Liberdade - Theresa Rath - E-Book

Liberdade E-Book

Theresa Rath

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Beschreibung

Die angehende Medizinerin Anna flieht aus ihrer vermeintlich heilen Welt nach Brasilien. Die ersten Wochen, die sie in Rio de Janeiro verbringt, übertreffen all ihre Vorstellungen. Sie lernt neue Menschen und Lebensweisen kennen und beginnt ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. Gabriel führt sie in eine Welt, die ihr frei und leicht erscheint. Und so merkt sie nicht, wie aus anfänglichen Vergnügungen Gewohnheit wird und der Mann, in den sie sich verliebt hat, sich schleichend verändert. Unaufhaltsam verstrickt Anna sich in ein Geflecht aus Gewalt, Drogen und Kriminalität. Was ihr zu Beginn als Freiheit erschien, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Als ihr schließlich klar wird, dass sie sich ihren Dämonen stellen muss, die sie in diese Situation getrieben haben, ist es womöglich schon zu spät. Theresa Rath analysiert in „Liberdade“, was uns antreibt, sie schreibt über die Allgegenwärtigkeit der Sehnsucht nach Liebe und einem Zuhause und über Selbstwert. Und sie erzählt über Männer, Frauen und Gewalt.

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periplaneta

THERESA RATH: »Liberdade« 1. Auflage, Mai 2021, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Covergestaltung: Thomas Manegold unter Verwendung eines Bildes von Luciano Ribas (unsplash.com) Lektorat, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-185-1 epub ISBN: 978-3-95996-186-8

»Es gibt ebenso wenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol.«

Sigmund Freud

»If you can, you must.«

Amanda Palmer

Für all die Frauen, die wissen, wovon die Rede ist.

Und auch für die, die es nicht wissen.

Theresa Rath

Theresa Rath wuchs in Neuss als Tochter zweier Diplompsychologen auf. Schon früh begann sie, Geschichten und Gedichte zu verfassen. Nach dem Abitur zog sie zum Studium der Rechtswissenschaften nach Freiburg. 2009 erschien ihr erstes Buch „Kleines Mädchen mit Hut“ bei Periplaneta. 2012 veröffentlichte sie ebenfalls bei Periplaneta den Kurz­ge­schich­tenband "Die Ketten, die uns halten".

Nach einem Auslandaufenthalt beendete sie 2018 ihr juristisches Refe­rendariat mit dem zweiten Staats­examen. Danach arbeitete sie als Anwältin, bis sie sich entschloss, an einem Institut für Nachhaltigkeit zu promovieren. Sie veröffentlichte diverse Aufsätze unter Beteiligung verschiedener Co-Autoren zu den Themen Klimawandel, Energiewende, Sozialrecht und Postwachstum. Theresa Rath lebt seit 2015 in Berlin. Sie ist Mitglied der Lesebühne "Dichtungsring".

Theresa Rath

Liberdade

Roman

periplaneta

Prolog

München, 2019: Ich ziehe den Vorhang auf. Mein Herz bricht in dem Moment, da ich sie sehe. Ich gehe langsam auf die Behandlungsliege zu, auf der sie zusammengesunken sitzt, als sie mir das Gesicht zuwendet. Knapp über ihrem linken Wangenknochen, in der Nähe der Schläfe, prangt ein großflächiges, grünlich-gelb verfärbtes Hämatom. Auf derselben Seite ist der Mundwinkel eingerissen, der Wundrand um die Verletzung herum ist hellrot. Ihre Hände zittern so sehr, dass ich es sehe, noch bevor ich mich über sie beuge. In ihrem Gesicht liegt etwas, das ich nicht gleich deuten kann, bis ich erkenne, dass es Angst ist. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens. Um diese Uhrzeit ist die Notaufnahme beinahe leer. Ich habe Zeit. Sie ist höchstens Mitte zwanzig, denke ich, helle Augen in einem schmalen Gesicht, halblanges, dichtes Haar, eine zarte Figur, ein kleiner, herzförmiger Mund. Doch ihre Haut ist fahl und die Schultern hängen und fast habe ich den Eindruck, als senke sich ein Gewicht auf meine eigenen, während ich sie mustere.

»Was kann ich für Sie tun?«, frage ich möglichst neutral und ihr Blick wabert von meinem Gesicht zum Fenster und wieder zurück.

»Ich glaube, ich habe mir den Arm gebrochen«, stammelt sie nach einem Moment der Stille.

»Was ist passiert?«, frage ich und bemühe mich, den inquisitorischen Klang, den meine Stimme fast automatisch annimmt, zu unterdrücken.

»Ich bin auf der Treppe gestolpert, als ich ein Tablett hinunter getragen habe«, erwidert sie und ich denke: Wozu das Tablett? Mit der Zeit habe ich gelernt, Lügen aufzudecken, wenn man sie mir erzählt, und ein wesentliches Merkmal sind überflüssige Informationen. Ich kann nicht genau sagen, weshalb ich mir so sicher bin, dass sie nicht auf der Treppe gestolpert ist. Vielleicht ist es ihre angespannte Haltung, als erwarte sie in jedem Moment, geschlagen zu werden. Oder es ist die Intuition, die man entwickelt, wenn man nur lange genug in einem bestimmten Beruf arbeitet. Obwohl alles in mir aufbegehrt, frage ich für den Moment nicht weiter nach. Ich untersuche meine Patientin, schiebe sanft den Ärmel ihres dicken Wollpullovers nach oben, betrachte die Schwellung am Unterarm und die gelblichen Verfärbungen, die unmöglich erst heute entstanden sein können. »Bewegen Sie bitte einmal die Finger, so als wollten Sie eine Faust machen«, sage ich und sie krümmt die Finger, zuckt dann aber trotz der Schmerzmittel, die man ihr vorher verabreicht hat, zusammen und streckt sie wieder.

Nachdem ich ihren Arm gründlich untersucht habe, frage ich vorsichtig: »Dürfte ich mir einmal Ihren Bauch ansehen?«

»Warum?«, gibt sie zurück. »Ich habe mir doch den Arm gebrochen.«

Doch ich insistiere. »Es wäre wichtig«, sage ich. »Ich möchte gerne sehen, ob Sie sich beim Sturz eventuell noch andere Verletzungen zugezogen haben.« Sie schüttelt den Kopf, als könne sie das beurteilen. »Ich will nur sichergehen, dass wir nichts übersehen«, sage ich. Doch sie weigert sich standhaft. Also frage ich nicht weiter. Ich nehme die Standarduntersuchungen an ihr vor und schließe ein Schädelhirntrauma infolge des Treppensturzes aus. Dann schicke ich sie zum Röntgen. Als die Ergebnisse da sind, rufe ich sie wieder in den Behandlungsraum. Der Arm ist gebrochen, eine saubere, distale Radiusfraktur.

»Die gute Nachricht ist, dass wir nicht operieren müssen«, sage ich und mustere sie eingehend. Anstelle von Erleichterung sehe ich für eine Millisekunde Panik in ihren Augen aufblitzen. Sie sitzt mir gegenüber auf der Krankenliege. Nun ziehe ich mir einen Stuhl heran und setze mich ihr gegenüber. Ich werfe einen Blick in ihre Akte. »Natascha«, sage ich vorsichtig, »bevor ich Ihren Bruch richte und Sie einen Gips bekommen, müsste ich noch ein paar Dinge über Ihre aktuellen Lebensumstände wissen.« Das ist gewagt, denke ich, aber immerhin einen Versuch ist es wert. »Leben Sie aktuell in einer Beziehung?«, frage ich und weiß, dass ich mich dabei weit aufs Eis vorwage.

Kaum merklich nickt Natascha.

Ich seufze. »Ich will Ihnen nicht zu nahetreten«, sage ich und mache eine kurze Pause, bevor ich weiterspreche. »Aber diesen Bluterguss da in ihrem Gesicht, den habe ich schon einige Male gesehen. Und normalerweise kommt er nicht von einem Treppensturz. Und die Hämatome da an Ihrem gebrochenen Unterarm, die sind auch schon einige Tage alt.« Es ist ein Drahtseilakt. Ich darf sie nicht verschrecken, muss die Dinge aber zugleich so deutlich ansprechen, dass ihre Ausflüchte nicht weiter funktionieren. Als würde man sich einem scheuen Reh nähern, das jeden Moment mit grazilen Sprüngen wieder im Wald verschwinden kann, wenn man eine unüberlegte Bewegung macht.

