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Nach einer wilden Nacht in den Bars der Stadt betritt er das Haus. Ein angetrunkener Dandy, den seine aufgebrachte Freundin mit bitteren Vorwürfen empfängt. Aber die unschöne Szene und eine geheime Affäre sind nicht sein größtes Problem, denn der sich ausbreitende Schmerz in seinem Magen ist kein Kater und ein rätselhaftes Präsent, das er im Arbeitszimmer findet, nicht von ihr. Als er im Morgengrauen versteht, dass alle Wege in die Zukunft versperrt sind, scheint das, was ihm ein Unbekannter anbietet, der letzte Ausweg zu sein. Ein Angebot, das über so viel mehr entscheiden wird als nur seine eigene Lebenszeit…
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum:
Texte: @ 2025 Copyright by Volker Westphal
Layout: @ 2025 Copyright by Volker Westphal
1 Nikola
2 Türen
3 Alexandria
4 Schnee
5 Syrakus
6 Der Legionär
7 Flammen
8 HTLV-1
9 Kanaan
10 Lichter
11 Rom
12 Silhouetten
13 Zeitdeixis
14 Phänomene
15 Luft aus Ost
16 Nordwind
17 Iriden
18 Antietam
19 Umarmt Europa!
20 Besuch der alten Dame
21 Besuch der jungen Dame
22 Brücken nach Transvaal
23 Jahrtausendsturm
24 Paradiespartikel
25 Früchte des Zorns
26 Sanduhrzeit
27 Uhrwerke
28 Purpurmenschen
29 Weltlinien
30 Fenster in die Hölle
31 Korridore in die Gegenwart
32 Babels Turm
33 Am Ende der Zeit
34 Die Politik der Ewigkeit
35 Inix
36 Sendung ohne Sender
37 Thermidor
38 Zeitmeer ohne Ufer
Wie sähe die Welt aus, wenn sie anders aussähe?
Wenn das Stellwerk der Geschichte den Lauf der Dinge auf ein anderes Gleis gesetzt hätte?
Denken wir vielleicht an den Schwarzen Tod des späten Mittelalters. Ein Drittel der Menschheit starb. In Asien, wo die Seuche ihren Ursprung nahm, und in Europa (Amerika, Australien und das Afrika südlich der Sahara waren nicht Teil der damals bekannten Welt und nicht betroffen). Wäre die Pest nicht ausgebrochen, spricht alles dafür, dass wir uns heute den Planeten nicht mit acht, sondern mit zehn Milliarden Menschen teilen müssten…
Was, wenn die Südstaaten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts den Amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen hätten? Wenn sich die Sklavenhalter gegen den hochindustrialisierten Norden ihre Unabhängigkeit erkämpft hätten. Die zerrissenen USA wären heute gewiss nicht die Supermacht, zu der sie im zwanzigsten Jahrhundert wurden…
Wo würden die Linien und Grenzen der Landkarten Europas und Asiens verlaufen, wenn die griechische Kultur des östlichen Mittelmeers nach dem Ende der Antike nicht im Sturm des Islam untergegangen wäre? Wenn es keinen Mohammed gegeben hätte? Oder keinen Jesus? Wie sähe die Welt aus, wenn es keine Weltkriege gegeben hätte?
Niemand weiß es oder könnte es wissen. Aber stellen wir uns vor, wir schon. Stellen wir uns vor, wir könnten einen Blick nach dort werfen und ihn sehen: einen zweieiigen Zwilling der Wirklichkeit, die uns umgibt. Würden wir eine dieser Welten besuchen? Würden wir es darauf ankommen lassen und durch eine Tür ins Ungewisse gehen? In den Nebel der Parallelität. Was, wenn wir den Pfad aus den Augen verlören?
»Ja… ich kenne die alte Welt. Und ich habe meine Lehren aus ihr gezogen. Ich weiß, dass sich das Universum für uns nicht krümmt und es nie tun wird. Du hast das Leuchten gesehen. So nenne ich es… das Leuchten. Das Rot, das als Lichtschein in die Dinge kriecht. Die kosmischen Unwetter. Die Sternentrümmer, die am Himmel aufflackern und verdampfen. Ich habe einen dritten Weltkrieg gesehen. Und einen vierten...«
»Was willst du von mir hören?«
»Hör auf!«
»Womit?«
»HÖR EINFACH DAMIT AUF!«
…
»Nik, ich… bin dafür jetzt zu müde.«
»Es ist mir egal, ob du dafür zu müde bist.«
»Nik, ich hab‘ jetzt… echt keinen Nerv für sowas.«
»Es ist mir scheißegal, ob du müde bist oder gerade Nerv hast. Du weichst mir nicht schon wieder aus. Ich will jetzt darüber reden!«
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sein Blick löste sich von ihrem, suchte im Zimmer und blieb am Barwagen hängen, in dem Scotch, Rye und irische Whiskys arrangiert standen. Wenn die Szene hier vorbei wäre, würde er sich noch bedienen…
»Dein Geruch!«
»Lass es bitte…«
»Wo warst du?«
»Lass es einfach sein!«
»Wo warst du?«
»Deine Fragerei ist… hysterisch...«
»Was…? Sag das NOCHMAL!«
»Ach komm…«
»Du bist so ein arroganter Scheißkerl!«
…
»Nik, es ist spät…«
»Es ist hysterisch, wenn ich wissen will, wo du warst und warum du so stinkst?!«
»Nein…«
»Du kommst nach Hause und deine Jacke stinkt. Deine Haare, dein Hals. Alles an dir riecht nicht nach dir, sondern nach einer schnellen Nummer.«
»Ach Gott, und wie riecht sowas?«
»Billig.«
»Was soll das denn wieder heißen?«
»Das weißt du genau!«
»Das ist doch Blödsinn.«
»Alles an dir…«
»Wenn man feiern geht«, fiel er ihr ins Wort, »dann fällt man sich in die Arme, dann umarmt man sich. Wir sind nicht nur Kollegas, wir sind Freunde, und Freunde nimmt man in den Arm. Was ist daran so schwer zu verstehen? Man nimmt Freunde in den Arm!«
…
»Klar. Besonders die Freundinnen.«
…
»Da war nichts…«
»Du bist ekelhaft.«
»Nik…«
…
Er hatte jetzt keine Antenne für ihren Quatsch. Natürlich war es in Ordnung, eifersüchtig zu sein. Und sie hatte Grund dazu. Er sah heute richtig gut aus. Der Abend schien nur zu gelungen, ihn so enden zu lassen. Warum war sie überhaupt noch wach? Morgen Früh wäre er nüchtern genug gewesen, sich zu erklären und ein paar passende Worte zu finden. Aber in seinem Zustand? Mejor no! Wie viele Biere hatte er gehabt? Drei in dem Irish Pub. Eins vor der Tankstelle, die sie angesteuert hatten. Drei in der… Cocktail Bar. Sieben?! Und einen soundso Rum-Splitter. Was war da drin gewesen? Grenadine…!
»Du KANNST MICH mal!«
Sie drehte sich um, verließ das Wohnzimmer und stampfte die Treppe nach oben in den ersten Stock...
