Libretti - Christoph Hein - E-Book

Libretti E-Book

Christoph Hein

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Beschreibung

Libretti, von prominenten Literaten verfasst, entstehen in der Regel als Auftragsarbeiten: ein Theater, ein Komponist, ein Regisseur beauftragen einen Schriftsteller, eine sogenannte »Vorlage« für eine Vertonung zu schreiben. Was sich, derart betrachtet, als zufälliges Zusammentreffen zweier Interessen gilt, gewinnt, bei näherer Betrachtung eine gewisse Notwendigkeit. Sie ergibt sich aus dem unbedingten Willen einer der beteiligten Seite, aus den unterschiedlichsten Gründen, sich auf eine schwierige, ungewohnte Kooperation einzulassen. Bei der Oper Noach von Sidney Corbett kam zu dieser Zusammenarbeit aufgrund einer bloßen Zeitungslektüre: 1993 las der Komponist das Inhaltsreferat einer Erzählung von Christoph Hein. »Das war im Jahr 1993. Zu dieser Zeit hatte ich nicht die geringste Absicht, eine Oper zu schreiben. Doch auf einmal hörte ich eine Stimme in mir, die mir sagte, diese Geschichte könne der Stoff für eine Oper sein. Ich schrieb Christoph Hein und fragte ihn, ob er sich vorstellen könnte, nach dieser Erzählung ein Opernlibretto zu schreiben, was er mit einem zögerliche jein beantwortete.« Aus einer (einmaligen) Gelegenheit entstand ein (einmaliges) Kunstwerk.

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Seitenzahl: 159

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Christoph Hein

Libretti

Comeback / Noach / Luther / Die Andere / Passage / Hochzeitsvorbereitungen Zwei / Semper empfiehlt sich

Suhrkamp

Inhaltsverzeichnis

Comeback

Noach. Oper in neun Bildern

Luther. Libretto

Die Andere

Passage.

Hochzeitsvorbereitungen zwei

Semper empfiehlt sich. Libretto für eine Minutenoper

Comeback

Personen

Emil Jannings (Mitte 60)

Gussy Holl (Mitte 50)

Jörg Jannings (15 Jahre)

Tilla Eins (über 80), Schauspielerin

Tilla Zwei (um die 40)

Paul (Mitte 50)

Zwei Spielflächen

eine Bühne

Jannings' Haus in Strobl am Wolfgangsee

1.

eine Bühne

TILLA EINSsitzt in einem Sessel Hallo? Hallo, ist da jemand? — Wo sind sie denn alle? Mein Gott, eben war die Bühne doch voller Leute. — Herr Intendant? Ist denn da keiner? — Mein Gott, eben war ich noch der Mittelpunkt, und jetzt? Haben wohl alle viel zu tun.

Es war eine schöne Feier. Sehr würdevoll. Und schön haben sie gesprochen, sehr schön. Mein Gott, was haben die zusammengelogen. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man glauben, die haben mich ihr Leben lang verehrt. Diese Heuchler.

Und wer nicht alles gekommen ist! Der oberste Bürgermeister! Sogar ein Minister! Nur der Kanzler ist nicht erschienen. Ließ sich entschuldigen. Schickte eine Grußadresse. Der Vorstand vom Bühnenverein war vollständig angetreten, immerhin. Eigentlich waren alle da. Und wo sind sie jetzt? Haben wohl alle schon den nächsten Termin. Für die nächsten Lügen.

Gefehlt haben eigentlich nur Ludwig und Paul. Das ist schade. Die beiden hätte ich gern dabeigehabt. Aber vielleicht haben sie zugeschaut. Von da oben, man weiß ja nie. Ludwig hätte zu alldem nur still gelächelt und sich seinen Teil gedacht. Doch Paul, na, der hätte einen Skandal gemacht, das liebte er. Da wäre er wieder in seinem Element.

Ich glaube nicht, dass sich heute noch einer an Paul erinnert, an Paul Cassirer. Aber wer weiß, ich dachte auch nicht, dass sich noch einer an mich erinnert. Ich war einmal berühmt und bekannt. Ich war ein Star, ein Mega-Star, wie es heute heißt. Tout Berlin kannte mich, ganz Deutschland. Ich trat überall in Europa auf, in Wien und Prag, in St. Petersburg, in Sizilien, überall.

