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Inmitten von Weihnachtslichtern die großen Gefühle im winterlichen New York erleben mit dem neuen Roman der Bestseller-Autorin Mary Kay Andrews Kerry's Familie besitzt eine Weihnachtsbaumfarm in North Carolina, doch als sich ihre Eltern scheiden lassen, wird die Familie früh auseinandergerissen. Durch einen Krankheitsfall ist Kerry dieses Weihnachten gezwungen, mit ihrem Bruder, der ihr inzwischen fremd geworden ist, Tannenbäume in New York zu verkaufen. In der Nachbarschaft findet Kerry schnell Anschluss, vor allem mit dem netten älteren Heinz, mit dem alleinerziehenden Patrick und dessen Sohn Austin schließt sie rasch Freundschaft. Nur mit ihrem Bruder gibt es immer wieder Spannungen. Während sich ihre Gefühle zwischen ihr und Patrick intensivieren, wachsen auch die Sorgen um den diesjährigen Verkauf, der durch eine direkte Konkurrenz leider nicht gut anläuft. Als dann auch noch Heinz kurz vor Weihnachten plötzlich verschwindet, sind alle in heller Aufregung. Können sie die Dinge noch zum Guten wenden und ein besinnliches Fest feiern?
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mary Kay Andrews
Roman
Kerry und ihr Bruder haben sich mit den Jahren immer mehr auseinander gelebt, doch als ihr Vater erkrankt und der diesjährige Weihnachtsbaumverkauf an ihnen hängen bleibt, müssen sie plötzlich als Team funktionieren. Der Fortbestand ihrer Farm hängt schließlich am Verkauf der Bäume. Gemeinsam reisen sie daher nach New York und müssen sich dort leider mit einer unliebsamen Konkurrenz herumschlagen. Doch die Nachbarschaft unterstützt die Geschwister und vor allem der alleinerziehende Patrick mit seinem kleinen Sohn Austin hat es Kerry angetan. Als kurz vor Weihnachten ein älterer Mann aus der Nachbarschaft verschwindet, müssen alle zusammenhalten, um das Fest zu retten.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Mary Kay Andrews wuchs in Florida, USA, auf und lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Im Sommer zieht es sie zu ihrem liebevoll restaurierten Ferienhaus auf Tybee Island, einer wunderschönen Insel vor der Küste Georgias. Seit ihrem Bestseller ›Die Sommerfrauen‹ gilt sie als Garantin für die perfekte Urlaubslektüre.
Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Bright Lights, Big Christmas« bei St. Martin's Press, New York.
© 2023 Mary Kay Andrews
Published by arrangement with St. Martin's Publishing Group. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin's Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Kapitelvignette: Designed by rawpixel.com/Freepik
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: www.buerosued.de
ISBN 978-3-10-492177-8
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[Widmung]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
Danksagung
Für meine Nichte, Sarah Abigail Murry,
mit einem Herz voller Liebe
Kerry Clare Tolliver konnte sich nicht erinnern, dass der Duft einer Fraser-Tanne sie einmal nicht zum Lächeln gebracht hätte.
Bereits seit vier Generationen bauten die Tollivers genau diese Sorte Weihnachtsbaum auf ein und demselben Stück Ackerland in den Bergen im Westen von North Carolina an.
An diesem Tag war Kerry beim Anblick des Anhängers mit Hunderten frisch gefällter, eingenetzter Weihnachtsbäume jedoch eher zum Heulen zumute.
»Mom, bitte verlang das nicht von mir«, flüsterte sie.
Ihre Mutter legte den Arm um sie. »Tut mir leid, Schätzchen, aber außer dir ist niemand da. Dein Dad kommt morgen aus dem Krankenhaus, und jemand muss dafür sorgen, dass er was isst, seine Medikamente nimmt und seinen jämmerlichen Hintern hochkriegt und zur Physiotherapie geht. Ob es dir gefällt oder nicht, aber das bin wohl ich.«
»Und was ist mit seiner jämmerlichen Frau? Es kann doch nicht angehen, dass seine Ex-Frau jetzt die Krankenschwester spielen muss.«
Birdie – wie Roberta Tolliver von den meisten genannt wurde – lachte laut auf. »Ach, komm. Du weißt doch, dass Brenda zwar eine schöne Frau ist, aber in der Hinsicht nicht zu gebrauchen ist. Egal, eigentlich darf ich das gar nicht wissen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dir das auch nicht erzählen darf, aber Murphy sagt, dass sie sich aus dem Staub gemacht hat. Kurz vor Halloween ist sie ausgezogen. Ganz ehrlich, mich stört es nicht. Aber das heißt eben, dass du jetzt Jocks Platz einnehmen musst. Die erste Woche der Saison haben wir schon verpasst. Wenn du nicht nach New York fährst und mit Murphy den Stand machst, tut es keiner.«
Kerry zuckte mit den Schultern. »Wäre das denn so schlimm? Ich meine, können wir die Bäume nicht einfach an unsere Händler hier vor Ort verkaufen wie sonst auch?«
»Nein.«
Kerry drehte sich zu ihrem älteren Bruder um, der hinter ihnen aufgetaucht war. Murphy war eine imposante Erscheinung – eins dreiundneunzig groß, kräftig gebaut, dunkler Stoppelbart und wettergegerbte Haut. Mit seiner karierten Flanelljacke, den Jeans, schmutzigen Arbeitsstiefeln und der Kettensäge über der Schulter wirkte er wie ein Holzfäller aus dem Bilderbuch.
»Der letzte Frost im Mai hat ein Viertel der Bäume vernichtet. Die hiesigen Händler zahlen uns nicht die hohen Preise, mit denen wir den Verlust ausgleichen könnten. Die Tour nach New York macht fünfundsiebzig Prozent unserer Einnahmen aus, und wie Mom gesagt hat, haben wir schon eine ganze Woche verloren.«
Murphy verstaute die Kettensäge in der Werkzeugkiste auf der Ladefläche seines Pick-ups und knallte mit Nachdruck den Deckel zu.
Kerry nahm den zweiten Pick-up in Augenschein – den rostigen 1982er-Ford F-150 ihres Vaters mit dem kleinen Wohnwagen hintendran. Wie die Zugmaschine hatte auch der Wohnwagen schon bessere Tage gesehen. Die tropfenförmige Karosserie mit der verblichenen türkis-weißen Lackierung sah aus wie eine alte Fleischkonserve mit Dosenschinken – Spam.
