Liebe geht durch alle Zeiten (1). Rubinrot - Kerstin Gier - E-Book

Liebe geht durch alle Zeiten (1). Rubinrot E-Book

Kerstin Gier

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Beschreibung

Bestseller-Autorin Kerstin Gier verzaubert mit der vollständig überarbeiteten Zeitreise-Edition der Edelstein-Trilogie in neuer Optik von Gwendolyn und Gideon mit exklusivem Zusatzmaterial. Manchmal ist es echt nicht leicht, in einer Familie zu leben, die jede Menge Geheimnisse hat. Der Überzeugung ist zumindest Gwendolyn – bis sie sich eines Tages aus heiterem Himmel im London um die letzte Jahrhundertwende wiederfindet. Und ihr klar wird, dass ausgerechnet sie das allergrößte Geheimnis ihrer Familie ist. Sie ist eine Zeitreisende! Was ihr dagegen nicht klar ist: Dass man sich zwischen den Zeiten möglichst nicht verlieben sollte. Denn das macht die Sache erst recht kompliziert! Zum Mitfiebern, zum Mitlachen, zum Mitleiden: Gideon & Gwendolyn sprengen in der Edelstein-Trilogie mit ihrer Liebe alle Grenzen der Zeit! Mit vollständig überarbeitetem Inhalt der Edelstein-Trilogie. Mit exklusivem Zusatzmaterial aus Gideons Sicht, Vorwort der Autorin und Bonusmaterial zur Loge der Wächter. Weitere Bücher von Kerstin Gier im Arena Verlag: Liebe geht durch alle Zeiten (2). Saphirblau Liebe geht durch alle Zeiten (3). Smaragdgrün Jungs sind wie Kaugummi – süß und leicht um den Finger zu wickeln

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Weitere Bücher von Kerstin Gier im Arena Verlag:

Saphirblau

Smaragdgrün

Jungs sind wie Kaugummi –

süß und leicht um den Finger zu wickeln

Kerstin Gier,

Jahrgang 1966, hat 1995 ihr erstes Buch veröffentlicht und schreibt seither überaus erfolgreich für Jugendliche und Erwachsene. Ihre Edelstein-Trilogie, die Silber- und ihre Vergissmeinnicht-Reihe wurden zu internationalen Bestsellern, mehrere Romane von ihr sind verfilmt worden. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

Mehr Infos unter www.kerstingier.com und auf Instagram und TikTok unter @kerstingier.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. überarbeitete Neuauflage 2025 von Rubinrot

(erstmals 2009 in anderer Ausstattung beim Arena Verlag erschienen)

© 2025 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text

und Data Mining im Sinne von §44b UrhG vor.

Text: Kerstin Gier

Cover und Kapitelvignetten: Christian Keller unter Verwendung vonBildmaterial von Shutterstock (Bildnachweis siehe Seite 346)Lektorat der überarbeiteten Neuauflage: Anna-Lena AmendUmschlaggestaltung: Christian Keller und Juliane LindemannInnengestaltung: Oana Ramneantu, Ronja Zakrzewski und Malte Ritterunter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock(Bildnachweis siehe Seite 346)

Schriftzug: Christin Giessel

E-Book-ISBN 978-3-401-81105-5

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

Ein paar Worte vorneweg

Ihr Lieben!

Bevor ihr Gwendolyn und Gideon auf ihren Abenteuern begleitet und mit ihnen in die Vergangenheit springt, möchte ich euch ein paar Sachen erklären. Die Bücher wurden 2009 und 2010 geschrieben, die Geschichte spielt sich im Frühjahr 2011 ab, weshalb ihr euch beim Lesen selber auf eine Art Zeitreise begeben werdet. Denn damals – 2011 – war die Welt (und auch ich) noch eine andere. Es gab DVDs und Fernsehen anstelle von Netflix und Co, die Queen lebte noch, es gab keinen Brexit, der Klimawandel war kein großes Thema, und die Filme und die Musik, die Gwenny und Leslie geschaut und gehört haben, sind heute richtige Oldies, genau wie manche Ausdrücke oder auch Sichtweisen. Smartphones und Social Media waren auch nicht, was sie heute sind, ach ja, und 2011 konnte man sich seine Hausaufgaben noch nicht von einer KKII erstellen lassen, sondern musste woanders im Netz abschreiben. (Kleiner Scherz – natürlich hat man damals wie heute seine Hausaufgaben selber gemacht!)

Wir haben uns in dieser Neuauflage bemüht, vorsichtig aus dem Text herauszuoperieren und zu ersetzen, was heute so gar nicht mehr verständlich sein mag, aber es ist immer noch eine Menge 2011er-Zeug stehen geblieben, weil wir euch durchaus zutrauen, das alles im zeitlichen Kontext zu lesen.

Bereit?

Eure Kerstin Gier

Prolog

Hyde Park, London

8. April 1912

Während sie sich auf die Knie fallen ließ und anfing zu weinen, schaute er sich nach allen Seiten um. Wie er vermutet hatte, war der Park um diese Uhrzeit menschenleer. Joggen war noch lange nicht in Mode, und für Obdachlose, die auf der Parkbank schliefen, nur zugedeckt mit einer Zeitung, war es zu kalt.

Er schlug den Chronografen vorsichtig in das Tuch ein und verstaute ihn in seinem Rucksack.

Sie kauerte neben einem der Bäume am Nordufer des Serpentine Lakes in einem Teppich verblühter Krokusse.

Ihre Schultern zuckten, und ihr Schluchzen hörte sich an wie die verzweifelten Laute eines verwundeten Tiers. Er konnte es kaum ertragen. Aber er wusste aus Erfahrung, dass es besser war, sie in Ruhe zu lassen, also setzte er sich neben sie ins taufeuchte Gras, starrte auf die spiegelglatte Wasserfläche und wartete.

Wartete darauf, dass der Schmerz abebbte, der sie wahrscheinlich nie ganz verlassen würde.

Ihm war ganz ähnlich zumute wie ihr, aber er versuchte, sich zusammenzureißen. Sie sollte sich nicht auch noch Sorgen um ihn machen müssen.

