Leuchtturm der Geister (Hotel der Magier 2) - Nicki Thornton - E-Book

Leuchtturm der Geister (Hotel der Magier 2) E-Book

Nicki Thornton

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Beschreibung

Zauberei ist für den Küchenjungen Seth alles andere als ein Zuckerschlecken. Dass seine Mutter eine mächtige Magierin war, muss er eigentlich erst mal verdauen. Doch kaum hat er den Fall im Hotel »Zur letzten Chance« gelöst, kommt Inspektor Zinnkrug schon mit dem nächsten Abenteuer um die Ecke, das geradewegs in den gespenstischen Leuchtturm »Schlangenschlund« führt. Die Inhaberin wurde ermordet – und Seth muss mithilfe seiner Katze Nachtschatten nicht nur seine neu entdeckten Kräfte unter Beweis stellen, sondern einen bösen Zauberer entlarven, bevor es zu spät ist.

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Zauberei ist für den Küchenjungen Seth alles andere als ein Zuckerschlecken. Dass seine Mutter eine mächtige Magierin war, muss er eigentlich erst mal verdauen. Doch kaum hat er den Fall im Hotel »Zur letzten Chance« gelöst, kommt Inspektor Zinnkrug schon mit dem nächsten Abenteuer um die Ecke, das geradewegs in den gespenstischen Leuchtturm »Schlangenmaul« führt. Die Inhaberin wurde ermordet – und Seth muss mithilfe seiner Katze Nachtschatten nicht nur seine neu entdeckten Kräfte unter Beweis stellen, sondern einen bösen Zauberer entlarven, bevor es zu spät ist.

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  Vita

  Danksagung

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  Leseprobe

 

Für Mum, danke, dass du deine Leidenschaft für Bücheran mich weitergegeben hast, und in Erinnerung anmeinen lieben Dad. Wir vermissen dich sehr.

Im Hotel Zur letzten Chance belauschte Seth Seppi angestrengt Mr und Mrs Bunn. Gerade drückten sie ihren Hotelgästen, zwei haarigen Wanderern, ein paar Schinken-Ei-Sandwiches in die Hand und wünschten ihnen alles Gute für die Weiterreise.

Seth hatte immer abgewartet, bis die Gäste sich verabschiedeten. Dann erst war er in die Küche geschlichen, um heimlich Kochen zu üben. Kochen war seine große Leidenschaft gewesen – sein Vater hatte es ihm beigebracht, bevor er verschwunden war. Doch vor ein paar Wochen war endlich die Wahrheit ans Licht gekommen. Das Hotel gehörte nämlich ihm, Seth, und nicht den Bunns, die ihn sein Leben lang belogen hatten und für sich hatten schuften lassen. Er konnte es immer noch kaum glauben, und natürlich hatte das alles schlagartig verändert.

Andererseits war in letzter Zeit so viel Unerwartetes passiert, dass er sich sowieso auf nichts mehr wirklich verlassen konnte.

Die haarigen Gäste waren froh gewesen, auf dieses abgelegene Hotel zu stoßen, das sich in den Tiefen des Waldes der verlorenen Hoffnung verbarg. Sie hatten ihre müden Füße fröhlich auf den Möbeln drapiert (begleitet von ausgiebigem Singen), ihre abrasierten Bartstoppeln im Waschbecken liegen lassen, laut geschnarcht und alles verputzt, was ihnen vorgesetzt wurde – sogar den bestialisch stinkenden Ziegenkäse, den sonst niemand haben wollte, und einen Christmas-Pudding, den Seth schon seit Ende Dezember an den Mann zu bringen versuchte.

Und jetzt waren sie fort. Seth hörte, wie Horatio und Norrie Bunn die Haustür zuknallten. Er wartete noch einen Augenblick ab, dann griff er in das oberste Regal, um sich den Übungen zu widmen, die er jetzt immer heimlich machte. Zwischen den Mehltüten hielt er ein pinkfarbenes Buch versteckt, das mit Kritzeleien und leuchtenden Buchstaben verziert war.

MAGIE FÜR ANFÄNGER – KINDERLEICHT GEMACHT.

Er dachte daran, wie die Magier, die vor ein paar Wochen ins Hotel Zur letzten Chance gekommen waren, seine Welt komplett auf den Kopf gestellt hatten. Und wie er beinahe als Mordverdächtiger im Gefängnis gelandet war.

In dieser Zeit hatte Seth herausgefunden, dass es Magie wirklich gibt. Und die Magier hatten ihm sogar in Aussicht gestellt, er könne eines Tages selbst einer werden, weil er mit einem Funken Magie geboren sei. Der Funke allein reichte allerdings nicht aus, wie Inspektor Zinnkrug von der Magischen Geheimpolizei – der MaPo – ihm erklärt hatte. Und seither wartete Seth vergeblich auf den versprochenen Besuch des Inspektors. Zinnkrug hatte ihm nur das pinkfarbene Zauberbuch geschickt, zusammen mit der nachlässig hingekritzelten Nachricht, dass er leider verhindert sei und nicht persönlich kommen könne. Seth möge sich unterdessen mit diesem nützlichen kleinen Buch befassen.

Er seufzte tief. Mit hängenden Schultern und zitternden Fingern schlug er die Seiten auf.

Magie kinderleicht? Von wegen!

Der Gestank von angebrannter Milch hing ihm noch in der Nase und erinnerte ihn daran, wie katastrophal seine Magie-Versuche bisher geendet hatten.

Wie man eine winzige Warze auf eine Nasenspitze hext. Als Seth diesen Zauber ausprobiert hatte, war seine Nase so dick wie eine Zwiebel angeschwollen und erst nach drei Tagen auf ihre normale Größe zurückgeschrumpft. Horatio Bunn hatte sich jedes Mal halb totgelacht, wenn Seth ihm über den Weg gelaufen war.

Nein, unmöglich. Er war ein Versager. Er würde nie auch nur den einfachsten Zauber zustande bringen.

Aber wenigstens hatte er ein paar wichtige Fakten über seine Vergangenheit erfahren. Das Hotel Zur letzten Chance gehörte der Familie seiner Mutter, die eine Magierin gewesen war. Aber leider war das nicht alles. Seine Mum hatte auch Schwarzmagie praktiziert und wurde im Zusammenhang mit einem Verbrechen gesucht, das zum Tod zahlloser magischer Menschen geführt hatte.