»Nikola, mach jetzt bitte keine Szene! Das ist doch… kindisch.«
Er war ihr ins Treppenhaus gefolgt und rief nach oben…
»Komm schon…!«
Irgendetwas hatte sie jetzt auf den Boden geworfen. Wahrscheinlich die Sporttasche... scheiß Kindergarten…
»Gut. Wie du WILLST…«
Er hickste, drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer…
Die Szene da oben, das würde nicht funktionieren. Die Sache würde eskalieren. Besser, er gab ihr ein paar Minuten. Oder schlief gleich auf dem Kanapee. Er würde noch kurz einen Blick auf die Kurse werfen. Dazu einen Absacker. Vor dem Laptop. Bis sie schlief. Billig…
Sein Magen rührte sich. Da war was. Und nicht der Alkohol. Irgendwas. Seit ein paar Tagen. Wahrscheinlich seine Laune…
…
»Glenlivet!« Er ging zum Barwagen.
***
Draußen im Dunkel, hinter den Panoramafenstern des Wintergartens, sah man Flocken rieseln. Es hatte in der Nacht begonnen zu schneien. Sie waren noch zusammen unterwegs gewesen. Er schwenkte den Scotch im Nosing Glas und setzte sich an seinen Schreibtisch. Hoffentlich ging das Theater morgen nicht wieder los. Warum glaubte sie ihm nicht? Seine Jacke? Sein Hals? Der Geruch? Daran hatte er nicht gedacht.
Unter seinen Fingern begann die Tastatur zu klappern. Die digitalisierte Plattform hinter der Trading App fuhr hoch. Linien formten sich zu Kursen. Zu Wertverkäufen und Anleihen. Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Bilder. Gesichter. Ein tiefer Blick. Ihr erstes Date huschte als Szene vor seinen Augen in seinen Bauch. Es fühlte sich komisch an. Das alles. Aber was sollte man tun? Was konnte man tun? Manches entzog sich dem Zugriff. Man musste die Menschen nehmen, wie sie waren. Und die Feste feiern, wie sie fielen. Der Geruch…
Er griff zum Glas und nahm einen Schluck.
Werbung ploppte auf am Bildschirmrand. Ein Wochenbart-Vater stand neben seiner Familie vor einem Baukastenhaus auf einer perfekt getrimmten, digital nachbearbeiteten Rasenfläche. Der Typ grinste so dämlich, dass es aussah, als hätte man ihm Teile des Hirns amputiert...
Wofür rechtfertigte er sich überhaupt?
Er war erwachsen.
Sie waren beide erwachsen…
Sein Blick kippte vom Bildschirm und verlor sich in den wandgroßen Fenstern des Glaspavillons. Billig... Er nahm noch einen Schluck. Und noch einen, und leerte das Glas, das er neben einem Stapel Geschichts- und Lifestylemagazinen abstellte. Für heute war es das. Bad... Zähne putzen. Eher nicht mehr. Er stand auf und stabilisierte sich…
…
Draußen fielen unzählige Flocken an der Scheibe entlang, denen er mit wackelndem Blick folgte, bis sie vom zarten Weiß der von einer kniehohen Solarlampe beleuchteten Terrasse geschluckt wurden. Die Woche würde es richtig dick kommen, hatte der Wettermensch gesagt. Schneechaos im Norden hatte es geheißen. Aber das betraf ihn nicht. Zur Firma hatte er es nicht weit und Fernaufträge standen die Tage nicht an. Mit nicht ganz sicherem Gang querte er den Wintergarten und griff nach der gefalteten Gästedecke. Er knipste das Licht aus und ließ sich auf die zweisitzige Boxspring-Couch fallen, die viel bequemer war, als sie aussah. Das Letzte, was er an diesem letzten Abend seines alten Lebens müde blinzelnd sah, waren Schneeflocken.
…
Ein Geräusch. Die Fetzen eines Traums. Irgendetwas war umgekippt. Carmen verblasste. Ihr Körper. Oder vom Schreibtisch gefallen. Er öffnete die Augen. Wie spät war es? Sein Rücken! Er hatte sich verlegen. Oder die Couch war doch nicht so bequem, wie er das vom letzten Mal in Erinnerung hatte. Und das war nicht lange her. Inzwischen verging kaum noch ein Tag ohne Beziehungsmist, den er zuvor nur von anderen Paaren und Serien gekannt hatte. Irgendwann vorletztes Jahr hatten sie das erste Mal gestritten...
Auf der Hochzeit ihrer Unifreundin... Er hätte zu lange mit der Doktorandin geschäkert, die bei ihnen am Tisch gesessen war. Den ganzen Abend. Sie hätte ihm dauernd Blicke zugeworfen. Hatte sie auch... Da war er Anfang dreißig gewesen. Ab Mitte dreißig ging es mit dem Körper bergab, hatten ihn seine älteren Kollegen gewarnt. Die Kater, der Schlafrhythmus...
Alles Schwachsinn. Er hatte sich nur verlegen. Draußen war die Dämmerung noch nicht angebrochen. Er zog seinen Arm aus der Decke und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach fünf. Blicke…
Ging es doch allmählich bei ihm los, dass er nach dem Trinken nicht mehr schlafen konnte? Musste die Zeit nach den Jahren der Uni und Ausbildung so rasend schnell vergehen?
…
Er richtete sich auf.
Durch die Fensterfront sah er, dass es die Nacht hindurch geschneit hatte. Der Garten, die Hecke, die Bäumchen strahlten in makellosem Weiß. Der Rücken! Es fühlte sich tatsächlich so an, als ob er mehr Schlaf vergessen konnte. Sein Magen zwickte... der Kopf war okay. Obwohl er gestern kein Wasser mehr getrunken hatte. Keine Mineralien. So oder so. Er würde sich über den Tag retten. Und müssen. Mit Kaffee. Langsam stand er auf, drückte das Licht an und suchte blinzelnd den Weg in die Küche zum Kaffeeautomaten. Ein Geschenk seiner Eltern.
Die Gestalt, die neben seinem Schreibtisch stand, hatte er nicht gesehen...
Gemahlene Bohnen rieselten in die Brühkammer. Die Hochdruckpumpe lief an und drückte Wasser über den Einlauf in die Kocheinheit. Geruchsstoffe lösten sich vom Kaffee und verteilten sich als Röstaromen um die Maschine. Ein belebender Duft zog ihm in die Nase. Er griff nach einer der Tassen in der Spülmaschine, die weder sie noch er gestern eingeschaltet hatte, und goss sich ein.
Mit schlurfendem Schritt bewegte er sich zurück in sein Büro im Wintergarten und wollte gerade den Ledersessel vom Schreibtisch ziehen, als er etwas auf seinem Platz neben den Geschichtsheften und Magazinen liegen sah. Etwas, das zwei oder drei Atemzüge Zeit brauchte, als Information den Weg in seinen Kopf zu finden.
Was… war das?
…
Er zog den Sitz zurück, setzte sich und wartete ein paar Augenblicke. Beinahe hätte er im Reflex nach dem Ding gegriffen, das da vor ihm lag. Ein Geschenk? Nikola hatte seinen Laptop und das Whiskyglas zur Seite geschoben und ihm etwas an den Platz gelegt. Eine gläserne Scheibe. Rund und flach. Einen knappen Zentimeter dick. Vielleicht so groß wie ein Frisbee. Eher etwas kleiner. Er beugte sich nach vorn...
…
Es sah so aus, als wären da kleine Pünktchen im Glas. Eingearbeitet. Licht. Er brauchte mehr Licht. Ohne seinen Blick von dem Ding zu nehmen, griff er nach dem Schalter der Tischlampe. Ein Klick und grelle Helligkeit beleuchtete seinen Arbeitsplatz - und für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl gehabt, durch das mit schwarzer Flüssigkeit gefüllte Objekt vor sich durch die Holzplatte des Schreibtischs zu sehen. Aber da waren nicht seine Beine gewesen. Und kein Fußboden...