»Sind Papiertaschentücher eigentlich schon erfunden?«, schniefte sie schließlich und wandte ihm ihr tränennasses Gesicht zu.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Aber ich hätte ein stilechtes Stofftaschentuch mit Monogramm anzubieten.«

»G. M. Hast du das etwa von Grace geklaut?«

»Sie hat es mir freiwillig gegeben. Du darfst es ruhig vollschniefen, Prinzessin.«

Sie verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, als sie ihm das Taschentuch zurückgab. »Jetzt ist es ruiniert. Tut mir leid.«

»Ach was! In diesen Zeiten hängt man es zum Trocknen in die Sonne und benutzt es noch einmal«, sagte er. »Hauptsache, du hast aufgehört zu weinen.«

Sofort traten ihr wieder die Tränen in die Augen. »Wir hätten sie nicht im Stich lassen dürfen. Sie braucht uns doch! Wir wissen gar nicht, ob unser Bluff funktioniert, und wir haben keine Chance, es je zu erfahren.«

Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. »Tot hätten wir ihr noch weniger genutzt.«

»Wenn wir uns nur mit ihr hätten verstecken können, irgendwo im Ausland, unter falschem Namen, nur bis sie alt genug wäre …«

Er unterbrach sie, indem er heftig den Kopf schüttelte. »Sie hätten uns überall gefunden, das haben wir doch schon tausendmal durchgesprochen. Wir haben sie nicht im Stich gelassen, wir haben das einzig Richtige getan: Wir haben ihr ein Leben in Sicherheit ermöglicht. Zumindest die nächsten sechzehn Jahre.«

Sie schwieg einen Moment. Irgendwo in der Ferne wieherte ein Pferd, und vom West Carriage Drive hörte man Stimmen, obwohl es noch beinahe Nacht war.

»Ich weiß, dass du recht hast«, sagte sie. »Es tut nur so weh zu wissen, dass wir sie nie wiedersehen werden.« Sie fuhr sich mit der Hand über die verweinten Augen. »Wenigstens werden wir uns nicht langweilen. Früher oder später werden sie uns auch in dieser Zeit aufstöbern und uns die Wächter auf den Hals hetzen. Er wird weder den Chronografen noch seine Pläne kampflos aufgeben.«

Er grinste, weil er die Abenteuerlust in ihren Augen aufblitzen sah, und wusste, dass die Krise vorerst überstanden war. »Vielleicht waren wir ja doch schlauer als er, oder das zweite Ding funktioniert am Ende gar nicht. Dann sitzt er fest.«

»Ja, schön wär’s. Aber wenn es doch funktioniert, sind wir die Einzigen, die seine Pläne durchkreuzen können.«

»Schon deshalb haben wir das Richtige getan.« Er stand auf und klopfte sich den Dreck von seiner Jeans. »Komm jetzt! Das verdammte Gras ist nass, und du sollst dich noch schonen.«

Sie ließ sich von ihm hochziehen und küssen. »Was machen wir jetzt?« Unschlüssig sah sie zur Brücke hinüber, die den Hyde Park von Kensington Gardens trennte.

»Erst mal plündern wir die Depots der Wächter und decken uns mit Geld ein. Und dann … »Er grinste breit. »Dann könnten wir den Zug nach Southhampton nehmen. Dort geht am Mittwoch die Titanic auf ihre Jungfernfahrt.«

Sie lachte. »Das ist also deine Vorstellung von schonen! Aber ich bin dabei.«

Er war so glücklich darüber, dass sie wieder lachen konnte, dass er sie gleich noch einmal küsste. »Ich dachte eigentlich … Du weißt doch, dass Kapitäne auf hoher See die Berechtigung haben, Ehen zu schließen, nicht wahr, Prinzessin?«

»Du willst mich heiraten? Auf der Titanic? Bist du irre?«

»Das wäre doch sehr romantisch.«

»Bis auf die Sache mit dem Eisberg.«

»Wir steigen natürlich in Queenstown wieder aus. Also – willst du meine Frau werden?«

Sie legte ihren Kopf an seine Brust, vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke und murmelte: »Ich liebe dich so sehr. Also – ja!«

Er zog sie noch fester an sich. Eine Weile standen sie einfach nur so da, bis er sie schließlich sanft von sich schob und tief Luft holte. »Bereit für das nächste Abenteuer, Prinzessin?«

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest. »Bereit, wenn du es bist.«

Allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten

Chroniken der Wächters - Band 1

Eine unkontrollierte Reise durch die Zeit kündigt sich in der Regel einige Minuten, manchmal auch Stunden oder sogar Tage vorher durch Schwindelgefühle in Kopf, Magen und/oder in den Beinen an. Viele Gen-Träger berichten auch von migräneähnlichen Kopfschmerzen.

Der erste Zeitsprung – auch Initiationssprung genannt – findet zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr des Gen-Trägers statt. Deshalb empfiehlt es sich, die Zeitreisenden ab dem sechzehnten Geburtstag engmaschig zu beobachten und beim geringsten Anzeichen der Symptome dafür zu sorgen, dass der Zeitsprung möglichst gefahrlos abläuft. Dafür ist die Wahl eines historisch unbedenklichen Standorts erforderlich.

Montagmittag in der Schulcafeteria spürte ich es zum ersten Mal. Für einen Moment hatte ich ein Gefühl im Bauch wie auf der Achterbahn, wenn man von der höchsten Stelle bergab rast. Es dauerte nur zwei Sekunden, aber es reichte, um mir einen Teller Kartoffelpüree mit Soße über die Schuluniform zu kippen. Das Besteck schepperte zu Boden, den Teller konnte ich gerade noch festhalten.

»Das Zeug schmeckt ohnehin wie schon mal vom Boden aufgewischt«, sagte meine Freundin Leslie, während ich die Schweinerei notdürftig beseitigte. Natürlich schauten alle zu mir herüber. »Wenn du willst, kannst du dir meine Portion gerne auch noch auf die Bluse schmieren.«

»Nein, danke.« Die Bluse der Schuluniform von Saint Lennox hatte zwar zufälligerweise die Farbe von Kartoffelpüree, trotzdem fiel der Fleck unangenehm ins Auge. Ich knöpfte die dunkelblaue Jacke darüber zu.