Seth starrte noch immer auf das Buch. Irgendwann musste er der bitteren Wahrheit ins Auge blicken: Er würde nie die Aufnahmeprüfung in die magische Welt schaffen. Er würde nie ein großer, gelehrter Zauberer sein.

Und folglich würde er auch nie erfahren, ob seine Mum tatsächlich schwarze Magie praktiziert hatte. Ganz zu schweigen von all den anderen Fragen, die ihm auf den Nägeln brannten.

Um in das Auswahlverfahren zu kommen, musste er mindestens einen Zauber vorführen. Nur einen einzigen. Er stieß das Buch weg. Kinderleicht – das sollte wohl ein Witz sein? Stöhnend legte er den Kopf in seine Hände.

Weder Zinnkrug noch die Geheimagentin Angelique Squerr, seine neue Freundin in der magischen Welt, waren zurückgekommen, um ihn zu unterstützen. Er fühlte sich komplett im Stich gelassen, saß hier in seinem abgelegenen Hotel fest, weit weg von allem, was zählte. Was nützte ihm schon das ganze verheißungsvolle magische Wissen, das vor seiner Nase herumbaumelte, wenn er ja doch nie dazugehören würde?

Es war zum Verzweifeln. Inzwischen war er auf der letzten Seite angelangt. Und eins stand fest: Er würde niemals einen Zauber richtig hinbekommen. Warum hatte er so wenig von dem Talent seiner Mutter geerbt?

Während er so dasaß und mit seinem Schicksal haderte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Etwas, wovon er sich geschworen hatte, dass er es niemals tun würde. Vielleicht war er ja nur für eine andere Art von Magie begabt? Eine, für die er sich begeistern konnte, obwohl es die falsche war?

Mit einem verstohlenen Blick über die Schulter griff er in eine der vielen praktischen Taschen seines hellblauen Kittels und zog ein kleines schwarzes Buch heraus. Es war so alt und brüchig, dass die Seiten nur noch an einem scharlachroten Faden hingen. Er blätterte das steife, knisternde Papier um und im selben Moment stieg wieder dieses besondere Gefühl in ihm auf – als sei das Buch speziell für ihn geschrieben worden.

Es enthielt zum größten Teil einfache Kochrezepte und ein paar harmlose Tipps zur Herstellung von Schuhcremes und Ofenreiniger. Okay, hin und wieder war auch ein Zauber eingestreut. Zinnkrug und Angelique hatten versucht, ihm das Buch wegzunehmen, weil die Magie darin »verstörend« sei. Und tatsächlich hatte Seth verbotene Zauber darin gefunden, neben der Beschreibung gewisser Apparate, die definitiv finsteren Zwecken dienten. Trotzdem fühlte das Buch sich seltsam vertraut an, lag ihm so gut in der Hand – wenn er darin las, war es, als begegnete er einem alten Freund.

Was ihn aber noch lange nicht zum Schwarzmagier machte. Er schlug eine vergilbte Seite auf und starrte auf das Bild des Leuchtkäfer-Käfigs – ein gefährliches, machtvolles Instrument, das die Zauberer das Fürchten lehrte.

Seths Magen brodelte vor Angst und Verwirrung.

Er hätte dieses Buch gar nicht erst ansehen dürfen, das wusste er. Aber es war das Notizbuch seiner Mutter, und die Magie darin sprach mit schmeichelnder Stimme zu ihm, flüsterte ihm zu, dass er ihr vertrauen könne. Auf dieser letzten Seite war eine Gestalt mit ausgestreckten Armen abgebildet, die aussah, als wollte sie etwas zu sich winken. Fangzauber, stand daneben, und der dazugehörige Zauberspruch Yma nam-well. Das klang doch ziemlich harmlos? Damit konnte er bestimmt keinen Schaden anrichten.

Die Magie wisperte ihm immer beschwörender ins Ohr, schien ihm zuzuraunen: Mag sein, dass du hier ganz allein und ohne jede Unterstützung in deinem Hotel Zur letzten Chance herumhängst, mitten im Wald der verlorenen Hoffnung. Aber dafür sieht dich auch niemand, wenn du ein bisschen mit schwarzer Magie herumexperimentierst. Seth streckte einen Finger aus, ließ es auf einen Versuch ankommen.

Ein kalter Luftzug drang herein, begleitet von einer anmutigen schwarzen Gestalt, die sich um seine Beine wand, und brachte den feuchten, heimeligen Geruch des Waldes mit sich.

Nachtschatten, Seths schwarze Katze, war von ihrem Raubzug unter den Waldmäusen heimgekehrt. Seth ließ hastig das verbotene Buch unter seinem hellblauen Kittel verschwinden und warf Nachtschatten einen unschuldigen Blick zu.

»Man kann dich keine Sekunde allein lassen«, schimpfte die Katze und stupste ihn mit ihrem rosa Näschen an, das Einzige an ihr, was nicht tiefschwarz glänzte. »Na, dann zeig mir mal ein paar Tricks. Saubere.« Sie sprang auf den Arbeitstisch und krallte das pinkfarbene Buch zu sich her.

Seth seufzte. Manchmal wünschte er sich, Nachtschatten hätte ihm nie verraten, dass sie die menschliche Sprache beherrschte. Die meiste Zeit lieferte sie sowieso nur blutige Schilderungen von ihren Kämpfen mit den Krähen, ihren Lieblingsfeinden, die unablässig über dem Hotel kreisten. Und wenn sie schon mal ihren Redefluss unterbrach, dann nur, um Seth auszuschimpfen oder wegen irgendwas zur Rede zu stellen. So wie jetzt: Herausfordernd fixierte sie ihn mit ihren grünen Augen.

»Ich brauche einen Zauber, Nachtschatten. Angelique hat mir alles erklärt. Um in die magische Welt aufgenommen zu werden, muss man das Auswahlverfahren bestehen und beweisen, dass man einen Funken Magie in sich trägt. Und dazu muss man einen Zauber vorführen. Nur einen einzigen! Das ist alles. Dann hätte ich vielleicht die Chance, endlich mehr zu erfahren.«

Nachtschatten rückte noch näher an ihn heran und bohrte ihre grünen Augen tief in seine. »Das ist nicht der richtige Weg, Seth.«

»Aber …«

»Und wie wäre das hier mit den Löffeln?« Nachtschatten krallte sich zur letzten Seite des pinkfarbenen Bandes vor. »Was kann da schon schiefgehen?«

»Das hast du beim Milchkochen auch gesagt.« Seth schaute sie finster an.