Er kniff die Augen zusammen und beugte sich noch näher über die Scheibe. Jetzt waren da wieder die Punkte. Kügelchen. Manche waren kleiner als andere. Die Partikel im Dunkel unter dem Glas oder Plastik hatten, wie es aussah, unterschiedliche Größen. Manche waren mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. Wie Pfefferkörner. Andere so groß wie Stecknadelköpfe. Ihre Verteilung war nicht gleichmäßig. Einige waren näher beieinander als andere. Manche der Punkte schienen schwach zu leuchten. Einer der Stecknadelköpfe glitzerte bläulich. Neben einer Stelle, an der sonst nichts zu sehen war, schimmerte verschwommenes Rot. Ein Hauch von Karmesin. Das blaue Kügelchen sah er sich genauer an. Er griff noch einmal nach der Lampe und justierte den Lichtkegel…
…
Mit Bestimmtheit konnte er das nicht sagen, aber das Blau schien sich zu bewegen. Auf der Oberfläche der winzigen Sphäre. Ein Partikel löste sich von seinem Platz und wanderte langsam auf einer geraden Linie quer durch das Schwarz unter dem Glas. Als wäre er angestoßen worden. Auch der schemenhaft rötliche Bereich bewegte sich...
Ihm wurde schwindelig.
Er hatte das Gefühl, aus großer Höhe nach unten zu sehen. Das Teilchen, das sich eben einen neuen Platz innerhalb der Scheibe gesucht hatte, hatte sich auf eine Weise bewegt, die seiner Größe widersprach. Nichts, das so klein war, bewegte sich so systematisch. So gleichmäßig. Wie ein Flugzeug, das am Horizont seine Bahn zog.
Was hatte sie ihm da an den Platz gelegt? Sowas war nicht ihre Art. Und ein Geschenk konnte es nicht sein. Nicht nach gestern Abend. Sie musste nachts in seinem Zimmer gewesen sein...
…
Er hob die Hand und rieb mit der Fingerkuppe an der durchsichtigen Oberfläche der Scheibe. Unter der Haut, auf dem Glas, bewirkte der leichte Druck ein Leuchten. Teile des Gegenstands reagierten auf seine Hand. Der Bereich direkt unter seinem Finger schien Hunderte funkelnder Pünktchen anzuziehen. Er fuhr langsam über den Glasträger. Das Leuchten folgte seiner Bewegung. Ein Schein, der sich aus unzähligen Lichtquellen formte. Aber es schienen nicht dieselben Pünktchen zu sein, die seinem Finger folgten. Die alten erloschen und neue leuchteten auf, sobald sich sein Finger einem anderen Bereich der Oberfläche näherte. Er versuchte, eines der Pünktchen näher zu betrachten. Aber es war zu klein, um etwas erkennen zu können.
…
Er stand auf und holte sich aus dem Wohnzimmer die Leselupe, die er von einem Kunden als Werbegeschenk bekommen und nie benutzt hatte. Behutsam beugte er sich wieder über das Objekt und hielt die Linse der Lupe direkt über das Leuchten. Jetzt begann er zu erkennen, was die kleinen Lichtquellen waren...
Er rieb sich die Augen.
Der Schmerz in seinem Rücken war vergessen…
Da waren Bilder. Kleinste Bildchen, die sich bewegten. Wie Hunderte kleiner Fernseher. In den ersten der sich ausdehnenden Stecknadelköpfe war etwas zu sehen…
Weiß… Blau... Himmel. Grün. Wälder. Wolken. Sonne. Sterne. Wüsten. Berge. Himmel. Grün. Wieder die Wüste, wieder der Wald. Feuer. In einem der sich bewegenden Bilder brannte es...
Er ließ die Lupe sinken und versuchte, zu verstehen…
Er beugte sich wieder nach vorn und drückte zwei Finger gleichzeitig auf die Mitte des Gegenstands, der dort kaum wahrnehmbar breiter war als an den Rändern. Einige der Pünktchen waren jetzt mit Fäden verbunden. Mit kaum sichtbaren Linien. Er bewegte die beiden Finger auf dem Glas hin und her. Die Punkte schienen sich je nach Richtung und Berührung auf bestimmte Weise anzuordnen. Keinesfalls waren die Formen, die er da sah, zufällig. Eben hatte er seine Finger wie die Beine eines Schlittschuhfahrers bewegt und eine Art Trichter geformt. Die Wölbung seiner Gestalt bewegte sich auf Linien, die Punkte miteinander verbanden. Hunderte. Vielleicht Tausende. Blieb er mit dem Finger auf einer Stelle, schien sich der Bereich noch weiter zu vergrößern.
Ein Bild, das er nach wenigen Momenten unter der Lupe gefunden und vergrößert hatte, war deutlich auszumachen. Hielt er die Hand ganz ruhig, wurde es so groß, dass er die Linse nicht mehr brauchte, etwas zu erkennen…
…
Er sah Menschen. Um einen Festzug in einer Stadt. Da waren Fahnen oder bunte Stoffwimpel an sandfarbenen Gebäuden. Tausende säumten die breite Straße zu beiden Seiten. Da war eine Kirche. Ein Giebelfeld, Säulen. Ein Tempel…
274 minus
Er öffnete die Lider…
Es dauerte, bis er mehr als Konturen und Schattenrisse seines Büros sah. Sein Fuß fühlte sich sonderbar an. Beide Füße. Die Hände...
Als sich das blendende Hell von den Augen schob und in die Stirn wanderte, suchte er blinzelnd nach seinen Händen. Regungslos betrachtete er, was er sah…
Sinn oder Gedanken entzogen sich ihm in diesen allerersten Sekunden. Er begriff überhaupt nicht, was es war, was er da begann zu erkennen. Der Geschmack in seinem Mund. Der Geruch. Die Hände… das waren nicht seine Hände. Er räusperte sich, atmete und sog Luft in die Nase. Sein Herz pochte. Ein Armreif rutschte von seinem Handgelenk. Das waren nicht seine Hände. Er sprang auf…
…
Vor ihm stand eine Art Webstuhl. Hunderte Fäden zogen sich vertikal zwischen zwei Holzbalken, die mit Vogelmotiven verziert waren. Hektisch sah er sich um. Er war in einem gemauerten, nüchtern möblierten Zimmer, das aussah wie der Ausstellungsraum eines Bauernmuseums. Sein Herz begann zu rasen, sein Atem beschleunigte. Er stabilisierte sich... und starrte auf den Webstuhl. Dann auf seine Hände. Er spürte die Schläge in der Brust. Er riss sich vom Fleck und wankte auf ein kleines Fenster zu, das Licht ins Zimmer ließ. Da war ein Hinterhof...