Meine Beziehung mit Paul begann mit einem Blitzschlag. Und zwanzig, einundzwanzig Jahre später hörte sie mit einem Blitz und einem Donnerschlag auf.

Als wir uns vorgestellt wurden, war Paul dreiunddreißig, ich war gerade vierundzwanzig.

TILLA ZWEItritt auf Ich war gerade vierundzwanzig, als mir Paul vorgestellt wurde. — Paul! Paul! — Die schönste Zeit meines Lebens

TILLA EINS Meine Geschichte mit Paul stand damals in allen Blättern. Sehr schmeichelhaft war es nie. Jedenfalls nicht für mich. Will man der Presse glauben, dann war Paul der gute, der generöse, der seriöse Mann. Der Held der Kunst und Geschäftswelt, der große Impresario, der Retter der Secession. Und ich?

TILLA ZWEI Ich war, nun ja, ich war das Flittchen. Ein Parvenü, eine ehrgeizige, ausgeschamte Person, die sich an Paul gehängt hatte, um nach oben zu kommen.

TILLA EINS Das schrieben diese Pressebengels so oft, bis schließlich tout Berlin es glaubte. Und in München und Hamburg war es nicht anders.

Ich glaube, die hatten nichts anderes zu schreiben. Der Weltkrieg war vorbei, sie hatten nichts zu schreiben, und so stürzten sie sich auf Paul und mich.

Aber es war alles ganz anders. Nicht wahr?

TILLA ZWEI Es war alles ganz anders. Es begann anders, es endete anders. Als er mich für immer verließ, war ich sechsundvierzig. Wir waren einundzwanzig Jahre zusammen. Schöne Jahre, schlimme Jahre.

Kennengelernt habe ich Paul bei einer kleinen Abendgesellschaft.

TILLA EINS Ich trug eine knallrosa Bluse, etwas sehr auffällig, aber damals besaß ich kaum Garderobe. Alles ging für die Bühnenkostüme drauf, die mussten wir ja selbst bezahlen.

Aber es war nicht die rosa Bluse, es war einfach ein Blitzschlag.

TILLA ZWEI Ein Blitzschlag.

Paul geht über die Bühne, sieht Tilla an

PAUL Nun bleibst du bei mir. Für alle Zeit. geht ab

TILLA EINS Paul? — Bist du das, Paul?

TILLA ZWEI Bist du das schon wieder, Paul? Kannst du das nicht lassen? Du bist tot, Paul. Begreife es endlich. Es war schwer genug für mich.

TILLA EINS Damals, an diesem Abend, hatten wir nur Augen für einander. Wenn er es gewollt hätte, ich hätte schon an diesem allerersten Abend nicht Nein gesagt.

TILLA ZWEI Nicht Nein sagen können. Es wurde eine wunderbare Zeit. Die schönste Zeit meines Lebens.

2.

Jannings' Haus

eine antiquierte Türklingel läutet

EMIL Ich komme. Ich komme.

JÖRG Ich bin es, Onkel. Ich bin es, der Jörg.

EMIL Ja, holla ho. Herein, alte Krampe.

Du kommst in einem guten Moment. An einem guten Tag.

JÖRG Ein guter Tag? Wien hat zugesagt?

EMIL Nein.

JÖRG München?

EMIL Falsch. Ganz falsch.

JÖRG Sag schon.

EMIL Sei nicht so ungeduldig. Wie geht es den Eltern?

Na, ich weiß schon. Es ist überall das Gleiche.

Eine große neue Zeit hat begonnen mit neuen großen Spitzbuben.

Nichts Neues unter der Sonne.

Bist du mit der Bahn gekommen?

JÖRG Mit dem Fahrrad.

EMIL Natürlich mit dem Fahrrad. Die Jugend fährt Fahrrad.

Jetzt brauchst du erst einmal eine Erfrischung. Eine Limonade?

ruft Gussy, der Jörg ist da. Lass uns doch etwas zu trinken bringen. Für den Jungen eine Limonade und für mich einen Viertel Roten.

zu Jörg Schau dir den See an, Junge.

Mit den Bäumen und dem St. Wolfgang am anderen Ufer.

Die reinste Theaterdekoration.

So friedlich, nicht wahr?

Aber lass dich von dem alten See nicht täuschen, Junge.