Nataschas Lippen zittern kaum merklich, sie hat sich gut unter Kontrolle. »Ich bin die Treppe heruntergefallen«, wiederholt sie. »Ich habe gerade ein Tablett getragen, als ich ausgerutscht bin.«

Ich werde direkter, ich spüre, ich bin auf der richtigen Fährte. »Ich stehe unter ärztlicher Schweigepflicht«, sage ich. »Sie können sich mir anvertrauen. Es gibt einen Ausweg aus dieser Situation, wenn Sie Hilfe annehmen.«

Plötzlich sieht sie mir direkt in die Augen und funkelt mich böse an. »Es ist nichts«, faucht sie, und ich denke, ja, da ist er, der Widerstand der Misshandelten. Immer bereit, den zu schützen, der ihnen das antut. Wie absurd. Wie üblich. Wie banal. Ich rudere zurück. Manchmal muss man ihnen Zeit geben, um die Möglichkeiten abzuwägen. Die Option, dem Missbrauch ein Ende zu setzen, ist überwältigend, erscheint irreal und überfordert viele von ihnen im ersten Augenblick. Für den Moment kann ich nichts weiter tun, also repositioniere ich den Bruch. Obwohl dies extrem schmerzhaft ist, gibt Natascha keinen Laut von sich. Tonlos rinnt ihr eine einzelne Träne die Wange hinab. Danach schicke ich sie zum Pflegepersonal, das ihr den Gips anlegen wird. »Ich rufe Sie gleich noch einmal zu mir, um das weitere Vorgehen zu besprechen«, sage ich, obwohl das dem üblichen Verfahren widerspricht. Doch das weiß Natascha nicht. Sie nickt wortlos und verlässt den Raum.

Ich sehe ihr nach, als ihre schmale Gestalt sich nach links wendet und den Krankenhausflur hinab geht. Etwas hat sie an sich, das eine Erinnerung in mir hinaufsteigen lässt. Vielleicht sind es ihre Augen, ihr helles Grün, vielleicht sind es aber auch ihr Widerstand oder die gebeugten Schultern, die dazu führen, dass in mir die Gedanken zu wirbeln beginnen.

Mit einem Mal bricht mir der Schweiß aus. Bilder schlagen über mir zusammen. Nein, denke ich, das hast du doch längst hinter dir. Zu Beginn ist es mir immer passiert, wenn ich misshandelte Frauen behandelte. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Doch Natascha – sie hat diesen verletzten Ausdruck in den Augen, wie ein Kind, das nach einem Halt sucht. Sie erinnert mich an eine andere junge Frau, die einmal dieser schicksalhaften Sehnsucht erlegen ist, die sie alle antreibt. Mit ihrem Erscheinen öffnet sich die Tür zu einem Raum, den ich lange verschlossen gehalten habe und nie wieder betreten wollte. Nicht immer sind die Verletzungen so offensichtlich wie in diesem Fall, denke ich noch, als bereits das Zimmer vor meinen Augen verschwimmt. Und: Wie oft es nur vom Zufall abhängt, wie weit man in den Abgrund blickt. Mit beiden Händen klammere ich mich an der Tischplatte fest. Doch schon ist es, als trügen mich meine Erinnerungen weit fort von hier, zurück an einen Ort, den ich vor langer Zeit verlassen habe. Und mit einem Mal sehe ich sie wieder vor mir: Gabriel, Philipp, Olga und Juan und all die anderen. Als sei keine Zeit vergangen, stehe ich plötzlich wieder dort oben in Vidigal, in der Favela Rio de Janeiros, im Glauben, endlich frei zu sein, und ohne eine Idee von dem zu haben, was noch auf mich zukommen wird. Ich fühle mich lebendig, als ich meinen Blick über die glitzernden Hügel dieser wunderschönen, widersprüchlichen Stadt schweifen lasse. Mit einem Schlag bin ich wieder zweiundzwanzig und glaube, begriffen zu haben, was Freiheit bedeutet. Und ich habe keine Ahnung, welchem Irrtum ich damit erliege.

1 Rio - Unschuld

September 2014. Ich versuche, in meinem unbequemen Flugzeugsitz zu verschwinden, und wische mir verstohlen ein paar Tränen aus den Augen, als plötzlich eine Hand mit einem Taschentuch darin vor meinem Gesicht erscheint. Erstaunt sehe ich auf und drehe den Kopf. Über den Gang hinweg hält mir eine junge Frau das Taschentuch entgegen. »Toma«, sagt sie und lächelt mich freundlich an. Verschämt nehme ich das Tuch entgegen und wische mir damit die Tränen von den Wangen. »First time, Brazil?«, fragt sie und ich nicke zaghaft. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu mir herüber und tätschelt meinen Arm. »Vai ser maravilhoso«, sagt sie und mit meinem Schulspanisch kann ich erahnen, was das bedeutet. Dann beginnt Joana, mir ihre Heimatstadt zu beschreiben, und für einen Moment vergesse ich meinen Kummer und meinen Abschiedsschmerz. Nicht einmal an Philipp denke ich, während Joana mir in langsamem, wohlmoduliertem Portugiesisch Rios Strände, Hügel, Straßen und vor allem die Menschen beschreibt. »Und die Männer«, sagt sie und beendet den Satz nicht. Dann sieht sie zu dem schlafenden Brasilianer, der neben ihr sitzt. »Na ja, die meisten sind viel schöner als meiner.« Sie lacht und auch ich muss lachen. Als wir in Rio landen, begleiten sie und João mich noch bis zum Bus, der mich von hier aus weiterbringen soll. »Ruf mich an«, sagt sie und tippt schnell ihre Nummer in mein Handy ein, bevor sie mir zwei Küsse fest auf die Wangen drückt. Dann ist sie verschwunden.

Der Bus schlängelt sich langsam durch die Straßen Rio de Janeiros, vorbei an Hügeln, auf denen sich kleine Häuser mit Flachdächern dicht aneinanderdrängen. Ich presse meine Nase an die Scheibe und versuche, in der Dunkelheit draußen etwas zu erkennen. Die Müdigkeit sitzt mir nach einem langen Tag der Reise schwer in den Gliedern und beinahe fallen mir die Augen zu. Nervös sucht mein Blick auf der Straße nach einem Anhaltspunkt, denn ich weiß nicht, wo ich aussteigen muss, und spreche nur ein paar Worte Portugiesisch. Schließlich überwinde ich meine Scheu und frage den Mann auf dem Sitzplatz neben mir: »Botafogo?«.

Er gestikuliert wild und im allerletzten Moment begreife ich, dass wir im Begriff sind, an meiner Haltestelle vorbeizufahren. Schnell wuchte ich meinen Reiserucksack aus der Gepäckablage, signalisiere dem Fahrer, dass er halten soll, und stehe plötzlich einsam und orientierungslos an einer Straßenecke in Rio de Janeiro. Die tropische Hitze legt sich auf meine Schultern. Sofort bricht mir der Schweiß aus. Ängstlich sehe ich mich um, denn man hat mir so einiges über Rio erzählt und ich habe keine Erfahrung im Reisen. Schließlich nähere ich mich einem wartenden Taxi und klopfe an die Scheibe. »Rua Oliveira Fausto?«, frage ich und lächele freundlich. Der Taxifahrer sagt etwas, das ich nicht verstehe, und beschreibt mit seinem Arm einen weiten Bogen. Ich wechsele ins Spanische und er nickt. »Du kannst laufen, ansonsten muss ich einen weiten Umweg fahren.« »Ist das nicht gefährlich?«, frage ich und höre selbst die Unsicherheit in meiner Stimme. Er zuckt mit den Schultern. »Hier in Rio ist bei Nacht alles irgendwie gefährlich«, antwortet er und das genügt mir. Ich lasse mich auf den Rücksitz des Taxis fallen und wünsche mir nichts mehr, als in meinem Bett in München zu liegen.

