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Winter- die Zeit der langen Abende mit den Bedürfnisse nach Nähe und Wärme. Im Kreis der Familie, mit Freunden und besonderen Geschichten. Für die einen ist es die zauberhafte, fromme Zeit im Lichterglanz. Für die anderen, ist es die Zeit der Angst vor dem Unbekannten, der Kälte und Dunkelheit. Mit großen Gefühlen, Erinnerungen und Erwartungen; bei Kindern, Fremden, Ausgestoßenen und Alten.
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Seitenzahl: 105
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Winter-die Zeit der langen Abende mit den Bedürfnisse nach Nähe und Wärme.
Im Kreis der Familie, mit Freunden und besonderen Geschichten.
Für die einen ist es die zauberhafte, fromme Zeit im Lichterglanz.
Für die anderen, ist es die Zeit der Angst vor dem Unbekannten, der Kälte und Dunkelheit.
Mit großen Gefühlen, Erinnerungen und Erwartungen; bei Kindern, Fremden, Ausgestoßenen und Alten.
Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget und voll mit wilden Rosen das Land in den See Ihr holden Schwäne; und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser
Weh mir, wo nehm‘ ich wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein und Schatten der Erde? Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen
Friedrich Hölderlin
zur WINTER - und
WEIHNACHTSZEIT
KERZEN
Ist hier noch Platz? Ich zünde Kerzen In die Ecken und in deinen Augen Weite Herzen stecken an Sind irgendwo noch Stellen aufzuhellen? Durch blaues Licht fällt Schnee auf eine Schicht
Ein Warten ist es nicht Vielmehr Bereitschaft Oder Zuversicht
Peter M. Röhm
EMANZIPATION
JÜPP
DER KOMMUNIST
24. DEZEMBER 1969
FROHE BOTSCHAFT
WINTER 1938
NACHTWANDERUNG
SILVESTER 2016/17
NEUJAHR
DER TÄNZER
LINIE 4
CHANUKKA
TOURETTE
HEISSE SCHOKOLAD
CHE VITA
HEIMWEH
ALTENHEIM
Lorenz Schmitz ist ein stolzer Name. Wer heißt schon so? Gut, in Köln gehört der Name Schmitz zum Hochadel, doch ihren Sohn Lorenz zu nennen, wo sie selbst auf den Namen Ännchen hört und ihr Mann kein Lorenz Senior ist, verwundert schon. Niemand fragt nach, hebt höchstens ein wenig die Augenbraue, wenn der Name Lorenz fällt. Erst als aus Lorenz ein Lori wird, ist es besser. Lori ist klein und kompakt, der stämmige Körper ruht auf kurzen stämmigen Beinen. Der Hals ist zu kurz für den mächtigen Kopf, aber sein Lächeln, das fast von einem Ohr bis zum anderen reicht und mehr ein Grinsen ist, macht aus ihm einen äußerst sympathischen Jungen, dessen Schüchternheit im Allgemeinen die Herzen der Damen aus der Nachbarschaft in Entzückung geraten lässt. > Ach wie niedlich, der kleine Kerl aus dem Erdgeschoss<, ist dann zu hören. Und es ist
nicht sicher, wie Lori das sieht.
Lori wohnt im gleichen Haus wie Hilde. Ihre Wohnungen liegen sich im Erdgeschoss gegenüber, also vis-a-vis. Sechs Familien wohnen in den Etagen darüber. Schönes dunkles Holz der breiten Treppenstufen und verhaltenes Licht aus einfachen Glühbirnen wirken majestätisch und auch ein wenig unheimlich. Es ist immer leicht dämmrig im gesamten Treppenhaus, der perfekte Schutz für die Kinder, die möglichst leise und unauffällig mit klopfendem Herzen die Stufen hinaufeilen und keinem Hausbewohner begegnen wollen. Den Jubel noch unterdrückend und mit einem herrlichen Lustgefühl, rutschen sie auf dem blank geputzten Handlauf bis zur eigenen Wohnungstür hinunter. Hier erst lassen sie dem Jubelschrei freien Lauf, hier ist ihr Terrain, wo niemand etwas zu sagen hat.