Spammy, wie die Tollivers den 1963er-Shasta-Wohnanhänger deshalb nannten, stand die meiste Zeit des Jahres in einem Schuppen. Doch im November, am Tag nach Thanksgiving, wurde er seit nunmehr vierzig Jahren an den Truck gehängt und die siebenhundert Meilen nach New York City gezogen, wo die Tollivers ihren Weihnachtsbaumstand im West Village errichteten. Dieses Jahr hatten Jocks Herzinfarkt und sein Krankenhausaufenthalt die Reise um eine Woche verzögert.
»Ich kann nicht glauben, dass ich in diesem Schrotthaufen leben soll.« Kerry ging um den Wohnwagen herum und spähte durch die Spinnweben in der Tür.
»Ein bisschen mehr Respekt, bitte.« Birdie klopfte auf die schmutzige Tür. »Spammy ist praktisch ein Familienerbstück.«
Kerry deutete auf das Fenster mit Vorhang, hinter dem sich die gefürchtete Chemietoilette befand. »Dieses eklige Ding benutze ich auf keinen Fall.«
»Die funktioniert eh nicht mehr«, sagte Murphy.
»Und wo …?«
»Wir nehmen immer die Toilette im Café oder im Deli an der Ecke«, sagte ihr Bruder. »Duschen können wir bei Leuten in der Nachbarschaft.«
Er griff nach einem Besen und warf ihn Kerry zu. »Du solltest vielleicht mal durchfegen, bevor du losfährst. Ich glaube, in deiner Koje hat sich ein Eichhörnchen eingenistet.« Er blickte auf die Uhr. »In fünf Minuten mach ich mich auf den Weg. Das heißt, ich werde spätestens morgen Mittag in der Stadt sein. Ich muss jetzt wissen, ob du mitkommst, und mit jetzt meine ich sofort. Sonst blasen wir das Ganze ab. Wir können es uns dieses Jahr nicht leisten, jemanden einzustellen.«
Die ruhigen grauen Augen ihrer Mutter schienen tief in Kerrys Seele zu schauen. Birdie hatte Murphy mit gerade mal siebzehn bekommen, Kerry mit einundzwanzig. Sie und Jock hatten sich getrennt, als Kerry sieben war. Ihr Bruder war mit ihrem Vater auf der Farm geblieben, Kerry und ihre Mutter waren in ein kleines Cottage in der Stadt gezogen. Die beiden waren eher wie Schwestern. Kerry wusste, dass Birdie sie niemals zu dieser Reise zwingen würde. Jedenfalls nicht mit Worten. Aber sie würde sie mit ihrem flehenden Blick töten. Birdie Tolliver war eine Meisterin in emotionaler Erpressung.
»Es ist ja nicht so, dass ich nicht fahren will. Ich will schon. Ich bin bereit zu helfen. Ich hab nur echt Angst davor, den Wohnwagen dahin zu ziehen.«
»Du bist doch sonst nicht so ängstlich«, antwortete Birdie. »Als Teenager hast du jeden Sommer das Boot zum See gebracht. Und als du zu deinen Springturnieren gefahren bist, hast du den Pferdeanhänger gezogen.«
Kerry seufzte. Sie wusste, dass sie verloren hatte. »Okay. Ich mach’s.«
Birdie strahlte. »Das wird fast so wie früher. Du fandest es immer toll, wenn wir vier mit Spammy in New York waren. Für dich war es so, als würden wir in einem Puppenhaus leben.« Sie blickte verklärt in die Ferne.
»New York in der Weihnachtszeit ist magisch. Die Fifth Avenue hinunterschlendern, an all den wunderbar geschmückten Schaufenstern vorbei. Auf dem Markt am Union Square heiße Schokolade trinken …«
»Dafür ist dieses Jahr keine Zeit, wenn wir nur zu zweit am Stand sind«, warf Murphy ein.
Er musterte Kerry und ihre modischen enganliegenden Jeans, den dünnen Pullover und die flachen Wildlederschuhe.
»Ich hoffe, du hast noch was Wärmeres zum Anziehen mit. Im Wohnwagen ist zwar ein kleines Heizgerät, aber an der Straßenecke kann’s ganz schön kalt werden, wenn der Wind durch die Straßenfluchten peitscht. Ruf mich an, wenn du eine Stunde vor der Stadt bist, dann stelle ich die Warnhütchen auf, um unseren Platz zu sperren.«
Murphy kletterte in die Fahrerkabine seines Pick-ups, wo sein English Setter Queenie geduldig auf dem Beifahrersitz wartete, ließ den Dieselmotor an und rollte langsam los.
Kerry sah zu, wie der mit Bäumen beladene Anhänger die steinige Auffahrt der Farm hinunterzockelte. Die Sonne schien bei achtzehn Grad, aber ihr fröstelte bei der Vorstellung, den ganzen nächsten Monat in diesem beengten Wohnwagen zu hausen, zusammen mit ihrem Bruder, den sie kaum kannte.
»Das wird schon«, sagte Birdie, als könnte sie Kerrys Gedanken lesen. »Nach außen hin ist er ein bisschen ruppig, aber im Kern ein ganz Lieber. Und ich glaube, es wird dir guttun, mal wieder in der Großstadt zu sein. Du kannst dich nicht ewig hier in der Pampa verstecken.«
Was das Eichhörnchennest in ihrer Schlafkoje betraf, so hatte Murphy sich geirrt. In Wahrheit waren es Mäuse, die sich in der zerbröselnden Schaumstoffmatratze niedergelassen hatten. Einer der kleinen Bewohner flitzte über den Boden, als Kerry den Wohnwagen betrat.
Sie schrie auf, erwischte die Maus mit dem Besen und fegte sie durch die offene Tür nach draußen, dann nahm sie die Matratze und schleuderte sie hinterher. Die nächsten drei Stunden verbrachte sie damit, den Wohnwagen zu fegen, zu schrubben und zu desinfizieren.
Ganz offensichtlich hatte seit der Scheidung ihrer Eltern keine Frau mehr darin übernachtet.
Jocks zahlreiche Freundinnen – und als Letztes seine Frau Brenda – hatten kein Interesse daran gehabt, ihren Mann auf die jährliche Tour nach New York zu begleiten.
Und Murphy wohnte seit dem Highschool-Abschluss allein in dem Pächterhäuschen auf der Farm, das er sich in mühevoller Kleinarbeit selbst hergerichtet hatte. In Tarburton hatte Kerry gehört, dass ihr zurückgezogen lebender Bruder Frauen datete – so etwas wie ein Serienmonogamist war, wie sie es nannte –, aber er hatte ihr oder Birdie noch nie eine Freundin vorgestellt.