»Na los, zeig mir was, Seth. Ansonsten hätte ich einen Termin mit einer besonders widerwärtigen Krähe namens Eric – ihr Mundwerk ist schmutziger als ein Hasenhintern. Muss dieser dreisten Kreatur mal eine Lektion erteilen, die sie nicht so schnell vergisst. Komm schon. Du schaffst das.«

»Sieht nach einem einfachen Beschwörungszauber aus«, murmelte Seth.

Unwillkürlich starrten sie auf die Eingangstür mit den verräterischen Brandlöchern und verkokelten Rändern. Der Beweis dafür, dass alle »kinderleichten« Zauber, die Seth bisher ausprobiert hatte, nicht nur komplett schiefgegangen waren, sondern im absoluten Chaos geendet hatten.

Nachtschatten wich einen Schritt zurück. So wie sie ihn anstarrte, verfluchte sie gerade ihren Leichtsinn, ohne Schutzbrille und Sturzhelm in der Küche erschienen zu sein. »Diesmal fließt aber kein Blut, oder?«

Seth beugte sich über einen Topf mit heißen Kartoffeln, die er gerade abgekocht hatte und jetzt zu Brei zermatschen sollte. In der Mitte ragte ein Löffel auf, den er nur noch in Bewegung setzen musste.

»Inspektor Zinnkrug hat dir ja gesagt, dass es schwierig wird«, sagte Nachtschatten und pflanzte ihr Hinterteil in sicherem Abstand auf die Küchentheke. »Mit Probieren allein ist es nicht getan. Du musst auch dran glauben, dass du es kannst.«

»Zinnkrug jagt seine Mörder und Schwarzmagier im Auftrag der MaPo und hat keine Zeit, mir zu helfen. Und Angelique ist irgendwo als magische Super-Agentin im Einsatz und erledigt ihre coolen Aufträge«, raunte Seth. Seine Hände schwebten über dem Löffel, während er sich für den Zauber bereit machte.

Plötzlich ließ er die Schultern sinken.

»Vielleicht …«, flüsterte er, den Blick auf den Löffel gerichtet, »vielleicht war ich ja vorher besser dran. Weil es nämlich viel schlimmer ist, wenn man weiß, dass es Magie tatsächlich gibt, aber selber keinerlei Talent dafür hat. Und obwohl ich jetzt der Boss im Hotel bin, scheuchen die Bunns mich immer noch herum, als hätten sie das ganz vergessen.«

»Ach komm, wenigstens ist sie jetzt fort – und sie war doch die Allerschlimmste«, schnurrte Nachtschatten besänftigend.

Seth erstarrte bei dem bloßen Gedanken an sie – Tiffany Bunn. Sie war die Tochter von Mr und Mrs Bunn und hatte ihn jahrelang bei jeder Gelegenheit schikaniert. Schaudernd verbannte er sie aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf den Löffel. Doch stattdessen kam ihm die Beschwörungsformel aus dem schwarzen Buch in den Sinn – Worte, die sich förmlich in sein Hirn eingebrannt hatten. Yma nam-well.

Er seufzte, dann riss er sich zusammen und sagte den Zauber aus dem pinkfarbenen Buch mit lauter, klarer Stimme auf. Er versuchte möglichst zuversichtlich zu klingen, obwohl ihm ganz und gar nicht danach zumute war.

»Effervis protolis noblio orgatoris.«

Langsam ließ er seine Hände kreisen, machte alles genauso wie auf dem Bild, und es fühlte sich erstaunlich gut an. Ein Dampfschwall stieg ihm aus den weichen Kartoffeln in die Nase.

Alles ziemlich magisch so weit. Nur … der Löffel machte keinen Mucks.

Seth sprach die Worte erneut, diesmal noch lauter.

Und plötzlich drehte sich der Löffel einmal langsam im Topf herum. Ganz von selbst.

Nachtschatten kam näher, um den Vorgang genauer zu begutachten, bis ihre Schnurrhaare fast den Löffel streiften. Er zuckte noch einmal und ein winziger Kartoffelklecks landete auf Nachtschattens Wange. »Du hast es geschafft, Seth! Jetzt hast du einen, den du beim Auswahlverfahren vorführen kannst.«

Aber diesmal kam der Löffel nicht zum Stillstand, er nahm sogar richtig Fahrt auf. »Soll das so sein?« Wieder landete ein Kartoffelspritzer auf Nachtschattens Nase, und sie maunzte entrüstet. »Ich glaube, du musst den Löffel jetzt anhalten.«

Ein halb zermatschter Kartoffelklumpen flog aus dem Topf und klatschte auf Seths Stirn. Es brannte wie Feuer, und wusch!, zischte der nächste heiße Klumpen an seinem Ohr vorbei.

Hastig griff er nach dem Zauberbuch, um nachzulesen, was er tun musste.

Aber … zwischen der Seite mit dem Zauber und dem Buchdeckel war nichts. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein großer Klecks des inzwischen glatt gerührten Kartoffelbreis flog in einem anmutigen Bogen durch den Raum und tropfte vom Kühlschrank herunter wie ein Klumpen Schnee.

»Da fehlt eine Seite«, rief Seth verzweifelt. »Hier steht nirgends, wie man ihn anhalten kann!«

Der Kartoffelbrei blubberte. Bald waren Decke und Fußboden mit kleinen weißen Klümpchen gesprenkelt. Seth stand da und konnte nur hilflos zuschauen. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er tun sollte. Aber er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass der Topf kurz vor einer gewaltigen Explosion stand.

»Mach was!«, schrie Nachtschatten. In heller Panik flitzte sie zur Tür und wich in letzter Sekunde einem dicken Klecks Kartoffelbrei aus, der direkt auf ihren Allerwertesten zuflog.

Seth machte das einzig Unmagische, das ihm auf die Schnelle in den Sinn kam.

Er packte ein Handtuch und schlang es um seinen Kopf, um sich vor den kochend heißen Kartoffelgeschossen zu schützen. Dann riss er den Topf vom Herd und folgte Nachtschatten zur Hintertür hinaus.

