Lichter im Norden - Nena Schneider - E-Book

Lichter im Norden E-Book

Nena Schneider

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Beschreibung

Nachdem der Golfstrom eingefroren ist, entschließen sich Niklas und seine Frau Emelie dazu, entgegen allen Ängsten, im Norden zu bleiben und sich der Natur zu stellen. Viele Jahre später hat sich eine neue Politik in der Welt etabliert. Ein Krieg zwischen der Westlichen und Östlichen Zone bricht aus. In dieser Zeit entscheidet sich Aron dazu, seinem besten Freund zu folgen und tritt einer Organisation der Armee bei. Deren Pressesprecherin Ria Silverstein muss den Kontinent verlassen und beginnt sich in den Außengebieten ein neues Leben zu schaffen, während ihr Bruder Julian anfängt, an seiner Aufgabe als Programmierer zu zweifeln. In der nun kalten russischen Tundra stellt auch Hanah ihre Rolle in der abgeschiedenen Siedlung in Frage. Dass ihre Geschichten sich an einem bestimmten Punkt überschneiden, ahnt keiner von ihnen.

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Lichter im Norden

ImpressumPrologJahre 2260-2263Jahr 2190: SchwedenJahre 2265 - 2268Jahr 2195: SchwedenJahr 2269Jahre 2206 – 2209: SchwedenJahre 2269 – 2270Jahr 2209: SchwedenJahre 2270 – 2271Jahr 2210: RusslandJahr 2272Jahr 2210: Bei NataliyaJahr 2272: Januar – MärzJahr 2211: RusslandJahr 2272: April – JuniJahr 2211: Die WanderungJahre 2272 – 2273Jahr 2211: Russische TundraJahr 2272: März – AugustJahr 2211: In der SiedlungJahr 2275Jahr 2211: AugustJahr 2276Jahre 2277 – 2279Jahr 2225Jahr 2297: November - DezembergEpilog

Impressum

Texte: © Copyright by Nena Schneider Umschlag: © Copyright by Nena Schneider Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin 2. Ausgabe Printed in Germany Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

