Liebchen mein - Gabriela Bock - E-Book

Liebchen mein E-Book

Gabriela Bock

0,0

Beschreibung

Nach dem Tod seiner Frau zieht es Dietmar Henkel wieder zurück in seine alte Heimat, den Harz. Kurz darauf werden zwei seiner alten Freunde ermordet. Die Gerüchteküche in der Kleinstadt Herzberg beginnt zu brodeln. Schnell wird Dietmar wegen seiner cholerischen, unfreundlichen Art als Mörder abgestempelt. Schließlich steht er auch in Verdacht, mit dem Verschwinden eines Flüchtlings und seines Kindes zu tun zu haben. Während Kommissar Geiger und seine Kollegin am Anfang ihrer Ermittlungen stehen, ist ihre spleenige Freundin Eleonore bereits mittendrin, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen und die Morde aufzuklären.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 385

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriela Bock

Liebchen mein

oder Eleonore und die tödliche Gerüchteküche

 

Impressum

Liebchen mein

ISBN 978-3-947167-43-2

ePub Edition

V1.0 (03/2019)

© 2018 by Gabriela Bock

Abbildungsnachweise:

Cover © littleny

# 73558127 | depositphotos.com

Porträt Gabriela Bock © Ania Schulz

as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Druck:

WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wichtiger Hinweis:

Die in diesem Roman erwähnten Schauplätze, Orte und Straßennamen sind teilweise real. Die Nennung der Hotels und Gastronomiebetriebe erfolgt mit Genehmigung der jeweiligen Inhaber bzw. Betreiber. Sowohl das Fuhrunternehmen als auch das Ferienhaus existieren nicht so wie beschrieben. Sie entspringen – ebenso wie die Handlung und sämtliche Charaktere – allein der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

TITELSEITE

IMPRESSUM

PROLOG

HERZBERG

SAMSTAG, 3. JUNI 2017

HERZBERG

SAMSTAGABEND, 3. JUNI 2017

HERZBERG, SCHÜTZENPLATZ

SAMSTAGABEND, 3. JUNI 2017

OSTERODE/HERZBERG

PFINGSTSONNTAG, 4. JUNI 2017

HERZBERG

PFINGSTSONNTAG, 4. JUNI 2017

HERZBERG, SCHLOSS

PFINGSTSONNTAG, 4. JUNI 2017

HERZBERG, INDUSTRIEGEBIET

PFINGSTMONTAG, 5. JUNI 2017

HERZBERG

PFINGSTMONTAG, 5. JUNI 2017

PÖHLDE/HERZBERG

DIENSTAG, 6. JUNI 2017

HERZBERG

DIENSTAG, 6. JUNI 2017

HERZBERG

DIENSTAGABEND, 6. JUNI 2017

HERZBERG

MITTWOCH, 7. JUNI 2017

PÖHLDE

MITTWOCH, 7. JUNI 2017

HERZBERG/GIEBOLDEHAUSEN

MITTWOCHABEND, 7. JUNI 2017

HERZBERG/SIEBER/PÖHLDE

DONNERSTAG, 8. JUNI 2017

EPILOG

ÜBER DIE AUTORIN

MEHR VON GABRIELA BOCK

ELEONORES BESTE SÜLZE

DIE HECKE BRENNT

DER SCHUH

Prolog

Der Herbst zeigt sein klassisches Antlitz an diesem ausklingenden Tag. Diesem Tag, den er in einem verschlossenen Raum verbracht hatte. Mit einem Sack überm Kopf. Verschnürt wie ein Paket, gewappnet, verschickt zu werden.

Wohin soll es gehen? Die Hoffnung sagt: »Nach Hause«. Der Verstand parliert: »Nirgendwo hin. Das war´s.«

Ihr Hochmut war längst in Bosheit umgeschlagen. Grob zerren sie ihn raus, verstauen ihn im Wagen, befreien ihn aus der Dunkelheit, indem sie ihm den Sack vom Kopf reißen. Das Paket bekommt Augen. Darf sehen, wohin die letzte Reise geht. Warum sich wehren? Es ist vollbracht. Er ahnte längst, was sie vorhatten.

Der Abend breitet sich diesig zwischen dunklen Baumkonturen aus. Schwankender Boden im Scheinwerferlicht. Beruhigende Eintönigkeit. Vielleicht wird ja doch alles gut. Wenigstens werden sie die verschonen, die er liebt. Das Fahrzeug steht.

»Komm raus. Los!« Nicht nötig und völlig schwachsinnig diese Aufforderung. Er wird gezogen, bis er unten liegt. Dann das Wunder, das zum Urteil wird, jetzt, da er begreift.

Warum werden die Fesseln zerschnitten? – Klar, ich soll mich frei bewegen, vor der Vollstreckung. Gedanken jagen durch seinen Kopf. Erschießen? Geht es schnell?

»Los Mann, vorwärts!«

»Und wenn nicht?«

Der Lauf einer Pistole bohrt sich gegen die Schläfe. »Wenn nicht, gibt´s nicht«. Ein hässliches, gekünsteltes Lachen. »Mit so einem Luxus können wir leider nicht dienen.«

Weiter über die regelmäßige Unebenheit des Bodens. Vorbei an der Finsternis des Waldes.

»Hier ist es! Los, rüber mit ihm.«

Die Unebenheit verliert ihre Regelmäßigkeit. Er stolpert mehrmals, aber sie halten ihn.

Mir soll nichts passieren. Ich könnte ja fallen. Wie pervers ihre Gedanken sind.

Der Boden unter ihm wird ebener. Sie bleiben stehen. Der Lichtkegel einer Taschenlampe beleuchtet etwas. Ein Tor! Groß und starr bäumt es sich vor ihm auf.

»Hast du den Schlüssel?«

Was für eine banale, alltägliche Frage. Beinah geeignet, neuen Mut zu schöpfen. Menschen, die so etwas fragen, können doch nicht schlecht sein.

Der Schlüssel passt ins Schloss. Das Tor wird geöffnet. Die Schwärze riecht nach Ungnade.

Was ist das hier? Ein verlassener Stollen? Eine Höhle? Die Sackgasse zur Unterwelt? Das Licht der Taschenlampe erhellt die Ungewissheit. Durch das Geäst der Bäume erblickt er das alte, verfallene Wohnhaus. Sein letzter Gang wird der in einen längst vergessenen Gewölbekeller sein.

»Los, geh schon! Meinst du, uns fällt das leicht?«

Meter für Meter voran. Viel Braun und Grau. Wasserpfützen, die quatschen und spritzen, wenn man hineintritt.

»Halt, hier ist es gut. Los, runter mit ihm.«

Die Wand sieht hier anders aus. Ein Eisengerüst ist in das Grau eingearbeitet. Die Pistole befiehlt ihm, sich hinzukauern. Er gehorcht. Eine Hand zwingt ihn runter auf den Boden. Feucht ist es. Er spürt die nasse Kälte an den Händen. Sie dringt durch seine Hose. Eine Flasche wird ihm vors Gesicht gehalten.

»Trink das gefälligst aus«. Er hat jetzt die Öffnung der Flasche zwischen den Lippen. »Auf ex… runter damit! Wir wollen es dir nur etwas leichter machen.«

Die Pistole ignorieren. Sollen sie mich doch erschießen. Schnell, kompromisslos und … unmöglich bei dem bröckligen Gestein. Viel zu gefährlich für sie.

Hoffnungsvolle Gedanken, nichts anderes als das Aufflackern einer Kerze, bevor sie erlischt. Eine Hand krallt sich in seine Haare, zieht den Kopf nach hinten. Der Lauf der Pistole droht in seine Stirn einzudringen.