Wie ein Irrer rannte er mit seinem Topf zum Waldrand und schleuderte ihn samt Löffel und restlichem Inhalt unter einen Baum. Dort ging das Ganze in einer weichen weißen Fontäne hoch, und jedes Blatt, jeder Grashalm überzog sich mit einer dünnen weißen Kartoffelbreiglasur. Es sah aus wie Raureif an einem kalten Wintermorgen.

»Ich kann das nicht!«, brüllte Seth verzweifelt, an niemand Bestimmtes gerichtet. Nicht an seine Katze, die ohnehin Reißaus genommen hatte, und schon gar nicht an die Krähen, die höhnisch über ihm herumkrächzten.

Wütend ging er in die Küche zurück, wischte alles sauber, einschließlich sich selber, und grummelte dabei die ganze Zeit vor sich hin. Dann ließ er Wasser ins Spülbecken laufen, nahm sich einen neuen Berg Kartoffeln vor und fing wieder an zu schälen. Machte das, was er wirklich konnte. Warf alle seine hirnrissigen Träume von Magie über Bord und knallte Kartoffeln aufs Abtropfbrett.

Plötzlich ertönte hinter ihm eine Stimme, und er sprang vor Schreck einen halben Meter in die Luft.

»Holla, mein Junge.«

Seth drehte sich um, und ein großer, dünner Mann in einem schimmernden Anzug stand vor ihm. Er hatte schulterlanges, silbriges Haar und strahlte ihn fröhlich an.

Zinnkrug! Der Inspektor, der ihn beim letzten Mal beinahe als Mordverdächtigen verhaftet hätte. Der ihn gelehrt hatte, an das Unglaubliche zu glauben – daran nämlich, dass Seth vielleicht selbst magische Kräfte besaß. Und der ihn dann komplett im Stich gelassen hatte, sodass er ganz allein damit klarkommen musste, was für ein jämmerlicher Versager er war.

Aber zumindest hatte der Inspektor seinen demütigenden Sprint zum Waldrand verpasst. Allein der Gedanke daran jagte Seth einen Schauer über den Rücken. Zinnkrug, der große Magier, war wirklich der Letzte, der seine peinlichen Niederlagen mitbekommen durfte.

Er drehte sich wieder zur Spüle um und tauchte seine Hände ins eisige Wasser, um die letzte Kartoffel sauber zu schrubben. »Hallo, Inspektor! Was für eine Überraschung!«, sagte er betont fröhlich und spähte aus dem Augenwinkel nach verräterischen Kartoffelbreiklecksen aus. »Arbeiten Sie an einem neuen Fall? Irgendwas in der Gegend hier?«

»Du würdest dich wundern, wo meine Arbeit mich manchmal hinführt. Letzte Woche zum Beispiel musste ich tagelang eine abgelegene alte Scheune observieren, nur weil dort angeblich Feen gesichtet wurden.« Zinnkrug schob seine Hände tief in die Taschen seines schimmernden Jacketts. »Unglaublich, was die Leute alles sehen, und das in einer Welt, in der kaum einer noch an Magie glaubt. Und nun zu dir, mein Junge. Du hast doch hoffentlich keine schlechten Nachrichten für mich?«

Seth warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

»Ich meine nur, weil du mir keinen Tee anbietest«, fügte Zinnkrug hinzu. »Ist dir etwa die Milch ausgegangen? Oder der Tee?«

Seth zwang sich zu einem Lächeln und füllte den Wasserkessel.

»Nimm zum Beispiel den Fall, zu dem ich unterwegs bin«, fuhr Zinnkrug fort. »Ein Leuchtturmhotel. Sonne, Meer, Sand und Zimmerservice! Essen und Getränke rund um die Uhr direkt aufs Zimmer.«

»Klingt nach einer ziemlich kleinen Nummer für einen so berühmten MaPo-Inspektor«, sagte Seth finster und reichte Zinnkrug einen Becher. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drehte er sich wieder zu seinen Kartoffeln um. »Oder eigentlich mehr nach Urlaub als nach einem richtigen Fall.«

»Ah, aber leider nichts für Tennisspieler.« Zinnkrug liebte diesen Sport. »Und was ist schon ein Urlaub ohne Tennis? Das Hotel liegt auf einer Klippe mitten im Meer. Hat nicht mal einen Tennisplatz. Aber wenigstens gibt es ein paar schaurige Gespenster, damit der Job nicht ganz so langweilig ist.«

»Aber ich dachte, Sie … sind Sie nicht der Roten Spornblume auf der Spur?«

Rote Spornblume war der Deckname eines Schwarzmagiers, der den MaPo-Agenten jede Menge Ärger machte. Und das, obwohl er es geschafft hatte, die ganze Zeit unerkannt im Hintergrund zu bleiben und andere die Drecksarbeit machen zu lassen. Er hatte immer wieder versucht, in den Besitz des Leuchtkäfer-Käfigs zu kommen, indem er seine Handlanger losschickte, um ihn zu stehlen. Und das wiederum hatte letzten Endes dazu geführt, dass das Versteck des magischen Apparats im Hotel Zur letzten Chance aufgeflogen war.

Dummerweise hatte Tiffany Bunn alle überlistet und ihnen den Käfig vor der Nase weggeschnappt, um sich dann einfach in Luft aufzulösen. Für Seth gab es keine schlimmere Vorstellung, als dass Tiffany sich irgendwo dort draußen herumtrieb und vielleicht bald die mächtige Magie des Leuchtkäfer-Käfigs anzapfen könnte.

Zinnkrug kicherte. »Finsteren Typen wie der Roten Spornblume nachjagen? Nein, mein Junge, das liegt weit über meiner Gehaltsstufe. Aber ich habe ein paar Neuigkeiten für dich, falls du sie hören willst.«

Seth wirbelte herum. »Ist jemand Tiffany auf die Spur gekommen? Oder wissen Sie, wo der Leuchtkäfer-Käfig ist? Wurde die Rote Spornblume enttarnt?«

Zinnkrug nippte an seinem Tee. »Keine Sorge, Seth. Wir haben unsere besten Leute auf all diese Fälle angesetzt. Ich bringe dir Nachrichten von deiner Freundin Angelique. Gibt’s vielleicht auch ein paar Kekse zum Tee?«

»Aha.« Angelique, die ihm ebenfalls den Traum von Magie vor die Nase gehalten hatte, ohne ihn dann ein einziges Mal zu besuchen. Dabei hatte sie es versprochen.