Er ist ein Hundsfott, ein Aas.

Ach, unser Herrgott ist ein vorzüglicher Bühnenbildner.

– Was macht die Schule, Jörg?

JÖRG Keine Probleme. Aber ich bin froh, wenn ich das alles hinter mir habe.

EMIL Was weißt du schon, was du im Leben brauchst.

Hätte ich deinen Englischunterricht gehabt, wäre ich in Hollywood geblieben.

Du sprichst doch sicher akzentfrei, wie?

Mein Englisch hört sich an, als käme ich aus der Bronx,

letzter Hinterhof, hat mir der Chaplin gesagt.

JÖRG Ich will Schauspieler werden.

EMIL Nu, nun wollen sie alle Schauspieler werden.

Seit es den Film gibt, wollen alle jungen Leute Schauspieler werden.

Ruhm und Geld.

So einfach ist das nicht.

Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige sind auserwählt.

Woher willst du wissen, dass du es schaffst?

JÖRG Ich habe gestern die erste Aufnahmeprüfung bei der Schauspielschule in München bestanden.

EMIL Na, dann gratuliere ich dir.

Meinst wohl, du bist jetzt schon sonst was, wie?

Schauspielschule!

Was glaubst du denn, was sie dir dort beibringen können?

Fechten und tanzen und reiten. Na ja.

Grimassenschneiden. Wie?

JÖRG Nein, Emil …

EMIL Die Schmiere, das ist die Schule des Schauspielers.

Geh über die Dörfer, spiel den Striese in Dorfkneipen.

JÖRG Das ist heute anders als bei dir damals, Emil.

Heute gibt es Schauspielschulen.

Und man bekommt kleine Rollen am Theater zu spielen und beim Film.

EMIL Schauspieler sein, das ist etwas anderes.

Du musst ein Gesicht haben und einen Charakter.

Und dein Charakter muss im Gesicht zu sehen sein.

Schauspieler, da gibt es nicht viele in Deutschland.

In aller Bescheidenheit: es gibt nur zwei, den Krauss und mich.

Der Rest, das sind Grimasseure.

JÖRG Aber man kann es doch lernen.

Dafür gibt es doch die Schauspielschulen.

EMIL Ach, weil es die Schulen gibt, kann man es lernen?

Weil es die Pfarrer gibt, gibt es ein Paradies, wie?

Nein, mein Lieber, um Schauspieler zu sein, bedarf es nur eines:

der Engel muss dir ins Gesicht gespuckt haben.

JÖRG Du hast aber gesagt, ich sei begabt.

EMIL Was sagt dein Herz, mein Junge?

JÖRG Ich weiß nicht.

EMIL Dann lass die Finger davon.

Nur wenn du gar nicht anders kannst, wenn du spielen musst,

immerzu, überall, immerfort. Und nicht nur auf der Bühne.

Nur wenn du tatsächlich überall spielst,

in jedem Moment deines Lebens,

und sei es in der Umarmung mit deiner Freundin

oder bei der Beerdigung deines besten Freundes.

Wenn du auch da eine Rolle spielst, weil du gar nicht anders kannst,

weil dir das Spielen die zweite Natur,

was sag ich, wenn es deine eigentliche Natur ist,

dann, aber nur dann solltest du Schauspieler werden.

In meinem Leben gab es keinen Moment,

in dem ich nicht gespielt habe.

Ich war mit den schönsten Frauen zusammen.

Umarmungen und Küsse, Schwüre und Tränen,

und es war für mich immer ein Spiel.

Was immer ich tue, ich stehe neben mir und sehe mir dabei zu,

korrigiere mich, setze neu an, probiere aus, spiele.

Bist du so ein Hundsfott, Jörg?

JÖRG Ich weiß es nicht. Woher soll ich wissen, ob ich das alles kann.

EMIL Nicht, ob du es kannst. Ob du es bist, musst du erfahren.

JÖRG Und wie?

EMIL Probier es aus. Probier dich aus.

Geh in die Kirche und sei der Gläubigste aller Gläubigen.

Geh ins Bordell und sei die größte Sau,

schlimmer als der übelste Zuhälter.

Spiel es. Spiele, Junge.

JÖRG Du machst dich über mich lustig.

EMIL Es ist mein heiligster Ernst. lacht lauthals

Ach, es gibt so schöne Berufe, Jörg.