»Na, muss die kleine Gwenny wieder mal mit ihrem Essen spielen?«, spottete CynthiaDale. »Setz dich bloß nicht neben mich, Schlabbertante.«

»Als ob ich mich freiwillig neben dich setzen würde, Cyn.« Leider passierte mir öfter ein kleines Missgeschick mit dem Schulessen. Erst letzte Woche war mir eine grüne Götterspeise aus ihrer Aluform gehüpft und zwei Meter weiter in den Spaghetti Carbonara eines Fünftklässlers gelandet. Die Woche davor war mir Kirschsaft umgekippt, und alle am Tisch hatten ausgesehen, als hätten sie die Masern. Und wie oft ich die blöde Krawatte, die zur Schuluniform gehörte, schon in Soße, Saft oder Milch getunkt hatte, konnte ich gar nicht mehr zählen.

Nur schwindelig war mir dabei noch nie gewesen.

Aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. In letzter Zeit war bei uns zu Hause einfach zu viel von Schwindelgefühlen die Rede gewesen.

Allerdings nicht von meinen, sondern denen meiner Cousine Charlotte, die, wunderschön und makellos wie immer, neben Cynthia saß und ihren Kartoffelbrei löffelte.

Die ganze Familie wartete darauf, dass Charlotte schwindelig wurde. An manchen Tagen erkundigte sich LadyArista – meine Großmutter – alle zehn Minuten, ob sie etwas spüre. Die Pause dazwischen nutzte meine Tante Glenda, Charlottes Mutter, um haargenau das Gleiche zu fragen.

Und jedes Mal, wenn Charlotte verneinte, kniff LadyArista die Lippen zusammen, und Tante Glenda seufzte. Manchmal auch umgekehrt.

Wir anderen – meine Mum, meine Schwester Caroline, mein Bruder Nick und Großtante Maddy – verdrehten die Augen. Natürlich war es aufregend, jemanden mit einem Zeitreise-Gen in der Familie zu haben, aber mit den Jahren nutzte sich das doch merklich ab. Manchmal hatten wir das Theater, das um Charlotte veranstaltet wurde, einfach über.

Charlotte selbst pflegte ihre Gefühle hinter einem geheimnisvollen Mona-Lisa-Lächeln zu verbergen. An ihrer Stelle hätte ich auch nicht gewusst, ob ich mich über fehlende Schwindelgefühle freuen oder ärgern sollte. Na ja, um ehrlich zu sein, ich hätte mich vermutlich gefreut. Ich war eher der ängstliche Typ. Ich hatte gern meine Ruhe.

»Früher oder später ist es so weit«, sagte LadyArista jeden Tag. »Und dann müssen wir bereit sein.«

Tatsächlich war es nach dem Mittagessen so weit, im Geschichtsunterricht bei MrWhitman. Ich war hungrig aus der Cafeteria aufgestanden. Zu allem Überfluss hatte ich nämlich ein schwarzes Haar im Nachtisch – Stachelbeerkompott mit Vanillepudding – gefunden und war mir nicht sicher gewesen, ob es sich um mein eigenes oder das einer Küchenhilfe gehandelt hatte. So oder so war mir der Appetit vergangen.

MrWhitman gab uns den Geschichtstest zurück, den wir letzte Woche geschrieben hatten. »Offenbar habt ihr euch gut vorbereitet. Besonders Charlotte. Ein A plus für dich.«

Charlotte strich sich eine ihrer glänzenden roten Haarsträhnen aus dem Gesicht und sagte »Oh«, als ob das Ergebnis eine Überraschung für sie sei. Dabei hatte sie immer und überall die besten Noten.

Aber Leslie und ich konnten diesmal auch zufrieden sein. Wir hatten beide ein A minus, obwohl unsere »gute Vorbereitung« darin bestanden hatte, uns einen Spielfilm zum Thema anzuschauen und dazu Chips und Eis zu futtern. Irgendwie blieb bei dieser Lernmethode deutlich mehr Wissen hängen als beim Studium trockener Schulbücher. Jedoch bestand leider immer die Gefahr, dass die Filmleute es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen …

In Geschichte passten wir in der Regel allerdings auch in der Schule gut auf, was an MrWhitman lag. Sein Unterricht war einfach so interessant, dass man gar nicht anders konnte, als zuzuhören. MrWhitman selbst war auch sehr interessant. Die meisten Mädchen waren heimlich oder auch unheimlich in ihn verliebt. Und Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin, ebenfalls. Sie wurde jedes Mal knallrot, wenn MrWhitman an ihr vorbeiging. Er sah aber auch verboten gut aus, da waren sich alle einig. Das heißt alle, außer Leslie. Sie fand, MrWhitman sähe aus wie ein Eichhörnchen aus einem Animationsfilm.

»Immer wenn er mich mit seinen großen braunen Augen anguckt, will ich ihm Nüsse geben«, sagte sie. Sie ging sogar so weit, die aufdringlichen Eichhörnchen im Park nicht mehr Eichhörnchen zu nennen, sondern nur noch »MrWhitmans«. Dummerweise war das irgendwie ansteckend, und mittlerweile sagte ich auch immer: »Ach guck doch mal, da, ein dickes, kleines MrWhitman, wie süß!«, wenn ein Eichhörnchen näher hüpfte.

Wegen dieser Eichhörnchensache waren Leslie und ich sicher die einzigen Mädchen in der Klasse, die nicht für MrWhitman schwärmten. Ich versuchte es immer wieder mal (schon weil die Jungen in unserer Klasse irgendwie alle total kindisch waren), aber es half nichts, der Vergleich mit einem Eichhörnchen hatte sich unwiderruflich in meinem Gehirn eingenistet. Und niemand hegt romantische Gefühle für ein Eichhörnchen!

Cynthia hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, MrWhitman habe neben dem Studium als Model gearbeitet. Als Beweis hatte sie eine Reklameseite aus einem Hochglanzmagazin ausgeschnitten, in dem ein Mann, der MrWhitman nicht unähnlich sah, sich mit Duschgel einseifte.

Außer Cynthia glaubte allerdings niemand, dass MrWhitman der Duschgel-Mann sei. Der hatte nämlich ein Grübchen im Kinn und MrWhitman nicht.