Eine leichte Brise wehte über die dämmernde nordwestliche Tundra. Sie fegte über weite, schneebedeckte Landstriche hinweg, verfing sich in endlosen Nadelwäldern und verlief sich schließlich mit dem Strom eines breiten Flusses, der sich langsam aber stetig durch die Landschaft schlängelte. Hier und dort waberte Nebel zwischen den Bäumen. Wie ein leichter Hauch schwebte er beständig in der Luft. Im Osten färbten sich die Wolken am Himmel langsam blutrot, orange und violett, doch noch war die Sonne nicht aufgegangen.   Auf einmal knackte das hauchdünne Eis am seichten Ufer des Flusses. Ein Rentier zuckte mit dem Huf zurück und begann, das Wasser zu trinken. Die Luft wurde von einer eiskalten Klarheit erfüllt. Außer dem Rentier bewegte sich nichts. Da war keine Bewegung zwischen den Bäumen, nicht einmal ein Schneehase hüpfte versteckt umher. Allgegenwärtige Stille lag über dem breiten Fluss und seinem Ufer, sie wurde lediglich durch leises Plätschern und Gurgeln unterbrochen.   Nun erhob sich langsam eine rote Sonne am Horizont. Der Schnee begann zu glitzern und der kondensierende Atem des Rentiers leuchtete in hellem Gold. Vorsichtig bewegte das Tier seinen Kopf und sah sich um.     Jeshua wartete. Auch sein Atem dampfte. Er kauerte auf der anderen Seite des Flusses, gut im Schatten zwischen den angrenzenden Bäumen versteckt. Er sah, wie die Sonne im Osten aufging und wie sie schließlich das Wasser des Flusses und den Schnee um ihn herum in goldenes Licht tauchte. Auch wenn ihre Strahlen schwach waren, ihre Wirkung konnte kein Mensch jemals ignorieren, oder jemals ihren Anblick vergessen. Jeshua beobachtete, wie das Rentier den Kopf neigte, um am Seeufer nach Wurzeln zu schnuppern. Langsam hob er den Arm und spannte seinen Langbogen. Dieser war aus leichtem Aluminium und Glasfaser gefertigt, die Sehne spannte sich beinahe ohne Anstrengung und der Pfeil schoss so schnell, dass er einen aus-gewachsenen Bären mit einem gezielten Schuss sofort töten konnte. Jeshua atmete tief ein und wieder aus. Seine Atemwolke löste sich auf. Dann zielte er konzentriert, und schoss.    Der Pfeil überquerte den Wasserlauf in Sekundenschnelle, durchtrennte Haut und Muskeln des Tieres und landete direkt im Herz. Dumpf schlug das braune Geschöpf im Schnee auf und Jeshua konnte sehen, wie rotes Blut darin versickerte. Gerade als er sich aufrichtete, bemerkte er neben dem Gurgeln des Flusses ein anderes, ihm wohlbekanntes und dennoch selten gehörtes Geräusch. Es war eine Art Schnaufen, gemischt mit schweren, etwas orientierungslosen Schritten. Dumpf schlugen schwere Tatzen auf der Schneedecke auf. Der Mann rührte sich nicht und konzentrierte sich auf die andere Seite des Flusses, von der aus das Geräusch kam.   Wenige Sekunden später erschien ein ausgewachsener Eisbär zwischen den Bäumen am anderen Ufer. Die Farbe seines Fells tarnte ihn gut. Etwas verwirrt schnupperte das riesige Geschöpf in der sonnigen Morgenluft herum. Er ließ seinen Blick über das Flussufer schweifen, und entdeckte schließlich das Rentier. Neugierig ging er hinüber und schnüffelte an dem frisch erlegten Tier. Noch hatte der Eisbär Jeshua, der regungslos auf der anderen Seite kauerte, nicht bemerkt. Mit der Tatze stupste er das Rentier vorsichtig an, es bewegte sich nicht mehr.     Jeshuas Konzentration hatte nicht nach gelassen, er wartete und überlegte. Nach seiner Schätzung war der Eisbär mindestens drei Meter lang und maß bis zur Schulter etwa ein Meter fünfzig. Dem-nach durfte er ohne weiteres fünfhundert Kilogramm wiegen, wenn nicht sogar mehr. Jeshua zog einen weiteren Pfeil aus seinem Köcher. Er liebte das schleifende Geräusche, wenn das Aluminium des Pfeiles auf das des Bogens traf. Ein weiteres Mal zielte er sorgfältig und schoss. Der Pfeil traf das Herz nicht ganz, aber er durchbohrte die Halsschlagader des Eisbären, der klagend aufstöhnte und versuchte, sich mit der Pfote an den Hals zu fassen, dann aber schließlich das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel. Jeshua zögerte nicht. Wieder schoss er und diesmal traf er das Herz. In nur wenigen Sekunden verschwand der letzte Atem des Bären in der Luft.    Der Mann atmete tief ein und versuchte sich darüber klar zu werden, dass er gerade einen ausgewachsenen Eisbären erlegt hatte. Er spürte die Kälte in seinen Lungen, dann schnallte er sich den Bogen auf den Rücken und klopfte sich den Schnee von den Fellschuhen. Über ein paar Felsen, die aus dem Fluss herausragten, gelangte Jeshua vorsichtig über den Fluss. Friedlich lagen die Tiere auf der anderen Seite nebeneinander, als wären sie zusammen eingeschlafen. Der Schnee hatte sich unter ihnen dunkelrot gefärbt. Jeshua kniete sich zuerst neben das Rentier, streichelte seinen Kopf, schloss seine Augen und zog schließlich den Pfeil mit einem einzigen Ruck heraus. Dasselbe tat er bei dem Bären. Dessen Fell leuchtete makellos weiß und Jeshua sah, dass seine Gewichts- und Größeneinschätzungen richtig gewesen waren. Doch nun stand er vor einem anderen Problem, das er zuvor nicht bedacht hatte. Das Rentier konnte er mit ein paar Seilen hinter sich herziehen, den Bären nicht. Und schon gar nicht beide Tiere zusammen. Er musste zurückgehen und Verstärkung holen. Jeshua seufzte. Die Strecke zwei Mal zu laufen bedeutete auch doppelte Anstrengung.    Im Schnee säuberte Jeshua seine Pfeile und steckte sie in den Köcher zurück. Noch einmal spielte er mit dem Gedanken, zumindest das Rentier mitzunehmen, denn wenn er die Tiere hier liegen ließ, lief er Gefahr, dass Füchse oder Wölfe sich daran gütlich taten. Wenn er das Tier mitnam, würde er wesentlich länger für die Strecke benötigen und dann würde der Bär bis morgen früh noch dort liegen.    Also machte Joshuau sich auf und ging zügig durch den angrenzenden Wald am Fluss. Er achtete darauf, wenige Geräusche zu machen. So war er es gewohnt. Und den Weg kannte er in- und auswendig. Nach dem Wald erwartete ihn eine weite, zum Ende hin hügelige Ebene und dahinter eine mit eingefrorenen Sümpfen durchzogener Fichtenansammlung. Und nach dieser kam er dann schließlich in ein kleines Tal, zu dessen Seiten sich links und rechts Berge erhoben. Sie waren mit Bäumen bestanden und führten weit hinein in die ewigen Wälder des russischen Nordens.    Am Fuße der Berge standen viele Behausungen, teilweise getrennt durch einzelne Bäume oder sogar kleine Wäldchen. Es waren Häuser verschiedenster Bauart. Traditionelle aus Lehm und Stein, hochmoderne aus Thermophaser, die eher riesigen robusten Zelten glichen, etwa hundert an der Zahl. Die Anordnung der Behausungen glich einem Kreis, mit einigen größeren oder kleineren Lücken. Das Dorf der Siedler lag vor ihm.   Jeshua ließ den letzten Sumpf hinter sich und steuerte auf die Lehmhäuser zu. Er lief einigen Leuten über den Weg, die in die Bibliothek wollten oder ins Labor. Einige Kinder rannten hektisch zum kleinen Wäldchen hin, wo in den Wipfeln der Bäume die Schule gebaut worden war. Auf ihrem Dach glänzten Solarzellen in der Sonne.   Jeshua ging schnurstracks in seine eigene Lehmhütte. Er war stolz darauf, dass er sie mit eigener Hand entworfen und gebaut hatte. Von außen sah sie aus, wie eine Halbkugel, innen barg sie mehr Platz, als man auf den ersten Blick erwartete. In der Mitte brannte ein Feuer, dessen Rauch durch eine trichterförmige Vorrichtung, die in der Decke steckte, nach außen geleitet wurde. Der Lehm isolierte die Wärme. Während draußen minus 20 Grad herrschten, waren es drinnen meist beinahe heiße 18 Grad. Jeshua staunte immer wieder über diese Technik, er wusste nämlich nicht genau, was die Ingenieure da rein getan hatten, damit dieser Temperaturunterschied von beinahe 40 Grad funktionierte. Aber er war ihnen sehr dankbar dafür.  »Nin, ich bin wieder da«, sagte er und streifte Schuhe und Felljacke ab.  »Da hast du ja wirklich unglaublich lange gebraucht.« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Wenn er das Rentier nach Hause geschleppt hätte, wäre er erst in der frühen Abenddämmerung wieder hier gewesen. Jeshua durchquerte den Raum mit dem Feuer und ging durch den Torbogen in die Küche. Dort lehnte Nin, seine Frau, am hölzernen Tisch und trank eine warme Tasse Tee.   »Ich war zwar nur drei Stunden unterwegs, konnte aber etwas erlegen. Es ging schneller als erwartet. Ich muss gleich nochmal zurück.« Er gab ihr einen herzhaften Kuss. »Hallo«   Sie lächelte. »Auch Hallo. Warum musst du zurück, hast du etwas verloren?«  »Nein, aber du wirst es nicht glauben - ich habe einen Eisbären erlegt!«   In Nins Gesichtszügen spiegelte sich Erstaunen. »Äußerst selten. War er allein?«  Jeshua nickte. »Ich weiß nicht, was einen Eisbären in diese Gegend treibt. Er muss hunderte Kilometer gelaufen sein, von der Küste bis hierher.«  »Und viele Seen und die meisten kleinen Flüsse im Norden sind schon zugefroren. Es macht mir Angst, dass das schon der zweite in wenigen Monaten ist. Aber du kannst ihn heute nicht mehr holen«, Nin setzte sich auf einen der Holzstühle und stellte ihre dampfende Tasse ab. Sie trug noch ihren fellbesetzten Morgenmantel, offensichtlich wartete sie darauf, dass sich das Wasser im Boiler erhitzte und sie sich baden konnte.  »Warum nicht?«   »Less war draußen und hat Radio gehört. Da kommt ein Eissturm auf uns zu.« Jeshua machte eine abwinkende Handbewegung. »Du weißt, dass man Less‘ Wetterberechnungen nie trauen kann, und den Bären darf ich da unmöglich liegen lassen.«  »Selbst wenn’s vier Stunden sind, schafft ihr das nicht«, entgegnete Nin ruhig. »Heute Morgen war der Himmel blutrot, hast du das nicht gesehen?«  »Ach, was heißt das schon…« Nin stand auf und rückte den Stuhl an den Tisch. »Ich will nicht, dass du da heute noch mal raus gehst, keine Diskussion!« Damit ließ sie Jeshua und ihre Tasse in der Küche zurück und zog den Fellvorhang zum Bad hinter sich zu. Jeshua konnte hören, wie sie dahinter das Feuer unter dem Boiler herunter schraubte und Wasser in die Wanne einließ. Es plätscherte, als sie ins warme Wasser stieg. Jeshua schüttelte den Kopf. Er hatte den Bären erlegt, er würde ihn auch hierher schleppen und ihn nicht den Füchsen überlassen, damit sie ihn erbarmungslos zerrupften, nur um dann fest zu stellen, dass sie ihn doch nicht auffressen konnten. Er trank einen Schluck von dem warmen Kräutertee und zog sich dann wieder Schuhe und Fellmantel an.    Draußen schlug ihm die eisige Kälte entgegen, eisiger, als sie noch vor wenigen Minuten gewesen war. Doch er ignorierte dieses Warnsignal und stapfte zu Ciernicks wackeliger Hütte hinüber. Auf sein Klopfen öffnete ein Mann mit zotteligen Haaren. Sein Gesicht zierte eine hässliche Narbe, die sich von der Schläfe bis über die Hälfte der linken Wange zog. Er trug in Gegensatz zu Jeshua ein paar ausgelatschte Schlappen und alte Strümpfe.  »Morgen«, grummelte er und zog seinen Wollmantel enger um sich.   »Morgen?« lachte Jeshua, »es ist schon fast zwölf. Kann ich rein-kommen?«  Ciernick öffnete seine Tür einen Spalt und schloss sie sofort wieder hinter Jeshua. »Scheißekalt draußen«, sagte er nur und ging vor Jeshua her in seine Behausung. Es roch nach Alkohol und altem Essen.   Angeekelt blickte Jeshua in einem Eimer, in dem Fischreste vor sich hingammelten und fragte sich, warum er mit Ciernick über-haupt so gut befreundet war.   »Hast du heut schon was Ordentliches gegessen? Oder wieder nur getrunken?« Ciernick deutete auf den Fisch. »Nich heute, aber vor ner Zeit. Was is‘ los?« Jeshua nahm es seinem Freund nicht übel, dass er auf den Smalltalk verzichten wollte. Er mochte direkte Fragen und außerdem hatten sie, wenn Less‘ Wetterbericht auch nur ansatzweise zutraf, nicht mehr allzu viel Zeit.   »Hab vorhin einen Eisbären erlegt und ein Rentier, aber alleine konnte ich es nicht herschleppen. Ich wollte dich fragen und Jeffry, ob ihr mir dabei helfen könnt.«  Ciernick war empört und machte daraus keinen Hehl. »Alter, ich bin nicht mal dran! Frag die andern, die, die dran sind. Wozu haben wir denn diese dämliche Einteilung?«  »Ich rede doch nicht vom Jagen selber, das hab ich schon gemacht. Und du musst die Viecher ja auch nicht ausnehmen, ist ja nicht dein Job. Ich brauch nur vier starke Hände. Und denk dran, dass du dann auch was vom Fell und dem Rest abbekommst«, versuchte Jeshua ihn zu überreden. Ciernick runzelte nachdenklich die Stirn. »Der Haken dabei?« Jeshua setzte sich ihm gegenüber und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. »Da kommt ein Eissturm auf uns zu. Laut Less in drei, vielleicht vier Stunden.« Der Mann vor ihm hob sein Glas, in dem sicher nichts anderes als Schnaps war, und prostete ihm zu. »Nicht schlecht«, er kniff seine Brauen zusammen und fixierte Jeshua, »willst du uns umbringen?« Jeshua verdrehte die Augen. »Du kennst Less‘ Wettervoraussagen, das habe ich Nin auch schon gesagt. In vier Stunden schaffen wir das ohne Probleme.«  »Wo liegen die Viecher denn?«   »Am großen Fluss, beim seichten Übergang hinter der Ebene. Direkt am Ufer.« Ciernick wackelte mit dem Kopf und schätzte offenbar die Entfer-nung und den Kraftaufwand ab. »Hast Recht, is‘ machbar. Aber auch nur, wenn wir vier Stunden haben. Warum lässt du den Bär nicht einfach da liegen, wenn sowieso das Eis kommt, is‘ er wenigstens total kühl gelagert!« Er grinste. Aber Jeshua schüttelte den Kopf.  »Ich hab den Bären erlegt, ich will ihn jetzt auch hierher bringen. Und zwar noch in erkennbarer Form, nicht als tiefgefrorener Klotz.«  »Nagut«, Ciernick war leicht zu überzeugen, wenn es um gefährliche Dinge ging. Er wollte es nur nie zugeben. »Deine Sturheit wird dich irgendwann noch umbringen. Aber wenn wir die Viecher holen wollen, dann sollten wir nich‘ mehr hier rumhocken. Holen wir Jeffry, der brauch sowieso Bewegung.« Ciernick ging, um Jeffry, selbst ein Bär von einem Mann, zu holen und Jeshua eilte nach Hause, um Nin Bescheid zu sagen. Sie würde nicht begeistert sein, aber später dann umso mehr, wenn sie sich neue Stiefel aus Eisbärenfell machen konnte. Er öffnete die Tür und wäre beinahe mit Hanah zusammengestoßen. Sie kam von der Schule und hatte sich gerade den Mantel ausgezogen.  »Papa! Du bist ja schon wieder da!« Sie umarmte ihn fest und drückte ihren kleinen Kopf mit den schwarzen Locken an seinen Bauch. »Weißt du, was wir heute gelernt haben?« Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an. Das brachte Jeshua zum Lächeln.  »Nein, erzähl!«   »Wie man Fische fängt und was man aus ihnen alles machen kann!«  »Sag bloß! Und, was kann man damit alles machen?«  »Also, als erstes natürlich was zu essen, ganz schön viel Verschiedenes und man kann sie auch räuchern. Und wenn man die Haut abzieht, kann man darin was aufbewahren und aus den Knochen kann man Schmuck machen, oder Werkzeuge und sowas!« Die Begeisterung seiner siebenjährigen Tochter steckte auch ihn an. Und wenn sie von diesen Dingen sprach, glänzten ihre Augen wie die von Nin. Sie sah ihrer Mutter so ähnlich. Wie besonders es noch für sie war, in der Schule etwas über Fische zu lernen. Würde sie später mit der gleichen Begeisterung die Fische fangen, von denen sie nun sprach? Jeshua wünschte es ihr von Herzen, denn es würde ihn brechen, wenn er irgendwann keine leuchtende Faszination mehr in ihren Augen entdecken konnte.  »Toll, dass ihr so was lernt!« Und es war tatsächlich gut. Jeshua erinnerte sich daran, dass er sich das alles selbst hatte beibringen müssen, so wie beinahe jeder hier, der über dreißig war.   »Wenn du jetzt schon da bist, essen wir dann zusammen?«  »Nein, leider muss ich noch mal los, ich hab nämlich einen Eisbären erlegt!«  »Wow!« Hanah wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Moment kam Nin aus der Küche und warf Jeshua einen kritischen Blick zu. »Wir hatten das geklärt, du gehst heut nirgendwo mehr hin!«  »Ich hab Ciernick gefragt, er holt gerade Jeffry. In vier Stunden sind wir wieder da.« Nins Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Strenge wich aus ihrem Gesicht und sie sah ihn bittend an. »Da kommt ein Eissturm auf uns zu, Jeshua, du gehst bitte nirgendwo hin!«  »Wir sind zu dritt, zur Not buddeln wir uns im Schnee ein.« Sie ging zu ihm und blieb erst wenige Zentimeter vor ihm stehen.   »Ich bitte dich, um Himmels Willen, bleib hier. Du willst dich doch nicht ernsthaft nur um deines Stolzes Willen in Gefahr bringen? Jeffry und Ciernick können das ja tun! Sie haben keine Familie und niemanden, der sie vermissen würde.« Sie berührte seine Wange und blickte ihm fest in die Augen. Hätte dieser Moment noch einige Sekunden länger gedauert, wäre Jeshua eingeknickt. Aber Hanah unterbrach ihn.  »Ist das denn gefährlich, wo du hingehst?« Er spürte, wie sie ihre kleine Hand in die seine schob. Er wandte seinen Blick von Nins Augen ab und sah seine Tochter an. »Nein, da kommt nur ein Sturm, alles halb so wild. Deine Mutter ist nur sauer, dass ich wieder nicht mitesse.« Hanah ging nicht auf seinen sanften Ton ein. »Was ist, wenn du nicht mehr zurück findest, nach dem Sturm?« Jeshua ging in die Knie und streichelte ihr über das schwarze Haar. »Klar finde ich wieder zurück, außerdem hab ich doch Ciernick und Jeffry dabei, wir kennen uns alle gut aus. Und du kennst doch Jeffry, den großen, riesigen Mann, der kann mich beschützen. Hey, mach nicht so ein trauriges Gesicht, in vier Stunden bin ich wieder da!« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und stand auf.  »Geh ins Bad und wasch dir die Hände«, befahl Nin ihrer Tochter in sanftem Ton. Als das Mädchen gegangen war, nahm sie Jeshuas Hände. »Hör auf deine Tochter, wenn schon nicht auf mich. Bleib hier!« Jeshua drückte sie an sich. »Du kennst mich, ich will diesen Bären. Mach dir keine Sorgen.« Sie sah ihn an, ohne ihn loszulassen. Sie kannte ihn und wusste, er würde nicht locker lassen. Und seiner Überzeugungskraft konnte selbst sie nicht wiederstehen. »Dein verdammter Stolz wird dich noch umbringen!« Jeshua berührte ihr Haar und küsste sie. »Nin…wie oft war ich schon da draußen. Im Dunkeln, im Schneegestöber. Ich bin immer heil zurückgekommen.« »Wenn du gehen willst, dann geh. Aber bitte sei vorsichtig.«