JÖRG Soll ich die Schauspielerei aufgeben, Emil?

EMIL Das kann dir keiner sagen, kein anderer. Nur dein Herz.

Was pocht dir dein Herz für eine Antwort?

JÖRG Ich weiß es nicht

EMIL Das war eben ganz falsch. Nicht: »Ich weiß es nicht.«

Du hättest sagen müssen: »Ich weiß es nicht.«

Du musst mich überzeugen.

Das ist das Wundervolle an der Gussy.

Wir beide spielen in jedem Moment unsere Rolle.

Wenn wir uns lieben, wenn wir uns streiten,

immerzu spielen wir.

Immerzu sind vier Personen im Zimmer, wenn ich mit ihr zusammen bin, Gussy und ich, und dann nochmal die Gussy und ich,

die uns dabei beobachten. Wir spielen die Tränen

und spielen sie so überzeugend, dass wir selbst daran glauben.

Die gespielten Tränen rühren selbst an unser Herz,

so dass wir echte Tränen darüber vergießen.

Wer soll das begreifen? Wer unterscheiden und verstehen?

JÖRG Das klingt etwas verrückt.

EMIL Das ist verrückt. Aber wie willst du anders spielen?

Wenn du dein Spiel von deinem Leben zu trennen verstehst,

so wirst du nie ein Schauspieler sein. Wir sind Wahnsinnige, Jörg.

Wir wollen geliebt werden, wir müssen geliebt werden,

aber wir selbst können nicht lieben, wir können nur spielen.

Und darum können wir alle lieben. Sehr verwirrend, nicht wahr?

geht zur Tür und ruft Gussy, wir verdursten.

3.

eine Bühne

TILLA ZWEI Mit Paul erlebte ich die goldigsten und bittersten Stunden. Er wurde mein bester Freund, er wurde zu meinem schlimmsten Feind. Ich gebe ihm keine Schuld. Er konnte nicht anders, er war so. Doch ich will nicht vorgreifen.

TILLA EINS Anfangs war alles wunderbar. Ich nahm mir eine kleine Wohnung direkt gegenüber dem Tiergarten.

TILLA ZWEI Paul besuchte mich jeden Tag. Er verwöhnte mich, beschenkte mich. Er besuchte mit mir die elegantesten Modeateliers.

TILLA EINS Nach der Vorstellung holte er mich vom Theater ab. Wir fuhren mit seinem Wagen durch das nächtliche Berlin. Kehrten hier ein und dort. Immer nur wir beide.

Damals verheimlichte er mich seinen Freunden gegenüber. Eine vom Theater, das war damals das Letzte. Völlig unmöglich. Eine Mesalliance für einen Mann von Pauls Bedeutung. Es waren andere Zeiten. Wie recht er hatte, das habe ich später kennenlernen dürfen. Seine Freunde, seine Familie, o Gott, die haben es mich spüren lassen. Später, als ich seine offizielle Freundin war, und auch noch, als wir längst verheiratet waren.

In den ersten zwei Monaten jedenfalls habe ich von denen keinen kennenlernen müssen. Nur wir beide waren immerfort zusammen. Er verwöhnte mich, und ich ließ es mir gefallen.

TILLA ZWEI Ich genoss es. Fast jeden Abend stand ich auf der Bühne. Paul sah sich viele Vorstellungen an und sagte mir, was er davon hielt.

TILLA EINS Mit Kritik hat er nie gespart. Das war typisch für Paul. Aber er war verliebt, und ich war verliebt, und so nahm ich all seine Launen hin. Ich spürte ja, er wollte mich fördern. Er wollte mich zu einer großen Schauspielerin machen.

TILLA ZWEI Ich sollte eine wirkliche Künstlerin werden.

TILLA EINS Er wollte mein Lehrer sein und mich protegieren. Ich habe nur gelacht und so getan, als höre ich zu. Ich hatte die besten Regisseure an unserem Theater. Von Paul war es lieb gemeint, und so habe ich nur gelacht. Außerdem hatte ich zu tun.