Murphy war neununddreißig, sie vierunddreißig, und obwohl sie Geschwister waren, hatten die beiden seit Jahrzehnten nicht mehr unter einem Dach gelebt. Ihr Bruder war für Kerry praktisch ein Fremder.
Allerdings, überlegte sie, als sie in den winzigen Spiegel sah, der außen an der Toilettenkabine angebracht war, galt das für beide Seiten. Was wusste Murphy oder sonst jemand in ihrer Familie schon über sie?
Als Kerry vor drei Monaten nach Tarburton zurückgezogen war, hatte sie es absichtlich vage als »vorübergehend« bezeichnet. Sie hatte nicht erwähnt, dass die Werbeagentur in Charlotte, bei der sie als Art-Director gearbeitet hatte, mit einer anderen, größeren Agentur in Atlanta fusioniert hatte, wodurch Kerry, wie es die Personalabteilung des Unternehmens gerne nannte, »entbehrlich« geworden war.
Seit ihrem Abschluss an der Kunsthochschule in Savannah hatte sie rund um die Uhr gearbeitet, bis sie dann plötzlich … nicht mehr arbeitete. Die ersten drei Monate hatte sie von ihrer Abfindung gelebt, doch die Miete für ihr Loft in Charlotte war astronomisch hoch, und wenn sie im Online-Banking sah, wie ihre Ersparnisse schwanden, fragte sie sich, warum sie das machte.
Sie hatte sich ein Leben aufgebaut, das ausschließlich um ihre Arbeit kreiste. Ihr Freund Blake war Kundenberater in derselben Werbeagentur. Die meisten ihrer Freundinnen arbeiteten ebenfalls dort oder gehörten zu ihrem beruflichen Netzwerk. Mit leichter Verbitterung stellte sie fest, dass der Verlust ihres Arbeitsplatzes auch den Verlust ihres Freundeskreises bedeutete – ein klassischer Fall von »aus den Augen, aus dem Sinn«.
Dabei hatte Blake sie nicht mal geghostet. Er hatte nur … allmählich sein Interesse verlagert. Die einzigen Erinnerungsstücke an die zweijährige Beziehung, die ihr noch blieben, waren ein Tennisschläger, den er in ihrem Flurschrank vergessen hatte, eine Windjacke und eine Tube seiner teuren Zahnpasta, die er immer online bestellte.
Es gab nichts, was Kerry in Charlotte hielt. Es war Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Zeit, nach Hause zurückzukehren – in ihr Kinderzimmer in Birdies Cottage, nur ein paar Blocks vom Zentrum von Tarburton entfernt.
Sie nahm ein paar Aufträge als Graphikdesignerin an, die sie im Schlaf erledigen konnte; hauptsächlich ging es dabei um Webseiten. Ab und zu drehte sie eine Runde durchs Zentrum, ansonsten blieb sie die meiste Zeit zu Hause.
»Du wirst noch zur Einsiedlerin, genau wie Murphy«, bemerkte Birdie eines sonnigen Samstagmorgens im Herbst, als sie sich mit einem Korb auf den Weg zum wöchentlichen Bauernmarkt machte, um ein paar alte Freundinnen zu treffen.
Kerry blickte von dem Roman auf, den sie gerade las. »Es geht mir gut, okay?«
Birdie zuckte mit den Schultern. »Ich finde es nur schade, dass du an einem so wunderbaren Tag wie heute drinnen herumhockst. Der Winter kommt schneller, als du denkst.«
»Zufällig mag ich den Winter«, entgegnete Kerry.
»Daran werde ich dich im Januar erinnern, wenn die Straßen vereist sind, tagelang keine Sonne scheint und alles grau und düster ist«, konterte ihre Mutter.
Die Wahrheit war, dass Kerry sich nur selten vor die Tür traute, weil sie sich in ihrer alten Heimat völlig fehl am Platz fühlte – wie eine Außerirdische, die auf den falschen Planeten gebeamt worden war. Doch während ihrer letzten Monate in Charlotte hatte sie sich auch dort einsam und verloren gefühlt. Vielleicht, dachte sie in einem flüchtigen Anfall von Optimismus, war ein Monat in New York genau das, was sie brauchte, um ihr inneres Gleichgewicht wiederherzustellen.
Birdie hievte eine Kühlbox auf den Vordersitz des Pick-ups. »Ich habe dir Sandwiches gemacht, damit du nicht anhalten musst, um dir was zu essen zu kaufen.« Sie stellte eine karierte Thermoskanne in den Getränkehalter des Trucks. »Hier ist dein Kaffee. Dein Dad lässt dir ausrichten, dass es kurz vor Winchester in Virginia eine gute Raststätte gibt, an der Murphy und er immer anhalten. Saubere Toiletten und ausreichend Platz zum Parken. Vergiss nicht, die Türen abzuschließen und ein paar Stunden zu schlafen, bevor du weiterfährst.«
»Okay«, antwortete Kerry und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Die aufgehende Sonne lugte über die wolkenverhangenen Berge. Nervöse Energie kribbelte in ihren Adern. Sie hatte in der vergangenen Nacht wenig geschlafen, weil sie sich Sorgen über die bevorstehende Reise gemacht hatte, darüber, sich mitsamt Wohnwagen durch den New Yorker Verkehr zu kämpfen, und ja, auch über die Aussicht, die nächsten drei Wochen in einer mausverseuchten, klaustrophobischen Konservendose zu leben.
»Ich fahre jetzt besser los«, sagte sie und ließ den Motor an. »Ich will nicht, dass Murphy direkt sauer ist, weil ich zu spät komme.«
»Hast du dein Handy? Und dein Ladegerät? Genügend Wollsocken? Extra Unterwäsche? Wer weiß, wann ihr das nächste Mal waschen könnt.«
»Ja, ja, ja und ja«, erwiderte Kerry. »Ich bin erwachsen, Mom, keine Achtjährige, die ins Ferienlager fährt.«
»Ich weiß.« Birdie beugte sich vor und gab Kerry einen Kuss auf die Wange. »Und ich weiß auch, dass du hart arbeiten und Bäume verkaufen wirst. Aber vergiss nicht, was ich über New York zur Weihnachtszeit gesagt habe: Es ist magisch. Vergiss nicht, ein bisschen Spaß zu haben.«
»Du meinst, ich soll auch mal an den Lüftungsgittern der U-Bahn schnüffeln?«
»Jetzt sei doch nicht so«, schimpfte Birdie.
»Spaß. Alles klar.« Kerry verdrehte die Augen.