Eine Bank stand neben zwei kleinen Olivenbäumchen. Die Mauer versperrte die Sicht auf den Ort, an dem er sich befand. Er drehte sich um und lief in einer Linie zur Tür des Raums, die aus massivem Holz gefertigt war. In einem Schrank daneben standen tönerne Figürchen. Mehrere Becher. Ein kleines schnabelförmiges Gießgefäß. Sein Blick kreiste ein letztes Mal durchs Zimmer. Da war ein Stühlchen. Ein Kinderstuhl. Und eine Sitzbank ohne Rückenlehne. Mit Armablage. Er hob den Riegel der rustikalen Tür und stolperte in den Raum dahinter…
…
Eine Frau, in eine altertümliche Robe gehüllt, saß da, die augenblicklich den Kopf drehte und ihn überrascht ansah: »Ton ergon pepaukas?« Der Mund stand ihm offen. Er stolperte weiter und an ihr vorüber durch eine offenstehende Tür, die den Weg in einen Korridor freigab. Mit schnellen Schritten ließ er den schmucklosen Raum hinter sich und trat durch eine Art Portal ins Freie…
Der Geruch. Was es auch war. Noch nie im Leben hatte er etwas Ähnliches gerochen. Für einen Augenblick stand er da und blickte an sich hinab. Seine Füße steckten in Sandalen. Er stand in einer sandigen Gasse, deren Untergrund mit Steinen befestigt war.
»Ton ergon pepaukas…?«
Die Frau in der Robe war hinter ihm in der Pforte und hatte etwas gesagt. Sie hatte mit ihm gesprochen. In einer Sprache, die er nicht verstand. Er schüttelte den Kopf. Immer noch stand ihm der Mund offen. Dieser Geschmack in seinem Mund. Die Zähne, der klebrige Speichel auf der Zunge. Der Geruch. Das waren nicht seine Hände und Füße. Das war nicht sein Körper…
…
»Ton ergon tetelekas?«
Für einen Moment starrte er das Mütterchen an. Ihr Alter war kaum zu schätzen. Sie sah aus wie siebzig. Wahrscheinlich war sie wesentlich jünger. Sie trug Schminke. Eine Katze schlich hinter ihr durch das Portal ins Innere des Gebäudes. Wieder schüttelte er den Kopf. Das Geräusch eines Dudelsacks traf sein Ohr. In der Gasse stand ein Mann, der in ein Instrument blies. Er hatte zwei Flöten gleichzeitig im Mund, deren Töne sich fremd und selbstgebastelt anhörten. Das alles konnte nicht sein... Was ging hier vor sich? Drogen! Er hatte gestern – da war nichts. Nur ein Kater, von dem er nichts mehr spürte. Die Frau machte einen Schritt auf ihn zu. Er wich einen Schritt zurück. Er halluzinierte. Der Flötenspieler trötete laut. Der Geschmack. Der Staub. Der Geruch. Er wandte sich von ihr ab und lief die Gasse hinab…
***
In einiger Entfernung sah er ein Monument. Eine Säule, die meterhoch emporragte. Schwarze Vögel kreisten um seine Spitze. Rechts und links über ihm blickten Balkone in das Sträßchen. Die Gebäude waren zweigeschossig. Unbemalte Fensterläden öffneten sich senkrecht zu den quadratischen Fenstern. An einer Brüstung im ersten Stock saß eine Möwe, die in die Gasse schrie. Drei Männer kamen ihm entgegen. In Uniformen. Oder Rüstungen. Eine Szene aus einer Geschichtsdokumentation. Der in der Mitte trug einen purpurfarbenen Brustpanzer. Das Material, aus dem er gefertigt war, war kein Metall, sondern verarbeitetes Leder. Ein gelber Löwe zierte den oberen Bauchbereich der Rüstung. Die Männer waren klein. Ihre Beine waren nackt. Sie liefen barfuß im Sand. Stumm und ausdruckslos bewegten sie sich auf ihn zu...
Der mit dem Löwenkopf hatte ihn jetzt bemerkt. Für einen Moment schien er ihn zu mustern. Auch die anderen beiden hatten ihn jetzt entdeckt. Ihre Blicke wanderten nach oben und unten an ihm. Er wendete sich ab und drückte sich in der engen Gasse an den Gestalten vorbei, die im Vorbeigehen die Köpfe drehten. Aus einer Tür linkerhand sprangen zwei Kinder. Er wagte es nicht, sich umzusehen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm hinterhersahen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lief er weiter…
Vor dem Obelisken, der etwa die Höhe einer Straßenlaterne maß, blieb er stehen. Die Gasse traf hier im rechten Winkel auf eine breitere Straße, die in einiger Entfernung wieder senkrecht zu enden schien. Die Straßen und Gassen schienen geometrisch angeordnet. Wie die Städte in Amerika. Wie Washington oder Los Angeles... Auf dem Reißbrett entworfen und als Schachbrettmuster angelegt. Und überall sah er Katzen. Dutzende… Fahrig betrachtete er den Steinblock vor sich, der auf dem Platz in der Kreuzung stand. Er war mit ägyptischen Schriftzeichen verziert worden. Falken. Augen. Kartuschen. Und er warf kaum einen Schatten...
Die Sonne stand über ihm...
Der Äquator…!
Er schwitzte. Die Haut kribbelte. Der Magen fühlte sich flau an. Er würde sich übergeben. Er hatte es schon vorhin gespürt, als ihm die drei Soldaten entgegengekommen waren - auch er war klein. Seine Eins-achtzig schienen in dieser subtropischen Fieberfantasie zu eineinhalb Metern zusammengeschmolzen. Wie ein Kind kam er sich vor. So nah am Boden. Am Staub. Am Pferdedreck auf der Straße. Die in antikisierende Kleidung gehüllten Leute um ihn waren von ebenso kleiner Statur. Ein Mensch von durchschnittlicher Körpergröße würde sie alle um eine halbe Kopflänge überragen. Aber ihre Gesichter. Die Körperhaltung. Ihre Handbewegungen... Etwas stimmte nicht. Irgendetwas schien falsch an ihnen.
Sie sammelten sich am Ende der Straße.
Dutzende. Hunderte. Die meisten in weiße Überwürfe gewandet. Einige hatten flache Hüte auf dem Kopf. Solche Hüte hatte er noch nie gesehen. Vor ihnen, in der Kreuzung, stieg Staub auf. Da waren Reiter. Auf Pferden. Der Geruch...
…
Er bewegte sich vorbei an kleinen Geschäften, in denen Waren unter Baldachinen angeboten lagen, und näherte sich langsam der Menschenmenge, die sich, wie er jetzt sah, an einer breiten Hauptstraße versammelte. Zu beiden Seiten war sie mit hohen Palmen bestanden. Schräg im Hintergrund sah er einen Tempel emporragen. Vier Säulen trugen einen Portikus, unter dem so etwas wie ein übergroßes Königsdiadem golden glänzte und eine Tür umrahmte. Die Stimmung schien aufgekratzt. Er konnte nicht erkennen, was es war, nach dem sich die vielen Menschen drängten, aber es musste ein Ereignis sein. Ein Spektakel. Er hörte Gesang. Die Masse schubste und drängelte…
…
Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die sich immer lauter gebärdenden Schaulustigen am Rand der Allee. Tausende mussten sich hier versammelt haben. Er stellte sich auf die Zehen und versuchte, die Straße hinab zu schauen. Aber da waren zu viele Köpfe. Durch die vorderen Reihen hindurch erhaschte er Blicke auf den Platz. Eine Art Umzug bahnte sich seinen Weg durch die Stadt...
Ein Junge im Vorschulalter saß auf einem Wagen an der Spitze des Festzugs. Er war unbekleidet und ganz mit weißer Farbe überzogen. Er trug Kopfschmuck.
Offenbar durfte man die festlich geschmückte Prachtstraße nicht betreten. Das Volk hatte auf den breiten Trot-toirs zu bleiben, die sich an den Rändern der gepflasterten Allee auf Ellenbogenlänge erhoben. Um das Kind herum knieten im Halbkreis drei junge Frauen, ebenfalls ohne Kleider...