TILLA ZWEI Ich stand jeden Abend auf der Bühne. Die Salome. Die Elmire. Die Lady Milford. Die Klytämnestra. Die Wassilissa. Prinzessin Alma. Jeden Abend ging der Lappen hoch. Ich hatte zu spielen. Ich hatte zu singen. Ich habe getanzt. Ich wurde umjubelt.

sie summt und singt den Refrain von »Heimweh«

TILLA EINS Ja, das waren noch Zeiten. Ich war ein Star in Berlin. Da habe ich auf seine Nörgeleien wenig gegeben. Heute denke ich schon, es war falsch, es einfach abzutun. Es zu übersehen. Es sind immer Kleinigkeiten, an denen man faule Stellen beizeiten erkennen kann. Anfangs ist es nur ein winziger schwarzer Punkt, aber eines Tages … Es sind stets nur Kleinigkeiten. Winzige Lächerlichkeiten. Der Geliebte ist ein wundervoller Mann, aber etwas an ihm irritiert. Es gibt da etwas Dunkles an ihm, etwas Beängstigendes. Man sollte das nie ignorieren, das rächt sich.

TILLA ZWEI Damals habe ich es nicht gesehen. Ich wollte es nicht sehen. Ich sagte mir, er ist halt launisch. Das sind Stimmungsumbrüche. Das gibt sich, das wird sich mit der Zeit legen. Er liebte mich, das war wichtig, und es war wunderbar mit ihm. Und ich? Ich war jung und unsicher.

TILLA EINS Sehr unsicher. Und eigentlich bin ich das heute noch. Vielleicht ist dieser schöne Beruf daran schuld. Dieser verfluchte Beruf. Dieser verflucht schöne Beruf. Immer eine Rolle. Immer spielte ich etwas.

TILLA ZWEI Aber wo war ich? Wer war ich? Wo blieb ich in meinem Leben? Auf der Bühne konnte ich alles und im Leben nichts.

TILLA EINS Habe ich eigentlich selbst gelebt? Oder nur in den Rollen, in die ich hineinschlüpfte? Paul war übermächtig. Alles drehte sich nur um ihn. Seine Wünsche, seine Launen, sein Ärger, seine Freunde, sein Geld. Er war die Sonne. Der Mittelpunkt des Universums. Er sprudelte vor Energie und konnte ein Satan sein.

TILLA ZWEI Das war meine Tragödie.

sie summt und singt

Mein Leben, was ist das?

Ist es ein böser Spaß?

Ein Traum nur, der mich quält?

Ein Schatten, der nichts zählt?

TILLA EINS Und dann war auch schon Juli und die Spielzeit zu Ende. Wir fuhren in sein Haus in Noordwijk, diesem entzückenden Badeort in Holland. Wir waren den ganzen Tag beieinander, wie ein Ehepaar.

Nach diesem Urlaub war diese schöne Zweisamkeit mit Paul vorbei. Er war wie ausgewechselt. Nun zogen wir bis zum frühen Morgen durch die Bars von Berlin und Potsdam. Wir trafen uns mit seinen Freunden, mit all diesen berühmten Malern und Künstlern und Schauspielern. Paul tat alles, damit ganz Berlin über uns Bescheid wusste. Er wollte es so. Er wollte die feine Gesellschaft brüskieren. Der berühmte, der begehrte Paul hatte eine Liaison mit einer Schauspielerin.

Tout Berlin rümpfte die Nase. Auch seine Freunde, auch seine Familie. »Eine vom Theater«, wie oft habe ich das hören müssen.

TILLA ZWEI »Eine vom Theater hat sich unseren Paul unter den Nagel gerissen.«

TILLA EINS Das sagte Pauls Schwester Luise. In meiner Anwesenheit wohlgemerkt. Luise, meine spätere Schwägerin. Pauls Familie, das waren ja alles feine Leute, die bessere Gesellschaft. Verleger, Ärzte, Fabrikanten. Ein Philosoph darunter, natürlich alle hoch berühmt. Und dazwischen steckte nun ich.

TILLA ZWEI »Eine vom Theater«.

TILLA EINS Ich war jung, sehr jung. Ein Küken noch. Es war leicht, mich in tödliche Verlegenheit zu bringen. Und seine Familie genoss es.

TILLA ZWEI Mir war es unangenehm, aber Paul gefiel es.