»Los Mann, schluck den Scheiß endlich!« Er will es sofort wieder ausspucken, wird aber von zwei kräftigen Händen gehalten. Die Flüssigkeit aus der Flasche schmeckt fast wie normaler Orangensaft. Wäre da nicht dieser eigenartige, undefinierbare Beigeschmack.

»Wir haben O-Saft genommen. Dann wirkt es schneller.«

»Was ist das?«

»Keine Sorge, das wirst du gleich merken«. Sie hocken neben ihm und blicken ihn an. Wie mitfühlende Retter, die gleich sagen werden: Ab ins Krankenhaus mit dir. Schläfrig wird er. Sie glotzen lange. Einer sagt irgendwann: »Lass uns abhauen. Das war`s. Der hat`s gleich hinter sich.«

Benommen versucht er aufzustehen. Aber sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Das Licht der Taschenlampe wird immer schwächer. Ihre Gesichter. Lächelt das eine? Nur noch ein Schattengruß. Er bekommt noch mit, wie sie gehen. Ihm ist alles so egal. Ist die völlige Dunkelheit um ihn herum Realität oder ist er etwa schon tot? Nein, Schmerzen hat er nicht. Er spürt überhaupt nichts mehr. Seine bleiernen Gedanken reagieren kaum noch.

Eine hohle, gewaltige Stimme dringt wie unter Wasser an sein Ohr: »Es muss einfach sein. Ich muss es tun, weißt du!« Seine schlaffen Arme werden gehoben. Sie müssen ihm gehören. Wem sonst? Er weiß es, obwohl er sie nicht mehr spürt. Handgelenke bekommen Fesseln. Schon wieder und immer noch. Die Zeit kann weg, wird nicht mehr gebraucht. Die Ewigkeit tritt an ihre Stelle.

Herzberg

Samstag, 3. Juni 2017

Wenn er es nicht mit eigenen Augen sehen würde. Bis vor Kurzem war Dietmar in dem Glauben gewesen, seine Schwiegereltern hätten das Häuschen lange vor ihrem Tod veräußert. Beim Durchstöbern von Renates Papieren war er dann auf die Besitzurkunde gestoßen. Später hatte Gunkel ihm dann diese unglaublichen Geschichten erzählt. Und nun stand es vor ihm. Ein Schandfleck zwischen den anderen gepflegten und nett rausgeputzten Wochenendhäusern. Vor einer gefühlten Ewigkeit, als sie noch öfter die Wochenenden hier verbracht hatten, besaß das Ganze den Charakter einer kleinen Siedlung. Nun war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Gut so, er hatte keine Lust auf blödes Gequatsche und forschende Blicke. So überstürzt, wie sie vor fünfzehn Jahren aus Herzberg weggegangen waren, war er jetzt hier wieder eingefallen. Ohne Renate. Die war seit zwei Wochen tot.

Dietmar hangelte sich am Geländer entlang nach unten und befand sich nun auf einem kleinen Absatz. Beim Gang um die Hausecke stellte er fest, dass auch die beiden Fenster auf der Rückseite der Behausung mit sägerauen Brettern vernagelt worden waren. Nachdem er einen kurzen Blick auf die Schafherde geworfen hatte, die unten auf der Wiese am Eichelnbach vor sich hin graste, kraxelte er wieder nach oben. Im Morgengrauen war er in Boltenhagen aufgebrochen und durchgefahren, ohne eine Rast einzulegen, und war doch erst gegen Mittag in der Welfenstadt angekommen. Schuld war ein Stau auf der Autobahn kurz vor Hamburg, der sich über Stunden hingezogen hatte. Seitdem war er nicht nur übel gelaunt, sondern fühlte sich auch extrem schlapp. Verbittert stellte er fest, dass er hier ohne das passende Werkzeug gar nichts bewirken konnte. Entnervt setzte er sich in seinen Geländeschlitten und brauste nach Osterode.

Nachdem er auf dem Parkplatz direkt vorm Eingang des Baumarktes an einem Imbiss drei Bratwürste vertilgt hatte, dazu hastig eine Cola runterspülte, rannte er wie aufgescheucht durch den Markt und packte alles in seinen Einkaufswagen, was ihm für sein Vorhaben sinnvoll erschien. Das wichtigste Utensil war dabei ein Kuhfuß. Dem Umschlag mit den Papieren war ein Schlüssel beigelegt worden. Ursprünglich hatte es mal zwei davon gegeben. Aber was nützte ein Schlüssel? Zuerst mussten die Bretter entfernt werden. Schon als er den Baumarkt verließ, pladderte es in Strömen. Ganz in der Nähe reagierte sich ein Gewitter ab. Auf der Straße nach Herzberg war er gezwungen, beinah Schritttempo zu fahren, da der Regen auf dem Straßenbelag tanzte und die Scheibenwischer ihre Aufgabe kaum bewältigen konnten.

In Herzberg, auf dem Weg zum Beutersfeld, hielt er an einem Netto-Markt. Auch hier tobte ein Gewitter, dazu schüttete es wie aus Eimern. Einen Augenblick lang überlegte er, im Wagen zu warten, bis das Unwetter sich gelegt hatte, aber seine Ungeduld wuchs mit jeder Sekunde, die er auf dem Sitz verbrachte. Jetzt musste er Klarheit bekommen. Die Zeit durfte nicht länger gegen ihn arbeiten. Schnell war der Einkaufswagen bis zur Hälfte mit den nötigsten Lebensmitteln gefüllt. Das Einkaufen war für Dietmar zur Routine geworden, seit Renate das Haus nicht mehr verlassen hatte. Inzwischen patschnass, hatte er seinen Einkauf im Auto verstaut und den Einkaufswagen gerade zurückgeschoben, als ihm die Vergangenheit in Form seines alten Bekannten Otto begegnete. Er stand im überdachten Eingangsbereich des Marktes mit einem Karton unterm Arm.

»Ja sag mal, ist das nicht der Dietmar Henkel?!«, rief Otto und eilte auf Dietmar zu. Vor ihm stehend stellte er seinen Karton auf dem Boden ab, um beide Arme frei zu haben. Er streckte sie in der Absicht aus, Dietmar zu umarmen. Der schob die Hand vor, um Otto abzuwehren. Er konnte es noch nie leiden, wenn ein Mann ihn umarmte. Dem eigenen Sohn war das zum Glück niemals eingefallen. Das hätte er auch nicht geduldet. Hölzern reichte er Otto die Hand. Der schüttelte sie herzlich.

»Alter, ist ja toll, dich mal wiederzusehen. Wo hast du deine bessere Hälfte gelassen? Wo ist Renate?« Dabei schirmte er die Augen mit der Hand ab und tat übertrieben so, als hielte er Ausschau nach Renate. Dann nahm er den Karton wieder auf. »Unsere Rosi frisst nur das Zeug von Netto. Verstehste? Mit was anderem brauchen wir der kleinen Schnucki gar nicht erst kommen.« Er nahm eine Aluschale Hundefeuchtfutter aus dem Karton und zeigte sie Dietmar.

»Ist Rosi eure Tochter?«, fragte Dietmar, der gar nicht genau hingesehen hatte. Die Frage war durchaus ernst gemeint. Renate konnte sich ja immer an solche Lappalien erinnern. Wie die Frauen oder Kinder hießen oder wer mit wem verheiratet war. Er war da nun mal anders gestrickt und interessierte sich mehr für die wirklich wichtigen Dinge. Solche, die einen weiterbrachten im Leben.