Jahre 2260-2263

Die Welt ist im Wandel, ich spüre es im Wasser, 

ich spüre es in der Erde, ich rieche es in der Luft. 

Vieles was einst war, ist verloren, da niemand mehr lebt, 

der sich erinnert.

- Der Herr der Ringe

Aron: Sahara, Tiska

  Aron schlug seine Augen auf.  Um ihn herum herrschte völlige Dunkelheit und er brauchte einige Sekunden, um sich bewusst zu werden, wo er sich befand. Eben hatte er etwas Seltsames geträumt, aber er konnte sich nicht daran erinnern. »Licht!« sagte er laut und sofort erhellte sich der Raum. Aron richtete sich auf. Er saß in seinem Zimmer in der Wohnung seiner Eltern in Tiska, einem Ort der südöstlichen Sahara.  »Klimaanlage runterschalten« befahl er und sofort wurde es ein wenig wärmer. Noch etwas verwirrt von seinen nächtlichen, nicht zu identifizierenden Träumen stand er auf und ging ans Fenster. »Abdeckung lösen« Die Chemie im Glas veränderte sich und sofort hatte Aron einen atemberaubenden Blick auf Luftareal 2 und 3. Etwa zweihundert Meter und ihm leuchteten die Pools auf den Dachterrassen, knapp bekleidete Mädchen lagen auf den Liegestühlen und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Von einer Anzeige konnte Aron ablesen, dass es beinahe fünfundzwanzig Grad hatte. Es ging wärmer, aber auch kälter. Für Juli in diesen Breitengeraden war das normal.   Aron schlurfte hinüber zum Schrank und kramte eine Hose heraus und ein abgenutztes T-Shirt. Er hatte keine Lust heute am Pool herumzuhängen und er wollte auch nicht für die Schule lernen. Schließlich war Samstag, das bedeutete er konnte tun und lassen, was er wollte. Als er sich angezogen hatte, ging er hinaus. Die Tür glitt sanft zur Seite und schloss sich hinter ihm mit einem leisen, mechanischen Klick. Aus der Küche duftete es bereits nach Toast und Kaffee. »Hey Mum«, begrüßte er seine Mutter, als er eintrat. Gabrielle Eamson saß am Küchentisch und trank ihren ersten Kaffee am Morgen. Sie trug bereits ein teures Kostüm und hatte ihre braunen Haare zu einem Dutt gebunden. Ein paar silberne Ringe funkelten an ihren feinen Fingern. Man sah ihr an, dass sie den Großteil ihres bisherigen Lebens in Büroräumen verbracht hatte, denn ihre Haut war weiß und es fand sich kaum eine Falte in ihrem Gesicht. »Hey mein Großer. Na, gut geschlafen?«Aron setzte sich und nahm sich eine Banane, die im Obstkorb auf dem Tisch stand. »Hmh, ging so. Wann gehst du?« Sie sah auf die ebenfalls silberne Armbanduhr und kniff die Augen zusammen. »Ich bin eigentlich schon zu spät«, sie stand auf und stellte die Tasse auf die Küchenablage. »Sag Ruth und Matthiew, dass es heute Abend Salat gibt und weck sie, wenn sie vor eins noch nicht aufgestanden sind.«  Sie gab Aron einen Kuss auf die Stirn.  »Ich hab dich lieb, mein Schatz, bis heute Abend.« »Hab dich auch lieb«, murmelte Aron und wartete, bis das Ge-räusch ihrer hohen Schuhe im Flur verklungen war und sich hinter ihr die Tür mit einem angenehm leisen Klicken geschlossen hatte. Dann stand er auf und aß seine Banane zu Ende, während er in den Flur und weiter in den Trainigsraum schlurfte. Wieder klickte die Tür hinter ihm.  Er befand sich nun in einem weißen Raum ohne jegliche Gerätschaften. Die Wände waren lichtdurchströmt und von ihnen ging eine leise, pulsierende Vibration aus. »Programm starten«, sagte Aron und warf die Bananenschale in einen Mülleimer, der aus der Wand gefahren kam. »Guten Morgen, Mr. Eamsen Aron. Mit welchem gespeicherten Programm wollen Sie heute beginnen?« Während die Frauenstimme sprach, zeigte sie Aron auf der anderen Seite des Raums seine gespeicherten Programme. Actionspiele auf fernen Planeten, Jump-and-Run in Ägypten oder mehrere Rallyefahrten in verschiedensten Regionen, darunter auch auf der verschneiten Chinesischen Mauer. Und zu guter Letzt die nicht zuzuordnende Spielsequenz der Arktis. Aron überlegte. Was hatte er heute noch einmal geträumt? Vielleicht wollte sein Unterbewusstsein ihm irgendetwas sagen.  »Arktis«, entschied er. »Bitte wählen Sie zunächst Ihre Bekleidung «, erinnerte ihn die Stimme und sofort fuhr aus der Wand ein Haken mit verschiedensten synthetischen Kleidungsstücken. Aron ging hinüber und wählte Felljacke, Boots, Fellmütze und eine Hose aus dickem Leder. Schließlich musste er sich gegen reale Kälte schützen. Das Fell fühlte sich nicht an, wie Aron sich vorstellte, dass es sich anfühlen sollte. Zwischen den Fingern quietschte es so komisch, was ein klarer Hinweis seiner eigentlichen Herkunft war: Synthetikstoff. Atmungsaktiv, wasserabweisend, isolierend. Aber eben total synthetisch. »Programm starten«, sagte Aron noch einmal und sofort verwandelte sich der Raum. In weniger als zwei Sekunden stand er nicht mehr vor einer weißen, leicht pulsierenden Wand, sondern vor ihm erstreckte sich die weite, weiße Landschaft der Antarktis. Jeder andere hätte sie als langweilig empfunden, aber für Aron bedeutete sie nichts anderes als Freiheit. Kein Baum bis zum Horizont, kein Haus, kein Strauch, nur die Weite, das endlose Eis.    Er atmete tief ein und schloss die Augen. Seine Lungen füllten sich tatsächlich mit kalter Luft. Aber wieder hatte er nicht das Gefühl, dass diese Luft echt war. Wie gerne würde er einmal die Echtheit und Klarheit der antarktischen Luft genießen. Nur war es da leider im Moment so kalt, dass kaum ein Mensch lange dort überleben konnte, schließlich befanden sie sich in einer Eiszeit.    Vor ein paar Jahren schon hatte er dieses Programm angelegt. Am Anfang war er nur umhergelaufen, bis ihm zu kalt geworden war. Auch wenn der Raum nur auf zehn Grad heruntergekühlt werden konnte, wurde es für Aron nach einiger Zeit unangenehm. Er war es einfach nicht gewohnt. Also hatte er sich vor einem Jahr entschieden, daraus ein Trainingsprogramm zu machen. Er hatte etliche Wikipediaeinträge über Tiere in der Arktis und veraltete Jagdmethoden eingeschleust. Nun tauchten immer wieder ein paar Eisbären, Robben oder sonstige Viecher auf, die Aron mit Speer, Bogen oder Hapune bewältigen konnte. Die Angriffe begannen bei niedrigem Level, und je wärmer er sich lief, desto schwerer wurden auch die Attacken. Es war schon vorgekommen, dass er das Programm hatte stoppen müssen, weil ein Eisbär ihn sonst virtuell zerfleischt hätte. Auch wenn Aron wusste, dass das nicht möglich war, zeigte ihm der Raum die Geschehnisse so real, dass er manchmal vergaß, dass er sich am Rand der Wolken irgendwo in der afrikanischen Wüste befand.  Aron schüttelte verwundert den Kopf. Das Wunderwerk der Technik. Doch er hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken, denn im nächsten Moment sah er am Horizont eine graue, wabernde Masse, die sich auf ihn zu bewegte.Er zog sein Fernglas heraus und richtete es auf das wabernde Etwas. »Ernsthaft jetzt?« Hunderte von Pinguinen kamen in diesem Moment auf ihn zu gewatschelt. Und sie sahen nicht sonderlich gefährlich aus. »Elli, ich wollte Gefahren, das weißt du doch!« »Bestätige: Gefahr«, sagte die Frauenstimme, doch es änderte sich nichts.Aron zuckte mit den Schultern. Dann schlachtete er eben ein paar Pinguine ab, die waren ja sowieso nicht echt. Er wollte bereits seinen Bogen spannen, als er eine Unstimmigkeit im Gewaber der Pinguine sah. Ein technischer Bug? Wieder zückte Aron sein Fernglas und schreckte sofort zurück. Das hatte Elli also mit Gefahr gemeint. Ein riesiges Walross schleuderte gerade einen halb zerfetzten Pinguin durch die Gegend und die Menge strömte auseinander. Deswegen kamen sie auf Aron zu, sie flüchteten. Und dieses Walross war außerordentlich groß. Aron wunderte sich über die Schnelligkeit dieses Geschöpfes, es handelte sich offenbar um Ellis Fantasiewahlross, das einem Mutanten gleichkam und sich unglaublich schnell an Land bewegen konnte. Aber nun war es eben so. »Also gut«, ermutigte Aron sich selbst, steckte das Fernglas ein und nahm seinen Speer in die Hand. Normalerweise fing das Programm mit kleinen, kampflustigen Seerobben an, die sich gemäß ihrer Natur nur langsam an Land bewegen konnten und deshalb einfach zu erlegen waren, doch nun sollte es wohl gleich hart auf hart kommen. Das natürlich auch ungeachtet der Tatsache, dass weit und breit kein Ozean zu sehen war, aus dem die Robbe oder andere fischähnliche Tiere hätten kommen können. Manchmal, dachte Aron, verhielten sich selbst zusammen gestellte Programme einfach unlogisch.  Er fing an zu laufen, dem Walross und den Pinguinen entgegen, die sich panisch und ungeordnet in alle Richtungen bewegten. Er atmete konzentriert und gleichmäßig, der Speer wog schwer in seiner Hand. Wenn er richtig und genau zielte, konnte er das Tier hart verletzen. Danach war es ein leichtes, es zu töten. Die ersten Pinguine watschelten aufgeregt an Aron vorbei, der den Speer bereits auf Hüfthöhe trug.   