Vor dem Carioca hält der Fahrer und ich steige aus. Hinter einer niedrigen Steinmauer mit einem Mosaikschild am Tor liegt das einladend wirkende Häuschen. Ich drücke auf die Klingel und kurze Zeit später erscheint ein junger Mann im Hof, der mich hereinwinkt.

»Ich bin Juan«, sagt er. Erleichtert stelle ich fest, dass er Spanisch spricht. Immerhin werde ich mich verständigen können.

»Anna«, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen. »Ich werde hier an der Rezeption arbeiten.«

Juan nickt und führt mich die kleine Treppe hoch in den Eingangsbereich des Hostels. Drinnen summen die Moskitos und die Ventilatoren laufen auf Hochtouren. Unsicher sehe ich mich um. Der Rezeptionist schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Seine warmen braunen Augen ruhen einen Augenblick auf mir und Juan deutet in seine Richtung. »Gabriel. Auch aus Argentinien«, sagt er und mein Blick bleibt für einen Moment an ihm hängen. Hübsch ist er, denke ich, und sein breites Lächeln berührt etwas in mir. Doch ich halte mich nicht länger mit diesem Gedanken auf, denn schon winkt Juan mir, ihm zu folgen. Er zeigt mir das Hostel, die Terrasse, die Küche, die verdreckten Badezimmer mit Klokabinen. Schließlich weist er mir ein Bett in einem Zehnerschlafsaal zu. Ich werfe meinen Rucksack auf den Boden und nehme mein vorübergehendes Heim in mich auf.

Das Hostel ist dreckig, überfüllt und das Letzte, was ich will, ist, hier fünf Wochen zu verbringen. Ich will nach Hause, aber vor allem will ich zu Philipp. Schon jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich mir bei dieser Reise gedacht habe. Alle schwärmen immer von ihren Aufenthalten im Ausland, doch ich bin nur hier, weil ich nicht die Einzige sein will, die nicht wenigstens einen kurzen Abstecher in ein anderes Land im Lebenslauf stehen hat. Vielleicht wäre ohne Philipp alles anders. Ich bin seit fünf Jahren mit ihm zusammen und ich glaube, dass ich ihn liebe. Heute Morgen noch bin ich in neben ihm aufgewacht und habe mich in der Erwartung des baldigen Abschieds dicht an ihn gepresst. Ich weiß, dass ich ihn bereits in fünf Wochen wiedersehen werde. Dennoch ist die Angst, dass alles sich in der Zeit des Getrenntseins ändern könnte, dass er vielleicht jemand anderes kennenlernen und sich endgültig gegen mich entscheiden könnte, wie er es so oft schon angedroht hat, so beißend wie eh und je. Ganz unbegründet ist diese Angst nicht, denn auch, wenn wir nach außen hin ein schönes Paar abgeben, hält Philipp mich konstant in der Schwebe, gibt mir immer wieder zu verstehen, dass er mir überlegen ist und ich keinen Grund habe, mich selbst zu überschätzen, während er mich vor seinen Arbeitskollegen in den Himmel lobt. Die Angst davor, von ihm verlassen zu werden, macht mich schwach und weinerlich. Beinahe wäre ich überhaupt nicht nach Brasilien gefahren. Dass ich nun doch hier bin, habe ich nur meiner Schwester zu verdanken, die mich schon fast zu dieser Reise nötigte, nachdem ich mit erst zweiundzwanzig Jahren zwar im Sommer mein zweites medizinisches Staatsexamen abgelegt, aber noch nichts von der Welt gesehen habe. »Fahr schon«, sagte sie zu mir. »Tu es an meiner Stelle.«

Philipp dagegen nahm mir übel, dass ich die Reise ohne ihn unternehmen würde, da er soeben erst einen neuen Job angenommen hatte und keinen Urlaub nehmen konnte. »Und dann auch noch nach Brasilien«, sagte er zu mir, als ich ihm mitteilte, dass ich nach Rio reisen wollte, während er hektisch zu einer kurzen Mittagspause aus seinem Arztkittel schlüpfte. »Kannst du dir nicht wenigstens etwas Spannendes aussuchen?«, womit er vermutlich Melbourne oder New York meinte. Als ich begann, von Rio zu schwärmen und ihm diese Stadt aus Hügeln und weißen Stränden zu beschreiben, winkte er ab und schlug eine medizinische Fachzeitschrift auf. »Morgen darf ich dem Chef bei einem Aneurysma-Clipping assistieren«, sagte er und seine Augen leuchteten begeistert. Enttäuscht blickte ich zu Boden und Rio verlor in meiner Vorstellung ein wenig an Farbe, während er begann, mir ausführlich zu erklären, wie man ein Aneurysma verschließt. Um ihn nicht zu verärgern, nickte ich interessiert, und tat, als hätte ich nicht selbst erst gestern einen Beitrag darüber gelesen. Tief in mir weiß ich, dass all dies vielleicht nicht so sein sollte. Doch im Moment ist das zweitrangig. Im Moment will ich mich nur in seinen Armen verkriechen und wieder bei ihm in München sein, in meinem gewohnten Umfeld. Ich bin schon jetzt müde vom Reisen. Ich finde, ich habe genug von der Welt gesehen, das wird doch sowieso überschätzt. Eigentlich will ich mich nur endlich in Sicherheit fühlen, obwohl ich selbst nicht weiß, was ich genau damit meine.

Barfuß tappe ich zur Rezeption und frage Gabriel nach dem Passwort für das WiFi. Wieder wirft er mir dieses blendende Lächeln zu und macht einen Witz über meinen überdimensionierten, altmodischen Laptop, den ich kaum verstehe, da er schnell etwas in seinem argentinischen Dialekt nuschelt und dabei die Hälfte der Worte verschluckt. Dennoch entgehen mir nicht das Blitzen in seinen Augen und der beiläufige Blick, mit dem er mich mustert. Schließlich gelingt es mir, todmüde und überfordert von all dem Neuen um mich herum, eine Nachricht an Philipp zu schicken, den ich in diesem Moment mit jeder Faser meines Körpers vermisse. Danach lasse ich mich in mein Stockbett fallen. Zuvor hänge ich noch ein Bettlaken vor meine Schlafstätte, da das Licht im Zimmer von den anderen Gästen ständig an und ausgeknipst wird und die Ventilatoren mir heiße Luft direkt ins Gesicht blasen. »Willst du mit auf eine Party?«, fragt mich ein Mädchen mit asiatischen Zügen und ich denke, um nichts auf der Welt, während ich schwach den Kopf schüttele. Ich falle in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Am nächsten Tag sitze ich alleine auf der Terrasse des Hostels und knabbere verschämt an einem Sandwich. Um mich herum scherzen die Gäste und die Mitarbeiter des Hostels kringeln sich vor Lachen über Witze, die ich nicht verstehe. Im Kopf bin ich noch in München mit Philipp und seine Abwesenheit versetzt mich in einen Alarmzustand, so als verlöre ich die Kontrolle. Ich stelle ihn mir in Deutschland vor, frage mich, was er gerade tut, und dränge den Gedanken, er könne beim Essen mit einer seiner attraktiven Kolleginnen sitzen, beiseite. Ich wünsche mir, ich wäre nicht hergekommen. Immer wieder gehe ich in meiner Erinnerung Situationen vom Tag meiner Abreise durch: Wie Philipp mir sagte, nun hielte ich ihn endlich für ein paar Wochen nicht von seinen Studien ab, wie ich zusammengerollt und verweint auf dem Sofa lag, weil ich so große Angst vor der Trennung hatte, wie über sein Gesicht dieser düstere Schatten huschte, der dort immer auftaucht, wenn er mein Verhalten missbilligt, und wie er den letzten gemeinsamen Abend vor seinen Büchern verbrachte und mit einer Kollegin telefonierte, während das Essen langsam kalt wurde, das ich für uns gekocht hatte. Als ein paar andere Mitarbeiter des Hostels an meinem Tisch auftauchen und sich vorstellen, schüttele ich ihnen halbherzig die Hände und wünsche mich weit weg von der Hitze und den lächelnden Menschen, mit denen ich nichts gemeinsam habe.