Die Jungen aus unserer Klasse fanden MrWhitman nicht so toll. Vor allem GordonGelderman konnte ihn nicht ausstehen. Bevor MrWhitman an unsere Schule gekommen war, waren die Mädchen aus unserer Klasse nämlich alle in Gordon verliebt gewesen. Ich auch, wie ich leider zugeben muss, aber da war ich elf Jahre alt gewesen und Gordon irgendwie noch ganz niedlich. Jetzt, mit sechzehn, war er nur noch nervig. Und seit zwei Jahren in einer Art Dauerstimmbruch. Leider hielt ihn das abwechselnde Gekiekse und Gebrumme nicht davon ab, ständig blödes Zeug zu reden.

Gerade regte er sich schrecklich über sein F im Geschichtstest auf. »Das ist diskriminierend, MrWhitman. Ich habe mindestens ein B verdient. Nur weil ich ein Junge bin, können Sie mir keine schlechten Noten geben.«

MrWhitman nahm Gordon den Test wieder aus der Hand und blätterte eine Seite um. »Elisabeth the firstElisabeth I. war so krass hässlich, dass sie keinen Mann abbekam. Sie wurde deshalb von allen die hässliche Jungfrau genannt«, las er vor.

Die Klasse kicherte.

»Ja und? Stimmt doch«, verteidigte sich Gordon. »Ey, die Glupschaugen, der verkniffene Mund und voll die bescheuerte Frisur.«

Wir hatten die Gemälde mit den Tudors darauf in der National Portrait Gallery gründlich studieren müssen, und tatsächlich sah Elisabeth the firstElisabeth I. auf den Bildern wenig vorteilhaft aus.

»Sie nannte sich selbst die jungfräuliche Königin«, sagte MrWhitman zu Gordon. »Weil …« Er unterbrach sich. »Ist dir nicht gut, Charlotte? Hast du Kopfschmerzen?«

Sofort sahen alle zu Charlotte hinüber. Charlotte hielt sich den Kopf. »Mir ist nur schwindelig«, sagte sie und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Alles dreht sich.«

Ich holte tief Luft. Es war also so weit. Unsere Großmutter würde entzückt sein. Und Tante Glenda erst.

»Oh, cool«, flüsterte Leslie neben mir. »Wird sie jetzt durchsichtig?«

Obwohl LadyArista uns von klein auf eingetrichtert hatte, dass wir niemals, unter gar keinen Umständen mit irgendjemandem über die Vorkommnisse in unserer Familie reden dürften, hatte ich für mich selber beschlossen, dieses Verbot bei Leslie zu ignorieren. Schließlich war sie meine allerbeste Freundin, und allerbeste Freundinnen haben keine Geheimnisse voreinander.

Zum ersten Mal, seit ich sie kannte (was genau genommen mein ganzes Leben war), machte Charlotte einen beinahe hilflosen Eindruck. Aber dafür wusste ich, was zu tun war. Tante Glenda hatte es mir oft genug eingeschärft.

»Ich bringe Charlotte nach Hause«, sagte ich zu MrWhitman und stand auf. »Wenn das okay ist.«

MrWhitmans Blick ruhte immer noch auf Charlotte. »Das halte ich für eine gute Idee, Gwendolyn. Gute Besserung, Charlotte.«

»Danke«, sagte Charlotte hoheitsvoll. Auf dem Weg zur Tür taumelte sie leicht. »Kommst du, Gwenny?«

Ich beeilte mich, ihren Arm zu nehmen. Zum ersten Mal kam ich mir in Charlottes Gegenwart ein bisschen wichtig vor. Es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung mal gebraucht zu werden.

»Ruf mich unbedingt an und erzähl mir alles«, flüsterte Leslie mir noch zu.

Vor der Tür war Charlottes Hilflosigkeit schon wieder verflogen. Sie wollte tatsächlich noch ihre Sachen aus dem Spind holen.

Ich hielt sie am Ärmel fest. »Lass das doch, Charlotte! Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause. LadyArista hat gesagt …«

»Es ist schon wieder vorbei«, sagte Charlotte.

»Na und? Es kann trotzdem jeden Augenblick passieren.« Charlotte ließ sich von mir in die andere Richtung ziehen. »Wo habe ich nur die Kreide?« Ich kramte im Gehen in der Jackentasche. »Ach, hier ist sie ja. Und das Handy. Soll ich schon mal zu Hause anrufen? Hast du Angst? Oh, dumme Frage, tut mir leid. Ich bin aufgeregt.«

»Schon okay. Ich habe keine Angst.«

Ich sah sie von der Seite an, um zu überprüfen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte ihr kleines, überlegenes Mona-Lisa-Lächeln aufgesetzt, unmöglich zu erkennen, welche Gefühle sie dahinter verbarg.

»Soll ich zu Hause anrufen?«

»Was soll denn das bringen?«, fragte Charlotte zurück.

»Ich dachte nur …«

»Du kannst das Denken getrost mir überlassen«, sagte Charlotte.

Wir liefen nebeneinander die Steintreppen hinunter, auf die Nische zu, in der James immer saß. Er erhob sich sofort, als er uns sah, aber ich lächelte ihm nur zu. Das Problem mit James war, dass niemand außer mir ihn sehen und hören konnte.

James war ein Geist. Deshalb vermied ich es, mit ihm zu sprechen, wenn andere dabei waren. Nur bei Leslie machte ich eine Ausnahme. Sie hatte nie auch nur eine Sekunde an James’ Existenz gezweifelt. Leslie glaubte mir alles, und das war einer der Gründe, warum sie meine beste Freundin war. Sie bedauerte zutiefst, dass sie James nicht sehen und hören konnte.

Ich war darüber eigentlich ganz froh, denn das Erste, was James sagte, als er Leslie sah, war: »Himmelherrgott! Das arme Kind hat ja mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind! Wenn sie nicht schleunigst anfängt, eine gute Bleichlotion aufzutragen, wird sich niemals ein Mann für sie finden!«

»Frag ihn, ob er vielleicht irgendwo einen Schatz vergraben hat«, war hingegen das Erste, was Leslie sagte, als ich die beiden einander vorstellte.

Leider hatte James nirgendwo einen Schatz vergraben. Er war ziemlich beleidigt, dass Leslie ihm das zutraute. Er war auch immer beleidigt, wenn ich so tat, als sähe ich ihn nicht. Er war überhaupt recht schnell beleidigt.