Jetzt renkte er seinen Hals. Wieder war ihm der Blick versperrt. Der Wagen zog sofort die Aufmerksamkeit der anwesenden Männer auf sich. Die Menge um ihn jubelte und johlte, als wäre sie betrunken. Besonders die Jungen um ihn tobten wie bei einem Fußballspiel…
»Teoi soteres, teoi soteres« Wie von Sinnen schrie ihm ein Kerl von hinten ins Ohr. Er musste sich einen anderen Platz suchen. Mit vor der Brust verschränkten Armen begann er, sich einen Weg durch die Massen an Zuschauern zu bahnen... Gesichter. Augen. Pferde wieherten. Dieser Staub. Fähnchen oder Standarten bewegten sich über dem Geschehen hin und her…
Erst jetzt sah er, dass der Wagen mit dem Kind und den Mädchen nicht von Pferden, sondern von Menschen gezogen wurde. Die jungen Kerle wirkten nicht zu ihrer Arbeit verpflichtet. Sie schienen gern zu tun, was sie da taten. Er hatte einen Platz hinter ein paar Kindern gefunden, über deren Köpfe hinweg er dem Schauspiel auf der Straße folgte. Immer noch hatte er den fremden Geschmack auf der Zunge. Und Sand im Mund. Der Eindruck des wirren Geschehens, das da vor seinen Augen ablief, ließ ihn für wenige Augenblicke die unbegreifliche Situation vergessen, in der er fest-steckte. Worte und Begriffe entzogen sich ihm. Seine Gedanken rasten. Bilder formten sich und zerfielen zu Bruchstücken...
Es mussten Zehntausende sein, die sich hier versammelt hatten...
Das Pferd eines uniformierten Reiters entleerte sich auf der Straße. Träge fielen seine Exkremente auf das Pflaster. Militär. In purpurfarbene Umhänge gehüllt. Eine Einheit berittener Waffenträger folgte dem Festwagen mit dem weiß bemalten Kind. Unter ihren mantelartigen Überwürfen trugen sie eine Art Panzer aus gehärtetem, gefärbtem Leder. Wie die Männer in dem Gässchen. Ihre Kopfbedeckungen sahen sonderbar aus. Die Helme hatten oben eine Art Zipfel, der nicht nach hinten, sondern nach vorne zeigte. Bei einigen steckten zwei weiße Federn rechts und links der Auswölbung des metallenen Helms, der bei manchen hellblau, bei anderen rot bemalt war. Und alle hatten sie einen Speer zu ihrer Rechten, den sie mit festem Griff senkrecht hielten. Es mussten Hunderte sein. Soweit er sehen konnte füllten die Reiter die zunehmend in aufwirbelnden Staub gehüllte Straße. Die Sättel hatten keine Seitentaschen und keine Steigbügel. Das Haar der Pferde schien frisiert…
Er presste die Lider zusammen und versuchte, den Sand aus den Augen zu reiben. Die Geräuschkulisse um ihn herum wirkte mit geschlossenen Augen unwirklicher. Entrückter...
Was sangen diese Leute? Welche Sprache war das? Einzelne Silben klangen nach etwas, das er schon gehört hatte. Mit Nikola... im Urlaub? In der Ägäis…?
…
Hinter den lilauniformierten Reitern folgten weitere gezogene Wagen. Militärische Ausrüstung war auf vierrädrigen Karren ausgestellt. Manches davon in Überlebensgröße… die Lederpanzer, die er hier überall sah. Ein goldfarbenes doppeltes Füllhorn, neben dem ein Bewaffneter herlief, lenkte die Blicke der Menge auf sich. Das Jubeln hatte nachgelassen. Die badewannengroßen Kelche, Waffen und teils nicht zu identifizierenden Gegenstände auf den Wagen, die an ihm vorüberrollten, schienen nicht so zu begeistern wie der Wagen mit den nackten Mädchen...
…
Die der Menge präsentierten Stücke wurden immer bizarrer. Eine Götter- oder Herrscherstatue von mehreren Metern Höhe wurde von vier Elefanten gezogen, die so geschmückt waren wie Zirkustiere. Die Menge jubelte wieder lauter. Soweit er das sagen konnte, war das Kunststück, das die Tiere zogen, aus Gold gefertigt. Die in der Sonne glänzende Figur hatte Lockenhaar. Ihr Blick richtete sich in die Ferne, wach und ernst.
Bewusstsein fand den Weg zurück in seine Aufmerksamkeit. Er hielt das nicht länger aus… Mit suchendem Blick versuchte er, sich einen Weg zurück zu den Häusern am Platz zu bahnen. Aber es schien unmöglich. Hunderte Menschen hatten ihm inzwischen den Rückweg versperrt. Sein Herz begann wieder zu pochen. Das musste ein Traum sein… ein Alptraum. Eine dieser Nachtfantasien, aus denen es kein Entkommen gab. Die Bilder zogen an ihm vorüber. Farben. Lachende Gesichter. Schreiende Kinder...
Vor ihm, auf der Straße, flogen bunte Schnipsel von den Dächern der umliegenden Häuser. Die Menge tobte wie wild. Es dauerte einige Augenblicke, bis er verstand, was nicht zu verstehen war. Ein Goldphallus von der Länge eines Eisenbahnwagons, montiert auf dutzenden Rädern, wurde von grinsenden jungen Männern die Allee hinabgezogen. Ein ebenso langer silberfarbener Speer war unter dem eichenbaumgroßen Penis befestigt, Girlanden und Goldkränze waren um den Schaft des Riesenphallus gewickelt. Ein Stern aus Gold steckte horizontal in der Spitze der Eichel. Es war ein Traum. Er fantasierte. Unruhe oder Panik begann ihn zu schütteln. Er war gefangen in diesem Wahnsinn. In diesem geisteskranken Karneval…
…
Da stand ein Kind und sah ihn an!
Es war nicht zu erkennen, ob die kleine Gestalt, die sich zu ihm umgedreht hatte, Junge oder Mädchen war. Die Menge um ihn tobte. Eine noch viel größere Goldstatue wurde jetzt durch die Straße gezogen. Dem Kind schien der Kopf rasiert worden zu sein. Auch die Augenbrauen waren epiliert. Ohne zu blinzeln starrte es ihn an. Mit dem ernsten Blick eines Erwachsenen. Es schien darauf zu warten, dass er seine Aufmerksamkeit fokussierte. Es öffnete den Mund und sprach Worte, die vom Lärm der Menge verschluckt wurden. Seine Lippen bewegten sich auf und ab, wölbten sich, dehnten sich. Er sah die kleinen Zähne, die Spitze der Zunge. An der Hand seiner Mutter hielt ihm das kahlköpfige Kind mit feierlichem Ernst einen stillen Vortrag...
…
Die Aufhängung, auf der der Penis befestigt war, knarzte auf dem Straßenpflaster. Die Räder…
»… nicht!«
Die Stimme des Jungen oder Mädchen schien zu ihm durchzudringen…
»Mach es nicht!«
Er begann den Kopf zu schütteln. Die Welt um ihn verblasste und blendete aus. Ihre Farben. Gesichter und Formen zerbrachen und lagen in Scherben. Erbrochenes schwappte ihm aus dem Mund und tropfte zwischen fremde Füße. Seine Hände fühlten sich an, als würden sie leuchten.
