flora und Fauna in verschiedenen Tiefen beobachten konnte. Auf diesen Tauchgängen, die sie contour dives (»Kartierungstauchgänge«) nannten, baumelte, trieb und schaukelte die Stahlkugel mit dem Wasser und mit der Bewegung des Schiffs über ihr. Wie immer überprüfte Barton Instrumente sowie Füllstände und versuchte sich erfolglos im Fotografieren. Beebe gab seine Beobachtungen an Hollister weiter.
30 ft (9 m)
Sehr großer gefleckter Papageifisch, 1 m lang.
Sauerstoffmesser auf 500 Pfund.
Mehr Falterfische, vier Streifen, 30 cm.
Lotung 9 Faden.
1,80 m langer Hai recht nahe. Kam um eine große Steinkoralle geschwommen, als er uns sah.
Lotung 9 Faden.
Mehrere Gelbschwanzmakrelen, 90 cm lang.
Lotung 9 Faden.
Bathysphäre hätte fast eine große Steinkoralle auf einem Sockel gerammt.
Lotung 10 Faden.
Große, tiefe Stelle mit Sand.
Kleine Haie schwimmen nahe bei Guamacaia-Papageifischen.
Barton fotografiert.
Anzeige am Sauerstofftank bei 300 Pfund.
Immer viele Chromis und Heringe.
3 oder 4 Arten Papageifische.
Große Klippe knapp verfehlt.
Schöne Clepticus parrae, 75 cm lang.
Jetzt über einem schmalen Sandstreifen.
8 große Meerbarben, sehen aus wie rötliche Kofferfische.
35 (11)
Riesige violette Weichkorallen, 3 m hoch.
Lotung 10 Faden.
Fahren über große, tiefe Schluchten hinweg.
Das sieht jetzt aus wie das Ende der Welt.
Ich kann 12 m in die Tiefe sehen.
Es regnet Sardinella.
Wenn sie sich erschrecken, wenden sich alle wie ein Fisch abwärts
und strömen senkrecht nach unten;
ein fantastischer Anblick.
Barton fotografiert.
Der Boden fällt jetzt ab, bis er kaum noch zu sehen ist.
65 (20)
Alle Weichkorallen sind verschwunden,
es sieht absolut tot aus
wie auf der Mondoberfläche.
Lotung 17 Faden.
75 (23)
Absolut öde, passieren gerade einen Grat.
Nicht einmal alte Wurzeln oder Korallenstiele.
Wenige Stücke alter, toter Korallen in Sicht.
Klippe vor uns.
Lotung 17 Faden.
86 (26)
Heringe und Chromis wild durcheinander.
100 (30)
Boden fällt ab bis zu sandiger Stelle in der Ferne.
Sieht nach Tod aus.
Etwa 400 Kyphosus, 60 cm lang.
Nichts als Sand in Graten und Wellen.
Keine Papageifische, keine Pflanzenfresser.
120 (37)
Mehr Kieselsteine. Kein Wachstum außer einigen dürren, toten Weichkorallen.
Kein Fisch in Sicht, dabei waren es vor dem letzten Grat noch viele.
140 (43)
Wir sind 3 m über dem Boden.
Beleuchtung wie strahlendes Mondlicht, blauviolett.
Ich sah ein Zittern durch den Körper laufen – die Flosse wedelte zwei-, dreimal, die baumartigen Tentakel am Kinn … ein verknäueltes Gewirr, dann breit auf das Vielfache ihrer zusammengezogenen Länge gestreckt, das Maul öffnete und schloss sich zum Teil wieder und das Licht verließ die großen, starren Augen. Was hätte ich nicht gegeben zu erfahren, was diese Augen in den schwarzen Tiefen gesehen hatten, was dieses große Maul verschlungen hatte, welchen Feinden dieses Wesen entronnen war, welche Rolle das knollenförmige Leuchtorgan bei der Balz oder im Kampf spielte, warum die großen Zähne leuchteten, warum ein großes Geflecht aus Hunderten medusenartigen Tentakeln nötig war – warum? Warum? Warum?
Stattdessen lag er da, mein lebloser, kleiner Drache, perfekt in all seinen Teilen, seine Geheimnisse unentdeckt.
Beebe auf einem Fetzen weißem Papier, undatiert.