»Sie arbeitet jetzt mit einem jungen Burschen namens Sturmkraft zusammen«, fuhr Zinnkrug fort. »Alle sind voll des Lobes für die beiden, was dich sicher freuen wird. Erst gestern haben sie einen großen Fall gelöst. Sind wohl ein gutes Team. Ergänzen sich perfekt.«

Seth lief in der Küche herum, auf der Suche nach ein paar essbaren Keksen, die nicht im Bauch der haarigen Wanderer gelandet waren. Er hätte sich über Angeliques Erfolg freuen müssen, klar. Stattdessen fühlte er nichts als tiefe, dunkle Eifersucht. Angelique hatte einen neuen Freund gefunden und war auf dem besten Weg, eine steile magische Karriere hinzulegen. Kein Wunder, dass sie keine Zeit hatte, ihm bei seinen jämmerlichen Magieversuchen zu helfen.

Unwirsch knallte er eine Schale mit selbst gemachtem Buttergebäck vor Zinnkrug auf den Tisch.

»Mit Ingwer oder Schokoglasur?«

Der Inspektor nahm sich von jeder Sorte zwei, während er einen verstohlenen Blick auf die löchrige, geschwärzte Tür warf, die notdürftig mit ein paar Brettern ausgebessert worden war. »Freut mich, dass du derweil offenbar nichts anbrennen lassen hast, was ich vielleicht lieber nicht so genau vor Augen geführt haben wollte.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«, fauchte Seth, ohne den Blick des Inspektors zu erwidern. Er wusste auch so, dass Zinnkrugs Augen hinter den Brillengläsern ihn amüsiert anfunkelten.

»Nun, ich bin froh, dass du augenscheinlich deine Magie geübt hast. Magie erlernen ist unglaublich schwierig, und die meisten Leute haben keine Geduld dafür.«

»Es war nur ein einfacher Tür-zu-Zauber«, murrte Seth, dann fügte er halbherzig hinzu: »Aber jetzt habe ich den Dreh raus, glaube ich.«

»Großartig.« Zinnkrug rieb sich die Hände. »Darf ich mal sehen?«

Da war sie. Die Aufforderung, die er am meisten gefürchtet hatte.

Seth wischte weiter an der Küchentheke herum. Er hatte keine Lust, sich vor Zinnkrug zu blamieren, dem Mann, der so viel von ihm erwartete. Das war wirklich das Letzte, was er jetzt verkraften konnte.

Bevor er etwas sagen konnte, legte sich eine warme Hand auf seine Schulter.

»Ich fürchte, ich habe einen großen Fehler gemacht, und möchte mich dafür entschuldigen«, sagte der Inspektor. »Ich habe dir erzählt, dass du vielleicht mit einem Funken Magie geboren bist. Das …«, er schüttelte den Kopf und biss von seinem Keks ab, »… war eine unverzeihliche Dummheit. Man neigt ja dazu, voller Neid auf andere zu blicken, und sieht nur deren Brillanz. Statt der harten Arbeit, die nötig war, um jemals so weit zu kommen.«

Seth schluckte. Hatte er richtig gehört? Ein Fehler? Er durfte sich auf keinen Fall anmerken lassen, wie enttäuscht er war. Sein Herz hämmerte.

Hatte Zinnkrug deshalb seinen Besuch so lange hinausgezögert? Weil er bereits wusste, dass Seth nicht magisch war? Dabei stand für Seth viel mehr auf dem Spiel, als nur in die Welt der Zauberer aufgenommen zu werden.

Nachtschattens schwarze Gestalt huschte wieder herein. »Bei meinen Schnurrhaaren, Inspektor Zinnkrug! Dem Himmel sei Dank! Das wurde aber auch Zeit.« Die Katze schüttelte ihren Kopf. »Hoffentlich haben Sie ein paar gute Ideen mitgebracht. Ehrlich gesagt, grenzt es an ein Wunder, dass das Hotel noch steht, nach allem, was Seth mit seinen magischen Versuchen angerichtet hat.«

Seth warf seiner Katze einen giftigen Blick zu.

»Sie werden nie erraten, wobei ich ihn ertappt habe«, fuhr Nachtschatten fort. »Hier, mit diesem kleinen schwarzen Buch.«

Seth funkelte Nachtschatten wütend an. Wie konnte sie nur sein streng gehütetes Geheimnis verraten?

»Du hast es doch nicht etwa benutzt?«, fragte Zinnkrug mit gesenkter Stimme. »Ich hatte gehofft, dass du es im hintersten Winkel des Waldes vergräbst.«

Seths Hände fuhren unwillkürlich an seine Brust, dorthin, wo er das Buch versteckt hielt. »Ich blättere einfach gern in den Rezepten und so.« Eine Ausrede, die selbst in seinen eigenen Ohren lahm klang. Obwohl … was sollte er auch anderes machen, so einsam und verlassen, wie er sich hier fühlte, fernab von allem, was in seinen Augen wirklich zählte?

Verstohlen wischte er einen Klecks Kartoffelbrei vom Rand des Spülbeckens weg, dann endlich sah er Zinnkrug an, der ihn an den Schultern fasste. Er konnte nur hoffen, dass er diesmal ein paar Antworten und gute Ratschläge von dem Inspektor bekam. Zinnkrugs Brillengläser wurden irgendwie klarer, und Seth starrte gebannt in seine Augen. Sie waren so grenzenlos blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel, er konnte kaum den Blick davon abwenden.

»Weißt du, warum die meisten Leute an der Magie scheitern?«, sagte Zinnkrug schließlich. »Und nicht nur an der Magie, sondern auch an allem anderen? Weil sie es sich alle zu leicht machen. Das Wichtigste im Leben sind Bücher, mein Junge. Und zwar die richtigen. In meiner Schule mussten wir immer mindestens ein Buch bei uns haben – wer ohne eins erwischt wurde, musste nachsitzen.«

»Sie haben Magie in der Schule gelernt?«, sagte Seth. Zinnkrug und nachsitzen – oder überhaupt in einem Klassenzimmer –, das war eine absurde Vorstellung.

Eine Ladung Kartoffelbrei, die er übersehen hatte, löste sich von der Decke und klatschte auf Zinnkrugs Kopf.