»Ist er durchsichtig?«, hatte Leslie sich bei diesem ersten Zusammentreffen erkundigt. »Oder so schwarz-weiß?«

Nein, James sah eigentlich ganz normal aus. Bis auf die Klamotten natürlich.

»Kannst du durch ihn hindurchgehen?«

»Ich weiß nicht, ich hab’s noch nie versucht.«

»Dann versuch es jetzt mal«, hatte Leslie vorgeschlagen.

Aber James wollte nicht zulassen, dass ich durch ihn hindurchging.

»Was soll das heißen – Geist?«, empörte er sich. »Ein JamesAugustPeregrinPimplebottom, Erbe des vierzehnten Earls von Hardsdale, lässt sich nicht beleidigen, auch nicht von kleinen Mädchen.«

Wie so viele Geister wollte er einfach nicht wahrhaben, dass er kein Mensch mehr war. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Wir kannten uns mittlerweile seit fünf Jahren, seit meinem ersten Schultag auf der Saint Lennox High School, aber für James schien es nur ein paar Tage her zu sein, dass er im Club mit seinen Freunden eine Runde Karten gespielt und über Pferde, Schönheitspflästerchen und Perücken gefachsimpelt hatte. (Er trug beides, Schönheitspflästerchen und Perücke, was aber besser aussah, als es sich jetzt anhören mag.) Dass ich seit Beginn unserer Bekanntschaft um zwanzig Zentimeter gewachsen war, ignorierte er geflissentlich. Ebenso wie die Tatsache, dass aus dem Stadtpalais seines Vaters längst eine Privatschule geworden war, mit fließendem Wasser, elektrischem Licht und Zentralheizung. Das Einzige, das er von Zeit zu Zeit zu registrieren schien, war die Länge der Röcke unserer Schuluniform. Offenbar war der Anblick weiblicher Waden und Knöchel zu seiner Zeit höchst selten gewesen.

»Es ist nicht besonders höflich von einer Dame, einen höhergestellten Herrn nicht zu grüßen, MissGwendolyn«, rief er jetzt, wieder mal total eingeschnappt, weil ich ihm keine Beachtung schenkte.

Sofort wurde ich schwach. »Entschuldige, James. Aber wir haben es eilig.«

»Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, stehe ich selbstverständlich zur Verfügung.« James zupfte sich die Spitzenbesätze an seinen Ärmeln zurecht.

»Nein, vielen Dank. Wir müssen nur schnell nach Hause.« Als ob James irgendwie behilflich hätte sein können! Er konnte nicht mal eine Tür öffnen. »Charlotte fühlt sich nicht gut.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte James, der eine Schwäche für Charlotte hatte. Im Gegensatz zu »der Sommersprossigen ohne Manieren«, wie er Leslie zu nennen pflegte, fand er meine Cousine ausschließlich »liebreizend und von bezaubernder Anmut«. Auch heute gab er wieder schleimige Komplimente von sich. »Meine besten Wünsche! Sie sieht heute wieder einmal herzentzückend aus. Ein bisschen blass, aber zauberhaft wie eine Elfe.«

»Ich werde es ihr ausrichten.«

»Hör auf, mit deinem imaginären Freund zu sprechen«, sagte Charlotte, die ja nur meinen Part des Gesprächs hören konnte.

»Sonst landest du irgendwann noch in der Psychiatrie.«

Okay, ich würde es ihr nicht ausrichten. Sie war ohnehin schon eingebildet genug. »James ist nicht imaginär, er ist unsichtbar. Das ist ja wohl ein großer Unterschied!«

»Wenn du meinst.« Charlotte und Tante Glenda waren der Ansicht, dass ich James und die anderen Geister nur erfand, um mich wichtigzumachen. Ich bereute es, ihnen jemals davon erzählt zu haben. Als kleines Kind war es mir allerdings unmöglich gewesen, über lebendig gewordene Wasserspeier zu schweigen, die vor meinen Augen an den Fassaden herumturnten und mir Grimassen schnitten. Die Wasserspeier waren ja noch lustig, aber es gab auch gruselig aussehende dunkle Geistgestalten, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Bis ich begriff, dass Geister einem gar nichts anhaben können, hatte es ein paar Jahre gedauert. Das Einzige, was Geister wirklich tun können, ist, einem Angst einzujagen.

James natürlich nicht. Der war völlig harmlos.

»Leslie meint, es ist vielleicht ganz gut, dass James jung gestorben ist. Mit dem Nachnamen hätte er sowieso keine Frau abgekriegt«, sagte ich, nicht ohne mich zu vergewissern, dass James uns nicht mehr hören konnte. »Ich meine, wer will schon freiwillig Pickelpo heißen?«

Charlotte verdrehte die Augen.

»Er sieht allerdings nicht schlecht aus«, fuhr ich fort. »Und stinkreich und hochadelig ist er auch, wenn man ihm glauben darf. Nur seine Angewohnheit, sich ständig ein parfümiertes Spitzentaschentuch an die Nase zu halten, ist ein wenig unmännlich.«

»Wie schade, dass niemand außer dir ihn bewundern kann«, sagte Charlotte.

Das fand ich allerdings auch.

»Und wie dumm, dass du außerhalb der Familie über deine Absonderlichkeiten sprichst«, setzte Charlotte hinzu.

Das war wieder einmal so ein typischer Charlotte-Seitenhieb.

Es sollte mich kränken, und das tat es leider auch.

»Ich bin nicht absonderlich!«

»Natürlich bist du das!«

»Das musst du gerade sagen, Gen-Trägerin!«

»Das ist etwas anderes. Und ich quatsche das nicht überall herum.« Charlotte rümpfte die Nase. »Du hingegen bist wie Großtante Mad-Maddy. Die erzählt sogar dem Milchmann von ihren Visionen.«

»Du bist gemein.«

»Und du bist naiv.«

Streitend liefen wir durch die Vorhalle, vorbei am gläsernen Kabuff unseres Hausmeisters, hinaus auf den Schulhof. Es war windig, und der Himmel sah aus, als ob es jeden Augenblick zu regnen anfinge. Ich bereute, dass wir nicht doch unsere Sachen aus den Spinden geholt hatten. Ein Mantel wäre jetzt gut gewesen.