In einer dunklen Nacht vor 2500 Jahren ruderte ein junger griechischer Philosoph vor der Stadt Milet nahe der Mäander-Mündung, als er Wirbel aus Licht bemerkte, die die Bewegung seiner Ruder im Wasser auslöste. Anaximenes, so sein Name, war ein Schüler des Philosophen Anaximander, der ihn gelehrt hatte, dass alles im Universum aus demselben unbestimmten Urstoff bestand. Anaximander nannte ihn apeiron, aber sein eigener Lehrer Thales hatte ihn gelehrt, Wasser sei der Ursprung aller Dinge. Als er die Lichtwirbel im Wasser betrachtete, vermutete Anaximenes, es könne sich um Luft handeln, die zu Wasser und schließlich zu Steinen und Tieren und Wolken und allem anderen kondensierte. Wie sonst konnte es Lichter im Wasser geben?
Die Autoren der sanskritischen Veden und frühen chinesischen Oden beschrieben die leuchtenden Körper von Insekten und Würmern, aber solche Wesen fanden im Mittelmeerraum kaum Erwähnung. Plinius schrieb von seltsamen leuchtenden Kreaturen, die er nyctegretos oder nyctilops nannte. Aber erst im 13. Jahrhundert, als der andalusische Botaniker Al-Bayṭār ein Tier namens al-hubahib beschrieb – ein geflügeltes Insekt, das nachts leuchtet –, tauchten Glühwürmchen in der Geschichte des Westens auf. Al-Bayṭār empfahl, ihre strahlenden Körper zu sammeln, in Rosenöl zu zermahlen und gegen eiternde Wunden ins Ohr zu tropfen.
Wissenschaftsbücher des Mittelalters füllten sich bald mit leuchtenden Tieren. Böhmens Wälder waren angeblich voller Seidenschwänze, deren Federn mit den roten Spitzen leuchteten wie die Sonne. Feurige Dämpfe sammelten sich um Tempel und vor allem um Friedhöfe.
Alchemisten wie Albertus Magnus und Paracelsus empfahlen, die leuchtenden Hinterleiber von Glühwürmchen in Dung zu vergraben und die Mischung fermentieren zu lassen. So entstand der sogenannte liquor lucidus, eine leuchtende Tinte, die nur nachts oder in stockdunklen Räumen zu sehen war.
Der Schweizer Herausgeber Conrad Gessner dachte, alle leuchtenden Lebewesen bekämen diese Eigenschaft vom Mond. Er sammelte tausend Zeichnungen solcher »Mondtiere«, bevor er 1565 an der Pest starb.
Knapp zwanzig Jahre später veröffentlichte ein englischer Doktor der Theologie namens Stephen Batman eine enzyklopädische Abhandlung über die natürliche Welt, die einen Eintrag zum Glühwürmchen enthielt, einem Tierchen, das »in der Dunkelheit wie eine Kerze leuchtet und bei vollem Licht schmutzig und dunkel ist«. Batman hielt all die seltsamen Leuchttiere für Werke des Teufels und schrieb über sie in seinem BuchThe Doome Warning All Men to Judgment (»Das Verhängnis warnt alle Menschen vor dem Gericht«).
Leuchtende Fische tauchten auch in der Margarita Philosophica von Gregor Reisch auf. Von leuchtendem Lammfleisch wurde in Padua berichtet. Es gab leuchtende Eier, leuchtende Steine und leuchtende Erdklumpen.
Francis Bacon sah Licht beim Zerbrechen eines Zuckerwürfels, und Descartes glaubte, Katzen könnten Lichtstrahlen aus ihren Augen werfen. Die Laken ehrbarer Männer, hieß es, leuchteten nach, wenn man sie im Dunkeln entfernte.
Athanasius Kircher beschrieb Meerestiere, die man an Stöcken reiben könne, damit sie wie Feuer leuchteten. Er hatte es angeblich selbst in Marseille und Sizilien gesehen.
Thomas Bartholin behauptete, auch von Menschen sei bekannt, dass sie leuchten, vor allem vor Verlangen. Zu seinen Beispielen gehörten Theoderich, König der Goten, Carolus Gonzaga, Herzog von Mantua, und ein Athener Sexarbeiter namens Lampyris.
Es gab leuchtende Mineralien wie den Diamanten, den Rubin und den Karfunkel; es gab das Licht, das getrockneter Dorsch ausstrahlte. Licht blitzte auf, wenn eine Frau sich im Dunkeln das lange Haar kämmte. Und all dies sei das Ergebnis von Fermentation. Sand am Strand fermentierte, Katzenfell fermentierte. Die Sonne war ein gewaltiger Fermentationskessel, ein Vorbild für Meteore und die Luft um den hohen Dunst von Schiffen.
Doch anders als die Sonne erzeugte dieses Licht keine Wärme. Kühles Licht, wie es eine Mischung aus Schwefel und Säure ausstrahlte, war ein erhebliches Paradoxon. Licht war ausgeatmetes Effluvium, vermischt mit Luft, der Abrieb von Edelsteinen; Licht war ein materieller Körper aus Teilchen. Es war kaltes Feuer, eingeschlossen in ätherischen Kügelchen, kalzinierten Belemniten, in den langweiligen Weichtieren, die Marsigli nach Bologna brachte.