In den nächsten Tagen wandere ich wie ein Geist durch das Hostel. Ich schleppe mein Handy mit mir herum und halte es ständig in der Hand für den Fall, dass Philipp sich dazu herablässt, mir eine Nachricht zu schicken. Von Zeit zu Zeit wechsele ich ein paar Worte mit den anderen, die im Hostel arbeiten oder wohnen. Juan und Olga, eine Russin, laden mich zum Essen ein. Die beiden sind seit ein paar Wochen ein Paar und im Gegensatz zu den anderen gehen sie kaum aus. Gabriel taucht zwischendurch auf der Terrasse auf, aber die meiste Zeit ist er unterwegs, immer auf dem Weg von einer Party zur nächsten und schläft bis zum späten Nachmittag.

Ich fahre zum Cristo, der schützend seine Arme über Rio breitet. Unten brummt die Stadt, Busse drängen sich durch die Straßen wie Raupen, die Autos hupen, über den Häusern erheben sich die Kronen der Bäume und an den Gittern, die die Wohnhäuser vor Eindringlingen schützen, ranken sich Kletterpflanzen hinauf. Vom Hügel, auf dem der Cristo stolz sein Haupt erhebt, blicke ich hinunter auf die Stadt, die zwischen Wolkenfetzen hervorschimmert. Ich betrachte die Gruppen von lachenden und schwatzenden Touristen, die in vielen verschiedenen Sprachen durcheinanderreden und unzählige Fotos machen, und fühle mich fehl am Platz. Meine ersten Schichten an der Rezeption meistere ich mehr schlecht als recht. In meinem Tagebuch notiere ich den Rundgang durch das Hostel auf Portugiesisch und nach meiner ersten Schicht fehlt Geld in der Kasse. Ich weiß nicht, warum, sodass ich heimlich ein paar Scheine aus meiner eigenen Tasche in die Kasse gleiten lasse. Luíz, der Besitzer des Hostels, watschelt durch die Gänge wie ein rollender Kloß und schenkt den Gästen sein falsches Lächeln. An ein paar Abenden gehe ich mit anderen Gästen auf ein Bier mit. Ansonsten schlafe ich früh und bin in meinen Gedanken noch immer in München.

Dann besuche ich Joana in ihrer Wohnung in Barra de Tijuca. Sie nimmt mich mit auf ein Konzert, wo Brasilianer mit langen Rastas und wilden Lockenschöpfen Samba und brasilianischen Rock spielen. Derek, mein Mitarbeiter aus dem Hostel, den wir zufällig auf dem Festival treffen, steht neben uns und wirft Joana begehrliche Blicke zu, die diese nicht ganz unzufrieden erwidert. Ich brauche einen Moment des Freidrehens, wie ich ihn mir fast nie gönne und wie ich ihn mir nur angeheitert und mit lauter Musik im Hintergrund von Zeit zu Zeit genehmigen kann. Und so trinke ich ein paar Bier über den Durst, während ich laut und ohne den Text zu kennen, die Lieder mitsinge. Derek, der mich bisher nur als schüchterne, stille Deutsche aus dem Hostel kennt, mustert mich ungläubig.

Am nächsten Tag bin ich krank. Meine Stimme versagt mir den Dienst, während ich an der Rezeption sitze. Mit Fingerzeichen bedeute ich den Gästen, dass ich nicht sprechen kann, und zeige den Preis des Bieres an. Alle amüsieren sich köstlich. Alle außer mir. Meine Erkältung wächst sich zu einer ernsthaften Grippe aus. Im Zimmer der Mitarbeiter, das im Keller liegt und in welchem ich mittlerweile ein Bett habe, schlafen acht Personen schichtweise in Stockbetten, die Klimaanlage bläst trockene Luft in den Raum und ich wälze mich mit hohem Fieber in den Laken und huste, als hätte ich dreißig Jahre lang geraucht. Neben mir stapeln sich benutzte Taschentücher auf der Matratze. Wenn mein körperlicher Zustand es mir erlaubt, quäle ich mich aus dem Bett heraus und in den Computerraum, wo ich mit dem elendig langsamen WiFi Hörbücher herunterlade, die ich mir in meinem Dämmerzustand Mal um Mal anhöre, um nicht meinen eigenen Gedanken lauschen zu müssen. Ich fühle mich erbärmlich. Ich rufe Philipp an, doch er hat kaum Zeit für mich. Mein Zustand ist mir unangenehm. Ich weiß, dass ich sieben andere Menschen am Schlafen hindere, und ich schaffe es nicht mehr aus meinem Schlafanzug heraus. Schließlich darf ich in einen leeren Schlafsaal ziehen, in dem ich mich in einem der Stockbetten auf etliche Kissen bette, um den Schleim abzuhusten.

In einer dieser Nächte, in denen meine Lunge brennt und ich kein Auge zutun kann, schleppe ich mich zur Rezeption, wo ich einen Tee trinken will. Gabriel hat die Nachtschicht. Peinlich berührt überlege ich, ob ich umkehren soll, denn er redet mit Vinícius, der im Hostel lebt, und hat mich noch nicht bemerkt. Schließlich aber entscheide ich mich, zu bleiben, und lasse mich in meinem übergroßen T-Shirt, mit abstehenden Haaren und in Philipps Boxershorts auf einen Stuhl fallen, als schon ein Hustenanfall mich zu schütteln beginnt. Obwohl ich mich fühle, als würde ich diese Grippe nicht überleben, kann ich nicht anders, als Gabriel einen Blick zuzuwerfen. In den einsamen Stunden in meinem Stockbett habe ich ab und zu an ihn gedacht, und wenn er das Zimmer betrat, habe ich mich schnell mit dem Gesicht zur Wand gedreht, um von ihm nicht in meinem erbärmlichen Zustand gesehen zu werden. Schon ewig habe ich keinem anderen Mann als Philipp auch nur einen Gedanken mehr geschenkt und ich wundere mich über diese Anwandlungen. Während ich Gabriel verstohlen betrachte und mich insgeheim meiner Gedanken schäme, lächelt er mir freundlich, aber nichtssagend zu. Als mein Husten sich auch nach einigen Minuten nicht beruhigt, bietet er an, mir einen Tee zu machen. Ich willige erleichtert ein. Und während Gabriel Wasser aufsetzt, werfe ich wieder einmal einen Blick auf mein Handy, das die ganzen Tage über, die ich mit Fieber im Bett lag, schrecklich still geblieben ist. Nicht ein einziges Mal hat Philipp mich angerufen, sondern mir nur ein paar nichtssagende Smileys geschickt. Kopf hoch, wird schon wieder.

Als ich schließlich aus meinem krankheitsbedingten Trancezustand auftauche, habe ich das starke Bedürfnis, etwas nachzuholen. Ich glaube, ich habe dieses Bedürfnis sogar insgesamt, wenn ich an die letzten Jahre zurückdenke, an Philipps und mein Leben, das dem von Fünfzigjährigen mehr ähnelt als dem von zwei Menschen in ihren Zwanzigern. Immer wieder blitzt die Erinnerung auf, an die zehrende Depression meiner Mutter, die sie hinter einem dünnen Lächeln verbirgt, an die unzähligen Stunden am Schreibtisch, und Philipps Fassungslosigkeit, als er nicht die Stelle in Berlin bekam, auf die er seit Beginn seiner Karriere hingearbeitet hatte. Ich denke an all die Schwere, an all den Streit, der auf diese Ablehnung hin folgte, daran wie er mich wie ein Boxer im Ring den anderen umkreiste, während ich für mein Examen lernte, nur auf die Gelegenheit wartend, zuzuschlagen und endlich über mich und meine Leistungen zu triumphieren. Ich denke an mein unbarmherziges Verhältnis zu meinem eigenen Körper, das mich immer wieder an die Grenze des Selbsthasses treibt. Ich denke an meine kranke Schwester und an den unbewegten Ausdruck in Philipps Augen, als ich vor Trauer über ihr Schicksal einmal entgegen all meiner Anstrengung in Tränen ausbrach. Über meinen Vater will ich nicht einmal nachdenken. Und so erscheint mir Rio nun, da ich genesen bin, in einem ganz neuen, verlockenden Licht.