»Haha! Ganz der Alte. Ein Witz noch furztrockener als der andere. Das ist Dietmar! Junge, meine Tochter heißt Kimberley und die Mutter dazu Jola. Schon vergessen? Rosi ist unsere Malteser-Hündin. Und jetzt verrat mir gefälligst, wo du Renate versteckt hast.«

»Renate ist seit vierzehn Tagen tot. Ich werde auch nicht an ihrer Urnenbestattung teilnehmen. Davon hat sie schließlich auch nichts mehr. Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Dietmar. Dabei war in seinem kantigen, wettergegerbten Gesicht nicht die kleinste Gemütsregung zu erkennen.

»Oh, du Ärmster«, entwich es Otto, dabei verzog er mitfühlend den Mund. Mit einem Seufzer stellte er den Karton wieder auf den Boden. Er nahm sein Käppi ab, das vorne mit einem aufgestickten Büffelkopf versehen war, und kratzte sich an seinem beinah kahlen Kopf. »Teufel verdammt, das ist ja ein Mist. Was hatte Renate denn?« Er kontrollierte, ob sein dünnes Schwänzchen aus grauen Haaren noch zusammengehalten war und setzte das Käppi wieder auf.

»Renate fiel die Treppe runter und brach sich das Genick«, sagte Dietmar, »sie musste im Haus ja immer diese Trittchen tragen. Und das bei ihrer Gangunsicherheit, durch das Rheuma bedingt. Sie wollte ja nicht auf mich hören. Immer wieder habe ich zu ihr gesagt: Renate, zieh gefälligst flache Schuhe mit Profilsohlen im Haus an. Aber sie hörte nicht. Eitel war sie, und bockig. Dabei habe ich alles für sie getan. Wir sind ihretwegen hier weggezogen und ich habe meine Existenz an die Ostseeküste verlegt. Weißt du, wie schwer es für mich war, als selbstständiger Finanzberater da oben Fuß zu fassen? Das hat Renate nie interessiert, nie! Hauptsache die Kohle stimmte.«

Nervös trippelte Otto in seinen spitzen Stiefeletten von einem Bein auf das andere. Was sagte er da? Renate eitel? Hatte Dietmar sich nicht früher immer beschwert, Renate wäre schlampig geworden? Seine Hände kamen ihm plötzlich feucht vor und er wischte sie an seiner gefransten Wildlederjacke ab. Es gefiel ihm nicht, was er da hörte. Dieser alte Kerl, der wie ein Eisklotz dastand, gefiel ihm nicht.

Otto nahm allen Mut zusammen: »Ich dachte, ihr wärt wegen Lars-Dietmar weggezogen. Hast du deinen Sohn schon aufgesucht? Weiß er vom Tod seiner Mutter?«

Dietmar trat entschlossen auf seinen Gesprächspartner zu und hing mit seinem Gesicht so nah vor dessen Gesicht, dass ihre Nasen sich beinah berührten.

»Ich habe keinen Sohn mehr. Und mein Privatleben geht niemanden etwas an. Auch dich nicht, Otto.«

»Okay, gut, alles klar!« Otto trat einige Schritte zurück, fasste sich aber sogleich wieder und fragte: »Willst du länger bleiben? Wo bist du hier eigentlich untergekommen, wenn nicht bei La…?« Nein, er hatte begriffen, dass Dietmar den Namen nicht hören wollte und hielt besser den Mund. Was dem anscheinend aber auch nicht passte.

»Tu nicht so verlogen!«, fauchte er Otto an, »ich weiß, was ihr alle über mich denkt! Ist mir so was von eeegaaal. Ihr mochtet mich ja noch nie!« Nach einer kleinen Pause, in der er sich fahrig mehrmals durch das kurze weiße Haar strich, das auch nass noch wie bei einem Igel in alle Richtungen abstand, fügte er hinzu: »Ich werde hier wohnen bleiben bis an mein Lebensende. Im Augenblick bin ich im Englischen Hof untergekommen.« Es war gelogen. Er hatte eigentlich vor, sich für eine Weile in dem Wochenendhaus niederzulassen. Davon brauchte vorerst keiner aus seinem alten Bekanntenkreis Wind bekommen. Noch viel Arbeit, dachte er und spontan fragte er Otto: »Du hast doch sicher einen Hänger, kannst du mir den mal leihen? Natürlich gebe ich dir was dafür. Die Versicherung kostet ja einiges.«

Endlich ein normales Thema. Otto lächelte selig. »Ich weiß zwar nicht genau, wofür du den brauchst. Aber klar kannst du ihn haben.« Er hatte den Karton wieder unterm Arm und war nach draußen in den Regen gegangen. Dietmar folgte ihm widerwillig. »Fahr einfach hinter mir her«, sagte Otto, »wir betreiben jetzt Einkaufsmarkt-Hopping. Der Hänger kommt gerade vom Verleih zurück und steht auf dem Parkplatz bei Aldi. Unten in der Aue. An der B 27.«

Im Auto hörte Dietmar Musik von der CD und überlegte, was er Otto auftischen könnte, wofür er den Hänger braucht. Bei ›Aber bitte mit Sahne‹ von seinem Lieblingsinterpreten Udo Jürgens kam ihm die Idee, ihm einfach zu sagen, er müsste noch mal an die See zurück, um das Haus auszuräumen. Als hätte jemand laut »Cut!« geschrien, war in der Aue der Gewitterspuk plötzlich vorbei. Sogar vereinzelte blaue Schnipsel zeigten sich an dem sonst grauen Himmel. Die Luft hatte sich merklich abgekühlt. Dietmar war so kalt, dass er sich am liebsten die nassen Klamotten vom Körper gerissen und sich in eine warme Badewanne geschmissen hätte. Stattdessen kramte er fahrig auf dem Rücksitz seines Wagens rum und fand schließlich einen blauen Leichtstrick-Pulli, den er hastig über das nasse, weiße Oberhemd zog. Otto stand schon neben dem Hänger, als sein alter Kumpel über den Parkplatz kam. »Magst du einen Kaffee?«, fragte er und zeigte auf die Bäckerei mit angeschlossenem Bistro. Dietmar konnte einen Kaffee gebrauchen. Sie gingen rüber und setzten sich. Otto tat ganz wichtig und musste Dietmar unbedingt erst mal über den neusten Stand der Dinge aufklären. »Eigentlich heiße ich ja Otto. Otto Knorr. Stimmt`s?!« Er wartete vergeblich auf eine Bestätigung von seinem Gegenüber. »Seit Jahren sind Jola und ich aber rettungslos Country und Western verfallen. Wir gehen zum Line Dance und lassen kein Konzert in der Lauterberger Harz-Mountains Ranch ausfallen.«

Dietmar nickte nur. Wie passend für Otto, dieses amerikanische Cowboygedudel. »Ja und?«, fragte er schroff. Dieser Spinner sollte sich mal kurz fassen.

»Ich fand den Namen Otto für mich immer unpassend, also überlegte ich mir einen neuen. Schließlich nannte ich mich… Jo! Wie findest du das, Dietmar?«

Verschone mich mit diesem Mist, dachte der.

»Na ja«, fuhr Otto fort, »die anderen von der Truppe fanden Jo zu gewöhnlich und bastelten noch Otto dahinter. Also, du hast jetzt einen Freund, der Jotto heißt. Na, wie hört sich das an? Grandios, was? Und ich möchte doch bitte auch so genannt werden… Jotto!« Er lehnte sich zufrieden zurück und lächelte.