Wenige Sekunden später hob er ihn weiter, reckte seien Arm nach hinten, zielte auf das Walross und schleuderte den Speer mit aller Kraft auf das wütende Tier. Das Walross zuckte, als der Speer ihn traf, doch Aron konnte nicht mehr sehen, wie es sich weiter vor Schmerz wand, denn plötzlich stand er wieder im weißen Raum vor den pulsierenden Wänden.  Wütend drehte er sich zu seinem Vater um. »Hallo Aron.« »Mann, wieso kannst dumich das nicht einmal zu Ende spielen lassen?« Beleidigt zog er die Felljacke aus, der Speer und das Fernglas existierten nicht mehr.Nate Eamson sah seinen Sohn kritisch an. »Wann habe ich dich bitte das letzte Mal gestört? Abgesehen davon finde ich nicht, dass das die richtige Beschäftigung für einen Dreizehnjährigen am Samstagmorgen ist. Wie dem auch sei, Griffin steht vor der Tür.«  Sie schlenderten mit den Händen in den Hosentaschen durch Luftareal 4. Ab und zu blickten sie einem Mädchen in Bikini hinterher, den Rest der Zeit ließen sie ihre Blicke über die Areale schweifen und versuchten sich auszumalen, was wohl hinter dieser endlos wirkenden, riesigen Stadt lag.  Es war eines der ersten Modelle einer modernen Stadt gewesen, damals nach dem Weltkrieg und der halbherzigen Versöhnung wurde sie gebaut, mit dem Ziel Platz und Energie zu sparen, möglichst ökologisch zu sein. Und das war sie tatsächlich. Aron wunderte sich immer wieder, warum sie gerade hier, mitten in der Sahara diese riesige Stadt aufgebaut hatten.   Die Stadt bestand aus fünf Arealen, die Etagen gleichkamen. Ein Bodenareal und vier Luftareale. In jedem Areal gab es große Plätze, Wasserläufe, Springbrunnen, Pools und viele Pflanzen, ja teilweise sogar ganze Parks. Die Menschen liefen nicht auf Teer oder normalen Straßen, sondern auf weißen Fliesen. Alle Wohnungen waren mit hochtechnischen Geräten ausgestattet und ein jeder zapfte Strom von Solarzellen. Außerdem verliefen überall kleine Treppchen, die nicht nur die Etagen miteinander verbanden, sondern auch Zwischenetagen, Terrassen und kleinere Plattformen. Die Wasserläufe begannen im Areal 4, dem höchsten, und liefen bis nach unten, was ebenfalls Strom erzeugte. Aron bewunderte dieses ganze Konstrukt, welches er noch immer nicht ganz begriffen hatte. Den Ingeneuren war schließlich beinahe ein Perpetuum Mobile gelungen. Bis auf die Tatsache, dass sie auf den riesigen Solarpark rund um die Stadt angewiesen waren. Ein wenig erinnerte ihn seine Umgebung an die alten Zeichnungen der Hängenden Gärten von Babylon. Nur dass sie nun moderner leb-ten.  Aron hatte Tiska noch nie verlassen. Er wusste, dass es noch mehr solcher Städte gab und auch vollkommen andere. Manchmal lebten die Leute nicht hoch in der Luft, sondern nur auf dem Boden. Und besonders reiche Leute, die Boat-People genannt wurden, wohnten auf Wasserstädten. Aron wusste auch, dass er hier eher der mittleren Oberschicht angehörte, nur ein paar Prominente wohnten in Tiska.   Sascha Griffin Warrick war Arons bester Freund. Seit den ersten Schuljahren kannten sie sich und standen jedes Problem zusammen durch. Wobei Griffin viel mehr davon hatte als Aron. Er wohnte auf den richtig großen, hochtechnisierten edlen Terrassen. Die Jungen hatten sich einmal die besten Ferngläser ausgeliehen und von dort ausprobiert, wie weit sie sehen konnten. Und tatsächlich hatten sie die endlosen Solarzellen entdeckt, einige Straßen, die nach nirgendwo führten und ein paar Bäume, aber sonst nicht viel.   Noch nie hatte Griffin einen Fuß in das dritte oder zweite Areal gesetzt. Nicht, weil er es nicht durfte, viel mehr, weil er sich davor fürchtete. Er war ein hagerer Junge mit wilden blonden Locken und tiefblauen Augen. Gegen ältere, stärkere Kinder konnte er im Falle einer Auseinandersetzung nichts ausrichten. Das schien auch mit den Jahren nicht besser zu werden. Seine Mutter schickte ihn in Kampfsportvereine, aber dadurch veränderte sich die Statur des Jungen kaum. Aron wollte Griffin gar nicht ändern. Er hatte immer das Gefühl, seinen besten Freund beschützen zu müssen, obwohl Griffin nur sieben Tage älter war als er. Wie oft hatte er schon einem anderen Jungen auf die Nase geschlagen, weil Griffin sich nicht wehren konnte oder wollte. Für Aron war das kein Problem. Er half gerne und wollte für seinen Freund da sein. Besonders weil Griffin mit etwas viel Schlimmeren zu kämpfen hatte: Seinem Vater.   Leon Huges Warrick war der strengste und disziplinierteste Mann, den Aron je kennengelernt hatte. Zwar rühmte sich Aron nicht vieler Bekanntschaften auf diesem Gebiet, doch er kannte schon einige Väter der Jungs aus der Schule. Leon Huges Warrick war anders. Er liebte es, andere zu demütigen und er machte auch vor seinem eigenen Sohn nicht halt. Aron war der einzige, dem Griffin anvertraute, was sein Vater zu ihm sagte. Er sei ein Verlierer, ein Taugenichts, er würde es nie zu etwas bringen. Dabei glichen sich Vater und Sohn in ihrem Aussehen sehr. Auch Huges war schmal und dünn, gegen einen starken Mann konnte auch er körperlich nichts ausrichten. Nur in seinem Gesicht spiegelte sich ein ganz anderer Charakter als in Griffins. Das hatte Aron bereits erkannt und deswegen wollte er auf jeden Fall verhindern, dass Griffin die Worte seines Vaters glaubte. Denn dann würde er vielleicht irgendwann genauso werden wie er.  Nachmittags standen die beiden auf einer der Plattformen am gläsernen Geländer und blickten auf die unteren Areale herab. Die Sonne stand schräg am Himmel und hier herrschte eine angenehme Ruhe.  »Was meinst du«, fragte Griffin auf einmal, »wie groß ist die ganze Stadt?« »Meinst du, wie viele Einwohner sie hat?« »Zehn Millionen, das weiß ich noch. Aber ich glaub, wir haben in der Schule nie gelernt, wie breit oder hoch sie ist.«»Ein Kilometer hoch an der höchsten Stelle, also der Fernsehmast da. Länge und Breite jeweils zwanzig Kilometer, soweit ich das noch weiß. Das alles aufgebaut wie eine Pyramide, oder so ähnlich, irgendwie. Vier Luftareale, ein Bodenareal und außenrum die Solarzellenanlagen.«Griffin schüttelte ungläubig seinen Lockenkopf. »Wir leben auf einem Klotz.« »Ja, aber einem sehr schönen Klotz.« Aron mochte das helle Weiß der Böden, die vielen Glasfenster, die langen Treppen und die eleganten Magnetbahnen, auf denen kleine Fahrzeuge Platz fanden, die einen ähnlich wie Aufzüge in andere Areale bringen konnte. Er liebte den modernen Flair der Stadt. »Und für die Leute da unten?«, Griffin deutete auf Luftareal zwei und eins, »ist es für die auch so schön?«Aron grinste über die Sorge seines Freundes. »Klar, Griff, ich war schon da unten. Du darfst dir das nicht vorstellen wie irgendwelche Distrikte, die man nicht betreten darf. Die haben Müllabfuhr, die haben Magnetbahnen und Supermärkte. Du kannst dich einfach in den Aufzug stellen oder die nächste Treppe runtergehen und schon bist du da!«Griffin sah ihn stirnrunzelnd an. »Aber die Leute sind doch be-stimmt ganz anders.« »Nein, sind sie gar nicht. Du musst mal runterkommen von deinem schönen Ausblick da oben.«Sein bester Freund ließ die Schultern hängen. »Das sagt mein Dad auch immer.«»Dein Vater meint das aber anders als ich.« »Ich weiß aber…vielleicht hat er ja Recht. Ich glaube, er stört sich daran, dass ich mich auf seinem Reichtum ausruhe.« »Was? Hat er das gesagt?« Fassungslos hob Aron die Hände und ließ sie wieder fallen. »Du bist dreizehn, was sollst du denn machen, anschaffen gehen oder was?« »Sag ihm das bloß nicht, sonst bringt er uns noch beide um.«Sie gingen ein paar Schritte weiter, doch bei der nächsten Bank ließ sich Griffin einfach darauf plumpsen. In sich zusammengesunken, starrte er vor sich hin.  »Das kann echt nicht so weitergehen mit dir, Griff« sagte Aron und tätschelte seinem Freund die Schulter.Griffin ging nicht darauf ein, stattdessen seufzte er und fragte: »Du warst heut schon im Holodeck, oder?« »Ja, wieso?« »Hast du wieder dieses Arktisding gemacht?«Aron nickte.  »Ich frage nur, weil du danach immer so optimistisch gestimmt bist. Was machst du da drin eigentlich?.« »Komm einfach mal mit, dann zeig ich’s dir.«Lustlos ließ Griffin seine Schulten noch ein wenig weiter sinken. »Ne, ist doch bestimmt was Versautes.«Nun musste Aron lachen. »Überhaupt nicht. Es ist nur kalt. Aber du magst das ja nicht in den virtuellen Räumen, ich weiß schon.«Griffin nickte zustimmend. »Es ist nur…«, er suchte nach Worten, »denkst du, wir kommen jemals von diesem Klotz runter und können wirklich einmal kalte Luft einatmen?«Aron wunderte es nicht, dass seinem besten Freund der gleiche Gedanke kam, den er am Morgen in der virtuellen Arktis gehabt hatte. Nachdenklich blickte er durch die gläserne Abgrenzung des Platzes, an der sie vorhin noch gestanden hatten. Sein Blick verlor sich irgendwo am blauen Horizont. »Wenn du es irgendwann schaffst, ins dritte oder zweite Luftareal zu gehen, dann haben wir, glaube ich, eine gute Chance es noch viel weiter zu schaffen.«Griffin nickte geschlagen. »Und dann gibt es nur einen Weg für dich, in die echte Arktis zu kommen: Entweder du wirst Forscher oder du gehst zur R.P.U.«Aron erschauderte bei dem Gedanken.