Sie sind gute Freunde, Lori und Hilde. Sechs Jahre alt sind sie und warten auf den baldigen Eintritt ins erste Schuljahr. Dass Hilde einen Kopf größer, schlanker und beweglicher als Lorie ist, fällt nur den Erwachsenen auf. Wissend tauschen sie sich untereinander aus, >das gibt sich noch irgendwann, spätestens in der Pubertät macht Lori einen Schuss und wird ein strammer Lorenz.< Was immer das zu bedeuten hat. Den Kindern ist es egal.
Was Hilde nicht so egal ist, ist das Spiel mit der elektrischen Eisenbahn. Das Geschenk, das vor einigen Jahren unter Lori’s Weihnachtsbaum gelegen hatte, findet ihre größte Bewunderung. Eine elektrische Eisenbahn, deren Schienennetze zu jedem Geburts- oder Namenstag, zu Ostern oder auch außerhalb der Reihe vergrößert wurden. Zubehör wie Halteschilder, Wartehäuschen, kleine Häuschen mit roten Dächern, Bäume, Zäune, Figuren, Ampeln, Trillerpfeife und Schaffnertasche sind Lori ́s ganzer Stolz .
Lori ist der Besitzer und er hat das Sagen. Er bestimmt, wohin die Reise geht, wer ein- und aussteigt; die Trillerpfeife betätigt er allein und sogar einen Unfall verursacht er selbst. Der halbe Wohnraum ist mit der Anlage ausgefüllt und wandert turnusgemäß am Wochenende zwischen den Wohnungen hin und her. Die Kinder sind beschäftigt, es dauert seine Zeit, bis alles so aufgestellt ist, wie Lori es für richtig hält. Hilde ist der Handlanger, sie reicht Schienen an, stellt die Häuschen zu einem Dorf zusammen und darf nach getaner Arbeit, mit ihrer Puppe auf dem Schoß, am Rande der Schienen sitzen und den vorbeifahrenden Zügen winken. Lori hat das Kommando, mit hochrotem Kopf verfolgt er was auf den Schienen passiert, rangiert die Waggons, hebt Verunglückte wieder auf das Gleis und beobachtet, dass der Lokführer die Verkehrsregeln beachtet. Er bedient die Trillerpfeife und ahmt die Geräusche der Dampflok mit aufgeblasenen Backen und pustenden Geräuschen nach.
Hilde sitzt brav mit Puppe Peter und betrachtet erst aufmerksam, dann immer müder werdend, das Geschehen. Es ist ihr langweilig und schmeichelnde Worte mit der Bitte, die Plätze doch einmal zu tauschen, werden mit großer Entrüstung abgewiesen. Mädchen als Lokführer, wo gibt es denn so etwas. An jedem Wochenende schöpft Hilde neue Hoffnung, doch vergeblich.
Die Adventszeit verändert alles. Am Samstag vor dem ersten Adventssonntag werden die ersten Weihnachtsplätzchen gebacken. Hildes Mutter bereitet den Teig zu, legt die Backförmchen darauf, rührt die Schokoladenglasur und verzaubert die Küche in ein Paradies mit Leckereien und Gerüchen. Vanillekipferl, Spritzgebäck, Zitronenguss und Schokostreusel locken Lori wie einen schleichenden, hungrigen Löwen in die Küche. Seine Augen glänzen und die Finger in all die Leckereien zu stecken, ist die größte Versuchung.
Die Eisenbahn ist schon aufgebaut und Hilde wird ungeduldig. Sie weiß, was heute passiert. Jedes Jahr das Gleiche.
> Komm Lori, lass uns anfangen<, ihre bittende Stimme scheint Lori nicht zu hören.