Sie holte noch einmal tief Luft, blickte nach links und rechts und fuhr dann langsam auf die Landstraße.
»Als ob.«
Laut Google Maps waren es bis New York weniger als zehn Stunden, sie würde die Stadt also am Samstag gegen fünf Uhr nachmittags erreichen. Was die App nicht auf dem Schirm hatte, war ein in die Jahre gekommener Truck mit einer Höchstgeschwindigkeit von fünfzig Meilen pro Stunde und einem Uraltwohnwagen im Schlepptau. Geschweige denn die Verzögerungen durch die Bauarbeiten auf der Interstate, den stockenden Verkehr wegen mehrerer liegengebliebener Fahrzeuge und nicht zuletzt die häufigen Pinkelpausen, die eine bis oben hin mit Kaffee abgefüllte Fahrerin einlegen musste.
Es war schon nach drei, als Kerry kurz vor Winchester auf den Parkplatz der empfohlenen Raststätte fuhr. Sie fand eine Lücke in einer der hinteren Reihen, verriegelte die Türen und schlief trotz des vielen Koffeins sofort ein.
Als das Klingeln ihres Telefons sie schließlich weckte, wurde es draußen bereits dunkel. Gähnend tastete Kerry nach dem Handy und erschrak angesichts der Uhrzeit – 17.30 Uhr – und des Anrufers – Murphy Tolliver.
»Bist du schon in der Nähe?« Ihr Bruder hielt sich nicht lange mit Nettigkeiten auf.
»Nicht ganz. Dieser verdammte Truck fährt maximal fünfzig, und mit den ganzen Baustellen auf der Interstate …«
»Okay, wo bist du? In Jersey?«
»Eher Virginia.«
»Mein Gott, Kerry! Das dauert ja noch Stunden. Bei dem Tempo wird es Mitternacht, bis du hier bist. Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen und friere mir im Truck den Arsch ab.«
»Dann nimm dir ein Hotelzimmer«, schnauzte sie. »Ich tu schon, was ich kann.«
»Ein Hotel in der Stadt können wir uns nicht leisten. Ruf mich einfach eine Stunde vorher an. Und beeil dich. Wir müssen morgen früh raus und den Stand aufmachen.«
Er legte auf, und Kerry sah ihr Telefon böse an. »Klingt nach ganz viel Spaß die nächsten Wochen.«
Als sie den Lincoln-Tunnel hinter sich hatte und auf der West Thirty-Eighth Street herauskam, waren Kerrys Hände schweißnass und ihr Puls auf hundertachtzig. Wenn ihr GPS richtiglag, war sie noch dreißig Minuten von der Ecke im West Village entfernt, an der Murphy den Weihnachtsbaumstand aufgebaut hatte.
Sie tippte in der Anrufliste auf seinen Namen, und er hob beim ersten Freizeichen ab. »Hey. Bist du in der Nähe?«
»Laut meinem Handy sind es noch fünf Meilen.« Ihre Augen brannten vor Müdigkeit; von der stressigen Fahrt war ihr flau im Magen.
»Ich hab schlechte Nachrichten: Ein Arschloch in einem grauen Mercedes hat vor unserem Stand geparkt. Das kotzt mich vielleicht an! Die wissen hier alle, dass wir da im Dezember unseren Wohnwagen abstellen. Wenn der Mercedes nicht weg ist, bis du kommst, musst du weiter unten an der Straße parken. Ich stelle ein paar Hütchen auf, um den Platz für dich frei zu halten.«
»Okay. Was soll’s.« Sie wollte Murphy fragen, warum er den Platz vor dem Baumstand nicht abgesperrt hatte, bevor das reiche Arschloch dort parken konnte, aber mit ihrem Bruder zu streiten, war dasselbe wie einen Hurrikan anzubrüllen. Reine Zeitverschwendung.
Als sie sich Greenwich Village näherte, atmete sie nur noch flach und wurde langsamer. Sie hatte Angst, die zu beiden Seiten der schmalen Straße parkenden Autos zu streifen. Im Vorbeifahren sah sie Straßenschilder, die alte Erinnerungen an lang zurückliegende Familienurlaube wachriefen. Morton Street. An einem ruhigen Sonntag war sie diesen Block auf Rollerblades hinuntergesaust, indem Murphy sie an einem Seil auf dem Fahrrad hinter sich hergezogen hatte. Und hier, Christopher Street. An dieser Ecke hatte ein Straßenhändler geröstete Kastanien verkauft, und war das nicht der Deli mit den schwarz-weißen Cookies, die es nur in New York gab?
Das Summen ihres Telefons riss sie in die Gegenwart zurück.
»Schau mal nach vorne. Ich stehe an der rechten Straßenseite und winke.«
Und tatsächlich, an der nächsten Kreuzung stand Murphy halb auf der Fahrbahn und fuchtelte wild mit den Armen.
Zeitgleich entdeckte sie das Schild. »Weihnachtsbäume Tolliver: frisch von der Farm seit 1954«, gemalt in Birdies sauberer Handschrift. Der Baumstand befand sich an der Ecke Hudson und Twelfth, die Bäume lehnten aufrecht an einem Zaun aus sägerauem Kantholz, den Murphy errichtet hatte.
Und wie angekündigt, parkte eine anthrazitfarbene Mercedes-Limousine vor dem Stand, in der Mitte zwischen zwei Parkplätzen, genau vor Murphys Pick-up.
»Arschloch«, murmelte Kerry.
Ihr Bruder kam herbeigelaufen, und sie öffnete das Fahrerfenster. »Rutsch rüber, ich parke für dich ein.« Murphys Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Nachtluft. Er wies auf eine freie Parklücke ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite, wo er zwischen zwei Baucontainern vier Warnhütchen aufgestellt hatte.
»Wie bitte? Glaubst du, eine Frau kann keinen Anhänger einparken?«, schoss sie zurück. »Dad hat mir schon mit fünfzehn beigebracht, wie man das Boot rückwärts auf eine Rampe fährt. Und ich habe jahrelang bei Turnieren in ganz North Carolina Pferdeanhänger eingeparkt.«
»Nicht auf einer Straße wie der hier, mitten im Straßenverkehr und mit parkenden Autos auf beiden Seiten«, sagte Murphy. »Es geht nicht darum, dass du eine Frau bist. Du hast keine Übung darin, so einen Wohnwagen einzuparken, ich schon. Jetzt rutsch rüber und lass uns das schnell erledigen, verdammt.«
Kerry öffnete die Tür und sprang vom Fahrersitz. »Na, dann los, Murphy. Dann zeig du als Mann mir mal, wie das geht.«
Die kalte Luft traf sie wie ein Schlag. Für North-Carolina-Verhältnisse hatte Kerry sich an diesem Morgen warm angezogen, also für Temperaturen um die zehn Grad. Aber jetzt war sie in New York; die Temperaturen lagen knapp unter null. Sie bereute schon jetzt ihr Outfit aus Windjacke, Jeans und Turnschuhen.