Der Inspektor wischte es kommentarlos ab. »Musste meine Magie geheim halten. Ich liebte Geschichten, aber ein Buch blieb vom ersten Tag an in meiner Schultasche – es war ein Geschenk meines Vaters. Er hatte mit diesem Buch geübt und es dann an mich weitergegeben. Es war wie ein heimlicher bester Freund für mich.«

Der Inspektor warf einen Blick auf die riesige Uhr an seinem Handgelenk. »Und jetzt muss ich leider zu meiner Verabredung. Ich bin bei einer glamourösen Gastgeberin zum Essen eingeladen.« Nachdenklich strich er sich übers Kinn. »Unglaublich, ein Hotel, in dem man aus jedem Fenster aufs Meer schauen kann … Du hast nicht zufällig noch etwas mehr von diesem hervorragenden Buttergebäck?«

Kauend verschwand Zinnkrug zur Tür hinaus und spazierte in den Wald, der sich um das Hotel herum ausdehnte, bis zu der Stelle, wo die Luft flimmerte. So als wäre dort etwas nicht ganz geheuer. Aber Seth wusste genau, was es war – ein Teleport, das magische Transportmittel, das Leute wie den Inspektor mühelos von hier nach dort brachte.

»Ach übrigens, das Wort, mit dem du den Zauber anhalten kannst, lautet arosfa!«, rief Zinnkrug über die Schulter zurück. »Üben lohnt sich – dieser Zauber ist wirklich Gold wert, glaub mir. Wenn du das Wort mit genügend innerer Überzeugung aussprichst, funktioniert es normalerweise. Auch wenn Worte nicht so deine Stärke sind, wie mir scheint. Und dann kommt es noch auf den Glauben an. Das ist enorm wichtig: Du musst dran glauben, dass du es kannst.«

Seth blinzelte zweimal. Worte waren nicht so seine Stärke? Was sollte das nun wieder heißen?

Zinnkrug blieb stehen und schwenkte eine Hand in der Luft. »Aber alles beginnt mit den Grundlagen.« Dann war er fort, durch den Teleport verschwunden, bevor Seth ihn noch weiter ausfragen konnte.

»Tja, das hast du wirklich brillant gemacht«, spottete Nachtschatten, als Seth in die Küche zu seinen Kartoffeln zurückkehrte. »Warum hast du nicht einfach mal deinen Stolz runtergeschluckt und zugegeben, dass deine Magieversuche eine einzige Katastrophe sind? Dann hätte er dir vielleicht geholfen.« Die Katze sprang auf die Küchentheke und steckte ihr rosa Schnäuzchen in das kinderleichte Anfängerbuch. »Du solltest seinen Rat befolgen. Üben.«

»Aber Zinnkrug hat doch gesagt, es war ein Fehler, mir zu erzählen, dass ich den magischen Funken hätte.«

»Er wollte dir nur zu verstehen geben, dass du den schwierigen Weg wählen sollst, statt dich zu billiger Schwarzmagie verleiten zu lassen.«

Ach ja? Seth ließ die Kartoffel liegen und schlug das pinke Buch auf der allerersten Seite auf. Und jetzt fiel ihm etwas ins Auge, das er noch nie gesehen hatte. Eine handschriftliche Widmung. Die Tinte war verblasst, aber Seth konnte die Worte entziffern: Mögest du genauso viel Spaß daran haben wie ich dereinst, mein Sohn.

Ungläubig starrte Seth darauf. Die Widmung konnte nicht erst kürzlich geschrieben worden sein, so verblichen, wie die Schrift aussah. Das hier musste das Buch sein, von dem der Inspektor gesprochen hatte. Das Buch, mit dem Zinnkrugs Vater geübt und das er dann an ihn weitergegeben hatte. Was hatte Zinnkrug noch mal gesagt? Das Buch sei wie ein heimlicher bester Freund für ihn gewesen, weil er seine Magie geheim halten musste und mit niemanden darüber sprechen konnte.

Das Buch, das der Inspektor Seth zum Üben dagelassen hatte, war sein eigenes kostbares Exemplar gewesen!

Glaubte Zinnkrug also doch an ihn?

»Du warst zu wütend, um richtig hinzuhören«, sagte Nachtschatten, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Jetzt ist er auf und davon, zu irgendeinem protzigen Nobel-Hotel, und so eine Chance kriegst du vielleicht monatelang nicht wieder.«

Seth schoss ein Bild durch den Kopf. Er sah dicke, weiche Kissen vor sich und ein Mädchen, das ihm hin und wieder eine Tasse Tee brachte. Und dann … das Meer, das in jedem Fenster schimmerte. Er hatte noch nie das Meer gesehen. War nie aus dem Hotel Zur letzten Chance herausgekommen.

Dort wäre er endlich mal Gast. Und er könnte sich beim Inspektor bedanken … und überhaupt, wo ließe sich sonst so ungestört Magie üben wie in einem Gästezimmer in diesem abgelegenen Leuchtturmhotel? Zum ersten Mal in seinem Leben wäre Seth nicht der Küchenjunge, der für alle die Kartoffeln schälte.

Entschlossen verstaute er das Buch unter seinem Kittel, drückte Nachtschatten an sich und raste los.

Die Katze maunzte empört, als er zur Hintertür hinausstürzte. Er konnte nur hoffen, dass der Teleport noch da war. Und tatsächlich, der verräterische Dunst schwebte weiterhin über der Lichtung. Seth lief, so schnell ihn seine Beine tragen wollten, sprang leichtfüßig über die Baumwurzeln und jagte hinter Inspektor Zinnkrug her.

Seth konnte nicht atmen. Er wurde durchgewirbelt wie in einem Whirlpool, ohne zu wissen, wo oben und unten war. Die Luft pfiff an ihm vorbei, und da war nichts, nicht einmal Schwärze, nur blendendes Weiß. Er hätte genauso gut in einem fernen Winkel des Universums herumpurzeln können. Obwohl nur wenige Sekunden vergangen sein konnten, erschien es ihm wie eine Ewigkeit.

Dann krachte er auf den Boden.

Er hatte eine volle Bruchlandung hingelegt, sein linkes Bein war schmerzhaft verdreht. Dabei hatte er noch Glück gehabt, wie ihm klar wurde, als er aufstand: Wäre er nicht in diesem weichen, glitschigen und bestalisch stinkenden Haufen gelandet, dann hätte er vielleicht gar nicht mehr mit seinem Bein auftreten können. Mühsam hinkte er davon und zupfte etwas Langes, Braunes von seinem Ärmel ab, was hoffentlich nur Seetang war.