Die flotte ältere Dame am Nachbartisch lächelte jetzt auch. »Hallo, hier ist Selbstbedienung, ihr müsst euch euren Kram schon selber holen«, rief sie zu den beiden rüber.

Dietmar guckte pikiert. Hatten sie schon mal zusammen Schweine gehütet? Offensichtlich kannte Otto die Person.

»Hallo Lina, das weiß ich doch. Bin ja nicht zum ersten Mal hier!« Er wandte sich Dietmar zu: »Was soll ich dir denn mitbringen? Ich nehme einen großen Kaffee und keinen Kuchen. Für dich dasselbe?«

»Ja, bitte!« Er nickte. Selbstbedienung… auch das noch. Renate und er hatten immer einen großen Bogen um Derartiges gemacht. Obwohl es Renate wahrscheinlich egal gewesen wäre. Aber ihm nicht. Er war da anders und schließlich blieb es immer an ihm hängen, die Sachen Renate hinterherzuschleppen. Mit ihrem watschelnden Gang konnte sie ja kein Tablett mit Gläsern darauf transportieren, ohne die Hälfte des Inhalts zu verschütten. So etwas war ihm genauso peinlich wie geifernde Zuschauer, wenn man sich am Kaffeeautomaten einen abbrach. Und hier war es rappelvoll.

Otto hatte den Pott Kaffee mit den Worten vor Dietmar abgestellt: »Aber trinken kannst du ihn doch alleine, oder?«

Was sollte das denn?Versuchte Otto ihn bloßzustellen?

Der war guter Laune. Er nippte an seinem Kaffee und griente ständig Lina an. Plötzlich fuhr es lautstark aus ihm heraus: »Seniorita, Cafe, solo con Jotto!« Er lachte und wiederholte noch mehrmals: »Cafe, solo con Jotto! Cafe, solo con Jotto, Cafe…!« Bemüht, Mimik, Gestik sowie Ton des Originals aus der Werbung genau zu treffen, was ihm auch erstaunlich gut gelang.

Einige Gäste amüsierten sich und Lina meinte belustigt: »Tut mir ja leid für dich, Jotto Knorr, aber diese kleinen, runden Teile aus dem Werbefernsehen haben die hier nicht. Wenn du deinen Kaffee nicht ohne Giotto trinken möchtest, musst du zu Aldi rübersprinten, die führen neuerdings auch Markenartikel, wie von Knorr oder Ferrero!«

Otto prustete los, dabei haute er sich ständig auf die Oberschenkel. Zwischendurch, er hatte vor lauter Lachen schon feuchte Augen, stand er auf und schlug so gegen Dietmars Schulter, dass der beinah vom Stuhl gekippt wäre.

»Das hier ist mein Freund, Dietmar Henkel! Sag mal Lina… haben die bei Aldi auch Henkell? Henkell trocken? Ihr wisst doch… lieber trocken trinken, als mit Dietmar trocken feiern!« Lina schüttelte lachend den Kopf. Otto setzte sich wieder. Dann fragte er, während er sich erneut auf die Schenkel schlug: »Sag mal, Alter, bin ich gut oder bin ich gut?« Und noch mal, jetzt unter Gelächter und mit Tränen in den Augen: »Na, bin ich gut oder bin ich gut?«

Dietmar war geschockt. Unmöglich, wie dieser Kerl sich wieder mal verhielt. Und dann musste er seinen Namen auch noch in einer voll besetzten Restauration rausposaunen. Ohne ausgetrunken zu haben, sprang er auf und verließ die Räumlichkeit. Genug Peinlichkeiten für heute, dachte er.

»Was hat der denn schon wieder?«, erkundigte sich Otto bei Lina, die mit »Keine Ahnung« antwortete. Nachdem er seinen beinah kalten Kaffee runtergespült hatte, stürmte er auch raus.

Nachdem sie zu zweit den Hänger an Dietmars Geländewagen gehängt hatten, fragte Otto: »Wie ist es mit heute Abend? Hast du Lust und Zeit? Ich bin mit Wolfram verabredet. Wir machen das jedes Jahr. Ohne Weiber eine kleine Runde übern Schützenplatz drehen. Du weißt doch, wie früher, als wir noch schnittig und solo waren. So einundzwanzig Uhr?«

»Wolfram Erdmann, ist das nicht dein Chef? Du fährst doch noch für ihn, oder?«

Otto nickte. Was sollte das schon wieder? Als würde Dietmar Wolfram nicht persönlich kennen. Sie waren doch früher mal gemeinsam im Männerturnverein gewesen und hatten einiges an Blödsinn zusammen verzapft. Wie oft hatten sie zusammen gefeiert, auch noch, als es Renate und Gisela in ihrem Leben gab? Jola war da noch ein Küken und spielte mit ihren Puppen.

»Juniorchef des Fuhrunternehmens ist jetzt Clemens, dieser weichgespülte Bubi. Tu bloß nicht so, als könntest du dich nicht mehr an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Dein Sohn Lars-Dietmar hatte doch später einen Disput mit Clemens. Es ging um die Lebenspartnerin deines Sohnes, Mercedis. Die arbeitet übrigens immer noch bei uns.«

»Schluss jetzt, halt endlich die Klappe«, brüllte Dietmar und atmete anschließend schwer. Er hatte seine rahmenlose Brille abgenommen. Sein Gesicht leuchtete feuerrot. Die Augen bestanden nur noch aus winzigen Schlitzen.

»Und, kommst du nun?«, fragte Otto ruhig.

»Ja, ich komme. Aber wehe, ihr erwähnt diese beiden Personen«, schnaubte Dietmar völlig außer Atem. Er hatte ein Taschentuch vorgeholt und wischte sich damit zerfahren im Gesicht herum. Sie verabschiedeten sich. Otto teilte Dietmar noch mit, dass er inzwischen in Elbingerode wohnen würde. Zusammen in einem Haus mit Jola, Kimberley und deren Sohn Connor, Hündin Rosi und dem 97-jährigen Opa. Topfit wäre der Alte. Das Letzte, was Dietmar wirklich interessierte. Mann verdammt, er war nur hier, weil er den Hänger brauchte.

* * *

Als er den steilen Schotterweg zu den Wochenendhäusern hochfuhr, sang Udo Jürgens gerade: Mit 66 Jahren…Na denn, dachte Dietmar, fange ich mal an. Nachdem er mit dem Kuhfuß die Bretter von der Eingangstür entfernt hatte, schloss er sie auf. Schon beim Betreten hätte er die drei Bratwürste, die Cola und den halben Kaffee beinah wieder ausgekotzt. Dieses erbärmliche Dreckschwein! Das sah ihm ähnlich. Schon damals, als der Junge noch zuhause wohnte, hatte es in seinem Zimmer ausgesehen wie im Saustall. Obendrein stank es hier einfach widerlich. Unten war es noch schlimmer, zwar aufgeräumter, dafür sprangen ihn Dinge an, die ihn fast durchdrehen ließen. Die Ursache des Gestanks lag direkt vor ihm. Gunkels Aussagen stimmten also wirklich. Dietmar wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Wie gut, dass er Gunkel von der Existenz des Häuschens berichtet hatte. Niemals hätte er sonst erfahren, was sich wirklich abgespielt hatte. Furchtbar genug, aber nun galt es, das Beste daraus zu machen.