*

Während meiner ersten Schicht nach der überstandenen Grippe sitze ich gelangweilt hinter der Rezeption und scrolle durch eine Nachrichtenwebsite, als plötzlich Gabriel auftaucht.

»Na, wieder gesund?«, fragt er und ich nicke schüchtern.

»Ich glaube schon. Ich war ewig nicht mehr so krank…«, setze ich an und will mich gerade in Schilderungen meiner Symptomatik ergehen, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll, als Gabriel mir zum Glück das Wort abschneidet.

»Dann kommst du heute Abend mit auf eine Party«, sagt er.

Erschrocken sehe ich ihn an. Seine Stimme duldet keinen Widerspruch und sein Lächeln ist unwiderstehlich. Eigentlich gefällt mir die Idee sogar, mit ihm auszugehen. Also willige ich ein und Gabriel lässt mich allein an der Rezeption zurück.

Ein bisschen mulmig ist mir schon. Ich kann nicht besonders gut tanzen und mag die lauten, stickigen Innenräume von Clubs nicht sonderlich. In München gehen Philipp und ich auf Abendempfänge, auf die Sommerfeste seiner Kollegen, und ab und zu ins Konzert. Von Partys hält er nicht viel, es sei denn, er zieht mit seinen Kumpels los, und da bin ich eher weniger willkommen. Meine Erfahrung, was Partys angeht, ist also relativ begrenzt. Außerdem will ich nicht mit Gabriel alleine gehen. Das eine ist schließlich, mich krank in meinem Bett den Gedanken an fremde Männer hinzugeben, und das andere, mit diesen fremden Männern alleine tanzen zu gehen. Gerade in dem Moment, als ich beschließe, alles wieder abzusagen, klingelt es an der Tür und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ich drücke auf den Knopf, der das Tor zum Vorgarten aufspringen lässt, und recke den Hals, um zu sehen, wer geklingelt hat. Ein junger Mann mit auffällig grünen Augen und einem Rucksack auf dem Rücken kommt durch den Garten zur Rezeption. Er lächelt mich freundlich, aber ein wenig schüchtern an und sagt: »Hi. Ich bin Nico. Ich soll hier arbeiten.« Ich freue mich über den Neuzugang. Endlich werde ich nicht mehr diejenige sein, die hier am kürzesten arbeitet. Außerdem sieht Nico nett aus und ich denke – vielleicht können wir Freunde werden. Dann weise ich ihm ein Bett zu, wie knapp zwei Wochen zuvor Juan es bei mir getan hat, und zeige ihm das Hostel.

Nico bleibt den ganzen Nachmittag mit mir an der Rezeption. Ich sitze hinter dem niedrigen Holztresen und er hat sich mir gegenüber auf dem Sofa am anderen Ende des Raumes niedergelassen. Wir reden und reden, ein Thema greift in das andere und es ist ganz leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass eine Last von mir abfällt, es kitzelt in meinen Fingerspitzen und auf einmal bin ich aufgeregt. Da fällt mir auf, was es ist: Ich führe seit Monaten zum ersten Mal ein wirklich gutes Gespräch, eines wie ich es schon lange nicht mehr hatte, seit meine Freundschaften nach und nach im Boden versickerten und Philipp nur noch über seinen Büchern brütet oder von der Arbeit im Krankenhaus erzählt. Nico ist genauso alt wie ich und studiert auch Medizin. »Aber Rio hat die schöneren Männer als Santiago«, sagt er mit einem Augenzwinkern. Dann zeigt er mir ein Foto von seinem Freund, Thiago, den er hier besucht. »Und trotzdem wollte ich gerne noch ein paar Wochen woanders wohnen als bei ihm. Ich will schließlich Rio noch von einer anderen Seite kennenlernen.« Nicos Offenheit entriegelt eine Tür in mir. Plötzlich sprudelt alles aus mir hervor: Mein Hass auf mein Studium, wie elend ich mich mit der Grippe fühlte, dass ich kaum Portugiesisch könne und irgendwie noch mit niemandem so recht warm geworden sei, und schließlich auch meine Sorge, allein mit einem »lateinamerikanischen Playboy« – als den ich Gabriel bezeichne – auf eine Party zu gehen.

»Party?«, fragt Nico und grinst. »Wo?«

Während Nico und ich bereits unsere zweite Caipirinha in der Hand halten und meine Laune merklich steigt, ist Gabriel schon auf der Tanzfläche verschwunden. Bevor wir das Hostel verließen, hatte er mich bewundernd angesehen, als ich aus dem Schlafsaal trat, und einen Pfiff ausgestoßen. Ich bin zu meinem Missfallen knallrot angelaufen und habe mich gefragt, was er an mir findet. In Rio sind die Frauen kurvenreich und gebräunt, mit vollen Lippen und dunklen, lockigen Haaren. Sie tragen knappe Shorts und Tops, die über dem Bauchnabel enden. Sie wissen, wie man auf hohen Absätzen geht und einen verführerischen Blick über die Schulter wirft. Ich dagegen bin dünn, weil ich nicht genug esse, trage eine Strumpfhose unter meinem Kleid und ein Paar schwarzer Boots, die ich mir für den Münchener Herbst gekauft habe. Wahrscheinlich ist er einfach mit jeder so, denke ich, oder er hat sich über mich lustig gemacht.

»Sag mal«, reißt Nico mich aus meinen Gedanken. »Würdest du jemals deinen Freund betrügen?« Ich habe ihm von Philipp erzählt, dem zukünftigen Neurochirurgen, und beim Erzählen ist mir aufgefallen, wie wenig das, was ich über Philipp sage, dem entspricht, was ich fühle, wenn ich an ihn denke.

»Nein«, antworte ich Nico trotzdem, ohne zu zögern, und bin selbst vollkommen überzeugt davon, als ein Bild kurz und hell durch meinen Geist zuckt: Gabriel, der mit nacktem Oberkörper und breitem Grinsen auf der Terrasse des Hostels ein Bier aus dem Kühlschrank nimmt.

An die nächsten Stunden erinnere ich mich nur in Fetzen: Nico und ich sitzen in der VIP-Area, denn als Mitarbeiter eines von Rios Hostels trinken wir umsonst und zahlen auch keinen Eintritt, da wir möglichst viele unserer Gäste zum Mitkommen überreden sollen. Gabriel ist irgendwo auf der Tanzfläche verschwunden. Reihenweise neonfarbene Bändchen mit Leuchtstoff zieren unsere Handgelenke.

Nico legt mir den Arm um die Schulter. »Du bist meine beste Freundin«, lallt er und ich lache.

»Du bist betrunken«, sage ich und denke mir, dass er wiederum vielleicht wirklich mein bester Freund ist. In meinem Bauch bildet sich ein Knoten aus Freude und Bedauern. Auf dem Frauenklo sehe ich in den Spiegel und überprüfe mein Make-up. Jemand hat mir das Gesicht mit Leuchtfarbe angemalt. Ich sehe hübsch aus, denke ich und bin selbst überrascht davon. Als ich von der Toilette zurück schwanke, kann ich Nico nicht finden und stolpere auf der Suche nach ihm auf der Tanzfläche umher, dränge mich an eng aneinander tanzenden Paaren und überdrehten Gruppen europäischer Touristen vorbei. Da streckt sich plötzlich ein Arm aus der Menge und greift nach meiner Hand. Ich drehe mich um und Gabriel zieht mich zu sich.

»Na?«, fragt er und grinst. »Wie läuft’s?«

»Ich kann Nico nicht finden«, sage ich.

»Der findet uns sicher gleich«, erwidert Gabriel. »Tanzt du mit mir?«

Der Alkohol enthemmt mich, denn eigentlich tanze ich nicht. Philipp hat mir einmal gesagt, Tanzen gehöre wohl zu den Dingen, die mir nicht in den Schoß gefallen seien.

»Okay«, sage ich trotzdem und Gabriel legt mir einen Arm um die Hüfte.