»Tut mir leid, der Vergleich mit Großtante Maddy«, sagte Charlotte und klang beinahe zerknirscht. »Ich bin wohl doch etwas aufgeregt.«

Ich sah sie überrascht von der Seite an. Sie entschuldigte sich sonst nie.

»Kann ich verstehen«, beeilte ich mich zu erwidern, damit sie merkte, dass ich ihre ungewohnte Nettigkeit zu würdigen wusste. In Wahrheit konnte von Verständnis natürlich keine Rede sein. Etwas aufgeregt? Ich an Charlottes Stelle hätte vor Angst nur so geschlottert. »Außerdem finde ich den Vergleich mit Großtante Maddy nicht schlimm.« Unsere Großtante war vielleicht ein bisschen redselig und hatte seltsame Visionen, aber sie war absolut liebenswert. Bei ihr gab es immer ein offenes Ohr für unsere Sorgen, etwas Leckeres zum Naschen sowie lustige und spannende (und laut LadyArista völlig frei erfundene) Geschichten aus ihrer Jugend. »Wenn ich mal alt bin, will ich gern so sein wie sie.«

»Eine verschrobene, unverheiratete Jungfer, die immer noch in ihrem Elternhaus wohnt?«, gab Charlotte spöttisch zurück. »Kann ich mir bei dir irgendwie gut vorstellen.«

Okay, das war’s dann wohl wieder mit »nett« bei Charlotte. Inzwischen hatten wir die Straße überquert und hasteten auf dem Bürgersteig weiter.

»Starr mich nicht unentwegt an«, sagte Charlotte. »Du wirst schon merken, wenn ich verschwinde. Dann machst du dein blödes Kreidekreuz und rennst weiter nach Hause. Aber es wird gar nicht passieren, nicht heute.«

»Das kannst du doch gar nicht wissen. Bist du gespannt, wo du landen wirst? Ich meine, wann?«

»Natürlich.« Meine Cousine verdrehte die Augen.

»Hoffentlich nicht mitten im großen Brand 1664.«

»Der große Brand von London war 1666«, dozierte Charlotte sofort los. »Das kann man sich doch wirklich leicht merken. Außerdem war dieser Teil der Stadt damals noch gar nicht großartig bebaut, ergo hat hier auch nichts gebrannt.«

Sagte ich schon, dass Charlottes weitere Vornamen »Spielverderberin« und »Klugscheißerin« waren?

Doch ich ließ nicht locker. Es war vielleicht gemein, aber ich wollte das blöde Lächeln wenigstens für ein paar Sekunden von ihrem Gesicht radiert sehen. »Wahrscheinlich brennen diese Schuluniformen wie Zunder«, bemerkte ich beiläufig.

Charlotte zuckte nicht mal zusammen. »Ich wüsste, was ich zu tun hätte«, erwiderte sie knapp und ohne das Lächeln einzustellen.

Ich konnte nicht anders, als sie für ihre Coolness zu bewundern. Für mich war die Vorstellung, plötzlich in der Vergangenheit zu landen, einfach nur Angst einflößend.

Egal zu welcher Zeit, früher war es doch immer fürchterlich gewesen. Ständig gab es Krieg, Pocken und Pest, und sagte man ein falsches Wort, wurde man als Hexe verbrannt. Außerdem gab es nur Plumpsklos, alle Leute hatten Flöhe und Läuse, und morgens kippten sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe aus dem Fenster, ganz gleich, ob da unten gerade jemand langging. Nein danke!

Charlotte war ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, sich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Sie hatte nie Zeit zum Spielen gehabt, für Freundinnen, Shopping, Kino oder Jungs.

Stattdessen hatte sie Unterricht erhalten im Tanzen, Fechten und Reiten, Klavierspielen und klassischen Gesang, in Sprachen und Geschichte. Seit letztem Jahr fuhr sie außerdem jeden Mittwochnachmittag mit LadyArista und Tante Glenda weg und kam erst spätabends zurück. Sie nannten es »Mysterienunterricht«. Über die Art der Mysterien wollte uns allerdings niemand Auskunft geben, am wenigsten Charlotte selbst.

»Das ist ein Geheimnis«, war wahrscheinlich der erste Satz gewesen, den sie fließend hatte sprechen können. Und gleich danach: »Das geht euch gar nichts an.«

Leslie sagte immer, unsere Familie habe vermutlich mehr Geheimnisse als MI6 und CIA zusammen. Gut möglich, dass sie recht hatte.

Normalerweise nahmen wir den Bus von der Schule nach Hause, die Linie 8 hielt am Berkeley Square, und von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Heute liefen wir die vier Stationen zu Fuß, wie Tante Glenda es angeordnet hatte. Ich hielt den ganzen Weg lang die Kreide gezückt, aber Charlotte blieb an meiner Seite.

Als wir die Stufen zur Haustür erklommen, war ich beinahe enttäuscht. Hier endete nämlich mein Part an der Geschichte schon wieder. Ab jetzt würde meine Großmutter die Sache übernehmen.

Ich zupfte Charlotte am Ärmel. »Sieh mal! Der Mann mit dem schwarzen Mantel ist wieder da.«

»Na und?« Charlotte sah sich nicht mal um. Besagter Mann stand gegenüber im Hauseingang von Nummer 18. Er trug wie immer einen schwarzen Trenchcoat und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut und stand einfach nur so da. Ich hatte ihn für einen Geist gehalten, bis ich bemerkt hatte, dass meine Geschwister und Leslie ihn auch sehen konnten.

Seit Monaten beobachtete er beinahe rund um die Uhr unser Haus. Möglicherweise waren es auch mehrere Männer, die sich abwechselten und genau gleich aussahen. Wir stritten uns darüber, ob es sich um spionierende Einbrecher, Privatdetektive oder einen bösen Zauberer handelte. Letzteres war die feste Überzeugung meiner Schwester Caroline. Sie war neun und liebte Geschichten mit bösen Zauberern und guten Feen. Mein Bruder Nick war zwölf und fand Geschichten mit Zauberern und Feen blöd, deshalb tippte er auf die spionierenden Einbrecher. Leslie und ich waren für die Privatdetektive.

Wenn wir aber auf die andere Straßenseite gingen, um uns den Mann näher anzuschauen, verschwand er entweder im Haus, oder er stieg in einen schwarzen Bentley, der am Bordstein parkte, und fuhr davon.