Hastig packte er alles in Müllsäcke, schraubte so schnell es ging Möbel auseinander und trug sie zum Hänger. Das Zeug musste ganz schnell verschwinden. Er war gerade wieder mit einem vollen Sack und einigen Möbelteilen unterm Arm oben angekommen, als er Ottos Auto erblickte. Die alte Kiste schleppte sich röhrend den Hang rauf. Otto hielt direkt vor Dietmars Geländewagen und stieg aus. Gewöhnlich begegnete er Menschen mit einem freundlichen Ausdruck im Gesicht. Jetzt erschrak Dietmar, als er ihn sah. Der Mann blickte ihn finster an.

»Das ist ja mal ne echte Freundschaft. Jau, mein Lieber, du bist noch durchtriebener und verlogener als früher. Du bist nie im Englischen Hof gewesen. Da war ich nämlich gerade und habe nach dir gefragt!«, krakelte Otto und zog ohne zu zögern an Dietmar vorbei, um das Häuschen zu betreten. Dietmar eilte hinterher.

»Du kannst da nicht einfach so rein. Woher weißt du… und was willst du überhaupt hier?«

Otto antwortete nicht. Sie standen einfach so da und sahen sich in die Augen. Nach einer Weile ging zuerst Otto wieder hoch, kurz darauf Dietmar. Draußen öffnete Otto einen der Säcke und warf einen Blick hinein.

»Das beweist überhaupt nichts«, sagte Dietmar.

»Ich weiß jetzt Bescheid. Es stimmt also, was das Gerede angeht!«, fauchte Otto.

Dietmar schlich misstrauisch um ihn herum und fragte ängstlich: »Und, wirst du was unternehmen?«

»Vorerst nicht, aber, wenn es hart auf hart kommt, weiß ich genau, was ich tun werde. Du kannst sicher sein, dass ich der Sache auf den Grund gehe. Jetzt erst recht.«

Dietmar erstarrte. Gerede…Gerede? Davon hatte Gunkel nichts gesagt. Wer im Ort befand sich außer ihm noch im Besitz dieser Informationen?

Dietmar hatte gewartet, bis Ottos Oldtimer aus seinem Sichtfeld verschwunden war, und erst dann seinen Wutanfall bekommen. »Vollidiot!«, beschimpfte er sich selbst, zitternd vor Wut. Was hatte er sich eigentlich gedacht? Hatte er in den letzten Wochen überhaupt jemals ernsthaft nachgedacht? Pfingsten… mit Sicherheit würden gleich die Nachbarn den Schotterweg hoch biegen und über die Feiertage Scharen von Ausflüglern an dem Hänger vorbeiflanieren. Na gut, bei dem durchwachsenen Wetter vielleicht nicht ganz so viele. Neugierige Nachbarn und Ausflügler womöglich.

Inzwischen war es 18 Uhr. Für die Müllkippe viel zu spät. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als den Hänger zu verstecken. Ohne lange zu überlegen, schritt er rüber und öffnete das lose Element im Drahtzaun. Er hängte ihn ab und schob ihn auf die mit hohem Gras bedeckte Fläche neben das Haus, wo er durch eine Hecke wenigstens etwas zum Weg hin abgeschirmt wurde. Die Bremse war noch nicht wieder angezogen, als der Hänger sich selbstständig machte und den ziemlich steilen Abhang runterfuhr. Dietmar breitbeinig hinterher. Zuerst hoppelte der Hänger, bis er kurz vor dem Elektrozaun zwischen verblühten Weißdornhecken zur Seite wegkippte. Einige Schafe blökten, kauten aber sofort weiter, als wäre nichts gewesen.

»Vollidiot… Vollidiot!«, brüllte er erneut, dabei stampfte er auf wie ein bockiges Kind. Schnaufend kraxelte er hoch, holte sein Werkzeug vor und nagelte die Bretter, die er seitlich abgelegt hatte, wieder vor die Tür. Dafür brauchte er eine dreiviertel Stunde, weil die Bretter immer wieder abrutschten. Er fror. Die nassen Klamotten waren auch noch nicht vollständig am Körper getrocknet.

Nachdem er einige Minuten im Auto gesessen hatte, zerschnitt er sechs Mülltüten, stieg noch mal runter und zog und ruckelte so lange an dem Hänger, bis er wieder einigermaßen stand. Er packte alles, was herabgefallen war, wieder zurück und deckte die Ladung mit dem grünen Provisorium ab. Warum hatte er bloß so etwas Wichtiges wie eine Plane vergessen? Damit im Falle eines Sturmes nichts wegfliegen konnte, befestigte er die Enden mit Kabelbinder an der Reling des Hängers. Dabei zerkratzte er sich Gesicht und Hände an den spitzen kleinen Dornen der Weißdornbüsche. Pullover und Hemd hatten am Ärmel Blut abbekommen. Er ekelte sich vor Blut. Am Auto öffnete er den Kofferraum, dann entnahm er seinem geräumigen Koffer ein frisch gebügeltes, exakt zusammengelegtes weißes Oberhemd. Er hasste Unordnung. Frisch gewaschene und gebügelte Hemden hatte er Renate zu verdanken. Wenigstens etwas, das er ihr zu verdanken hatte. Über das Hemd zog er sich noch einen sauberen Pullover, auch wieder einen in Dunkelblau. Die feuchten, blutigen Sachen stopfte er zusammengerollt seitlich in den Kofferraum. Abgesehen von einem beachtlichen Bankkonto befand sich sein gesamter Besitz im Fahrzeug. Alles andere, wie Möbel und Hausrat, hatte er den Käufern überlassen. Renate war total ahnungslos gewesen und sie hatte auch von dem Hausverkauf vor ihrem Tod nichts mitbekommen. Er lächelte gequält. Sie hatte sich in einem Haus das Genick gebrochen, das ihnen gar nicht mehr gehörte. Tja, selbst Schuld. Was war sie auch eitel und trug solche Trittchen? Während er den Motor anließ, verzog er den Mund zu einem grotesk anmutenden Lächeln. Auf den Englischen Hof, wo er sonst mit Renate abgestiegen war, wenn sie im Harz bei ihren Eltern zu Besuch gewesen waren, hatte er jetzt keine Lust mehr. Landgasthof Schulze, da würde er die nächsten Nächte verbringen. Eine gute Adresse. Vielleicht hatte er Glück und konnte dort noch ein freies Zimmer erhaschen.

Herzberg

Samstagabend, 3. Juni 2017

»Tschüss Gisela, ich bin dann mal verschwunden! Kannst du mich nachher abholen? Ich rufe dich an.« Gisela hörte nicht. Sie war vertieft in ihre Serie ›Rote Rosen‹. Der Junge hatte ihr die aufgenommen, weil sie einige Folgen verpasst hatte.

»Gisela, ich gehe jetzt!«, rief Wolfram vom Flur ins Wohnzimmer, wo seine Frau sich vertikal auf dem bequemen Sofa befand. Kopfschüttelnd stolzierte er rüber. »Hörst du mir überhaupt noch zu?«

Nein, natürlich nicht. Was interessierte sie Wolfram, wenn im Fernsehen gerade Carla ihrem Sohn Timo mitteilte, wie stolz sie auf ihn ist, obwohl er eine Affäre mit ihrer besten Freundin angefangen hat.

Wolfram beugte sich über die Sofalehne und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich gehe jetzt, holst du mich nachher ab?«, fragte er erneut. Damit sie ihn auch wirklich wahrnahm, beugte er sich etwas weiter vor und fasste einmal fest an ihre Brust. Sie tätschelte seine Hand bestätigend, schob sie aber gleich wieder weg. Dieses gleichgültige Betatschen, so pro forma, konnte er sich getrost sparen.