Ich bin tatsächlich schrecklich ungeschickt. »Meine Güte, Mädchen«, sagt er schließlich dicht an meinem Ohr. »Bist du aus Holz, oder was?« Ich werde schon wieder rot, aber er lächelt so freundlich, dass ich mich gleich wieder entspanne. Er zeigt mir ein paar Schritte, die ich unsicher nachzuahmen versuche, und ich fühle mich ein bisschen wie ein kleines Kind, das wie die Großen sein will. Zu meiner Unsicherheit trägt auch mein Alkoholpegel bei. Ich weiß nicht mehr, wie viele Caipirinhas ich hatte, und da ich es nicht gewöhnt bin, zu trinken, setzen die mir ganz schön zu. Plötzlich stolpere ich und rutsche auf der Tanzfläche aus, wo irgendjemand seinen Drink verschüttet hat. Ich lande auf meinem Hintern, doch schon greifen zwei Arme nach mir, ziehen mich zurück auf die Füße und umschließen mich in einer kurzen Umarmung. Gabriel und ich prusten vor Lachen.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagt er und ihm kommen beinahe die Tränen.

»Voller Anmut, so bin ich«, gebe ich zurück und in diesem Moment ist das Eis gebrochen.

Dann beginnt ein neues Lied zu spielen, die Atmosphäre im Raum verändert sich, aus Koketterie wird plötzlich Ernst, die Feiernden tanzen jetzt enger, und auch Gabriels Griff um meine Hüfte wird fester. Mein Kopf ist vernebelt, aber es fühlt sich gut an. Ich schaue von meinen Füßen hoch zu Gabriels Gesicht und unsere Münder sind nah aneinander. Einen Moment lang sehen wir einander direkt in die Augen. Dann küsst er mich. Ich schrecke zurück, befreie mich aus seiner Umarmung und murmele verwaschen: »Nein, ich habe einen Freund.« Meine Beziehung zu Philipp läuft in diesem Moment wie ein Film vor meinen Augen ab. Ich denke an die Loyalität, die ich ihm geschworen habe, und dann daran, wie lange ich schon nicht mehr dieses Reißen in meinem Magen gespürt habe, das mich nun ausfüllt. Zwischen diesen beiden Empfindungen klafft eine unendliche Leere. Und dann lasse ich mich zurück in Gabriels Arme fallen, umfasse seine Taille, ziehe ihn zu mir heran und presse meine Lippen auf seine.

Ich fühle mich betrunken. Aber nicht nur vom Alkohol, sondern auch von dem, was ich mit Gabriel tue. Ich kann nicht aufhören, ihn zu küssen. Es ist, als würde ich nach Minuten des Luftanhaltens tief einatmen. Meine Lippen streifen über seine, über seine Wangen, seinen Hals. Ich nehme seinen Geruch in mich auf, streiche mit meinen Händen über seinen Rücken, schiebe sein T-Shirt hoch und erkenne mich kaum wieder. Aber eigentlich habe ich auch kaum Gelegenheit, darüber nachzudenken.

Irgendwann erinnere ich mich an Nico. »Wo ist der eigentlich hin?«, frage ich Gabriel.

»Der ist bestimmt vor Stunden schon gegangen«, gibt er zurück und ich realisiere, dass er recht haben muss. Wieder brechen wir in Gelächter aus. »Komm, wir gehen an den Strand«, sagt Gabriel und schon zieht er mich an der Hand hinter sich her und auf die Straße. Am Strand von Copacabana lassen wir uns in den Sand sinken. Das Meer rauscht. Oder ist es das Blut in meinem Kopf? Dann erzählen wir uns voneinander, während Gabriel mich eng im Arm hält und immer wieder mein Gesicht mit Küssen bedeckt.

»Sag mal«, fragt er schließlich vorsichtig. »Was ist eigentlich mit deinem Freund?«

»Ich habe so etwas noch nie getan«, sage ich leise. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Aber ich glaube, ich bin schon lange nicht mehr glücklich.«

Gabriel sieht aus, als wolle er mich gerade nach dem Grund dafür fragen. Da kommt ein Brasilianer durch den Sand auf uns zugestapft, und obwohl es fünf Uhr morgens ist und man um diese Uhrzeit nicht in Rio am Strand sein sollte, empfinde ich keinerlei Angst. Ich fühle mich frei. Der Brasilianer bietet uns Marihuana an und Gabriel kauft etwas. »Ein schönes Paar seid ihr«, sagt der Brasilianer und ich bemerke mit einem schmerzhaften Stechen in der Magengegend, dass ich dabei bin, mich in ziemliche Probleme zu verwickeln.

*

Als ich am nächsten Morgen aufwache, plagen mich schreckliche Kopfschmerzen. Die Zimmerdecke über mir dreht sich und das Licht sticht mir in die Augen wie Dolche. Ich drehe mich auf die Seite und ziehe mir das Laken über den Kopf, als mich die Erinnerung überfällt. Der Kuss. Die Küsse. Die Umarmungen. Die Leidenschaft, mit der ich Gabriels Körper an mich ziehe, der Moment, in dem er mein Kleid ein Stück weit herunterzieht und mit seinem Mund meine Brust umschließt. Wie seine Zunge die meine umspielt, bevor ich in meinem Schlafsaal verschwinde und mich überwinden muss, ihn vor der Tür zurückzulassen. Mir wird schlecht. Ich presse die Augen fest zusammen und hoffe, dass all das nur ein Traum ist, schiebe die Realität von mir weg, als könne ich sogleich weiterträumen und alles ungeschehen machen. Aber dem ist nicht so. Was geschehen ist, ist geschehen. Stöhnend stehe ich auf, gehe auf die Toilette und übergebe mich. Halb wegen des schrecklichen Katers, den ich habe, halb aus Schuldgefühlen. Es ist halb zwölf. Als ich mich mit verquollenem Gesicht aus dem Waschraum schleiche, ist Gabriel nirgendwo zu sehen. Das ist mir nur recht. Ich sterbe innerlich vor Scham, will ihm nicht begegnen, ihn nicht ansehen und nichts fühlen müssen. Unter der Dusche beginne ich zu weinen, wische mir unter Schluchzern die Tränen aus den Augen und fühle mich wie der schlechteste Mensch auf der Welt. Betrügerin.

Unter nicht enden wollenden Selbstvorwürfen ziehe ich mich an und gehe aus. In der Nähe der Metrostation Botafogo setze ich mich in ein Restaurant und bestelle eine Pizza. Noch eine Verfehlung, denke ich kurz, während der heiße Käse mir den Gaumen verbrennt. Doch meinen Körper beruhigt das Essen auf eine sehr einfache Weise und ich rede mir ein, was passiert ist, sei nicht so schlimm. Nur ein Kuss, ein paar Küsse, nichts von Bedeutung. Lediglich ein betrunkener Moment. Gott sei Dank ist nicht mehr zwischen uns passiert.

Und dann denke ich an Philipp und in die Schuld mischt sich ein anderes Gefühl. Ich erinnere mich an die Tage vor meiner Abfahrt, und wie er an unserem letzten gemeinsamen Wochenende spontan abends zu einer Feier mit Freunden aufbrach und mich allein und verwirrt in unserem Wohnzimmer sitzenließ. Spät in der Nacht fiel er neben mir ins Bett, der Geruch nach Alkohol, den er verströmte, beißend in meiner Nase. Am nächsten Morgen rüttelte ich ihn wach und fragte nach dem gemeinsamen Ausflug, den wir geplant hatten. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, funkelte er mich böse an. »Du siehst doch, dass ich noch nicht ausgeschlafen habe«, fauchte er, und obwohl ich mich danach sehnte, die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren, zärtlich, so wie früher einmal, wandte ich mich ab und sagte: »Dann treffe ich mich mit Laura.«

»Mach doch, was du willst«, sagte er und ich rappelte mich auf und ließ die Wohnungstür laut hinter mir ins Schloss fallen, während ich mich fragte, was ich tun müsste, um ihn berühren zu können.