»Das ist ein Zauberauto«, behauptete Caroline. »Wenn niemand hinschaut, verwandelt es sich in einen Raben. Und der Zauberer wird zu einem winzig kleinen Männlein und reitet auf seinem Rücken durch die Luft.«

Nick hatte sich das Nummernschild des Bentleys notiert, für alle Fälle. »Obwohl sie das Auto nach dem Einbruch sicher umlackieren und ein neues Nummernschild montieren werden«, sagte er.

Die Erwachsenen taten so, als ob sie nichts Verdächtiges daran finden konnten, Tag und Nacht von einem schwarz gekleideten Mann mit Hut beobachtet zu werden.

Charlotte ebenfalls. »Was ihr nur immer mit dem armen Mann habt! Er raucht dort eine Zigarette, das ist alles.«

»Na klar!« Da glaubte ich ja noch eher die Version mit dem verzauberten Raben.

Es hatte angefangen zu regnen, keine Minute zu früh.

»Ist dir wenigstens wieder schwindelig?«, fragte ich, während wir darauf warteten, dass uns die Tür geöffnet wurde. Einen Hausschlüssel besaßen wir nicht.

»Nerv nicht so rum«, sagte Charlotte. »Es passiert, wenn es passieren soll.«

MrBernhard öffnete uns die Tür. Leslie meinte, MrBernhard sei unser Butler und der endgültige Beweis dafür, dass wir beinahe so reich waren wie die Queen. Ich wusste nicht genau, wer oder was MrBernhard wirklich war. Für meine Mum war er »Großmutters Faktotum«, und unsere Großmutter selbst nannte ihn »einen alten Freund der Familie«. Für meine Geschwister und mich war er einfach »LadyAristas unheimlicher Diener«.

Bei unserem Anblick zog er die Augenbrauen in die Höhe.

»Hallo, MrBernhard«, sagte ich. »Scheußliches Wetter, nicht wahr?«

»Absolut scheußlich.« Mit seiner Hakennase und den braunen Augen hinter seiner runden goldfarbenen Brille erinnerte mich MrBernhard immer an eine Eule, genauer gesagt an einen Uhu.

»Man sollte unbedingt einen Mantel anziehen, wenn man das Haus verlässt.«

»Ähm, ja, das sollte man wohl«, sagte ich.

»Wo ist LadyArista?«, fragte Charlotte. Sie war nie besonders höflich zu MrBernhard. Vielleicht, weil sie im Gegensatz zu uns anderen schon als Kind keinen Respekt vor ihm gehabt hatte. Dabei hatte er die wirklich Respekt einflößende Fähigkeit, überall im Haus scheinbar aus dem Nichts hinter einem aufzutauchen und sich dabei so leise zu bewegen wie eine Katze. Nichts schien ihm zu entgehen, und egal um welche Uhrzeit: MrBernhard war immer präsent.

Er war schon im Haus gewesen, bevor ich geboren wurde, und meine Mum sagte, ihn hätte es auch schon gegeben, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Deshalb war MrBernhard vermutlich schon im Rentenalter, auch wenn er nicht so aussah. Er bewohnte ein Appartement im zweiten Stock, das über einen separaten Korridor und eine Treppe vom ersten Stock aus zu erreichen war. Es war uns verboten, den Korridor auch nur zu betreten.

Mein Bruder behauptete, dass MrBernhard dort Falltüren und Ähnliches eingebaut hatte, um unliebsame Besucher abzuhalten. Aber beweisen konnte er es nicht. Niemand von uns hatte sich jemals in diesen Korridor gewagt.

»MrBernhard braucht seine Privatsphäre«, sagte LadyArista oft.

»Jaja«, sagte dann meine Mum. »Die bräuchten wir hier alle.« Aber sie sagte es so leise, dass LadyArista es nicht hörte.

»Ihre Großmutter ist im Musikzimmer«, informierte uns MrBernhard.

»Danke.« Charlotte ließ uns im Eingang stehen und lief die Treppe hinauf. Das Musikzimmer lag im ersten Stock, und warum es so hieß, wusste kein Mensch. Es stand nicht mal ein Klavier darin.

Das Zimmer war der Lieblingsraum von LadyArista und Großtante Maddy. Die Luft darin roch nach Veilchenparfüm und dem Qualm von LadyAristas Zigarillos. Gelüftet wurde viel zu selten. Es wurde einem ganz schummrig, wenn man sich länger dort aufhielt.

MrBernhard schloss die Haustür. Ich warf einen schnellen Blick an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Der Mann mit dem schwarzen Trenchcoat war immer noch da. Täuschte ich mich, oder hob er gerade die Hand, beinahe so, als ob er jemandem zuwinkte? MrBernhard vielleicht oder am Ende sogar mir? Die Tür fiel zu, und ich konnte den Gedanken nicht zu Ende verfolgen, weil urplötzlich das Achterbahngefühl von vorhin in meinen Magen zurückkehrte. Alles vor meinen Augen verschwamm. Meine Knie gaben nach, und ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.

Im nächsten Moment war es auch schon wieder vorbei.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Irgendwas stimmte nicht mit mir. Ohne Achterbahn wurde einem nicht zweimal innerhalb von zwei Stunden schwindelig.

Es sei denn … ach, Unsinn! Wahrscheinlich wuchs ich zu schnell. Oder ich hatte … ähm … einen Gehirntumor? Oder vielleicht einfach nur Hunger. Ja, das musste es sein. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Mittagessen war ja auf meiner Bluse gelandet. Erleichtert atmete ich auf.

Jetzt erst bemerkte ich, dass MrBernhards Eulenaugen mich aufmerksam musterten.

»Hoppla«, sagte er, reichlich spät.

Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich geh dann mal … Hausaufgaben machen«, murmelte ich.

MrBernhard nickte mit gleichgültiger Miene. Aber während ich die Treppe hinaufging, spürte ich seine Blicke im Rücken.

CHARLES UND GLENDA MYERS GEBEN VOLLER STOLZ DIE GEBURT IHRER TOCHTER BEKANNT:

CHARLOTTE ISABELLA ARISTA3.250 Gramm | 53 Zentimeter

Wir wissen, dass du etwas ganz Besonderes bist!