>Komm Lori, worauf wartest du?< Hilde drängt, freut sich und ist bald am Ziel. Die Mutter lächelt und seufzt gleichzeitig:>Eigentlich bräuchte ich eine Hilfe, aber schade, Hilde spielt viel lieber mit Lori.< Sie steckt ein etwas missglücktes Sternchen aus Teig in den Mund und macht den Backofen an. Lori verlässt langsam die Küche, sieht Hilde mit der Puppe auf dem Boden sitzen. Die startbereite Eisenbahn lockt heute gar nicht. Dem Duft aus der Küche kann er nicht widerstehen und der Blick dort hinein lässt ihm keine andere Wahl. >Hilde kannst du mich heute vertreten, ich muss deiner Mutter in der Küche helfen. Plätzchen zu backen ist sehr anstrengend, aber für mich kein Problem, ich mache das wirklich gerne.< Geschafft, es ist so weit und Hilde unterdrückt die au’ommende Freude, schaut Lorenz mit verständiger Miene an.
Mit >Ich verstehe, geh nur<, wird sie in den nächsten Stunden endlich die Leidenschaft für die Eisenbahn ausleben können. Jetzt ist sie der Lokführer, der Weichensteller, der Fahrkartenkontrolleur und Herrscher über die Welt der fahrenden Züge. Sie liebt das Geräusch der kleinen Räder, wenn sie über die Schienen sausen. Sie lässt zwei Waggons aneinandergeraten und behebt den Unfall. Sie fährt schnell und langsam, pfeift an den Haltestellen und stellt die Fahrscheine aus. Hilde ist in ihrem Element, was Lori kann, kann sie schon längst. Und Lori?
Der hockt in der Küche, trägt ein kariertes Küchentuch als Schürze, dreht den Teig durch den Wolf und sticht Herzen und Sterne aus dem ausgerollten Teig. Seine Wangen glühen, der Mund ist verschmiert vom Probieren des Zuckergusses und der Schokoladenstreusel. Er füllt die fertigen Plätzchen in die Blechdose und beobachtet den Teig im Backofen. Lori hat genug zu tun und schafft alles mit einem höchst vergnüglichen Lächeln.
Und dann ist da noch der andere Bruder, der kleine dickliche, ein wenig tollpatschige, mit einem runden Kopf auf einem zu kurzen Hals. Mit spärlichen Haaren, immer roten Wangen und der Nase wie eine Kartoffel. Die Hände sind kurz, die Finger wie kleine Würstchen und seine Stimme wie die eines Brummbären. Das ist Josef, genannt Jüpp. Jüpp ist anders, er versteht vieles nicht, er ist einer, zu dem man sagt: „Armer Kerl, schade, ist etwas zurückgeblieben.“
Den jüngeren Bruder mögen die Geschwister und kümmern sich auch um ihn. Sie besuchen ihn regelmäßig und sind erstaunt, dass er trotz des Defizits in der Lage ist, ein selbstständiges Leben zu führen; Jüpp fällt niemandem zur Last und ist stets gut gelaunt. Dieser Umstand macht es der Familie leicht, mit der Behinderung des Bruders fertig zu werden. Die Hauptsache ist, dass Jüpp ruhig bleibt und keine Ansprüche stellt. So wie er ist, so gehört er dazu.
Tag für Tag ist er an der frischen Luft, das ist gut für seine Gesundheit, krank war er noch nie. Er arbeitet auf dem Friedhof, hilft den Gärtnern, die Gräber der Toten zu richten. Genau der richtige Job für ihn, die Toten wird er nicht erschrecken können. Pünktlich um zehn Uhr morgens verlässt er sein Zuhause und macht sich auf den Weg zum Friedhof. Dass seine Arbeit eigentlich um zehn Uhr schon beginnt, versteht er nicht. „Ab zehn Uhr werde ich bezahlt, also gehe ich pünktlich um zehn Uhr aus dem Haus“, so seine Erklärung, die mit einem Lächeln toleriert wird.