Dem entgegenkommenden Verkehr ausweichend, rannte Kerry auf die andere Straßenseite und stellte sich vor den ersten Baucontainer. Murphy wartete, bis die Ampel umschaltete, und während Kerry die Hütchen einsammelte, um ihm Platz zu machen, bog er in einer weiten Linkskurve in die Querstraße ein, zog die Nase des Fords vor den ersten Container, wo Kerry stand, und schob ihn mitsamt Wohnwagen in einer fließenden Bewegung rückwärts in die Parklücke.
Kerry sah mit offenem Mund zu. Ihr Bruder kletterte aus der Fahrerkabine und ging um den Wagen herum, um sich das Ergebnis anzuschauen. Sie kam von der anderen Seite und traf ihn an der Wohnwagentür.
»Okay, du hast gewonnen«, gab sie zu. »Das war stark.«
Mit einem Grummeln zog Murphy die Tür auf, schaltete die Taschenlampe ein und duckte sich durch die Öffnung ins Innere des Wagens. »Lass uns schlafen gehen. Wird ein anstrengender Tag morgen.«
Sie sah zu, wie ihr Bruder einen Schlafsack aus der Truhe unter der Sitzbank holte. Danach legte er die Rückenpolster links und rechts neben die Resopal-Tischplatte, so dass sie eine Matratze bildeten, zog sich die Jacke aus und formte sie zu einem Kissen. Schließlich streifte er die Stiefel ab und schob sie unter die Bank. Dann streckte er sich auf dem Bett aus und deckte sich bis zum Kinn mit dem Schlafsack zu. Ein Pfiff durch die Finger, und Queenie legte sich zu ihm.
»Das war’s? Du gehst einfach ins Bett?« Kerry stand noch immer da und sah Murphy an. »Es ist schweinekalt hier drin. Und wo soll ich eigentlich aufs Klo gehen?«
Er drehte sich auf die Seite und wandte ihr das Gesicht zu, ohne die Augen zu öffnen. »Wir haben erst Strom, wenn wir das Ding am Stand parken können. Im Schrank über deiner Koje sind noch ein Schlafsack und ein paar extra Decken. Dad und ich haben immer in eine alte Kaffeekanne gepinkelt, aber wenn du dir dafür zu fein bist, geh rüber ins Lombardi’s, das Café auf der anderen Straßenseite. Da kannst die Toilette benutzen, und wenn du Hunger hast, frag Claudia, ob sie dir noch was macht. Sag ihr, dass du meine Schwester bist. Aber geh am besten gleich, sie schließen in einer halben Stunde.«
Dann rollte sich Murphy herum und drehte Kerry den Rücken zu. Sie war entlassen.
Im Eilschritt marschierte sie zum Lombardi’s. Das Café befand sich im Erdgeschoss eines sechsstöckigen Wohnhauses. Wie Murphy gesagt hatte, war das Lokal kurz vor Mitternacht so gut wie leer. Ein Barmann spülte Gläser hinter dem Tresen an der rechten Seite, und eine kurvige Blondine stand an der Kellnerstation und wickelte Besteck in Leinenservietten.
»Oh, hi«, grüßte Kerry. »Ich bin die Schwester von Murphy Tolliver. Ich weiß, es ist schon spät, aber er meinte, ich könnte vielleicht eure Toilette benutzen.«
Die Frau zeigte nach hinten. »Bitte schön. Auf der linken Seite.«
Als Kerry wieder auftauchte, stand die Wirtin noch immer an dem kleinen Tisch. »Vielen Dank«, sagte Kerry. »Murphy meinte, ich soll nach einer Claudia fragen?«
»Das bin ich«, sagte die Frau. »Hast du Hunger, meine Liebe? Es ist noch eine Portion Pasta Fagioli vom Angebotsmenü übrig. Und vielleicht ein Glas Wein als Absacker?«
Beim bloßen Gedanken an Essen fing ihr Magen an zu knurren. Sie sah sich im Café um. Ein riesiger Weihnachtsbaum mit rot, weiß und grün funkelnden Lichtern nahm das komplette Fenster ein. Die Tische waren mit frischen weißen Leinentischdecken und tropfenden Wachskerzen in strohumwickelten Chianti-Flaschen vorbereitet. Das Lombardi’s war ein typischer Old-School-Italiener, wie man ihn in einem Südstaatenstädtchen wie Tarburton nicht finden würde. »Ich will euch um diese Uhrzeit wirklich nicht auf …«
»Das tust du nicht«, sagte Claudia. »Ich muss sowieso noch die Kasse machen und ein paar Kleinigkeiten erledigen. Setz dich da drüben an die Bar und sag Danny, was du trinken möchtest. Ich laufe schnell in die Küche und hol dir deine Suppe.«
Kerry genoss gerade einen großzügigen Schluck Valpolicella, als Claudia ihr einen Teller mit dampfender Suppe vorsetzte, dazu einen mit Servietten ausgelegten Korb mit italienischen Grissini und ein kleines Schälchen Butter.
»Vielen Dank«, sagte Kerry und tauchte ihren Löffel in die sämige Brühe mit Nudeln, Bohnen und Fleischklößen. »Mmh. Das riecht köstlich.«
»Das Rezept meiner Großmutter«, sagte Claudia. Sie nahm ein Grissini und knabberte daran. »Du bist also Murphs Schwester.«
Danny, der Barmann, beugte sich über den Tresen und starrte Kerry an. »Ja, ich glaube, ich sehe da eine gewisse familiäre Ähnlichkeit.«
»Das sind diese furchtbar dichten Augenbrauen.« Kerry schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Der Fluch der Tollivers.«
»Ich wusste gar nicht, dass Murph eine Schwester hat«, bemerkte Danny. »Ich dachte, er wäre tief in den Bergen von North Carolina von Wölfen großgezogen worden oder so.«
Kerry lachte und trank einen Schluck von ihrem Wein. »In gewisser Weise ist da sogar was dran. Unsere Eltern haben sich getrennt, als ich sieben war, und Murphy ist bei meinem Vater auf der Farm geblieben. Ich glaube, er hat sich das Image vom einsamen Mann in den Bergen wirklich zu Herzen genommen.«
»Was du nicht sagst«, bemerkte Claudia. »Apropos, wann kommt Jock eigentlich?«
»Hat Murphy dir gar nichts erzählt? Dad hatte einen Herzinfarkt und musste sich einer vierfachen Bypass-OP unterziehen. Deshalb bin ich dieses Jahr hier.«
»In der Hinsicht ist dein Bruder nicht gerade mitteilsam. Ich hatte mich schon gefragt, warum ihr nicht gleich nach Thanksgiving hier aufgeschlagen seid. Das mit deinem Dad tut mir leid. Er ist ein guter Kerl. Er wirkte immer so …«
»Unverwüstlich?«, ergänzte Kerry. »So hat er sich jedenfalls verhalten. Vielleicht hört er jetzt endlich auf zu rauchen.«
»Solange er nicht aufhört zu trinken«, warf Danny ein.