Dann wackelte er mit den Zehen und betastete seine Nase, um sicherzugehen, dass er nicht versehentlich irgendwelche Körperteile im Hotel Zur letzten Chance zurückgelassen hatte. Wo war Nachtschatten? Während er nach seiner Katze Ausschau hielt, nahm er um sich herum hohe, steile Klippen wahr. Vor ihm schäumte und toste das Meer. Wasser rauschte auf ihn zu, machte plötzlich kehrt und raste spielerisch zurück, eine Schaumlinie und gedämpftes Flüstern hinterlassend.

Der Salzgeruch und der frische Wind gingen Seth unter die Haut, schmeckten nach Ferne. Die Luft hallte von den rauen Schreien der Seevögel und dem unablässigen Rollen und Krachen der Brandung wider. Es war unglaublich laut und einfach atemberaubend, unter diesem weiten, offenen Himmel zu stehen, dessen grenzenloses Blau sich in der funkelnden See unter ihm spiegelte.

»Wie kommt es, dass Zinnkrug immer so entspannt aus einem dieser Dinger aussteigt – als wäre er nur mal eben durch die Tür gegangen?«, fauchte eine Stimme hinter Seth. Nachtschatten. Maunzend streifte sie um ihn herum und inspizierte ihr Fell und ihre Schnurrhaare.

Seth starrte in die tosenden Wellen. Er atmete tief ein, seine Sinne vibrierten förmlich unter der Flut von ungewohnten Gerüchen. Besonders einer …

»Was ist das für ein grässlicher Gestank? Seetang, der auf den Klippen trocknet? Oder verfaulter Fisch …«

»Lass uns einen Weg hier runter suchen«, sagte Nachtschatten und hob leise schaudernd ihre Pfoten von den feuchten Steinen. »Wo ist denn nun dieses verflixte Hotel?«

Seth schirmte seine Augen vor der grellen Sonne ab und schaute nach oben, um den Horizont und das hoch aufragende Kliff nach einem Pfad abzusuchen. Der Gestank wurde immer durchdringender, je weiter sie den steilen Kiesstrand hinaufkletterten. Die hohen Felsen vor ihnen waren mit widerstandsfähigen Blumen gesprenkelt, und weiter unten am Strand, am Fuß der Klippe, ragte ein riesiges Holzschild auf: »Privatgrundstück – betreten verboten«.

»Wie nett. Sehr gastfreundlich«, schnaubte Nachtschatten. »Hoffentlich hat Zinnkrug das nicht missverstanden.«

Was vermutlich heißen sollte, dass Seth diese Botschaft nicht missverstehen sollte. Er ging daran vorbei, so aufrecht und selbstbewusst, wie es ihm nur möglich war, obwohl er auf dem holprigen Kiesstrand leicht ins Rutschen geriet. Nachtschatten heftete sich an seine Fersen und jammerte über den Sand an ihren Pfoten.

Zinnkrug musste kurz vor ihnen hier vorbeigekommen sein. Aber wo war er? Typisch für ihn, dass er seinen Teleport mitten auf dem Strand aufgesetzt hatte, wo weit und breit kein Weg zu sehen war. Vielleicht konnte der Inspektor ja fliegen? Seth hielt es zumindest nicht für ausgeschlossen. In seinen Augen war dieser Mann zu allem fähig.

»Jede Menge tote Vögel.« Nachtschatten stupste vorsichtig einen Möwenkadaver mit ihrer Pfote an. »Daher kommt der grässliche Gestank.«

Eine lebendige Seemöwe pickte vor ihnen auf dem Boden herum. Nachtschatten wollte sich schon auf sie stürzen, geschmeidig wie immer, aber die losen Steine machten ihr einen Strich durch die Rechnung.

»Du kannst zu Hause genug Vögel jagen, Nachtschatten, also lass das bitte.«

»Große Vögel können ziemlich lästig werden, wenn man sie nicht von Anfang an in ihre Schranken weist. Aber gut, ich halte mich zurück, wenn du mir dafür versprichst, deine Finger von den Pflanzen zu lassen.«

Seth bückte sich gerade, um ein paar ungewöhnliche Gewächse am Fuß der Klippe zu pflücken. »Das hier ist Mönchsbart! Das habe ich bisher nur in Büchern gesehen«, protestierte er. Schnell stopfte er das Kraut in eine seiner vielen Taschen. Der Kittel war schon immer perfekt für seine Beutezüge durch den Wald der verlorenen Hoffnung gewesen, und hier natürlich genauso. »Hey, und das hier ist eine wilde Karotte, glaube ich. Sind das nicht tolle Namen?«

Nachtschatten fixierte ihn mit ihren großen grünen Augen. »Deine Karotte wird bald nicht mehr das einzig Wilde hier sein, wenn du so weitermachst. Konzentrier dich gefälligst darauf, dieses elende Luxushotel zu finden.«

Sie kamen an fünf oder sechs weiteren toten Möwen vorbei. Seth drehte sich noch mal kurz um und stellte fest, dass die Luft nicht mehr flimmerte. Der Teleport hatte sich geschlossen. Es gab keinen Weg zurück.

Typisch. Alles, was mit Magie zu tun hatte, ging bei ihm irgendwie schief. Der Teleport hatte sie offenbar am falschen Ort abgesetzt. Was in aller Welt sollten sie jetzt tun?

Etwas Feuchtes, Schleimiges klatschte ihm auf den Kopf. Er tastete vorsichtig danach, und seine Finger trafen auf einen dicken Klumpen Seetang. Schnell wischte er ihn ab, bevor er an seinem Nacken herunterglitschte. Dann purzelte ein Stein vor seine Füße, als hätte ihn jemand, der gerade eilig von der Klippenspitze weglief, dort hingeworfen. Seth glaubte ein boshaftes Kichern zu hören und schaute nach oben.

Großer Fehler. Ein zweiter schleimiger Tangklumpen traf ihn an der Schläfe, von wo er ihm ins Ohr tropfte. Das Gelächter, das darauf folgte, klang nach einem kleinen Jungen.

Irritiert blinzelte Seth ins Sonnenlicht. Dort, ein Stück weiter vorne, zeichnete sich die Silhouette eines kleinen Jungen vor dem blauen Himmel ab.

Er wollte dem Tangwerfer gerade etwas Unfreundliches hinterherbrüllen, da drang eine Männerstimme an sein Ohr: »Du willst bestimmt zum Hotel?«

»Ja«, schrie Seth und rüttelte mit dem Finger in seinem Ohr, um das Meerwasser samt der dünnen grünen Seetangspur loszuwerden.