Dass Licht eine Art von Materie war, bewies die Elektrolumineszenz vakuumierter Gefäße oder von Quecksilber, das in einem Glasröhrchen geschüttelt wurde. Es gab Pyrophore und es gab Phlogiston; es gab den Kunckel’schen Phosphor in der torricellischen Leere. Natriumborat, Tonerdesulfat, Kalitartrat und siliziumhaltige Steine leuchteten.
Bronisław Radziszewski fand heraus, dass chemische Verbindungen, die den Triphenylgloxalinring enthielten, Licht abgaben, wenn man sie in Alkohol löste und in Luft schüttelte.
1799 stimulierte Alexander von Humboldt eine Qualle.
Darwin sinnierte über den strahlenden Thorax von Schnellkäfern und den leuchtenden Hinterleib von Leuchtkäfern. Er glaubte, tierisches Licht solle Partner und Beute anlocken und Fressfeinde verwirren. MacCulloch meinte, es diene dem Sehen in der Dunkelheit der Tiefsee.
*
An Bord eines kleinen Bootes nahe Haiti hatte Beebe einige Jahre zuvor ein Meeresleuchten im Wasser bemerkt und nach einem Gewehr verlangt. Er feuerte senkrecht nach unten und staunte darüber, wie der Schrot – einem Kometen ähnlich – einen leuchtenden Bogen in die Tiefe beschrieb, mit einem »Schweif aus zitternder Blässe«.
Als vor den Bullaugen der Bathysphäre biolumineszente Fische vorbeischossen, erschienen sie ihm wie »verrückt gewordene Sterne«.
Das Glühen des tierischen Lichts fesselte Beebe, und die Gelegenheit, explodierende Garnelen und glühende Tentakel lebendig und wogend in ihrem feuchten Zuhause zu sehen, gehörte zu den großen Nervenkitzeln der Tauchgänge. Doch es war das blau schillernde Wasser, seine unaufhörliche Wellenbewegung wie ein unerträgliches Summen, das sein Wesen verwandelte. Er hatte gelesen, dass Blau ab einer Tiefe von 60 Metern allmählich durch Violett ersetzt wurde. Ab 120 Metern war das Violett angeblich vorherrschend. Doch als er in diese Tiefe gelangte, sah er kein Violett. Stattdessen wurde das Blau tiefer und noch strahlender. Er wusste, dass das unmöglich war, aber er wusste auch, was er sah.
Er las von einem Experiment, bei dem ein Wissenschaftler ultraviolettes Licht durch geschwärztes Glas scheinen ließ. Als es die Augen der Teilnehmenden traf, sahen die meisten einen violetten Schleier und waren nicht in der Lage, etwas anderes wahrzunehmen. Doch andere sahen den Schleier nicht. Stattdessen nahmen sie ein klares Blau wahr. Es schien ein ähnliches Phänomen wie das, was mit Beebe in der Tiefe passierte.
War es eine Anomalie? Eine besondere Fähigkeit oder eine Behinderung?
Beebe blickte nicht durch ein Stück Glas, sondern durch den gesamten Ozean. Kein Labor konnte solche Bedingungen nachahmen. Es lag an ihm, eine Wirklichkeit zu beschreiben und zu messen, während sie hinabtauchten.
Was passierte mit dem Licht, während sie tiefer sanken?
Beebe ließ das Innere der Bathysphäre schwarz streichen, und beim nächsten Tauchgang beschloss er, genau auf Veränderungen im Spektrum der sichtbaren Farben zu achten. Dazu benutzte er ein Spektroskop – ein kleines, teleskopähnliches Gerät mit einem Prisma, einer Linse und einem Messinstrument zum Erfassen der Werte – und hielt Farbkarten in die Höhe, mit deren Hilfe er versuchte, Übereinstimmungen zu dem zu finden, was er mit seinen Augen wahrnahm.
Oben an Deck notierte Hollister Beebes Beobachtungen, die begannen, sobald die Stahlkugel die Wasseroberfläche berührte:
Oberfläche rote Abblendung
20 ft (6 m)
Dünne Linie Rot, überwiegend Orange.
Spektroskopwert von 700 nm auf 650 nm.
Sehe Außenhülle klar.
50 (15)
Rot vollkommen verschwunden. Orange bei 625 nm.
Andere Wellenlängen als sonst. 3 große bonitoartige Fische, etwa 40 cm lang.
100 (30)
Orange stark verschmälert bei 600 nm. Rest des Spektrums normal, aber trübe.
200 (61)