Kerry schaute sich wieder um. »Mir kommt das hier alles so vertraut vor. Gibt es das Café schon lange?«
»Seit 1962«, antwortete Claudia. »Ich führe das Lombardi’s in der dritten Generation.«
»Ah, deshalb«, sagte Kerry. »In meiner Erinnerung sitze ich genau hier, allerdings auf einem Stapel Telefonbücher, und esse einen großen Teller Spaghetti. Und die weißhaarige Frau zeigt mir, wie ich die Nudeln um die Gabel wickeln muss.«
»Das muss meine Großmutter Anna gewesen sein«, erwiderte Claudia. »Du bist früher also auch jedes Jahr hergekommen?«
»Ja. Meine Eltern, Murphy und ich. Nach der Scheidung war es damit dann vorbei.«
»Zu viert in dem Ding da, und dann noch mit zwei kleinen Kindern?« Claudia lachte. »Eine extreme Form familiärer Zusammengehörigkeit, wenn du mich fragst.«
»Kannst du dir vorstellen, mit mir in einem Camper zu wohnen?« Danny knuffte Claudia in den Arm.
»Schlimm genug, dass wir im selben Raum arbeiten müssen«, konterte sie.
»Seid ihr miteinander verwandt?«
»Cousin und Cousine«, sagte Danny.
Kerry kratzte den letzten Rest Suppe aus dem Teller, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und nahm das Portemonnaie aus ihrer Jackentasche.
»Du musst nichts zahlen«, sagte Claudia schnell. »Geht aufs Haus.«
»Aber …«
»Wir haben einen Deal mit deiner Familie«, erklärte Danny. »Wir kriegen jedes Jahr den größten und schönsten Weihnachtsbaum, dafür könnt ihr bei uns essen.«
»Lasst mich wenigstens den Wein bezahlen«, bat Kerry.
»Auf keinen Fall«, sagte Claudia streng. »Übrigens, wenn du morgens einen Kaffee und ein Waschbecken brauchst, geh einfach rüber ins Anna’s, das ist unsere Bäckerei. Dannys Tochter Lidia arbeitet dort.«
»Wirklich? Das wäre ja super.« Kerry unterdrückte ein Gähnen.
Claudia entriegelte die Eingangstür und hielt sie weit auf. »Ich schmeiße dich natürlich nicht raus, aber irgendwie schon. Wir wissen, wie früh dein Bruder jeden Morgen anfängt zu arbeiten.«
»Danke noch mal«, sagte Kerry. »Ich fürchte, morgen wird ein langer Tag.«
Auf Zehenspitzen betrat Kerry den Wohnwagen. Zu ihrer Überraschung hatte Murphy ihr Bett hergerichtet. Die Matratze war dünn, die Decken rochen leicht modrig, und das Kopfkissen war steinhart. Trotzdem schlief sie innerhalb weniger Minuten ein.
In ihrem Traum nahm Murphy die Kettensäge von der Schulter, riss am Starterseil, und ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Morgenluft. Er hielt die Säge an den Sockel eines massiven Baumstamms, und das Dröhnen wurde noch lauter.
Kerry spürte, wie die Erde unter ihr bebte, und der scharfe Geruch von frisch geschnittener Kiefer stieg ihr in die Nase.
Sie wollte schreien, damit ihr Bruder nicht den Baum fällte, und öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus.
Die Säge dröhnte, die Erde bebte. Kerry setzte sich kerzengerade auf und schnappte nach Luft, die Augen weit aufgerissen. Es war stockdunkel, ihr Herz klopfte wie wild. Obwohl sie hellwach war, ließ der Krach nicht nach, und der winzige Wohnwagen unter ihr bebte tatsächlich.
Kerry griff unters Kopfkissen und zog ihr Handy hervor, aktivierte die Taschenlampe und leuchtete den Wohnwagen ab, bis der Lichtstrahl auf die Schlafkoje traf, nur wenige Meter von ihrer entfernt.
Murphy lag auf dem Rücken, den Mund geöffnet, und schnarchte so laut, dass er jede Kettensäge übertönt hätte.
Kerrys Handy zeigte zwei Uhr morgens. Sie sank auf die Matratze zurück und zog sich den Schlafsack über den Kopf, doch das Sägen ihres Bruders war durch nichts zu dämpfen. Schließlich tippelte sie auf Zehenspitzen zu ihm hinüber und rollte ihn mit einem kräftigen Stoß auf die Seite.
Morgen, schwor sie sich, würde sie einen Drogeriemarkt suchen und sich Ohrstöpsel besorgen.
Als Kerry am Sonntagmorgen mit einer Tasse Kaffee und einem noch warmen Quarkplunder vom Anna’s zurückkam, entdeckte sie einen Strafzettel an der Windschutzscheibe des Pick-ups. Sie erschrak, als sie die Höhe des Bußgelds sah.
Wie Murphy es ihr aufgetragen hatte, setzte sie sich hinters Steuer und ließ den anthrazitfarbenen Mercedes, der vor dem Stand parkte, nicht aus den Augen.
»Der Halter wird den Wagen bestimmt heute Morgen wegfahren«, hatte Murphy gesagt. »Dann stelle ich die Hütchen auf, aber du musst bereit sein, den Wohnwagen schnell umzusetzen.«
Auch wenn sie gemurrt hatte, wusste sie, dass sein Plan vernünftig war. Einmal in der Stunde ließ sie den Truck für ein paar Minuten im Stand laufen und genoss die warme Luft aus dem Gebläse, bevor sie den Motor wieder abstellte. Gegen zehn Uhr sah sie einen hochgewachsenen Mann in einer schwarzen Steppjacke zum Mercedes gehen.