»Guck mal, Liebchen, kann ich so gehen?« Er versperrte ihr jetzt die Sicht auf den Bildschirm, genau an der Stelle, wo Helen auf der Treppe wegrutscht und Peer sie mit seinen starken Armen auffängt.

»Ja, du siehst wie immer gut aus, Schatz«, sagte sie, ohne überhaupt wirklich hingeguckt zu haben. Seit sie beide Rentner waren und er immer seltener in den Betrieb fuhr, sahen sie sich ständig. Gleichgültig registrierten sie jede Faltung ihrer gealterten Körper. Man musste das Alter nehmen, wie es kam. Das Äußere veränderte sich nun mal und schließlich brauchten sie sich ja nicht nackt oder spärlich bekleidet in der Öffentlichkeit zeigen. An den Haaren hingegen konnte man einiges manipulieren. Einmal im Monat ließen sie sich die Haare von ihrer Nichte Annalena nachschneiden und färben. Gisela bevorzugte seit jeher mittelblond, während Wolfram sich für ›mystisches Rehbraun‹ entschieden hatte. Er besorgte die Farbe sogar selbst aus einem Herberger Drogeriemarkt. Wolframs üppiger Schnurrbart, seit Jahrzehnten sein Markenzeichen, brauchte eine sehr intensive Behandlung. Die Spezialfarbe extra für Bärte wurde einmal die Woche aufgetragen. Täglich trug Wolfram Bartwichse auf, ohne die sich sein Bart nicht so exakt nach oben zwirbeln ließe, wie es nun mal nötig war für diesen ausgefallenen Look. Ihre Nichte war Friseurin. Wie praktisch! So konnten sie zu Hause bedient werden und brauchten sich nicht im Salon von aller Welt angaffen lassen. Sie waren beide knapp siebzig. Annalena riet ihm ja von dem Rehbraun ab. Sie fand, es würde sein blasses, pastöses Gesicht nicht gerade attraktiver und ihn auch nicht jünger machen. Gisela, die das im Stillen auch fand, sagte nichts dazu. Ihr war es inzwischen eh wurscht, wie Wolfram aussah. Sie war aber nicht so gemein, aller Welt zu berichten, dass ihr Ehemann inzwischen nicht nur ein Schlappschwanz war, was den Alltag anbelangte, sondern auch einen besaß. Zuerst war Gisela ja noch sauer gewesen, wenn sie bemerkte, wie er seine Stundenkraft Mercedis anstarrte, und sie hätte gern erfahren, ob und was sich dabei in ihm und seiner Hose veränderte. Als das anfing, hatte sie wütend abgewinkt bei seinem Kommentar, es wäre alles rein platonisch. Inzwischen nahm sie es ihm ohne zu zögern ab.

»Schaffst du es, mich nachher abzuholen?«

Wolfram war schon beinah aus dem Wohnzimmer raus, als Gisela sich flüchtig umsah: »Du weißt doch, mein Lieber. Nur gucken, nicht anfassen!« Eine Streicheleinheit für sein Ego.

»Ich werde mich bemühen«, verkündete er, was der Macho in ihm dachte. Gisela winkte mit rechts, ohne sich umzudrehen. – Wenn du wüsstest, dachte er und warf noch mal einen selbstverliebten Blick in den Spiegel der Flurgarderobe. Er hatte zwar keinen Sex mehr… was Gisela inzwischen sicherlich auch schon registriert hatte. Inwieweit sie es vermisste, hatte ihn auch nie wirklich interessiert. Für ihn gehörte das zur Normalität in ihrem Alter und in langen Beziehungen. Aber er spürte sie noch, seine Manneskraft, seine alte Lust. Immer wenn er Mercedis‘ üppigen Busen an sich drückte, wenn er ihr mit der Hand über den Rücken strich, bis dort, wo sich zwischen zwei prallen Arschbacken diese Ritze befand… bis ganz unten kam er nicht, damit würde er wohl zu weit gehen. Doch er stellte es sich vor, immer und immer wieder.

Vor sich hin pfeifend machte er sich auf den Weg zum Schützenplatz. Als Clemens‘ Haus in sein Blickfeld rückte, pfiff er nicht mehr und ging etwas schneller. Der Junge musste ja nun nicht unbedingt mitkommen.

»Hey Papa, warum so schnell? Willst mich wohl nicht mitnehmen!«, rief Clemens hinter einem weißblühenden Jasmin hervor.

Wolfram blieb stehen. Daraus wurde jetzt wohl nichts mehr, aus seinem Männerabend ohne lästigen Familienanschluss. »Ich dachte, du wärst schon längst da, Junge.« Blöder ging es nicht. Irgendwie waren sie ja verabredet. Clemens hatte angekündigt, vorm Haus auf ihn zu warten.

»Willst deinen Sohn wohl nicht dabei haben, was? Bin dem großen Herrn wohl mal wieder nicht gut genug?«

»Ach komm, Junge! Rede keinen Blödsinn!«, bollerte Wolfram los, dabei musterte er seinen Sohn von oben bis unten. Nochmal von unten nach oben: »Seit wann trägst du diese Popelbremse, Clemens?«

»Sag mal, geht’s noch, Vatter? Das sagt einer, der unter der Nase aussieht wie Horst Lichter. Lichter in alt natürlich.«

Wolfram lachte. So auf komisch konnte man es ja aushalten mit dem Bengel. Irgendwie war er ja auch sehr stolz auf seinen gepflegten, exakt nach oben gezwirbelten Schnurrbart, der für ihn tausendmal besser aussah als der von diesem Fernsehmenschen, diesem Lichter. Hätte Wolfram nicht gekontert, wäre wahrscheinlich alles gut gewesen und sie wären gemeinsam zum Schützenplatz gegangen, aber er musste ja unbedingt Öl ins Feuer gießen: »Ich bin ja nur erstaunt, weil ich der Meinung war, mein kleiner Hosenscheißer rasiert sich immer noch einmal im Monat mit einem Handtuch.«

Wie zu erwarten tobte der Junge jetzt. Leise, mit verzerrter Miene. Früher hätten sie Menschen, die so einen Veitstanz vollführten, gleich in die Anstalt eingewiesen. Clemens hatte Glück, im 21. Jahrhundert geboren zu sein. Wie oft hatte Wolfram das schon bei seinem Anblick gedacht.

»Ich hasse dich, Papa… ich hasse dich!«

Wenn er laut wurde, war es bald vorbei. Wolfram sah das gelassen. Ruhig sah er zu, wie sich sein Sohn wimmernd und heulend mehrmals um die eigene Achse drehte und schließlich schluchzend in seinem Haus verschwand… in dem Haus, das früher mal Oma gehört hatte. Irgendwie traurig, aber wahr. So war der Junge nun mal. Gisela machte sich ja immer unnütze Gedanken um ihn. Aber Quatsch, was würde schon passieren? Drin würde Clemens jetzt erst mal das Bett aufsuchen und darin in Embryonalstellung eine Runde vor sich hin schaukeln. Und dabei Laute von sich geben, die auch von irgendwelchen verwundeten Tieren hätten stammen können. Irgendwann beruhigte er sich dann auch wieder und alles war gut. Man konnte wieder mit ihm reden. Bloß an seine Modellautos durfte niemand gehen. Dann wurde Clemens ungemütlich. Dabei besaß er zwei große echte Autos, mit denen er wie ein Wahnsinniger die Straßen unsicher machte und die ein Vermögen gekostet hatten. Na ja, dachte Wolfram, jeder hat so seine Macken.Wenigstens der Abend war jetzt gerettet. Und Clemens? Bekanntlich kriegte er sich von alleine wieder ein. Oder Gisela nahm das in die Hand in ihrer übergroßen, mütterlichen Güte. Zufrieden ging er weiter. Dann hörte er schon den Krach vom Schützenplatz. Vielleicht hatte er ja Glück und sie war auch da.