Einmal im Monat treffen sich die fünf Geschwister im Elternhaus. In Bickendorf. Hier gehört es zur Tradition, gemeinsam miteinander zu singen. Die Musikalität scheint ein Erbe der Eltern zu
sein, denn die Stimmen hören sich geübt an, sind gleichermaßen rein und klar. Ein mehrstimmiger Satz klingt ohne Weiteres harmonisch und in der Weihnachtszeit geradezu himmlisch.
Jüpp, natürlich mit der
Bassstimme, wundert sich, dass er und Mariechens glockenheller Sopran sowie Willis strahlender Tenor von Loni, der die vollkommene Harmonie wichtig ist, gebremst wird.
Das Herz ist bei jedem Lied dabei und die mittlerweile angeheiratete Verwandtschaft sichtlich berührt. Mit leisem Summen und anerkennenden Blicken sitzen sie dabei und staunen. Auch den Kindern gefallen diese Nachmittage. Ob es an der Musik oder an der warmherzigen Gesellschaft liegt, sei dahingestellt.
Vor den Füßen der Eltern sitzen sie auf dem Fußboden, bereitwillig, die Melodien und
Texte zu lernen. Dass sie zwischendurch kichernd die Hände vor den Mund oder die Finger in den Ohren halten, wird ihrem jungen Alter zugeschrieben.
Anna sitzt in respektvoller Entfernung zu Jüpp. Sie hat den Onkel und ihren Vater genau im Blick und kann, wie so oft, nicht glauben, dass die beiden Brüder sind. Zu unterschiedlich sehen sie aus.
Da ist der Vater, mit dem sie Spaß hat, mit dem sie lachen und singen kann, in dessen Nähe sie sich glücklich und geborgen fühlt. Der ihr keine Angst einflößt und sie nie enttäuscht hat. Und daneben Jüpp. Dieser Mensch, den sie einfach nicht mag. Der ihr, trotz des rosigen Gesichts, dunkel und böse vorkommt. Dessen polternde Stimme ihren Ohren wehtut und dem sie ihre Hand zur Begrüßung verweigert. Das breite Lächeln, die übergroßen Zähne im Mund unter der Kartoffelnase würden ebenso gut zum bösen Wolf bei
Rotkäppchen passen. Und ausgerechnet dieser Mann, Jüpp, ist ihr Patenonkel. Bestimmt eine Idee der frommen und sozial veranlagten Mutter.
Und jetzt hat Anna ihn am Hals. Sie muss sein Lächeln und den Stolz in seiner Stimme ertragen, wenn er versucht, ihre Haare zu tätscheln und dabei brummt: „Das ist mein Patenkind Anna.“
Zum Glück beschränken sich die Treffen mit Jüpp, bis auf die sangesfreudigen Nachmittage, nur auf Weihnachten. Dann will er weg von den Toten und unter den Lebenden sein. Dann wünscht er sich den Besuch bei seinem Patenkind.
Die Mutter schaut ungläubig, als sie auf Annas Wunschzettel >Weihnachten ohne Jüpp!< Für die Eltern ist es selbstverständlich, dass der einsame Jüpp den Heiligen Abend bei ihnen verbringt. Nicht so für Anna! Der schönste Tag im Jahr mit
einem brummenden Onkel, niemals. Jedes Jahr der gleiche Kampf. Weder der mit Kerzen, roten Kugeln und silbernem Lametta geschmückte Tannenbaum, noch der Weihnachtsduft von Marzipan, Lebkuchen und Hyazinthen oder die Geschenke würden das Dilemma dieses Besuches verdrängen können.
Der Gedanke an die Anwesenheit des Onkels schmerzt tatsächlich. Die um Verständnis flehenden Blicke zum Vater schaffen es schließlich, den Besuch vom Heiligen Abend auf den ersten Feiertag, ab dem Mittagessen zu verschieben. Die Mutter schüttelt den Kopf. „Das ist nicht der Sinn des Weihnachtsfestes, das ist nicht christlich. Dem Kind in der Krippe würden diese Gedanken nicht gefallen.“ Anna überschlägt ab sofort in der Geschichte der Heiligen Nacht die Stelle „... und sie fanden keinen Platz in der Herberge.“