TILLA EINS Ihm gefiel es so sehr, dass er auf den Gedanken kam, mich zu heiraten. Er hat nie zu mir gesagt, dass er ohne mich nicht leben könne. Dass er sterben müsse, wenn ich weggehe. Nein, nein, nein. Er hat um meine Hand angehalten, ja, aber wie! Luise hatte wieder einmal eine Spitze gegen mich losgelassen. Oder war es Hedwig? Wie auch immer, wir kamen nach Hause, ich ärgerte mich immer noch über Hedwig oder Luise, und er lachte nur über mich. Er verschwand in sein Zimmer. Nach fünf Minuten kam er zu mir, strahlte mich an und sagte:

TILLA ZWEI Weißt du, Tilla, wir heiraten, das wird sie ärgern.

TILLA EINS Das war alles. Er wollte seine Familie und die feine Gesellschaft schockieren, da war er in seinem Element.

TILLA ZWEI Ich war fassungslos. Ich sprach jeden Abend die schönsten Sätze der Weltliteratur über die Liebe. Mein Publikum war ergriffen und gerührt. Mit Tränen in den Augen lag es mir zu Füßen.

TILLA EINS Und dann das! Paul erscheint grinsend und sagt: Ich heirate dich, das wird sie ärgern. Nun ja, das Leben ist nicht romantisch, das wusste ich auch damals schon, aber ein ganz klein wenig poetischer hätte ich mir seinen Heiratsantrag doch gewünscht.

TILLA ZWEI Ein klein wenig Sehnsucht sollte doch erlaubt sein.

TILLA EINS Ich spielte, ich tanzte, ich sang nur von dieser Sehnsucht, immerzu von diesem anderen Leben. Meine schönen Lieder, meine geliebten Lieder, die überall gesungen wurden.

sie stimmt ein Lied an, Paul tritt auf, hört ihr zu

Einst gab es eine Zeit

in der Vergangenheit,

da war mir alles klar.

Ich wusst, was falsch, was wahr,

und ich verstand noch alles, was ich seh.

Heut weiß ich gar nichts mehr,

weiß nicht wohin, woher.

Ich finde keine Ruh,

weiß nicht mehr, was ich tu,

woher ich komme und wohin ich geh.

Ich habe Heimweh und weiß nicht, wonach,

vielleicht nach einem glücklicheren Leben,

nach jenem Land, von dem der Engel sprach,

Heimweh nach einer Zeit, die's nie gegeben.

Die Jahre ging'n dahin,

verlorn ging mir der Sinn,

was leicht war, wurde schwer,

und ich versteh nichts mehr

vom Leben, das ich noch zu leben hab.

Vielleicht, dass ich nur träum,

mein Leben so versäum.

Ich eines Tags erwach

und weine oder lach,

wenn ich dann steh an meinem eignen Grab.

Ich habe Heimweh, und weiß nicht wonach,

vielleicht nach einem glücklicheren Leben,

nach jenem Land, von dem der Engel sprach,

Heimweh nach einer Zeit, die's nie gegeben.

Mein Leben, was ist das?

Ist es ein böser Spaß?

Ein Traum nur, der mich quält?

Ein Schatten, der nichts zählt?

Mein Leben ist ein schwarzer tiefer Fluss.

Was ist der Schmerz in mir,

den ich beständig spür?

Ist er ein traurig Lied

von dem, was mir geschieht?

Ein Lied, das ich fortwährend singen muss.

Ich habe Heimweh und weiß nicht, wonach,

vielleicht nach einem glücklicheren Leben,

nach jenem Land, von dem der Engel sprach,

Heimweh nach einer Zeit, die's nie gegeben

Paul applaudiert und geht ab

TILLA EINS Paul?

TILLA ZWEI Bist du das, Paul?

TILLA EINS Aber das ist doch nicht möglich!

TILLA ZWEI Wer sind Sie?

TILLA EINS War hier jemand?

TILLA ZWEI Ich sehe Gespenster.

TILLA EINS Das sind diese alten Theater, da gehen die Geister um.

4.

Jannings' Haus

GUSSYtritt ein Du bist ja doch gekommen. Guten Tag, Jörg.

JÖRG Guten Tag, Tante Gussy. Emil hatte gesagt …

GUSSY Jaja. Hier ist deine Limonade.

EMIL Sei nicht so grantig, Gussy.

Man muss der Jugend helfen, sie auf den Weg bringen.

GUSSY Jaja. Aber das musst du ja nicht alles machen.

Hier ist dein Wein. Wie geht es Vater?

JÖRG