Er marschierte zielstrebiger weiter, und als er die Augen zusammenkniff, konnte er eine hochgewachsene Gestalt ausmachen, die mit einem ausgestreckten Arm auf eine Ecke des Strandes deutete. Seth bewegte sich in diese Richtung, wobei er auf dem losen Kies mehr als einmal ins Rutschen kam. Nachtschatten folgte ihm, immer noch gereizt, doch dann sahen sie, worauf der Mann gedeutet hatte. Stufen, steil und ohne Geländer, fast unsichtbar in den Fels gehauen. Seth machte sich an den Aufstieg.

Bilder von einem bequemen Bett mit dicken, weichen Kissen gingen ihm wieder durch den Kopf. Ein paar Tage ohne Küchendienst, Gemüseschnippeln und Abwaschen. Der Gedanke an ein fremdes Hotel weckte plötzlich in ihm den Wunsch, zu Hause auch etwas zu verändern. Zum Beispiel eine neue Küchenhilfe einzustellen. Das war eine gute Idee. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er in seine neue Rolle als Hotelbesitzer hineingewachsen war.

Oben an der Treppe stand ein blonder junger Mann und strahlte ihn an. Er war mindestens einsachtzig groß, mit blendend weißen Zähnen in seinem braun gebrannten Gesicht. Er konnte nicht älter als achtzehn sein, und so wie er aussah, jagte er den ganzen Tag irgendwelchen Bällen auf einem Spielfeld oder auf dem Tennisplatz hinterher.

»Ich bin Zachary Rendleton, Manager des Schlangenmaul-Leuchtturms, der gerade in ein Hotel umgewandelt wird«, stellte er sich mit einem breiten Lächeln vor. »Und wer zum Henker bist du?«

»Bald in ein Hotel umgewandelt?«, wiederholte Seth, dem diese Auskunft gar nicht gefiel. »Ich bin Seth Seppi«, fügte er nervös hinzu. »Dann haben Sie also gar keine Gäste?«

Seine Träume vom Luxushotel lösten sich in Luft auf, und Seth zerbrach sich den Kopf, wie er seine Anwesenheit erklären sollte, wenn das Hotel noch gar nicht geöffnet hatte. Beklommen dachte er an das Schild mit der Aufschrift »Betreten verboten«.

»Die Renovierungsarbeiten sind in vollem Gang, aber leider hat das Ganze ein paar Haken, mit denen wir nicht gerechnet hatten.«

Seth versuchte Rendletons Akzent einzuordnen, während er gleichzeitig an einer Ausrede bastelte, warum er überhaupt hier war. Unterdessen eilte der Hotel-Manager leichtfüßig einen schmalen Pfad entlang, sodass Seth ihm kaum folgen konnte. Australier. Ja, das musste es sein. Das war es ja gerade, was Seth am Hotelleben so gut gefiel: dass er Menschen aus aller Welt begegnete.

»Hast du schon mal in einem Hotel gearbeitet?«

»Ähm … ja, hab ich.«

»Okay, dann bin ich froh, dass du hier bist, Seth Seppi«, sagte Rendleton. »Hier wartet tonnenweise Arbeit auf dich.«

Tonnenweise Arbeit?

»Du bist doch der neue Küchenjunge, oder nicht?«

Küchenjunge war wirklich das Letzte, was Seth vorschwebte. Aber eine bessere Ausrede hätte ihm gar nicht in den Schoß fallen können, daher sagte er eifrig: »Ja, klar, der bin ich.«

Rendleton hatte seine Antwort nicht erst abgewartet, sondern war einfach weitergegangen.

»Da war vorhin so ein kleiner Junge, der uns mit Tang bombardiert hat. Gehört der zum Hotel?«

»Ah, du hast also schon Bekanntschaft mit Alfies Schleuder gemacht. Pech für dich.«

Seth rieb sich den Nacken. »Scheint ziemlich treffsicher zu sein.«

»Alfie hat massenhaft Zeit zum Üben. Er ist der Bruder von Mina Minzenkresse, die diesen alten Leuchtturm gekauft hat. Die beiden haben ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und sind mit großen Plänen im Kopf hierhergekommen. Ein Luxushotel wollen sie aus dem Leuchtturm machen. Ich schätze mal, Jo hat dich einfach in der Möwenbucht abgesetzt? Hätte nicht gedacht, dass sie so schnell Ersatz findet. War mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt rausfahren würde bei dem Sturm, der gerade aufzieht.«

Seth wusste nicht, wer Jo war. Aber zumindest hatte er jetzt die Chance, Inspektor Zinnkrug zu finden, der ihm vielleicht helfen konnte, von hier wegzukommen. Nur gut, dass Nachtschatten an ihnen vorbeigehuscht war, ohne sich bemerkbar zu machen. Wer brachte schon eine Katze mit in ein Hotel?

An der Küstenlinie jenseits des Wassers kristallisierte sich eine kurze, sehr schmale Halbinsel heraus. Steile Klippen ragten zu beiden Seiten einer Ansammlung von Häusern auf, die nach einem kleinen Hafen aussahen.

»Hat Alfie die Möwen abgeschossen und am Strand liegen lassen?«, fragte Seth, der an die Schleuder und an das boshafte Kichern dachte.

»Alfie und seine toten Vögel sind derzeit unsere geringste Sorge, Kumpel.« Rendleton hielt inne, drehte sich um und hob eine Hand, um auf den weiten Himmel über ihnen zu deuten. Dutzende aufgeregt kreischender Seevögel kreisten in der Luft. »Ich bin kein Vogelexperte, aber vielleicht haben die Möwenkadaver etwas mit dem aufziehenden Sturm zu tun. Es soll der schlimmste sein, den es seit Jahren gegeben hat.«

Erst jetzt begriff Seth, dass Rendleton nicht auf die Vögel zeigte, sondern auf eine Stelle in der Ferne, wo der Himmel bedrohlich in zwei Hälften auseinanderklaffte. Direkt über ihnen war er noch leuchtend blau, aber weiter draußen glänzte er in düsterem Schwarz, eine Gewitterfront, die unerbittlich auf sie zukam.

Seth schluckte. Er drehte sich zu Rendleton um, der in seinem leichtfüßigen Gang weiter den Pfad hinauflief, und rannte schnell hinterher.