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Doch anstatt wegzufahren, öffnete der Mann nur den Kofferraum, nahm eine kleine Reisetasche heraus, schlug die Klappe wieder zu und ging mit dem Handy am Ohr davon.
Ihr Mut sank, als er die Straße hinunterlief und drei Eingänge weiter in einem Haus verschwand.
Mittags rief sie Murphy an und bat ihn, sie kurz abzulösen, damit sie auf die Toilette gehen konnte.
Um zwölf Uhr dreißig war der Typ wieder zurück, immer noch am Handy, aber diesmal in Begleitung eines kleinen Jungen, der etwa sechs oder sieben sein musste. Diesmal hievte er einen Wäschesack auf den Rücksitz des Wagens, bevor er wieder wegging, gefolgt von dem Jungen, der sehnsüchtig zu Murphy hinübersah. Der war gerade damit beschäftigt, den Weihnachtsbaumstand mit Schildern zu versehen.
Kerry beobachtete, wie ihr Bruder einen der kleineren Bäume an ein junges Paar verkaufte, das ihn auf dem Dach eines Kinderwagens festschnallte. Dann unterhielt er sich eine halbe Stunde lang mit einer älteren Frau in einem Pelzmantel, und Kerry war erstaunt, wie lebhaft er im Gespräch mit dieser Fremden wirkte.
Um vier klingelte ihr Telefon. »Hey, kannst du rüberkommen und für eine Viertelstunde den Stand übernehmen? Ich muss einen Baum an eine Kundin ausliefern.«
»Was, wenn der Typ in der Zwischenzeit den Wagen wegfährt?«
»Dann stellst du die Hütchen auf und verscheuchst jeden, der hier versucht zu parken.«
»Die Baumpreise sind nach Größe gestaffelt, die Bäume haben verschiedenfarbige Bänder«, erklärte Murphy. »Die Roten sind die teuersten, ein Viermeterbaum kostet zum Beispiel tausendachthundert Dollar. Die Tischbäumchen sind die billigsten für sechzig. Steht alles auf den Schildern.« Murphy nahm die Nagelschürze ab, die er um die Hüften trug, und reichte sie Kerry. »Da ist genug Kleingeld zum Wechseln drin. Wenn jemand mit Kredit- oder EC-Karte bezahlen will, muss er kurz warten, bis ich zurück bin, weil ich mein Handy mitnehme.«
»Moment«, sagte Kerry. »Wir haben Bäume, die fast zweitausend Dollar kosten?«
»Klar. Aber davon haben wir nur vier, beziehungsweise jetzt noch drei, weil ich vorhin einen verkauft habe. Der Sohn kommt ihn heute Nachmittag abholen. Also, ich bin dann mal weg.«
Murphy wuchtete sich einen Zweimeterbaum auf die Schulter, hängte einen Weihnachtskranz um sein Handgelenk und stapfte davon.
Es fühlte sich gut an, mal aus dem Truck rauszukommen. Ihr erstes Bäumchen verkaufte Kerry an eine rothaarige Frau von ungefähr Mitte dreißig mit einem Kleinkind im Schlepptau. »Sagen Sie Murphy bitte, dass er mir den Baum nach Hause bringen soll, wenn er zurückkommt. Ich bin Skylar. Er weiß, wo ich wohne.«
Als ihr Bruder nach zwanzig Minuten wiederkam, stand der Mercedes immer noch da.
»Am besten holst du dir jetzt was zu essen«, sagte er. »Wem auch immer dieses Auto gehört, innerhalb der nächsten Stunde muss es bewegt werden, wenn der Halter keinen Strafzettel kassieren will, und dann musst du bereit sein.«
Erst jetzt merkte Kerry, wie hungrig sie war. Da das Anna’s schon geschlossen hatte, ging sie in die Bodega Happy Days, den kleinen Lebensmittelladen an der Ecke, und holte sich eine große Tüte Doritos und einen extragroßen Becher verbrannt schmeckenden Kaffee.
Sie setzte sich wieder hinters Steuer des Pick-ups und stopfte die Chips in sich hinein, während sie den Mercedes mit den Augen fixierte, als könnte sie ihn auf diese Weise zum Wegfahren bewegen.
Die Minuten vergingen. Passanten schlenderten am Weihnachtsbaumstand vorbei oder blieben kurz stehen, um Queenie zu streicheln oder sich die Bäume anzuschauen. Als Kerry kalt wurde, startete sie den Truck und ließ zehn kostbare Minuten lang die Heizung laufen. Ein besorgter Blick auf die Anzeige verriet ihr, dass der Tank nur noch zu einem Viertel gefüllt war.
Ihr Telefon klingelte. »Wie läuft’s denn so bei euch?«, wollte Birdie wissen.
»Prima«, sagte Kerry. »Ich friere mir im Pick-up den Arsch ab, stopfe Chips in mich rein und warte darauf, dass so ein Typ seinen Mercedes wegfährt, damit wir Spammy endlich vor dem Baumstand parken können, um das Stromkabel anzuschließen. Murphys Schnarchen hat mich fast die ganze Nacht wach gehalten.«
Ihre Mutter lachte. »Genau wie dein Vater. Ich hatte ganz vergessen, wie laut Jock schnarcht. Langsam verstehe ich, warum Brenda das Weite gesucht hat.«
»Wie geht es Dad?«
»Hat super schlechte Laune. Ich habe seine Zigaretten weggeworfen und zwinge ihn, aufzustehen und alle paar Stunden eine Runde ums Haus zu drehen. Außerdem hat er Blähungen. Die Schmerzmittel führen zu Verstopfung –«
»Zu viele Informationen«, fiel Kerry ihr ins Wort.
»Du hast gefragt.«
»Hey, Mom, erinnerst du dich noch ans Lombardi’s?«
»Das italienische Restaurant an der Ecke? Natürlich. Wir haben jeden Sonntag dort zu Abend gegessen. Gibt es das noch?«
»Ja. Die Enkelin führt es jetzt zusammen mit ihrem Cousin. Gestern Abend saß ich am Tresen und habe eine Suppe gegessen, und plötzlich hatte ich ein Flashback – ich als Kind und diese alte Frau, die mir beigebracht hat, wie man Spaghetti mit der Gabel aufdreht.«
»Anna. Die Inhaberin. Sie hat dich nach Strich und Faden verwöhnt und dir die Taschen mit ihren Amaretti-Keksen vollgestopft. Und Matteo, ihr Mann …«
Während ihre Mutter in Erinnerungen schwelgte, beobachtete Kerry das Treiben auf der anderen Straßenseite. Da: Der lange Kerl in der Steppjacke war zurück.