»Ganz gleich, was sie dir anbieten…MACH ES NICHT!«
Ein grelles Licht zog ruckartig an seinen Armen und riss sie weg…
Der fremde Geschmack, der noch vor einem Wimpernschlag seinen Mund gefüllt hatte, war weg. Vom Bruchteil eines Augenblicks zum nächsten. Die Worte des kahlgeschorenen Kindes drangen jetzt zu ihm durch und waberten im Kopf...
Regungslos betrachtete er seine Hände… die Härchen auf dem Rücken der Hand. Die schemenhaft sichtbaren Adern. Die sorgsam gefeilten Nägel. Langsam hob sich sein Blick und wanderte durch den Raum. Sein Herz beschleunigte. Auch der Geruch war verschwunden. Es roch nach Kaffee. Immer noch. Die Digitaluhr auf dem Schreibtisch zeigte fünf Uhr sechsundzwanzig. Offenbar war sie stehengeblieben. Seit wann? Einer… halben Stunde? Einer dreiviertel -? Der digitale Minutenzeiger sprang um auf siebenundzwanzig.
Im Augenwinkel, Bewegung… der rieselnde Schnee.
Er roch seinen Atem. Den Kaffee. Der Puls… Die Zeit war stehengeblieben. Wie eingefroren. Während er weg war. Während er in dieses Glas gefallen war. Es hatte sich angefühlt, als wäre er in die Scheibe eingetaucht. Als wäre er in einen Pool gesprungen, ohne nass zu werden. Ohne das Wasser zu berühren. Mechanisch griff er nach dem Becher und nahm einen Schluck. Sein Morgenkaffee hatte die richtige Temperatur. Wie frisch aus der Maschine...
Was hatte das zu bedeuten? Was hatte er da gespürt, gesehen und gerochen? Er saß an seinem Schreibtisch mit offenem Mund. Eine Droge...
Ein Experiment…
…
Jemand hatte ihn da reingestoßen und beobachtet. Vielleicht ein Test. Seine Reaktion zu prüfen. Unmöglich hatte ihm Nikola das Ding auf den Platz gelegt. Vielleicht die Regierung. Militär. Wissenschaftler. Eine Behörde oder Körperschaft. Da waren Leute, die ihm zusahen… in diesem Augenblick… jetzt…
Atmen...
…
Rieseln.
Jemand war hier eingestiegen. In das Büro. In den Wintergarten. Jemand war vor dem Kanapee gestanden und hatte ihn im Schlaf beobachtet...
…
Das hier durfte nicht sein. Er erfand das alles. Er hatte sich übergeben. Den Boden unter den Füßen gespürt. Die Sohlen. Er hatte den Riegel der Tür angefasst. Ihn gefühlt. Das geschliffene Holz. Der Geruch aus einer anderen Welt. War es der Ort gewesen, den er dort gerochen hatte?
Die Frau…?
Das alles war nicht echt. Fehlzündungen des Gehirns. Ein Schlaganfall. Flimmernde Synapsen. Er starrte auf das flüssige Schwarz. Wieder hatte sich ein Pünktchen von seinem Platz gelöst und wanderte langsam durch den Glasträger. Der rötliche Bereich war jetzt fast verschwunden. Die Menge. Der Umzug. Die Figuren. Der Goldpenis…
…
Ein unbeschreibliches Gefühl schwappte ihm in den Bauch. Er war wirklich dort gewesen. In der Antike. Immer bestimmter wusste er das. Mit Geschichte hatte er beruflich nichts zu tun. Er war Ingenieur. Aber es war ein Zeitvertreib. Seit Kindheitstagen. Es waren die Illustrationen in den Bänden seines Großvaters gewesen. Der Bücherschrank. Die Geschichten von Königen und Hinrichtungen. Von Imperien, die im Sumpf der Zeit in die Vergessenheit gesunken waren.
…
Er stand auf, rieb sich die Stirn, nahm einen Schluck Kaffee und ging nach oben. Eine Dusche würde helfen, den Kopf freizuspülen. Sein Magen. Irgendwas zwickte im Bauch. Wahrscheinlich das Bier. Die kommenden Wochen würde er sich schonen. Die nächste Zeit.
…
Das haarlose Kind, das versucht hatte, ihm etwas mitzuteilen…
Es war ein Teil davon. Es war ein Teil der Sache, die hier lief. Und es hatte ihn warnen wollen.
***
»Wie hast du geschlafen?«
Keine Antwort. Sie antwortete nicht. Natürlich nicht.
»Nik? Wie hast du geschlafen? Entschuldige wegen gestern Abend. Ich war einfach…«
»Du kannst mich mal!«
Sie marschierte an ihm vorbei und verschwand im Wintergarten. Kurz darauf kam sie wieder, mit einem blauen Frotteetuch in der Hand. Sie legte das Tuch auf den Küchentisch neben einen Stapel benutzter Teller und Weingläser und ließ die Kaffeemaschine seiner Eltern warmlaufen.
»Ich muss mit dir reden.«
…
Seine Worte füllten die Küche...
Ohne ihn zu beachten, drückte sie den Knopf und bereitete sich einen dampfenden Americano. Unter der Dusche hatte er sich zurechtgelegt, was er ihr sagen würde. Wie er es ihr sagen würde. Aber er hatte wohl übersehen, wie schlecht gelaunt sie war…
»Hast du mir dieses Ding auf den Schreibtisch gelegt?«
Sie nippte an ihrem Kaffee.
»Heute Morgen lag da etwas auf meinem Arbeitsplatz. Ein Gerät… aus Glas.«
Ihr Blick war starr und ohne Interesse.
»Es ist so... du wirst mir das jetzt nicht glauben…«
Es war, als hätte er den Geruch der Stadt immer noch in der Nase. Den Geschmack dieser Frau...
»Ich bin… dieses Gerät hat etwas mit mir gemacht. Das Ding nutzt Technologie, die selbst ich nicht interpretieren kann. Ich könnte nicht einmal raten, nach welchem Prinzip der Motor oder das System funktionieren. Und du wirst mir das nicht glauben, aber…«
»Ich glaub‘ das jetzt nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Du bist doch nicht mehr dicht.«
»Nikola, ich…«
»Du fickst mit deiner Kollegin…«
Er hielt den Atem an...
»…und willst mir irgendwas von eurem Fancyscheiß aus der Arbeit erzählen?«
»Nik, ich habe nicht mit meiner Kollegin…«
Sie wurde laut…
»Du bist ein SCHEISSKERL! Aber ich habe verstanden, wer du bist! Ein fettes Kind bist du, das sich mit den Süßigkeiten der anderen Kids vollstopft… Gott, du kotzt mich an!«
Er sagte nichts…
…
Vielleicht hätte er sie in Ruhe lassen sollen. Ihr noch etwas Zeit geben…
…
»Sieh dich mal um hier! Es ist deine Woche mit der Küche. DU bist dran. Aber einen Scheiß interessiert dich das. Einen SCHEISS! Du fickst ja lieber Kolleginnen. Und Mann genug, das zuzugeben, bist du nicht… natürlich nicht… du Waschlappen!«
Ihre Stimme trug jetzt nicht mehr die Bestimmtheit ihrer Worte. Sie flatterte. Wahrscheinlich war das hier schon lange fällig gewesen. Und jetzt war es soweit und musste raus. Aber es fühlte sich furchtbar an. Sein schlechtes Gewissen schien sich den Weg in seinen Magen zu bahnen. Vielleicht hatte er sie unterschätzt. Ihre Auffassungsgabe. Ihre Gefühle. Ihre berechtigte Sicht der Dinge. Am liebsten wäre er aus der Küche gelaufen…
»Wie du dastehst.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sag was!«
»Ich…«
…
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Der Mund stand ihm offen. Und es schien nicht machbar, ihn zu schließen. Er schluckte trocken. Und blieb still. Was konnte man da sagen? Da war keine passende Antwort. Keine Worte oder Phrasen, mit denen er die Situation, in der er steckte, hätte entschärfen können. Er versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Aber es lief weiter. Immer weiter. Das Leben. Diese Szene...