Herzberg, Schützenplatz

Samstagabend, 3. Juni 2017

Mit einem Bier in der Hand stand Otto an der ersten Bierbude gleich links und wartete auf Wolfram. Jedes Jahr trafen sie sich genau hier. Er musste unentwegt an früher denken, wo es neben den Buden ein großes Festzelt gegeben hatte, in dem richtig gute Livemusik gespielt wurde. Zusätzlich wurde das an den Platz angrenzende Schützenhaus genutzt, jedoch vorwiegend für Aktivitäten der Schützen selbst. Später wurde das Zelt immer kleiner und es wurde sogar Eintritt erhoben. Nicht selten für zweifelhafte Vergnügen wie das, einen E-Promi wie Micaela Schäfer live zu sehen. Das Schützenhaus war inzwischen an den Betreiber eines China-Restaurants verkauft worden, was er nicht unbedingt als Nachteil empfand. Gern erinnerte er sich an einen Abend mit Jola kurz nach der Eröffnung, an dem sie erst vorzüglich gespeist hatten und danach noch in der Spätvorstellung im Kino waren. Er zog die Taschenuhr aus seiner Weste. Zwanzig nach neun. Alles noch im grünen Bereich. Hastig kippte er das Bier runter und bestellte gleich noch eins hinterher. Und noch eins, nachdem er Wolfram erblickt hatte.

»Hallo Jotto, mein Lieber! Gut siehst du aus!«

»Danke Wolfram, das muss ich ja wohl auch, wenn ich mit meinem Chef unterwegs bin. Im Übrigen, du weißt doch: Die Konkurrenz schläft nie«, meinte Otto und zwinkerte Wolfram zu.

Der war vollends zufrieden und kam gar nicht hinterher, all jene zurückzugrüßen, die ihm »Hallo!« und »Guten Abend Wolfram!« zuriefen. Es gefiel ihm, dass so viele Leute ihn kannten. Für ihn war das ein Maßstab seiner Beliebtheit, von der er ja anscheinend eine große Portion abbekommen hatte. Im Übrigen war es nicht gelogen. Jotto sah fesch aus. Wie ein Goldgrubenbesitzer vom Klondike. Jola und er hatten sich im vergangenen Jahr erst mit den Anziehsachen eingedeckt. Mit der Reise nach Kanada war ein langersehnter Lebenswunsch in Erfüllung gegangen. Nach noch drei Bier für jeden, die sie sich gegenseitig ausgaben, zogen sie weiter. Den Alkohol merkte man kaum. Das dünne Bier trank sich runter wie Wasser.

Als Wolfram Mercedis erblickte, passierte das mit ihm, was immer passierte, wenn er sie sah: sein Blutdruck stieg, er lief rot an und alles um ihn herum trat in den Hintergrund. Er hatte nur noch Augen für sie. Für seine schwarzgelockte Schönheit.

»Mercedis, Mädchen, du hier? Der Abend ist gerettet!«, posaunte er ihr entgegen.

»Guten Abend Wolfram, hallo Jotto! Sagt mal, habt ihr vielleicht Lars-Dietmar und die Jungs gesehen? Die sind zusammen los. Wir wollten uns auf dem Platz treffen.«

»Habt ihr keinen genauen Treffpunkt ausgemacht?«, fragte Otto. Mercedis konnte ihm darauf nicht antworten. Wolfram hatte sie sich gekrallt. Ganz fest drückte er sie an sich. Spürte ihren Busen durch die steife Lederjoppe und strich mit seiner rechten Hand über den Stoff ihres roten Rockes, der bis zur Wade reichte und an den Seiten bis übers Knie geschlitzt war. Anders als Otto hatte er nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurden. Nicht weit von ihnen flatterte Clemens vorbei, unruhig wie ein Fähnchen im Wind. In der Hand hielt er eine geöffnete Flasche Schierker Feuerstein, an der er gelegentlich nippte. Die Augen in seinem kleinen blassen Gesicht waren rot gerändert vom vielen Weinen. Das geblümte Hemd, das er zu seiner durchlöcherten Skinny-Jeans trug, war bis zum Gürtel geöffnet und gab den Blick auf seine schmale Männerbrust frei.

Etwas versteckt ein stiller Beobachter. Dietmar stand neben der Schiffschaukel ‚Pirates of the Caribbean‘ und fasste nicht, was er da sah. Wolfram fummelte an dieser spanischen Schlampe Mercedis rum, drückte sie an sich, als wolle er in sie reinkriechen. Und das in aller Öffentlichkeit. Pfui Teufel! Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch der Sheriff des Platzes auf ihn zu. Otto oder Jotto … wie auch immer.

»Schön, dass du dich aufgerafft hast, Dietmar! Vergessen wir das fürs Erste, was ich heute gesehen habe. Da sprechen wir später noch mal drüber. Ich habe auch nur mit Wolfram und Clemens darüber gesprochen. Jola war ganz erschüttert über den Tod deiner Frau. Und als ich, nachdem ich bei dir war, nochmal im Betrieb vorbei bin, traf ich die ganze Belegschaft an. Die trauern alle mit dir. Als ich ihnen erzählte, dass ich dich im Café etwas aufgeheitert habe, fanden alle: Wenn einer das kann, Jotto, dann bist du es!« Otto kam Dietmar immer näher und begutachtete dessen Gesicht kritisch. »Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«

Der antwortete nicht, blieb stur und machte sich seine Gedanken. Otto, dieser alte Laberkopf. Mit Sicherheit hatte er überall ausposaunt, welche Entdeckung er gemacht hatte. Was ging es diesen Menschen an, wie er im Gesicht aussah?

Wolfram hatte sich schweren Herzens von Mercedis gelöst und auf die Schnelle seinen Sohn eingefangen. Er schleppte Clemens an, wie er früher seine schwächeren Kumpels umhergezerrt hatte. Mal eben den Kopf untern Arm geklemmt, so konnten sie nicht abhauen. Dabei wurde gelacht und mit den Fingerknöcheln auf der Kopfhaut gerieben, was die Blutzufuhr zum Hirn anregen sollte. Genau das hatte Clemens seiner Meinung nach jetzt bitter nötig. »Stell dich nicht so mädchenhaft an, Junge. Sei ein Mann! Und dein Hemd… was soll das denn? Zieh dich gefälligst anständig an, wenn du mit deinem alten Herrn unterwegs bist«, waren Wolframs Worte, bevor er Clemens losließ und der etwas benommen neben Otto hochkam. Otto streichelte mitfühlend über dessen blonden Schopf, während Dietmar entrüstet wegsah.

»Dietmar, Alter, ich habe schon gehört, was los ist. Tut mir leid mit Renate!« Wolfram umfasste Dietmars Schulter, dabei drängte er ihn weiterzugehen. Dietmar hatte sich schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt. Diese Dreckflosse von Wolfram lag auf seiner Schulter. Auf dem sauberen Pullover, den Renate ihm noch vor ihrem Tod mit Spezialwaschmittel gewaschen hatte. Diese Flosse hatte zuvor offensichtlichen Kontakt zu dem Gesäß einer Frau gehabt. Einer kleinen Schlampe, die schließlich an allem Schuld war. Angewidert entfernte er die Hand von sich.