Hanah: Russische Tundra

  Hanah wurde zwei Minuten vor ihrem Wecker wach. Sie starrte in die Dunkelheit, lauschte der Stille und genoss die Wärme unter ihrer Decke.   Dann begann der Wecker eine melodische Melodie von sich zu geben. Es war fünf Uhr.   Die Zehnjährige richtete sich langsam auf. Noch immer herrschte Dunkelheit. Nur die LED-Leuchte des Weckers flackerte ein wenig, er war kaputt. Sie griff mit der Hand nach einer Schachtel Streichhölzer, die auf dem Nachttischschränkchen lagen und entzündete eine synthetische Kerze. Der kleine Raum wurde langsam erhellt. Müde rieb Hanah sich die Augen. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Sofort wurde es kalt. Sie zog sich dicke Wollsocken und einen Wollpullover über und schlüpfte in ihre Fellpantoffeln. Bevor sie den Vorhang öffnete, warf sie einen Blick in den Spiegel. Ein zierliches Mädchen mit schwarzen Haaren und weißer Haut sah ihr entgegen. Sie hatte tiefbraune Augen und einen rosigen Mund. Ihre Mutter sagte immer, sie sei das schönste Mädchen weit und breit, aber das konnte Hanah weder bestätigen noch widerlegen. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass alle Mütter das zu ihren Töchtern sagten.   Sie schob einen den Vorhang beiseite und betrat den Eingangsbereich, wo tagsüber immer ein Feuer brannte, bis spät in die Nacht. Morgens um diese Uhrzeit war es einfach neu zu entfachen. Ebenso im Badezimmer, damit sie den ganzen Tag warmes Wasser aus dem Boiler benutzen konnten. Hanah entdeckte hinter dem Vorhang zum Badezimmer einen hellen Schein, offensichtlich war ihre Mutter schon wach und hatte das Feuer dort schon entzündet. Also ging das Mädchen zurück, nahm die Kerze vom Schränkchen und warf dann ein paar Späne, die an der Wand in einer Kiste lagen, in die Glut. Sie hielt die Flamme daran und sofort brannten sie lichterloh. Danach legte sie einen Scheit ins Feuer. In wenigen Minuten wurde es wärmer.  »Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte Nin sie und trat aus dem Badezimmer. »Danke fürs Feuermachen, was willst du frühstü-cken?« Sie gab Hanah einen Kuss auf die Stirn.»Erstmal Tee«, entgegnete Hanah. Sie hatte eigentlich keinen besonders großen Hunger. Es war viel zu früh, um etwas in den Magen zu bekommen. »Ich mach dir Ei und ein bisschen Fleisch.«  Hanah verzog das Gesicht.  »Du weißt doch, was wir vorhaben«, Nin sah sie mahnend an, »da musst du etwas essen! Und jetzt ab ins Bad.«  Hanah gehorchte und ließ den Vorhang hinter sich zufallen. Jetzt musste sie erst einmal wach werden. In eine Kupferschüssel hatte ihre Mutter bereits frisches warmes Wasser eingefüllt. Auf einer Halterung über dem Boden, die auch unter die Badewanne geschoben werden konnte, brannte ein Feuer in einem Kessel. Hanah wusch sich das Gesicht und kämmte ihre schwarzen Locken. Dann flocht sie sie zu einem langen Zopf, der ihr über den Rücken baumelte. Normalerweise trug sie ihre Haare offen, aber heute würde sie das nur stören.   In der Küche duftete es nun nach frischem Rührei, doch als die Zehnjährige in die eintrat, legte ihre Mutter gerade frisches Fleisch in die Pfanne, was bei Hanah zu einem Würgereflex führte.  »Mama, ich will wirklich kein Fleisch«, jammerte sie. Nin ließ sich nicht beeindrucken. Sie ließ das Feuer im Ofen brennen, nahm die Pfanne vom Rost und häufte sich selbst und Hanah die Eier und das Fleisch auf den Teller. Dazu legte sie zwei Äpfel, die gerade erst aufgetaut waren. Sie setzte sich ihrer Tochter gegenüber an den Küchentisch.  Hanah betrachtete ihr Frühstück kritisch und war sich sicher, dass sie keinen Bissen herunter bekommen würde.   Nin faltete ihre Hände und Hanah tat es ihr nach. »Herr«, betete Nin, »hab Dank für dieses Essen, hab Dank für das Leben, dass du uns schenkst. Behüte uns auf unseren Wegen. Amen.« »Amen«, sagte auch Hanah.  Nin lächelte. »Ich weiß, es sieht nicht so lecker aus, aber du brauchst Vitamine und Kohlenhydrate und vor allem Eiweiß. Und wir werden nicht gehen, bis du das aufgegessen hast.«  Hanah war kein Mensch, der lange diskutierte und sie vertraute ihrer Mutter. Wenn sie sagte, dass sie das brauchte, würde sie es schon irgendwie schaffen. Sie begann mit dem Ei.   Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Zwischendurch schlürfte Hanah ihren heißen Tee.  Es war noch immer seltsam, es fühlte sich noch immer falsch an. Nicht dass es die Gewohnheit ihres Vaters gewesen wäre, morgens um halb sechs aufzustehen, und ganz sicher nicht, wenn er keinen besonderen Anlass gehabt hätte. Aber heute wäre ein solcher Anlass gewesen. Und er fehlte.  Vor drei Jahren hatte Hanah ihn zuletzt gesehen. Er wollte einen erlegten Eisbären zurückholen und war nie wiedergekommen. Er hatte gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.    Jeffry war im Schneesturm erfroren. Nur Ciernick Simonedes war zurückgekehrt und seitdem noch viel mehr Außenseiter als zuvor. Und nicht einmal er konnte genau sagen, was und wie es passiert war. Die Leiche ihres Vaters hatte niemad finden können.  Hanah konnte sich an einen Eissturm erinnern, einen furchtbaren Wind, der einem die Haut vom Gesicht fetzte. Aber Ciernick hatte ohne einen Kratzer überlebt. Die Zehnjährige verstand einfach nicht, wie dieser seltsame Mann zurückkehren konnte und ihr Vater verschwunden blieb. Womöglich war er von einem Tier gerissen worden und deshalb hatte es keine Leiche gegeben. Hanah erschauerte immer wieder bei diesem Gedanken.Jetzt lebten sie ohne Jeshua, ohne einen Vater und Ehemann. Hanahs Mutter nannte es Alltag, was sie darüber hinwegkommen ließ. Und Bileam, unter dessen Obhut sie standen, kümmerte sich gut um sie. Er sorgte dafür, dass sie bei allen Aufgaben gerecht eingeteilt wurden, dass sie ihre Freiheit nicht einschränken mussten, nur weil sie nur noch zu zweit waren. Er half ihnen, wo er konnte.  Hanah brachte es fertig, die Eier und das Fleisch zu essen. Zwar brauchte sie dafür beinahe eine halbe Stunde, aber danach spülte sie einmal kräftig den Fleischgeschmack mit Tee fort und schon ging es ihr besser. Dann putzten sich beide schnell ihre Zähne und packten ihre Rucksäcke mit Thermoskannen, warmen Alluminiumkissen zur Isolation, zusätzlicher Kleidung und Schokolade.   Sie würden einige Stunden unterwegs sein und hoffentlich würde das Wetter nicht umschlagen. Nin schmierte noch ein paar Brote, dann zogen sie sich Fellhose- und schuhe an und knöpften ihren Mantel bis zum Hals zu. Mütze und Kapuze würden sie vor der eisigen Kälte des Morgens schützen.   Dann stapften sie nach draußen in die Dunkelheit und den ewigen Winter.  Kalendarisch betrachtet befanden sie sich im Sommer. Aber von dem war noch nicht viel zu spüren. Es hatte zwar nur wenige Grade unter Null, aber die Sonne bekamen sie trotzdem eher selten zu sehen. Vielmehr wurden sie von Stürmen geplagt, die ihnen Regen und Eisschnee brachten. Erst in wenigen Wochen würde es milder werden und dann konnte man vielleicht auch wieder ein paar Blätter an den Bäumen sehen, was selten und kurzweilig war.  Less wartete bereits auf sie. Auch er trug Fell von oben bis unten. Außerdem hatte er auf dem Rücken einen wesentlich größeren Rucksack als Nin und Hanah. Der Zwanzigjährige begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln. »Guten Morgen, ihr zwei! Na, ausgeschlafen?« Er grinste schel-misch. »Mich darfst du nicht fragen«, entgegnete Nin in demselben heiteren Ton. »Frag lieber die junge Dame hier, sie wollte sich schon gegen Ei und Fleisch wehren, weil es so früh ist.«  Less ging in die Knie und sah zu Hanah hinauf, die ihn in dieser Position um ein paar Zentimeter überragte.  »Seid Ihr bereit für dieses große Abenteuer, oh holdes Fräulein?«  Hanah musste lächeln und nickte. »Ja, bereit.«  Less richtete sich wieder auf. »Gut, dann los.«  Sie verließen die Häuseransammlung Richtung Westen und wanderten lange über eine weite Ebene. Rechts und links von ihnen erstreckte sich in einiger Entfernung der endlose Wald. Nach etwa einer Stunde erreichten sie den großen Fluss, der ein paar Kilometer abwärts einen kleinen Bogen beschrieb. Wenn sie diese Richtung eingeschlagen hätten, wären sie nach ein paar Stunden an die Stelle gelangt, an der vor drei Jahren Jeshuas Eisbär gelegen hatte. Doch sie wanderten in die entgegengesetzte Richtung nach Norden. Nun lag links von ihnen der Fluss und rechts daneben der Wald. Für über eine weitere Stunde bekamen sie nichts anderes zu sehen.  Hanah schwitzte fürchterlich unter ihren Fellen, sie spürte ihre Haare im Nacken kleben. Ein paar Mal machten sie Pause, setzten sich auf die Alluminiumkissen und lauschten dem sanften Rauschen des Flusses. Ab und zu hüpfte ein Reh davon oder Vögel flatterten auf. Sonst herrschte völlige Stille.  Nachdem sie zweieinhalb Stunden Fußmarsch am Fluss hinter sich gebracht hatten, bog Less plötzlich in den Wald ein. Weiße Birkenstämme ragten aus dem Schnee hervor und Hanah kam sich vor wie in einem Märchenwald.  »Sieht schön aus, oder?«, sagte Less, als er ihr staunendes Gesicht erblickte. »Pass auf, gleich wird’s noch viel schöner!«  Sie gingen weiter nach Norden, entfernten sich jedoch einige Kilometer vom Fluss, bis sie ihn nicht mehr hören konnten. Und dann sah Hanah, was Less gemeint hatte.  Ein paar Meter vor ihr drang ein Schimmern durch die Schneede-cke. In einem hellen Blau, als ob feine Strahler unter dem Schnee angebracht wären. Dieser Schimmer formte einen Streifen von etwa zwei Zentimeter Breite und Hanah hatte das Gefühl, er wäre bogenförmig.  »Ist das die Grenze?« fragte sie ungläubig.  Less und ihre Mutter nickten gleichzeitig. Hanah ging ein paar Schritte auf das Leuchten zu. Es schien tatsächlich der Schnee selbst zu leuchten. »Was ist das?«  Less nahm ihre Hand und hockte sich mit ihr direkt vor den neonfarbenen Streifen.  »Das ist ein chemischer Prozess«, erklärte er und zog seinen Handschuh aus, »du kannst es sogar anfassen.« Er fuhr langsam mit dem Finger über den blau leuchtenden Schnee. Nichts geschah, nur seine Fingerspitzen leuchteten ein wenig nach. Hanah zog ihren Handschuh ebenfalls aus und imitierte Less‘ Bewegung. Tatsächlich veränderte sich nichts und als der Schnee an ihren Fingerkuppen geschmolzen war, blieb auch kein blaues Leuchten mehr übrig.  »Chemie sagst du? Was für Chemie?« »Ein Stoff, der in Verbindung mit gefrorenem Wasser blau leuch-tet.«  Hanah blickte dem Streifen, der sich nach links und rechts erstreckte, nach. »Und wie kommt die Chemie in den Schnee rein?«  Less überlegte einen Moment, wie er den komplexen Prozess am besten erklären konnte. »Unten im Boden sind kleine Töpfchen eingelassen. Vielleicht so lang wie mein Zeigefinger und auch so breit. Im Abstand von einem Meter. Dort ist ein chemischer Stoff drin und dieser steigt mit der Zeit an die Oberfläche.«  Ein wenig ungläubig blickte sie zu ihm auf, er hockte noch immer neben ihr. »Und wenn die leer sind?«  Er strich ihr über die Fellkapuze. »Dann müssen sie erneuert werden, aber sie halten sehr lange. Du kennst doch die Gruppe der Jäger, ja? Sie haben auch die Aufgabe, diese Markierungen zu kontrollieren und aufzufrischen.« »Less, wir sollten jetzt langsam…«, unterbrach Nin die beiden.   Der junge Mann nickte und stand auf. Er tat einen Schritt nach vorne und Hanah blickte bedächtig auf seine Füße, ob sich auch wirklich nichts veränderte.    Da sich tatsächlich nichts zu regen schien und die blaue Linie unbeeindruckt weiter leuchtete, befand das Mädchen es als ungefährlich, sie zu überschreiten.  Nin nahm sie bei der Hand und sie folgten Less noch ein paar weitere Meter, bis der Wald sich ein wenig lichtete. Ein paar Baumstämme trennten sie noch von einer weiten weißen Ebene.  Less legte seinen Rucksack ab und holte ein kleines Gerät heraus. Es hatte Solarzellen angebracht, so wie alle technischen Geräte, die Hanah bis jetzt gesehen hatte. Aber trotzdem war dieses hier anders, so ein Ding fand man sicher nicht in jedem Haushalt.  Sie setzten sich erneut auf die Aluminiumkissen und Hanah beo-bachtete, wie Less etwas an dieses Gerät anstöpselte, was aussah wie ein hässlicher, aufklappbarer Suppenteller mit einer komischen, herausragenden Spitze in der Mitte. »Was ist das?«, fragte sie frei heraus. »Das ist ein Satellit, damit kann man Radiowellen empfangen. Und das kleine da ist ein Radio«, »Aber warum braucht man für das kleine Radio so einen riesigen Satelliten?« »Weil wir sehr weit weg von den anderen sind«, entgegnete Less. Dann entschied er, dass er genug erzählt hatte und betätigte einen kleinen Knopf an dem Radio. Nin hatte währenddessen einen Stift und Papier herausgekramt und wartete, bereit etwas zu notieren.  »Hör gut zu«, forderte sie Hanah auf, »alles was du jetzt hörst, könnte wichtig werden.« Das Mädchen nickte bedächtig und lauschte gespannt.  Plötzlich hörte sie ein furchtbares Rauschen und Knacken, ein paar Stimmen hallten aus den Lautsprechern des Radios, aber sie vermischten sich ständig. Less drehte ein wenig an weiteren Knöpfen und blickte schließlich Nin an. »Auch die Nachrichten?«Sie schüttelte den Kopf. »Nein, keine Nachrichten.«  Hanah wusste nicht, was das bedeuten sollte und warum ihre Mutter keine Nachrichten wollte, aber sie musste sich jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Das war alles so spannend. Da saßen sie mitten in einem lichten Birkenwald hinter einer neonblau-leuchtenden Linie und plötzlich hatte Less den richtigen Kanal gefunden.  Und Hanah hörte zum ersten Mal, wie ihr ein Mensch, den sie weder kannte noch sehen konnte, etwas über das Wetter erzählte.