Von Laura hatte ich seit Monaten nichts gehört. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass sie geplant hatte, nach dem zweiten Examen für einige Monate nach Afrika zu gehen, um dort bei einem Projekt von Ärzte ohne Grenzen zu helfen. Also ging ich einen nahegelegenen Park, kaufte Zigaretten und setzte mich auf eine Bank. Stumm vergoss ich ein paar Tränen und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, nachdem ich den ersten Zug von meiner Zigarette genommen hatte. Er ist kalt, fährt es mir angesichts dieser Erinnerung durch den Kopf, kalt und manchmal regelrecht brutal in seiner Kälte.

Plötzlich kommt es mir vor, als sei ich immer schon ausgefüllt gewesen von dieser Kälte, als habe sie mich immer begleitet. Seit ich mit Philipp zusammen bin, und sogar vorher schon. Überall war da immer diese Kälte, in meinem Zuhause, meiner Familie und ganz tief in mir selbst. Was macht es also, dass ich einen anderen geküsst habe? Inwiefern würde Philipp dieser kurze Moment der Intimität mit einem anderen verletzen, wenn ich doch ohnehin schon so lange nicht mehr zu ihm durchdringen kann? Ich sehe ihn vor mir sitzen, stundenlang über sein Handy gebeugt, eifrig eine Nachricht tippend. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während ich von meinem Platz aus immer wieder zu ihm herüberschiele und mich frage, mit wem er sich da so angeregt unterhält. Woher überhaupt soll ich wissen, dass er nicht längst selbst solche Momente mit anderen geteilt hat? Als ich an all das denke, werde ich langsam ruhiger. Dann bezahle ich und kehre in besserer Verfassung ins Hostel zurück.

Als ich das Hostel betrete, sitzt Nico hinter der Rezeption und grinst mich verschämt an. Seit er von der Party verschwunden ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Am liebsten will ich ihm erzählen, was vorgefallen ist, einen Vertrauten gewinnen, jemandem, bei dem ich mein Gewissen erleichtern kann. Aber ich habe mir geschworen, es niemandem zu sagen. Das, wovon niemand weiß, ist niemals geschehen. So einfach ist es. Also beschließe ich, dieses Geheimnis tief in mir einzuschließen. Dann wird es niemals existiert haben.

Nico ist im Gegensatz zu mir nicht so streng mit sich selbst. Als ich ihn frage, wie er gestern nach Hause gekommen sei, steigt ihm die Röte ins Gesicht.

»Du musst spätestens um drei im Hostel gewesen sein«, sage ich zu ihm. »Du warst auf einmal einfach weg.«

Er schüttelt verzagt den Kopf. »Ich bin um neun zurückgekommen«, murmelt er kaum verständlich.

Ich sehe ihn erstaunt an. »Um neun?«

Nico nickt und schlägt die Augen nieder. »Sag es keinem«, bittet er mich leise, »aber das Letzte woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit einem Typen am Strand spazieren gegangen bin. Ich war ziemlich betrunken und sagte, ich würde mich auf den Heimweg machen. Aber der Kerl meinte, ich solle noch nicht gehen, ich sei so hübsch. Dann erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich bin in irgendeiner Wohnung in Copacabana aufgewacht, alleine in einem Bett. Immerhin war ich angezogen. Dann habe ich mich heimlich rausgeschlichen und ewig gebraucht, um nach Hause zu finden.«

Nico und ich kichern wie zwei Jugendliche. Dann hülle ich mich in eisernes Schweigen. Gesegnet sind die Unwissenden, denke ich, denn Nico hat keine Ahnung, was er getan hat und was nicht, und er hat keine Möglichkeit mehr, es herauszufinden. Sein Gedächtnis hat sich entschieden, ihn zu begnadigen, die Unwissenheit ist eine Erleichterung, er muss sich keine weiteren Gedanken machen, denn was in den Untiefen des Vergessens verloren ist, lohnt nicht des schlechten Gewissens.

Am Nachmittag taucht Gabriel auf. Ich sehe ihn an, als sei er ein seltsames, fremdes Wesen und versuche, seinen Anblick in mich aufzusaugen. Mit ein paar anderen gehen wir raus, einen Joint rauchen.

»Wie fühlst du dich?«, fragt er mich.

»Geht so«, murmele ich und mir wird schwindelig vom Gras, denn ich habe ewig nicht geraucht. »Ich habe einen ziemlichen Kater und ein schrecklich schlechtes Gewissen.«

Er zuckt mit den Schultern. »War doch nur ein Kuss. Geschehen ist geschehen, mach dir keinen Stress deswegen.«

Mit jeder Faser wünsche ich mir ein Stück seines Pragmatismus’. Schließlich bleiben die anderen zurück und ich gehe weiter neben Gabriel her. Er will an den Strand gehen, um zu joggen. Ich sollte zurück ins Hostel gehen, denke ich. Doch gleichzeitig ist da dieses Ziehen in meinem Bauch, eine ungekannte Aufregung, der Wunsch, noch ein paar Minuten länger in seiner Gegenwart zu verbringen. Wie automatisch laufe ich neben ihm her und meine Füße tragen mich unbeirrt an seiner Seite die Straße hinab. Ich begleite ihn an den Strand. Das Panorama ist erhebend. Zu unserer Linken ragt der Hügel Pão de Açúcar in die Höhe und die Lichter der vielen Strandbars schimmern um uns her. Kein Grund, traurig zu sein, sage ich mir. Gabriel drückt mir sein Shirt in die Hand und ich vermeide, ihn zu genau anzusehen. Dann lasse ich mich in den Sand fallen und blicke ihm nach, wie er in Richtung Copacabana leichten Schrittes davonläuft.

Ich hefte den Blick aufs Meer und konzentriere mich auf den Klang der Wellen. Auf meiner Haut spüre ich eine leichte Brise und atme tief ein und aus. Alles ist gut, denke ich. Aber mein Inneres ist in Aufruhr. Was ist aus der Person mit festen Prinzipien geworden, die ich bis gestern noch zu sein glaubte? Ich erlaube mir keine Fehltritte. Wenn ich nicht perfekt bin, bin ich nichts wert. Wir haben nichts zu verschenken, sagte mein Vater immer. Sein Blick heftete sich auf mich, wenn er diese Worte mit seiner unverkennbaren Härte ausstieß, und ich fühlte fast, wie ich schrumpfte. Du musst deine Aufgaben erfüllen, du denkst doch immer nur an dich.

Neben Philipp und meinem Vater habe ich das Gefühl, zu viel zu sein, als hätte ich nirgendwo einen Platz und müsste mich immer verstecken, um nicht endgültig ausgestoßen zu werden. Irgendwann, als ich nur noch knapp über vierzig Kilo wog, vielleicht, um nicht zu viel Raum einzunehmen, sah mein Vater mich an und sagte: »Dünner bist du auch nicht schöner.« Seitdem lasse ich kaum noch jemanden an mich heran. Ich will nicht, dass die anderen mich sehen in meiner Maßlosigkeit, dass sie hinter meine glatte Maske blicken und etwas Menschliches erkennen. Auch vor Philipp verberge ich noch immer viel von mir, denn er gibt mir ständig zu verstehen, dass ich nicht gut genug bin. Ein Monster, das sich als Frau verkleidet hat, denke ich. Mich kann man doch sowieso nicht lieben. Und genau deswegen muss ich perfekt sein, als eine Art Wiedergutmachung für meine unerwünschte Existenz. »Du hast einen Ruf zu repräsentieren«, flüstert die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, während ich mit gebeugtem Rücken über meinen Lehrbüchern sitze.

Und nun habe ich also alles aufs Spiel gesetzt, habe aus einem Moment der Unbedachtheit heraus einen Schritt in die falsche Richtung getan, meine Prinzipien für eine Nacht über Bord geworfen und so mein gesamtes Leben bemakelt. Ich habe mir bewiesen, dass ich nicht stark genug bin, dass ich zu menschlich bin, um gut zu sein, dass sie alle recht hatten und dass all meine moralische Überlegenheit, meine Konsequenz, meine vielen Errungenschaften im intellektuellen Sinne lediglich Maskerade waren. Das schlechte Gewissen nagt an mir und Wellen von Übelkeit überrollen mich. Und doch tanzt ein Teil von mir vor Freude über diesen Schritt, diese kleine Befreiung von meinen Fesseln. Ich fühle mich, so denke ich – und sicher bin ich mir nicht, denn ich kenne dieses Gefühl nicht besonders gut – ich fühle mich lebendig.