»Waschlappen!«
…
Das war er… ein Feigling. Am liebsten hätte er sich für diese Wahrheit geohrfeigt. Er wollte kein Feigling sein. Kein Mann wollte das. Aber das Ding auf seinem Tisch. Seine Situation. Das jetzt war nicht der richtige Augenblick…
Ihr brünettes Haar fiel seitlich auf die Schultern und ihre dunklen Augen zeigten kein Verständnis. Keine Geduld, die Sache aus der Welt zu schaffen. Sie war nicht in der Stimmung für Kompromisse…
»Du kannst deinen Scheiß ab jetzt alleine machen!«
»Nik!«
»Wir beide sind miteinander fertig.«
»Mach das nicht…!«
Er hatte immer gewusst, dass so ein Morgen kommen konnte. Eine mathematische Wahrscheinlichkeit. Aber er hatte sich nicht darauf vorbereitet. Nie ernsthaft darüber nachgedacht. Und es war nicht befreiend. Es war eine Katastrophe…
…
Was war so schwer daran, kein Feigling zu sein?
…
»Ich ziehe zu meinen Eltern.«
Sie meinte es ernst. Ein enges Verhältnis zu seinen zukünftigen Schwiegereltern hatte er nicht gehabt. Vielleicht würden sie sich freuen. Bestimmt war es Wasser auf die Mühlen ihrer Mutter. Außer mit Höflichkeiten und Banalem hatte er sich nie mit ihr ausgetauscht…
Ein Musterhaus. Ein grinsender Vater. Eine Familie, die auf einem mit künstlicher Intelligenz begrünten Rasen stand. Und doch war der Gedanke beunruhigend, sie alle nicht mehr zu treffen. Trotz des stundenlangen Geredes über Familiengeschichte und Verwandte, die er noch nie gesehen hatte und auch nicht sehen wollte. Ihre Welt, die sie um sich hochzogen…
»Eigentlich warst du nie wirklich für mich da.«
…
Sie ging langsam zur Tür. Über ihre Schulter drehte sie sich zu ihm um: »Was geht dir jetzt durch den Kopf?« Sie sah ihn an. Weniger vorwurfsvoll als zuvor...
»Die Arbeit? Euer Projekt…?«
Er bewegte kaum merklich den Kopf.
»Oder die Kollegin von gestern? War es Carmen?«
Er sah ihr in die Augen… und er konnte nicht anders. Der Moment fand sein Momentum. Die Wucht des Augenblicks. Sie war so schön, wie sie dastand. Und sie hatte eine Antwort verdient.
»Ja.«
Nichts in ihrem Gesicht bewegte sich. Sie blieb völlig ungerührt. Sie hatte nicht gepokert. Sie hatte es gewusst…
»Das erste Mal ehrlich.«
Sie drehte sich um und ging aus der Küche. Die Treppe nach oben und ins Schlafzimmer. An ihren Schrank. Und er wusste, dass es das gewesen war. Für immer. Nicht ihre Worte, der Blick. Sie hatte mit ihm abgeschlossen. Mit ihrer gemeinsamen Zeit. Und sie würde weiterziehen. Zu einem anderen, besseren Mann. Und den hatte sie verdient. Einen anständigen Kerl, der ihr die Aufmerksamkeit schenkte, die ihr zustand. Der sie nicht belog und immer neue Lügen erfand. Aber so würde es nicht kommen...
…
Fast eine Stunde war er dagesessen und hatte auf das gläserne Ding gestarrt. Wie ein Kind auf ein Computerspiel. Gebannt und fortgerissen. Das Zimmer, der Schnee, das weiße Rieseln draußen waren fern und ausgeblendet. Nur die Gedanken an Nikola ließen sich nicht unterdrücken. Ihre Worte...
…
Die Pünktchen im Glasträger funkelten wie Sterne. Hunderte kleiner Lichtchen sammelten sich unter seinem Finger. Welche unmögliche Physik steckte hinter dieser Kleinstteilchenmechanik? Dieser flüssigen, glitzernden Welt? Wie der Blick durch ein Mikroskop in den Kosmos. Inzwischen hatte er den Kniff heraus, die kleinen Fernseher so zu vergrößern, dass man deutlich erkennen konnte, was im Bild zu sehen war. Und er begann zu verstehen, was da vor ihm auf seinem Schreibtisch lag. Die winzigen Animationen schienen Öffnungen zu sein. Durchgänge. In die Vergangenheit...
Er vergrößerte ein Bildchen. Einen in schwarzen Qualm gehüllten Ort…
Bunt uniformierte Menschenformen lagen auf einem Feld in niedergetrampeltem Gras. Unbewegt und im Grün versunken. Die Bäume um den überwachsenen Acker mit den verstreuten Toten standen in Flammen. Ein unmöglicher Gedanke war ihm gekommen. Sein Körper reagierte, seine Pupillen weiteten sich…
Was, wenn er in die Vergangenheit greifen konnte? Er war Ingenieur. Ein Mann vom Fach. Maschinen und Apparaturen erfüllten einen Zweck. Sie wurden konstruiert, Arbeit zu erleichtern oder Produkte herzustellen. Und je größer der Aufwand und die Kosten, einen Apparat zu entwerfen und zu bauen, desto höher die Erwartung an ihren Ertrag. Was, wenn dieses unheimliche Ding ihm deshalb in seinen Wintergarten gelegt worden war, weil er produzieren sollte? In das Geschehen eingreifen? War ihm Verantwortung übertragen worden?
Fernes Rieseln… Nikola…
Er vergrößerte ein anderes Fenster…
Ortschaften ohne Fahrzeuge und ohne Beleuchtung. Dörfer und Weiler. Umwachsen von Urwald. Baumriesen und Laubwald, die nicht gepflanzt worden waren. Da waren Flüsse, naturbelassen, Auenlandschaften, noch nicht überformt von Menschenhand.
Ein anderer Miniaturfernseher zeigte die Silhouette einer frühindustriellen Stadt. Ein grauer Kirchturm war zu sehen. Ein Pferdegespann mit Kutscher auf dem Bock. Die Einfallstraße schien aufgeweicht vom Regen. Im Himmel standen schwarze Rauchsäulen, die aus Schloten so hoch wie Türme quollen. Nicht weit davon graste Vieh. Ein Panorama der Transformation. Das Heraufziehen der Moderne war in ein kleines Bild gesperrt worden… für ihn.