Jahr 2190: Schweden

Jahr 2190

  Niklas: Schweden, Nahe Strömsund

Niklas Lundgren saß friedlich in seinem kleinen Bötchen, das auf einem kleinen See nahe Strömsund in Schweden dahintrieb, als es geschah. Die herrlich warme Augustsonne schien ihm auf die blonden Haare und die Angel im Wasser wippte sanft mit der Bewegung des Bootes auf und ab.   Rings herum zwitscherten die Vögel, ein paar Grillen zirpten und neben Niklas stand ein winziges Radio, das im Hintergrund ein wenig Musik spielte. Er hörte es kaum mehr.   Alles war friedlich. Sein typisch schwedisches rotes Häuschen stand völlig ruhig und gemütlich auf der anderen Seite des Sees. Der Geruch von geräuchertem Lachs drang bereits zu ihm hinüber und er freute sich ungemein auf das leckere Essen, das seine Frau gerade zubereitete.    Er schaukelte in seinem Boot herum während das Radio lief. Sie spielten irgendetwas Ruhiges, Blues oder so etwas. Niklas kannte sich in Musikrichtungen nicht aus. Als Wissenschaftler hatte er ganz andere Interessen. Chemische Prozesse, Explosionen, Verätzung und all das war sein Territorium.    Die Vögelchen zwitscherten fröhlich, als Niklas friedliche Welt einen herben Schlag abbekam.   »Wir unterbrechen für eine Eilmeldung«, drang es aus dem Radio und Niklas wurde stutzig. Wann wurde das laufende Programm denn je für eine ‚Eilmeldung‘ unterbrochen? Höchstens wegen eines Blitzers oder einer Geisterfahrermeldung, aber aufgrund einer ‚Eilmeldung‘ ? Diesen Begriff benutzte man doch sicher seit zweihundert Jahren nicht mehr. Es schien ja beinahe so, als würde der Mann im Radio mit einem ‚Extrablatt!‘ wedeln. Eilmeldung…dachte Niklas und hätte beinahe nicht weiter hingehört.   »Wir haben soeben aus sicherer Quelle erfahren, dass die Intergovernmental Oceanographic Commission auch I.O.C. genannt, mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann…«, der Moderator machte eine kleine Pause und Niklas stellte verwundert fest, dass er Angst in seiner Stimme hatte hören können.  »Dass«, fuhr der Moderator fort, »der Golfstrom vor einigen Stunden zum Erliegen gekommen ist.«   Die Vögel verstummten, die Angel bewegte sich nicht mehr, die Wolken am Himmel blieben stehen, die Grillen vergaßen zu zirpen. Alles stand für ein paar Sekunden lang still.   Niklas starrte das Radio an, während der Moderator und offensichtlich auch alles andere auf der ganzen Welt schwieg.  »Die UN bittet alle Mitgliedsstaaten, Ruhe zu bewahren, weitere Informationen und Anweisungen folgen in Kürze.«   Ein melancholischer Song folgte den Worten des Moderators.   Niklas war noch immer fassungslos. Offensichtlich hatten sich die Forscher geirrt. Seit Jahrzehnten predigten sie ununterbrochen, dass die Gefahr des Erliegens des Golfstroms nicht bestände, ja dass er sogar an Aktivität zunehmen würde.  Niklas überlegte. Was bedeutete das nun für sie alle? Der Golfstrom brachte die warmen Meeresströmungen des Atlantiks von Westafrika über den Golf von Mexico nach Norden, bis zum europäischen Nordmeer. Deswegen war es auch bisher in Irland so mild. War, dachte Niklas.   Wie lange brauchte eine Eiszeit, bis sie entstand? Er war Chemi-ker, kein Klimatologe. Hatten Chemiker damit überhaupt etwas zu tun? Was bedeutete das nun alles?   Niklas war sichtlich verwirrt und er schaltete das melancholische Gedudel des Radios ab. Plötzlich erschienen ihm der See, das Boot, sein Haus und die fröhlichen Vögel nicht mehr so friedlich. In ein paar Jahren, dachte er mit einem Anflug von Panik, wird hier vielleicht nur noch Eis sein.    Er wollte sich gerade noch mehr finstere Gedanken machen, als seine Frau auf der Veranda erschien. Sie hatte das Telefon in der einen Hand und wischte sich mit einer kurzen Bewegung die Finger der anderen Hand an der Schürze ab.   »Liebling, da ist dein Chef in der Leitung!«, rief sie über den See zu ihm hinüber und Niklas seufzte. Kaum war die Nachricht fünf Minuten alt, schon hatte er wieder Arbeit am Hals. Und es hätte so ein schöner Nachmittag werden können.    Mit griesgrämiger Miene begann er, das Boot zum Ufer zu rudern.   »Schatz, pack deine Sachen«, grummelte Niklas, als er den Hörer endlich wieder auflegte. »Der Urlaub ist beendet, wir fahren zurück nach Umea.« Emelie sah ihn betrübt an. »Aber wir sind doch erst drei Tage hier!«   Er sah sie ebenso mitleidig an. »Ich weiß. Aber es scheint, als ob der Golfstrom seine ersten Opfer fordert.«   Sie packten ihre Sommersachen zurück in die Koffer, luden sie in den Kofferraum und eine Stunde später verließen sie das friedliche Haus an dem blauen See und den zwitschernden Vögeln.   Wenn der Verkehr mäßig war, würden sie in dreieinhalb Stunden in Umea ankommen und dann sollte Niklas sofort in der Universität erscheinen.    Auf der Fahrt versuchte er sich zu beruhigen. Während sie mit dem Landrover durch die herrliche schwedische Landschaft fuhren, konzentrierte sich Niklas auf die Tatsache, dass er ein positiv denkender Mensch war und auch immer bleiben würde. Nur dass er jetzt, wo er eigentlich gerade Urlaub hatte und ausnahmsweise keine Vorlesungen halten oder im Labor sitzen musste, doch in die Universität zurückfuhr, grämte ihn ein wenig. Sein Chef hatte ihn beinahe angefahren, er solle auf der Stelle dort antanzen und am besten gleich noch Schlafzeug und Proviant für die nächsten Wochen mitnehmen. Niklas hatte ihm gedanklich den Vogel gezeigt.   »Ich verstehe gar nicht, warum er so ein Aufhebens darum macht«, sagte Emelie nach einer Weile und implizierte damit die Frage, warum zur Hölle sie ihren Urlaub aus so nichtigen Gründen abbrechen mussten.   Niklas wusste, dass sie das Ausmaß der Katastrophe noch nicht erfasst hatte oder vielleicht gar nicht erfassen wollte. Ihm erging es ähnlich. Er war nicht dumm, er wusste, was auf die Welt zukommen würde und welche entsetzlichen Folgen das Versiegen des Golfstroms mit sich brachte. Aber war es nicht einfacher, sich weniger Gedanken über die Zukunft als über die Gegenwart zu machen? Bisher war ihm das nur zugutegekommen und er gedachte diese Angewohnheit weiter zu führen.     Niklas würde sich selbst als überaus optimistischen Menschen bezeichnen und Emelie war die Sorglosigkeit in Person. Vielleicht grenzte das schon an extremen Egoismus, denn sie beide wollten nicht, dass es ihnen wegen äußerer Einwirkungen innerlich schlecht ging. Deswegen wählten sie die unbeschwerte Variante.   Viele von Niklas Kollegen und Freunden verstanden seine Einstellung nicht, alles mit ein wenig Humor zu sehen. Sie sahen überall Probleme und zerbrachen sich den Kopf, wie man sie lösen konnte.   Dabei zeigte die Evolution doch ganz deutlich, dass alles irgend-wann an seinen Platz rückte, zur richtigen Zeit. Mochte es nun Schicksal sein oder eine höhere Macht, die Dinge renkten sich ein.    Niklas vertrat die Meinung, dass der Mensch ebenso ein Teil der Evolution war, wie alles andere auch. Ihn interessierte weniger die Entstehungsgeschichte, schließlich war er kein Biologe, aber er fand sich damit ab, dass sie nicht vom evolutionären Geschehen ausgeschlossen waren. Und wenn nun eine Eiszeit kam, dann war das nun mal so. Und wenn durch diese Eiszeit viele Menschen starben, sich die Bevölkerungen veränderten, dann war das nicht zu ändern. Und wenn er selbst erfrieren würde und dadurch die Evolution nicht vorantreiben konnte, weil er noch keine Kinder hatte, dann konnte er daran nichts tun. Warum also hysterisch werden? Alles war ganz evolutionär natürlich, alles folgte Gesetzmäßigkeiten, so wie schon immer.  »Ich weiß auch nicht«, entgegnete er schließlich. »Morgen wird noch nichts zugefroren sein. Wir holen den Urlaub nach, verspro-chen« Sie lächelte. »Schon gut. Ich kann mich damit abfinden, aber dann rette du auch die Welt, in Ordnung?« Emelie drückte auf ein Knöpfchen, bis ihre Lehne waagrecht stand, dann stopfte sie sich ein Kissen unter den Kopf und schlief den Rest der Fahrt. Niklas genoss die Sonnenstrahlen auf seiner Haut, sah sich die wunderschöne Landschaft an; die Seen, an denen er vorbei fuhr, kleine Dörfer mit roten Häuschen. So war es immer und so würde es auch immer bleiben.    Naja, vielleicht bis die nächste Eiszeit kam. Er seufzte wieder und versuchte nicht darüber nachzudenken, was für eine Massenpanik wohl gerade herrschte. Sie kamen um halb sieben abends an. Vom Abend bemerkte man nicht viel, denn es war Sommer und die Tage ewig lang.   Niklas setzte Emelie in ihrem Haus in einem Vorort von Umea ab und fuhr sofort weiter zur Universität. Umea hatte etwas über hunderttausend Einwohner, aber in den letzten Jahren waren es kaum mehr geworden. Aus irgendeinem Grund vermehrten sich die Leute hier weniger. Von diesen hunderttausend Einwohnern waren etwa vierzigtausend Studenten.   Schon als er sein Auto auf einem der Parkplätze abstellte, fiel ihm auf, wie voll es hier war. Normalerweise nutzten viele Mitarbeiter und Professoren die Sommermonate für eine kleine Pause. Konnte es sein, dass sie alle hierher zurückberufen worden waren?   Niklas überquerte die Straße und ging über den Campus, um zur Technisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät zu gelangen. Der Campus summte vor Betriebsamkeit. Im Moment befand man sich doch in der vorlesungsfreien Zeit, das Semester würde erst in drei Wochen wieder beginnen. Was um Himmels willen taten die ganzen Menschen hier?   