Ich versuche, nicht ungeduldig darauf zu warten, dass Gabriel zurückkommt. Unruhig klicke ich mich von Lied zu Lied auf meinem MP3-Player und strenge mich an, den Anblick des Meeres in mich aufzusaugen, aber letztlich drehe ich mich alle zwei Minuten um und suche nach Gabriels Gestalt auf der Promenade. Als er plötzlich neben mir auftaucht, erschrecke ich mich beinahe, und sofort werde ich wieder schüchtern. In seiner Anwesenheit sinkt das Niveau meines Spanisch rapide. Es ist, als würde mir irgendetwas den Geist verschleiern. Ich kann mich nicht ausdrücken, meine Stimme klingt gepresst und mein ganzer Körper spannt sich an. Er hingegen erscheint vollkommen entspannt und hat immer einen Scherz auf den Lippen. Das verunsichert mich noch mehr.

Er lässt sich neben mich in den Sand fallen, verschwitzt und schnell atmend, und sieht mich von der Seite an. »Ist alles in Ordnung«, fragt er mich, nachdem ich eine Weile sehr wortkarg bin.

Entspann dich endlich, sage ich mir, aber es gelingt mir nicht. Also murmele ich noch einmal: »Schlechtes Gewissen.« Dann versuche ich mit einem ernsten Gespräch in mir bekanntes Fahrwasser zurück zu steuern, und bin verwirrt, als ich damit bei Gabriel nicht andocken kann.

An diesem Abend gehe ich früh schlafen. Ich fühle mich ruhiger und denke, dass es möglich ist, mit ihm zu reden, ohne dass etwas zwischen uns passiert. Das bedeutet im Grunde, dass nichts zwischen uns passiert ist, denn niemand weiß davon, und es ist bereits vorbei. Auf diesem Gedanken basiert mein Konzept von der Vergangenheit, welches in diesem Moment entsteht: Was vorbei ist, kann ebenso gut niemals geschehen sein, denn es hat keinen Wert. Wer davon nicht weiß, wird, außer wenn man es ihm erzählt, niemals davon erfahren, denn die Vergangenheit existiert in nichts anderem als in Worten und unsichtbaren Erinnerungen. Daher kann genauso gut auch alles, was man von der Vergangenheit erzählt, eine Lüge und in Wahrheit ganz anders vorgefallen sein. Aber all das ist im Grunde genommen unwichtig. Wir existieren nur im Jetzt, flüchtig wie ein Windhauch, und wir können unser Leben in unserem eigenen Geist neu schreiben. Diese Gedanken beruhigen mich unendlich und am nächsten Morgen bin ich ausgeschlafen und beinahe plagt mich das schlechte Gewissen nicht mehr.

*

Am Mittwoch stehe ich früh auf und treffe auf der Terrasse beim Frühstück auf Gabriel. Er sitzt mit ein paar anderen zusammen und rührt in seinem Kakao. Meine dritte Tasse Kaffee an diesem Morgen trinke ich nur, weil es mir einen Grund dafür bietet, länger in seiner Anwesenheit an einem der weißen Plastiktische sitzenzubleiben. Und er scheint dasselbe zu tun. Denn kein Mensch, so behaupte ich, kann so viele Käse-Schinken-Sandwiches essen wie er, ohne dass ihm höllisch schlecht werden muss. Die Stunden vergehen und wir reden immer noch, kochen noch einmal Kaffee und sind längst die Einzigen, die auf der Terrasse zurückgeblieben sind. Schließlich fragt er mich, ob wir an den Strand gehen wollen.

Also greife ich mir mein Strandtuch und er sich einen sandigen grünen Kunststoffball, und wir wandern durch den Tunnel von Botafogo aus nach Leme, Posto 2, wo wir uns in den Sand setzen. Gabriel zwingt mich, Ball zu spielen. Während ich ungeschickt dem Ball hinterherrenne, wippt in meiner Vorstellung mein nicht vorhandener Bauch auf und ab und ich fühle mich schrecklich. Ich stolpere über meine Füße und lande wenig grazil im Sand. Gabriel lacht und mir steigt die Röte ins Gesicht. Schüchterner könnte ich nicht sein und genau das scheint ihn zu mir hinzuziehen. Ich muss auf ihn wirken wie ein Kind, das von nichts eine Ahnung hat: Ich bin nicht an den Strand gewöhnt, nicht ans Ballspielen, nicht ans Tanzen, nicht an die Lieder, die sie hier singen. Meine Rettung sind für gewöhnlich die Worte. Sie sind wie eine Bastion, hinter der ich mich verschanzen kann, aber nicht einmal das gelingt mir nun, denn offensichtlich beherrscht er seine Sprache besser als ich.

Am Abend überredet er mich, gemeinsam mit Nico auszugehen. Zunächst sträube ich mich und behaupte, ich sei noch immer von vorgestern verkatert. Doch eigentlich habe ich Lust, noch einmal tanzen zu gehen. Nur eines macht mir Sorgen: Da zwischen uns beiden nie wieder etwas passieren darf, denke ich, wird er sich sofort nach einer anderen umsehen. Ich habe mittlerweile verstanden, von welchem Schlag Gabriel ist. Hübsch, mit strahlenden Augen, einem schelmischen Blick, einem blendend weißen und einnehmenden Lächeln und der Fähigkeit, sich zu bewegen, zieht er die Blicke aller Frauen auf sich. Dazu kommt noch seine Art, diese bestechende Leichtigkeit, mit jedermann zu scherzen. Ich will ihn heute Abend nicht mit einer anderen sehen. Der Gedanke daran beginnt schon auf dem Weg, mir Bauchschmerzen zu verursachen. Wir gehen in einen schrecklichen, kleinen Club in einem vernebelten Keller, voll mit Touristen. Ich bin angespannt, wie immer. Wie langweilig ich bin, denke ich. Genauso wie die Deutschen, über die ich mich sonst selbst lustig mache, weil sie nicht lachen, nicht scherzen, nicht loslassen. Also stürze ich mich auf die einzige Lösung, die ich für dieses Problem kenne: Caipirinha.

Der Alkohol hilft. Schnell ist das erste Glas leer, dann das zweite und schon habe ich das dritte in der Hand. Etwas später stehen wir draußen auf der Terrasse, reden mit einigen Leuten, die wir gerade kennengelernt haben, und ein Joint macht die Runde, als ein Lied ertönt, das ich bereits kenne. »Hoje, é hoje«, schallt es aus den Lautsprechern und mir fällt wieder ein, was Gabriel mir erklärt hat: Das ist Funk Carioca, eine Stilrichtung des Hip-Hop, deren Interpreten zumeist aus den Favelas stammen, wobei es in den Texten normalerweise um Gewalt, Sex oder Drogen geht. Die Brasilianerinnen tanzen zum Funk Carioca, indem sie Quadrate mit ihrem Hinterteil beschreiben, während die Männer sich an ihnen reiben. Neugierig und wissbegierig, wie ich bin, in dem Versuch mir eine ganze Kultur innerhalb weniger Tage einzuverleiben, sagte ich sofort ja auf die Frage, ob ich diesen Tanz lernen wolle, und Gabriel lachte sich tot. Nun breitet sich auf seinem Gesicht bei den ersten Klängen des Liedes ein Lächeln aus und er sieht mich an wie ein Welpe, als er mich fragt, ob wir zusammen tanzen können. Ich nicke schüchtern und sogleich nimmt er mich an der Hand und zieht mich hinter sich die Treppe in den Keller hinunter. Heute ist es viel leichter, mit ihm zu tanzen. Ich wünsche mir, das Lied möge niemals aufhören, genieße seine Aufmerksamkeit und all meine Befürchtungen, er könne sich direkt auf das nächste Mädchen stürzen, lösen sich in Luft auf. Als das Lied vorbei ist, sehen wir einander lange an, bevor wir die Treppe wieder hinaufgehen und uns zu den anderen gesellen.