»Ich muss los, Mom«, sagte sie und legte auf.
Im Eilschritt schlängelte sie sich zwischen den fahrenden Autos hindurch über die Straße.
Der Steppjackentyp hatte sich ins Auto gesetzt, das Handy am Ohr.
»Entschuldigen Sie«, rief sie und hämmerte gegen die Fensterscheibe. Er sah sie an und hob einen Finger, als wollte er sagen: Moment. Anders als du bin ich ein superwichtiger aufgeblasener CEO beziehungsweise Rockstar beziehungsweise Geheimagent, kannst du dir aussuchen.
»Hey!«, brüllte sie. »Fahren Sie dieses Auto zur Abwechslung auch mal, oder benutzen Sie es nur als Telefonzelle?«
Seine Augen verengten sich, er nahm das Handy vom Ohr und ließ das Fenster herunter.
»Gibt’s ein Problem?«
»Ja, verdammt, es gibt ein Problem. Ich warte seit gestern auf diesen Parkplatz. Ich habe schon zwei Strafzettel bekommen und bin von einem widerlichen Typen angemacht worden, der glaubt, dass ich in dem Wohnwagen als Prostituierte arbeite. Ich lebe von öden Doritos und Coffee to go, mein Blutzucker ist entsprechend niedrig und meine Blase voll, ich muss echt dringend pinkeln, also fährst du sofort dieses Auto weg. Und mit sofort meine ich jetzt.«
Mercedes-Man nahm seine verspiegelte Fliegerbrille ab und musterte Kerry von oben bis unten.
Es war kein hübscher Anblick, den sie da bot. Ihre mittlerweile fettigen langen braunen Haare hatte sie unter eine Kappe gestopft, die sie im Wohnwagen gefunden hatte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und steckte seit zwei Tagen in denselben schmuddeligen Klamotten.
Natürlich hatte Mercedes-Man Augen so blau wie die Karibik, sexy Bartstoppeln und Bambi-Wimpern, die der liebe Gott immer an Männer verschwendete, die sowieso schon von der Natur begünstigt waren.
»Dann such dir halt einen anderen Parkplatz, oder? Gibt doch genug davon.« Das Fenster fuhr wieder nach oben, und mit einem missbilligenden Nicken in ihre Richtung nahm der Typ sein Geheimagentengespräch wieder auf.
Kerry war nicht stolz auf das, was als Nächstes geschah. Sie hämmerte mit der Faust auf das Autodach und trat gegen die Reifen. »Ich. Brauche. Diesen. Platz!«, ließ sie ihrer aufgestauten Wut freien Lauf. Mit der flachen Hand schlug sie gegen das Fahrerfenster, bis sich plötzlich ein breiter Arm um ihre Taille legte und sie förmlich vom Gehsteig hob.
»Wow, wow, wow, Schwesterlein!«
Sie drehte den Kopf. Es war Murphy, der den Krawall gehört hatte.
»Beruhige dich, Kerry«, sagte er und setzte sie wieder ab. »Reiß dich zusammen, okay?«
Mercedes-Man war inzwischen ausgestiegen. »Hey, Murph, du kennst diese Verrückte?«
»Leider ja«, antwortete Murphy. »Patrick McCaleb, das ist meine kleine Schwester Kerry. Sie ist ein bisschen, ähm, genervt, weil wir die ganze Zeit darauf warten, dass dieser Platz endlich frei wird. Weil wir doch immer unseren Wohnwagen hier abstellen.«
Patrick sah erst zum Weihnachtsbaumstand, dann zum Wohnwagen hinüber und schlug sich vor die Stirn. »Oh Mann. Sorry. Natürlich, ihr parkt ja immer hier. Mein Fehler. Warum habt ihr nicht früher was gesagt? Tut mir echt leid.«
»Ich wusste nicht, dass das dein Wagen ist, sonst hätte ich mich gemeldet«, erwiderte Murphy. »Aber, äh, würde es dir was ausmachen …? Wir müssten den Wohnwagen hier hinstellen, damit wir den Strom vom Café anzapfen können.«
»Ich fahre sofort weg«, sagte Patrick. »Und … entschuldige bitte.« Er hielt Kerry die Hand in einem feinen Lederhandschuh hin.
»Ja, tut mir auch leid«, erwiderte sie und wischte sich die von den Doritos orange verfärbten Finger an der Rückseite ihrer Jeans ab. »Ich hab wohl ein bisschen die Nerven verloren. Freut mich, dich kennenzulernen, Patrick.«
»Ganz meinerseits«, sagte Patrick. Er stieg wieder in den Mercedes, ließ den Motor an und fuhr aus der Parklücke auf die Straße.
Murphy machte in einer Blechtonne ein Feuer und fütterte es mit Weihnachtsbaumabfällen und einem Vorrat an Brennholz, den er in seinem Pick-up mitgebracht hatte. Kerry stand davor und wärmte sich die Hände.
»Okay, ich hau mich mal aufs Ohr.« Er gab ihr das Handy und den damit verbundenen Kreditkartenleser. »Wer seinen Baum geliefert bekommen will, soll Adresse und Telefonnummer dalassen. Alles klar?«
Queenie wedelte mit ihrer fedrigen Rute und stellte sich neben Murphy. Er bedeutete ihr mit der offenen Handfläche nach unten, dass sie nicht mitkommen würde. »Du bleibst hier, mein Mädchen. Bleib bei Kerry.«
»Warte mal. Du kennst den Typen?«
Murphy gähnte. »Welchen Typen?«
»Patrick. Den Mercedes-Man.«
»Ja. Der ist in Ordnung. Wohnt in der Nachbarschaft. Hat irgendeinen Bürojob.«
»Ich hab ihn neulich mit einem Jungen gesehen. Sein Sohn?«
»Ja, Austin. Also dann, ich bin weg. Weck mich um neun, dann übernehme ich die Abendschicht.«
Murphy stieg in den Wohnwagen und machte die Tür hinter sich zu. Kurz darauf begann das Schnarchen.
Das Geschäft lief schleppend. Ein schmächtiger rothaariger Teenager rollte auf seinem Skateboard heran. Er nahm sich Zeit, die Bäume zu begutachten, stellte sie vor sich auf den Asphalt und ging einmal drum herum. Dabei summte er leise vor sich hin.
»Was für Bäume sind das?«
»Fraser-Tannen«, antwortete Kerry.
Der Skateboarder hielt ein Bäumchen in die Luft, das knapp einen Meter hoch war und ein gelbes Band trug.
»Was kostet der?«