Niklas lief einem Kollegen über den Weg, grüßte ihn flüchtig, er sah auch einige seiner Studenten, die zielstrebig irgendwohin rannten. Langsam wurde Niklas nervös. Irgendwie hatte er geahnt, dass sie ihn anstecken würden.   Er erreichte die Fakultät und betrat sie über die Haupttreppe. Was sich einige Sekunden später als ein großer Fehler erwies. Denn jeder Flur, das Treppenhaus, alles summte und brummte. Menschen gingen ein und aus, Grüppchen unterhielten sich aufgeregt miteinander, ein jeder schien von einer elektrisierenden Aufregung ergriffen worden zu sein.   Niklas schlängelte sich mühsam die Treppe hinauf und den nächsten Gang entlang, bis er endlich vor dem Büro mit seinem Namensschildchen stand. Prof. Dr. Niklas Lundgren. Unsicher trat er ein, als erwartete er etwas Furchtbares, Erschreckendes. Aber nichts kam. Nicht einmal seine Assistentin saß im Vorzimmer, hier war alles ruhig.   Niklas atmete einmal tief durch und sehnte sich für einen Moment nach der guten alten Zeit zurück, in denen die Naturwissenschaftliche Fakultät in Ruhe und Frieden und von jedermann gemieden dagelegen hatte. Dann ging er durch die nächste Tür. An seinem Schreibtisch hatte sich nichts verändert, das war ein gutes Zeichen. Gerade als er seinen Rechner hochfahren wollte, stürmte seine Assistentin herein.  »Aaach, Dr. Lundgren, Sie sind endlich da!«  »Guten Morgen, Nina, was gibt’s denn so Dringendes? Warum sind die da draußen so aufgewühlt?« Die Vierzigjährige sah ihn mit ungläubigen Augen an.  »Ja, haben Sie es denn noch nicht gehört? Der Golfstrom hat aufgehört zu fließen!«  »Er ist zum Erliegen gekommen«, verbessert er ihre Wortwahl, aus reiner Gewohnheit eines Dozenten.   »Ja! Das ist doch ganz furchtbar!«  »Nina, was ist da draußen denn los?«  »Es gibt da ein neues Programm Dr. Lundgren, zur Rettung unseres Planeten oder so. Aber die Planung hinkt noch, so wie ich sehe. Das wird der Chef ihnen erklären, er hat schon ganz ungeduldig nach Ihnen gefragt.«  »Welcher Chef denn?«  »Der Chef-Chef.« Niklas runzelte die Stirn. Er selbst war im Mitarbeiterstab des Fakultätsleiters, aber sie alle waren am Ende dem Chef-Chef unterstellt, dem Dekan.     Also ließ Niklas seine Assistentin stehen, lief erneut quer über den ganzen Campus zum Verwaltungsgebäude und gelangte schließlich durch die nicht enden wollenden Menschenmassen zu Herrn Rüdengard.    »Guten Morgen, Dr. Lundgren«, begrüßte ihn dessen Sekretärin, »Herr Rüdengard erwartete Sie bereits.«  »Danke«, entgegnete Niklas und trat in das geräumige Büro des Rektors.    Dieser saß in einer sehr ungeduldigen Pose am Schreibtisch und klickte mit seinem Kugelschreiber. Allein bei dieser Geste hätte Niklas den Raum gerne wieder verlassen.   Rüdengard stand auf.    »Wo zum Teufel waren Sie?«, fragte er aufgebracht.  »Ich war in Strömsund bei -«  »Lundgren, das interessiert mich nicht! Ich will nur, das Sie jetzt endlich Ihre Arbeit machen!« Niklas beobachtete, wie Rüdengards Gesicht immer roter wurde.  »Herr Rüdengard, ich weiß wirklich nicht, was - «  »Unterbrechen Sie mich nicht!« Kleine rote Adern traten an Rüdengards Stirn hervor und Niklas schüttelte innerlich den Kopf. Wie konnte man nur so schnell in Rage geraten?  »Sie tun, was ich Ihnen sage, ist das klar! Und wenn ich sage, Sie arbeiten, dann arbeiten Sie!«  »Und an was, soll ich - «  »Mir egal! Irgendwas! Was Nützliches natürlich!« Rüdengard kam hinter seinem Schreibtisch hervor und ging auf Niklas zu, der noch immer sehr ruhig und gefasst im Raum stand. Rüdengard schwitzte.  »Lundgren, hören Sie mal…da draußen«, der Rektor atmete schwer, »da draußen ist die Hölle los, der Golfstrom ist zum Erliegen gekommen, stellen Sie sich das vor! Die Amerikaner…«, er räusperte sich, griff nach einem Asthmaspray auf dem Tisch, »die Amerikaner wandern schon aus, haben Sie gehört! Die wandern nach Süden, nach Florida und Texas. Und jetzt frage ich Sie, Lundgren: Wohin sollen wir auswandern?«   Niklas schwieg. Er dachte, dass das Verhalten des Rektors typisch für jemanden war, der alles eigentlich nur verwaltete. Ein Wissenschaftler konnte an die Dinge doch wesentlich objektiver herangehen. Deswegen machte sich Niklas auch nichts aus dem Geschrei des Rektors, denn objektiv betrachtet bezog es sich auf die Sorgen Rüdengards, nicht Niklas persönlich. Offensichtlich beschäftigte sich Rüdengard mehr mit dem Golfstromproblem als Niklas. Was kümmerten ihn schon die Amerikaner?  »Lundgren, wir können nicht auswandern«, beantwortete Rüdengard seine eigene Frage, »wir müssen Vorkehrungen treffen« Er tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.  »Vorkehrungen?«, fragte Niklas, »welcher Art?« Meine Güte, er war Chemiker! Was sollte er denn bitte für Vorkehrungen treffen können?  »Aller Art natürlich! Was meinen Sie denn? Wir brauchen alles, was gegen Kälte hilft, jede chemische Formel ist mir Recht, jede Technologie, jedes mentale Konstrukt, das wir den Leuten einbläuen können…einfach alles!«  »Steckt dahinter irgendeine Institut-«  »Ja, ja«, Rüdengard nickte. Er schien sich langsam zu beruhigen und setzte sich wieder in seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich, Lundgren.«   Niklas gehorchte und nahm ihm gegenüber Platz. Der Rektor atmete schwer und zog noch einmal an seinem Asthmaspray, bevor er weitersprach.  »Sie kennen das doch, Lundgren, wenn etwas Schlimmes passiert, sind die Mächtigen der Welt plötzlich alle einer Meinung. Die UN hat sich mit allen Mitgliedsstaaten darauf geeinigt, dass jeder verfügbare Wissenschaftler, oder jeder, der es einmal werden will, sich an diesem Riesenprojekt beteiligen soll…Mengen von Geld fließen jetzt endlich einmal in die Forschung. Es gibt nur keine genauen Anweisungen, kein Leitprogramm…sind eben auch nur Verwaltungsleute bei der UN…«   Er wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Der Golfstrom wird nicht mehr fließen, nicht in den nächsten zweihundert Jahren, ach wahrscheinlich sogar länger, aber selbst zweihundert Jahre sind genug, finden Sie nicht?«   Niklas nickte. Ihm fiel ein, dass er den leckeren Räucherlachs gar nicht gegessen hatte und nahm sich vor, gleich nach diesem Gespräch Emelie anzurufen und sie zu bitten, einen neuen Lachs zu räuchern.    Wie konnte man nur dermaßen unstrukturiert an solch eine Sacher herangehen? Panik, schön und gut, aber bitte nicht in der Wissenschaft.  »Also wird jetzt geforscht, bis das Geld alle ist, Lundgren. Die Amerikaner arbeiten an den Häusern der Zukunft, stecken ihr Geld in den Fortschritt der Menschheit…Lilipads, Lundgren, Lilipads!«  »Liliwas?«  »Ja, genau, Liliwas…aber wir müssen das anders angehen, wir kämpfen hier ums Überleben!« Niklas faltete die Hände ineinander, er hoffte, dass Rüdengard nun endlich auf den Punkt kommen würde.  »Wie kann ich da behilflich sein?«  »Nun ja, Sie sind Chemiker, nicht wahr? Und zwar einer der Besten in ganz Schweden. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie nicht Fakultätsleiter werden wollten, aber das ist nun endgültig Vergangenheit, Lundgren. Also suchen Sie sich ein Team aus, nehmen Sie die besten Mitarbeiter, Ihr Chef weiß Bescheid.«  »Aber was genau soll ich denn erforschen?« Rüdengard schüttelte den Kopf. »Sie sind der Chemiker, Sie wissen was man mit dem ganzen Zeug anfangen kann, ich nicht. Beginnen Sie doch einfach mit…äh…einer neuen chemischen Formel, die Kleidung kälteabweisend macht!«   Niklas zog seine Braue nach oben, aber er sagte nichts. Offenbar hatte der Rektor wenig Ahnung von dem Aufwand, den eine solche Forschung mit sich brachte, ganz zu schweigen von der Zeit. Aber er sah auch, das Rüdengard mit der Situation völlig überfordert war und ganz und gar nicht positiv dachte, deshalb hielt er es für sinnvoll, ihn nicht noch mehr zu verunsichern.  »Gut, ich sehe mal, was sich machen lässt. Gibt es sonst noch etwas?« Der Rektor wurde wieder ernst und ein wenig sauer.   »Ja, es gibt noch etwas, Lundgren. Sie werden dieses Gebäude nicht eher verlassen, bis Sie etwas gefunden haben, ist das klar?«  Niklas seufzte. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird, weil - «  »Doch! Es ist nötig! Schlafen Sie in Ihrem Büro, holen Sie Ihre Frau nach, wenn Ihnen unbedingt danach ist, aber wenn mir zu Ohren kommen sollte, dass Sie zu Hause friedlich in Ihrem Bett schlafen, während andere arbeiten, dann…dann…«  »Feuern Sie mich?« schlug Niklas vor.  »Ja, genau! Das heißt, nein… das kann ich ja nicht, meine Zukunft und die meiner Kinder hängt ja von Ihnen ab, aber ich lass mir schon etwas einfallen!« Rüdegard zeigte drohend mit dem Finger in die Luft.  Niklas seufzte erneut. »Geht klar, das Gebäude nicht verlassen und arbeiten. Verstanden.«  »Gut, gut«, sagte der Rektor und lehnte sich erschöpft in seinem Stuhl zurück, »und ich möchte über alle Ergebnisse informiert werden!«  »Sicher«, Niklas stand auf, nickte Rüdengard kurz zu und verließ den Raum.   Dann überquerte er den Campus, lief auf den Parkplatz und wartete ein paar Sekunden in seinem Auto, um seine Gedanken zu ordnen.