Für einen Spaziergang…
In seiner Arbeitsgruppe hatte er seit Monaten das Controlling übernommen. Er hatte Maschinen vernetzt und eingebunden in ein System, das Millionen wert war. Geräte waren versetzt und ausgerichtet worden, die so viel kosteten wie ein Bugatti. Der Auftrag, die Betriebsabläufe des Kompressionsbekleidungsherstellers und Prothesenbauers zu ökonomisieren, warf Geld ab. Viel Geld. Dutzende Arbeitsschritte waren in Reihe geschaltet worden, damit Bandagen und Orthesen kostensparend bis zur Deadline in markierte Behälter purzelten. Roboter griffen mit ihren Armen hinter Schutzglas nach Bauteilen, die sie mit Präzisionsbewegungen formten oder stanzten. Eine komplexe Anlage, die fachmännische Wartung und Bedienung erforderte. Und eine der ersten Lektionen, die man in seinem Job lernte, war, dass man keine Anfänger an teure Geschäfte ließ. Oder neue Geräte. Schäden waren kostspielig und hießen Produktionsstillstand. Verzögerung. Stornierung. Preisnachlässe. Nachverhandlungen und Reputationsverlust. Anfänger brauchten Instruktionen, Handlungsanweisungen und Zeit. Sie brauchten Führung und Einführung. Nichts davon hatte er bekommen.
…
Er hob den Blick und starrte in das Schneetreiben.
Wenn seine Interpretation und Vermutung stimmten, dann war das Glas vor ihm unbezahlbar. Und es war gefährlich. Man konnte Diktatoren töten, ohne Spuren zu hinterlassen… und Kaffee trinken. Man könnte…
Aber konnte er das?
Es durfte unmöglich an ihm sein, den Lauf der Welt zu verändern. Die Vergangenheit zu gestalten… und damit die Zukunft. Derjenige, der ihm dieses Ding vergangene Nacht ins Zimmer gelegt hatte, hätte das selbst tun können. Er hätte in die Zeit gehen und die Welt formen können. Warum hatte er das nicht selbst getan? Oder…
Hatte er?
Ein Vogel hüpfte durch die Flocken im Garten und steckte sein Köpfchen ins Weiß...
War die Welt, das Schicksal, das Leben, wie man es kannte, der Gang der Geschichte ein Werk von Leuten, die durch die Zeit gingen? Aber warum gab es dann Kriege und Völkermord? Seine Überlegungen wurden fahrig…
Was würde er jetzt tun?
Nikola war aus dem Haus. Sie würde irgendwann nach der Arbeit vorbeikommen und wortlos ein paar Sachen holen. Ihren Hygienebeutel, Unterwäsche, ein paar Hosen. Ihre Schlupfhausschuhe. Eigentlich hatte er die Dinger immer gern an ihrer Bettseite stehen sehen. Wenn sie sie anzog und ihr das dunkle Haar ins Gesicht fiel. Er würde sie vermissen. Es waren nur Schuhe, aber…
Schnee wirbelte gegen das Fenster…
Den Vormittag würde er genug Zeit haben. Wenigstens fünf Stunden. Um eins war ein Termin. Ein Meeting. Bila, online. Das würde er wahrnehmen. Natürlich…
Sein Bauch kribbelte. Er wurde unruhig. Mit seinen Fingern suchte er die Oberfläche des Glasträgers ab. Manche Pünktchen entzogen sich seiner Berührung. So, als wären sie gesperrt worden. Andere ließen sich ganz leicht anwählen und vergrößern. Einzelne schienen sich sogar anzubieten. Sie folgten der Fingerkuppe und verharrten unter den hinterlassenen Abdrücken...
Nach welchen Kriterien wurden die Bilder ausgewählt? Der Fluss der Pünktchen folgte einem System, das sich ihm entzog. Und warum nur die Vergangenheit? Warum keine Filmchen vom Ende des Jahrhunderts? Oder Jahrtausends? Warum keine Luftstraßen oder Wolkenstädte?
Wo war die Zukunft?
…
Das Kind! Er würde ein anderes Kind finden. Und er würde es fragen. Nach seiner Aufgabe...
…
Eines der Lichtlein klebte jetzt an seinem Finger.
Es funkelte wie ein winziger Diamant.
Er vergrößerte das Bild.
…
Der kleine Fernseher zeigte eine Stadt an der Küste.
Türkisblaues Meer reichte bis an den Horizont. Er sah Schiffe. Mit unzähligen Rudern zu beiden Seiten. Die kleinen Segel der Trieren waren zusammengefaltet. Auf der hoch über der Wasserlinie ragenden Mauer wehte Qualm. Menschen bewegten sich entlang der mit Zinnen eingefassten Wehrgänge. Irgendetwas spiegelte. Sonnenlicht reflektierte von einem der Türme zurück aufs Wasser. Auf die Schiffe…
War es das, was er sich ansehen sollte? Er sollte in diese Stadt springen? Die Haare auf seiner Hand standen ab wie elektrisiert. Was, wenn er sich dort verletzte? Wenn man ihn angriff? Den Körper, in den er schlüpfte. Seine Finger drückten aufs Glas. Was sonst hätte er tun sollen? Die Neugier runterschlucken und sich ein Frühstücksei kochen? Er war Freizeithistoriker. Er war Ingenieur. Und er war kein Feigling…
212 minus
Helligkeit bohrte sich ihm in die Augen. Eine bunt irisierende Lichtspur schoss durch seinen Kopf. Pünktchen in allen Farben des Spektrums wirbelten vor seiner Pupille und wurden vom Sonnenlicht eines zweitausendzweihundert Jahre alten Tages verbrannt. Bilder formten sich. Konturen gewannen an Gestalt. Schatten bewegten sich. Ihre Arme und Beine. Er suchte nach Gesichtern...
Für einen Moment stand er da und rührte sich nicht.
Menschen drückten sich an ihm vorbei. Viele hatten etwas in der Hand. Manche trugen Decken. Andere hatten Körbe. Eine junge Mutter trug einen Säugling. Sie sah besorgt aus. Sie alle wirkten gehetzt und beeilten sich, die Kolonnade zu durchschreiten, zwischen deren Säulen er stand.
Er hob seine Hände...
Die Hände eines Mannes. Dicht behaart. Kräftig. Er sah sich um. Gab es einen Impuls? Warum dieser Körper? Und spürten sie es? Spürten sie, dass jemand ihren Körper stahl und die Kontrolle übernahm? Über ihre Motorik. Was war mit seinem eigenen Körper? Saß er jetzt still und unbewegt vor seinem Schreibtisch? Oder bewusstlos vornübergefallen? Mit dem Gesicht auf dem Tisch. Was wäre, wenn Nikola jetzt nach Hause kam? Wenn sie ihn ansprach und an ihm rüttelte? Was, wenn sie den Notarzt rief?
…
Jemand rempelte ihn an und stürzte weiter...
Sie schienen vom Hafen zu kommen. Von dort, wo er den Rauch hinter den Dächern der Häuser sah. Auf dem Display hatte er aus der Drohnenperspektive eine Art vorgelagerte Insel gesehen. Eine Festung innerhalb der Stadt. Und es stimmte. Er war in der Vergangenheit. Wieder. Die Sprachfetzen, die er hier aufsammelte, waren Griechisch. Er sprach kein Griechisch. Schon gar kein Altgriechisch. Aber das hier war die alte Welt des Mittelmeers. Sizilien war lange hellenisch gewesen. Seine Städte. Seine Architektur. Seine Kultur…
Bis es von den landhungrigen Römern gefressen wurde. Im Kampf gegen… Karthago.
Wieder hatte ihn jemand am Rücken berührt. Ein Mädchen, das wie alle hier ihre Arme beladen hatte. Er sah ihr hinterher…