Im Festzelt angekommen, nahmen sie an einer Bierzeltgarnitur Platz. Heidi… das Original von Gitti & Erika, füllte in Überlautstärke das Zelt, vermischt mit Stimmengewirr der anderen Zeltbesucher. Männer und Frauen in Schützenuniformen waren lauthals in ein Gespräch vertieft, bis plötzlich alle loslachten. Einige sehr junge Männer krakeelten und machten Faxen mit ihren E-Zigaretten. Pärchen saßen zusammen, bemüht, bei dem Lärm miteinander zu kommunizieren. Dietmar guckte gepresst von einem zum anderen. Er fühlte sich fehl am Platz. Wie immer. Nachdem die junge Bedienung die zweite Runde Bier gebracht hatte und alles ausgetrunken war, bezahlte Wolfram. Niemand sagte etwas, aber alle empfanden schließlich dasselbe. In diesem Zelt war es viel zu laut und die Musik einfach furchtbar. Sogar Dietmar, der Schlager liebte und Musik mit deutschen Texten bevorzugte, konnte diesem Programm nichts abgewinnen. Es folgte Vader Abraham mit seinem Klassiker, aber noch bevor die Schlümpfe zum Refrain angesetzt hatten, verließen sie das Zelt und zogen weiter, vorbei an dem Stand mit dem Schild ‚Erdknollen‘, an Achterbahn und »Breakdancer«. Inzwischen waren dicke Wolken aufgezogen. Es wurde langsam dunkel. Am ‚Drop Attack‘ hielten sie sich wieder links und setzten gerade zur zweiten Platzrunde an, als sie die überdachte Rettung erblickten. Orangene Bierzeltgarnituren mit echter Blumendekoration. Nach hinten versetzt zwischen Würstchenbude, an der es auch Pilze, Schaschlik und Halbmeter-Bratwurst gab, und einem Getränkestand mit weitgefächertem Angebot ergatterten sie die letzten freien Plätze. Wolfram befahl seinem Sohn, sich neben ihn zu setzen. Vor Dietmars Füßen stand ein voller Wanderrucksack, in dem sich einige der gekauften Lebensmittel und Getränke befanden. Er schob das Bier zur Seite, das Otto vor ihm abgestellt hatte, und entnahm seinem Rucksack vier Bierflaschen. Er stellte sie auf den Tisch, daneben schmiss er den Flaschenöffner.

»Guckt euch das an! Wie früher. Bloß da hatten wir härtere Sachen in unserem Rucksack. Back to the roots, Dietmar!«, grölte Wolfram und nahm sich ein Bier.

»Und was wir erst mal Hartes in unseren Hosen hatten!«, bölkte Otto. Die Beiden konnten sich vor Lachen kaum halten.

»Warum sprichst du dabei in der Vergangenheit, lieber Jotto?«, stieß Wolfram zwischen zwei Lachanfällen hervor.

»In eurem Fall handelt es sich wahrscheinlich eher um Präteritum… es war einmal. Märchenstunde!«, bemerkte Clemens. Dabei lallte er leicht.

»Oh, sieh an. Mein gebildeter Herr Sohnemann. Da hat es wohl doch was gebracht, die sechzehn Semester Unität, Betriebswirtschaft ohne Praxisbezug. Das musste Vatter dem Kleinen beibringen. Und wer hat ihn beraten, wie er mit dem Kleinen in seiner Hose…?«

»Komm, lass gut sein, Vatter. Jeder hier weiß, was du für ein Arsch bist«, unterbrach Clemens ihn. Wolfram sagte nichts mehr und war plötzlich ganz ruhig. Alle schwiegen betreten. Dann stellte Clemens die Flasche Schierker Feuerstein auf den Tisch mit den Worten: »Wenn ihr was Hartes braucht. Hier!«

»Wollen wir uns jetzt besaufen?«, fragte Dietmar, griff erneut in seinen Rucksack und zog eine volle Flasche Nordhäuser Doppelkorn heraus.

Die Stimmung war am Boden. Das Letzte, was Otto ertragen konnte. Und weil er sich für die größte Stimmungskanone aller Zeiten hielt, sah er sich auch nun genötigt, die Situation etwas aufzulockern. Er konnte ja nicht ahnen, dass die Kanone nach hinten losgehen würde. Nachdem er einige doofe Grimassen gezogen hatte, nahm er den Cowboyhut ab und wackelte mit seinen Dumbo-Ohren. Als auch das nicht half und alle noch ernst da saßen, steckte er sich Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in seine wuchtige Knollennase, dabei schielte er zur Mitte hin und grunzte wie ein ausgewachsener Eber. Wolfram lachte ganz schwach, während Clemens ihm ein angedeutetes Lächeln schenkte. Dietmar musste wegsehen. Ihm war das mal wieder peinlich.

Alle soffen ordentlich. Die Bierflaschen waren schnell geleert. Nachdem sie die Flasche Schnaps gekillt hatten, war Wolfram losgezogen und mit einem Tablett mit vollen Biergläsern zurückgekommen. Es wurde hier nicht gern gesehen, wenn die Leute sich ihren Alkohol selbst mitbrachten. Dietmar, der sich inzwischen nicht mehr ekelte, mit den anderen aus einer Flasche zu trinken, hatte nochmal in seinen Rucksack gefasst und eine Flasche Nordhäuser Haselnussschnaps auf den Tisch gestellt.

Geredet wurde immer noch nicht viel, was Otto unerträglich fand. Da musste doch dringend was unternommen werden! Gedacht, getan. Er stand auf und setzte sich auch gleich wieder. Huch… wohl doch zu viel Alkohol. Beim zweiten Anlauf klappte es. Die Tanzschritte vom Line Dance saßen nun mal einwandfrei. Lange genug hatte er das mit Jola geübt. Tanzend bewegte Otto sich zwischen den Tischen hindurch, dort, wo Platz genug war. Dazu sang er textsicher, aber völlig schief, und es gab tatsächlich einige Leute, die mitklatschten und beim Refrain mit einstiegen.

Dietmar musste mal. Sein schleichender Diabetes und der viele Alkohol. Er hatte es ja ganz gut im Griff und schon lange nicht mehr gespritzt. Der Arzt hatte ihm zu mehr Bewegung geraten. Scheiß Mediziner, was wissen die schon? Er war immer viel gewandert, am liebsten zum Knollen, und nun hingen sie dank Renate an der Ostsee rum. Dabei kam sie noch nicht mal mehr ohne Gehhilfen ans Wasser. Er wollte nur noch weg. Es kotzte ihn an, stundenlang alleine den Strand hoch und runter, das Inland fand er mit der Zeit auch ziemlich öde. Aber nun wurde es immer dringender. Bis zu diesem Klowagen seitlich des Platzes würde er es nicht mehr schaffen. Hastig sprang er auf und rannte los. In einer Lücke zwischen Kühlwagen und einem Materialcontainer bekam er seine Hose gerade noch rechtzeitig auf.

»Boah«, er guckte nach oben. Was für ein erleichterndes Gefühl, wenn der Druck nachlässt.

»Was soll das denn? Alter, was fällt dir ein, mich hier voll zu brunzen?«

Er hatte den Jungen gar nicht gesehen. Was lag er hier auch einfach so rum? Dietmar wollte ihn ja belehren, dass so etwas gar nicht geht. Aber der Bursche schubste ihn so, dass er ins Wanken geriet, der eine Brillenbügel abrutschte und er schließlich mit dem Gesicht an der Verstrebung des Kühlwagens hängenblieb. Man kann sich ja schließlich nicht abstützen, wenn man gerade dabei ist, seinen Pullermann in der Hose zu verstauen.