Heute Morgen um 9 Uhr 30 hat die Letzte im Kreis der Zwölf das Licht der Welt erblickt. Zur Geburt von

Charlotte Isabella Arista

läuteten sämtliche Glocken der Temple Church. Charlotte ist das erste Kind von Glenda Myers, geborene Montrose, und das vierte Enkelkind von Lord und LadyMontrose. Unserem Großmeister die herzlichsten Glückwünsche.

Wir, die Wächter der geheimen Loge des Grafen von Saint Germain, geloben feierlich, die Ehre, die Freiheit und die Unversehrtheit des Rubins mit unserem Leben zu beschützen, auf dass der Blutkreis geschlossen werden kann und sich das Geheimnis offenbart. Pro salute omnium.

Zur Feier des Tages findet heute Abend ein Feuerwerk unten an der Themse statt.

Falkde Villiers

7. Oktober 1994

Leslie nannte unser Haus »einen vornehmen Palast« wegen der vielen Zimmer, Gemälde, Holzvertäfelungen und Antiquitäten. Sie vermutete hinter jeder Wand einen Geheimgang und in jedem Schrank mindestens ein Geheimfach. Als wir noch jünger waren, gingen wir bei jedem ihrer Besuche auf Entdeckungsreise durch das Haus. Dass uns das Herumschnüffeln streng verboten worden war, machte es erst recht spannend. Wir entwickelten immer raffiniertere Strategien, um uns nicht erwischen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatten wir abgesehen von den staubigen Kriechgängen in den Abseiten unterm Dach wirklich einige Geheimfächer und sogar eine Geheimtür gefunden. Sie lag im Treppenhaus hinter einem Ölgemälde, auf dem ein Mann mit weißer Perücke, Dreispitz und gezücktem Degen auf einem Pferd saß und grimmig guckte.

Dabei handelte es sich laut Auskunft von Großtante Maddy um meinen Urururururgroßonkel Hugh und seine Fuchsstute mit dem Namen Fat Annie. Die Tür hinter dem Bild führte zwar nur ein paar Stufen hinab in ein Badezimmer, aber geheim war sie deshalb irgendwie trotzdem.

»Du bist ja so ein Glückspilz, dass du hier wohnen darfst!«, sagte Leslie immer.

Ich fand eher, dass Leslie ein Glückspilz war. Sie wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem zotteligen Hund namens Bertie in einem gemütlichen kleinen Reihenhaus in North Kensington. Da gab es keine Geheimnisse, keine unheimlichen Diener und keine nervenden Verwandten.

Früher hatten wir auch mal in so einem Haus gewohnt, meine

Mum, mein Dad, meine Geschwister und ich, und zwar in Durham, Nordengland. Aber dann war mein Dad gestorben. Meine Schwester war gerade ein halbes Jahr alt gewesen, und Mum war mit uns nach London gezogen, wahrscheinlich weil sie sich einsam gefühlt hatte. Vielleicht war sie auch mit dem Geld nicht hingekommen.

Mum war in diesem Haus hier groß geworden, zusammen mit ihren Geschwistern Glenda und Harry. Onkel Harry, der den Lordtitel geerbt hatte, lebte als Einziger nicht in London, er wohnte mit seiner Frau auf dem Landsitz der Familie in Gloucestershire.

Zuerst war mir das Haus auch wie ein Palast vorgekommen, genau wie Leslie. Aber wenn man einen Palast mit einer großen Familie teilen muss, kommt er einem nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr so groß vor. Zumal es jede Menge ungenutzten Wohnraum gab, wie den Ballsaal im Erdgeschoss, der sich fast über die gesamte Hausbreite erstreckte.

Hier hätte man toll skaten können, aber das war verboten. Der Raum war wunderschön mit seinen hohen Fenstern, den Stuckdecken und den Kronleuchtern, aber zu meinen Lebzeiten hatte es hier keinen einzigen Ball gegeben, kein großes Fest, keine Party.

Das Einzige, das im Ballsaal stattgefunden hatte, waren Charlottes Tanzstunden und ihr Fechtunterricht. Wenigstens eigneten sich die Orchesterempore und die dunklen Winkel unter den Treppen, die vom Ballsaal weiter hinauf in den ersten Stock führten, wunderbar zum Versteckspielen, weil sie mit allem möglichen Zeugs vollgestellt waren.

Im ersten Stock gab es das bereits erwähnte Musikzimmer, außerdem LadyAristas und Großtante Maddys Räume, ein Etagenbad (das mit der Geheimtür) sowie das Esszimmer, in dem sich die Familie jeden Abend um halb acht zum Essen zu versammeln hatte. Zwischen dem Esszimmer und der Küche, die wie Mr Bernards Wohnung im Souterrain lag, gab es einen altmodischen Speisenaufzug, mit dem sich Nick und Caroline manchmal zum Spaß gegenseitig auf und ab kurbelten, obwohl es (natürlich!) streng verboten war. Leslie und ich hatten das früher auch immer gemacht, jetzt passten wir leider nicht mehr hinein.

Im zweiten Stock lag das Arbeitszimmer meines verstorbenen Großvaters – LordMontrose – und eine riesige Bibliothek mit über viertausend Büchern, darunter zahlreichen Erstausgaben, die hinter Glas standen und nur mit Handschuhen angefasst werden durften. In diesem Stockwerk hatte auch Charlotte ihr Zimmer, es ging über Eck und hatte einen Erker, mit dem Charlotte gerne angab. Ihre Mutter bewohnte einen Salon und ein Schlafzimmer mit Fenstern zur Straße hin.

Von Charlottes Vater war Tante Glenda geschieden, er lebte mit einer neuen Frau irgendwo in Kent. Deshalb gab es außer MrBernhard keinen Mann im Haus, es sei denn, man zählte meinen Bruder mit. Haustiere gab es auch nicht, egal wie sehr wir auch darum bettelten. LadyArista mochte keine Tiere, und Tante Glenda war allergisch gegen alles, was Fell hatte.

Meine Mum, meine Geschwister und ich wohnten im dritten Stock, direkt unter dem Dach, wo es viele schräge Wände gab. Wir hatten jeder ein eigenes Zimmer, und auf unser großes Bad war Charlotte neidisch, weil ihr Bad im zweiten Stock keine Fenster hatte, unseres jedoch gleich zwei. Aber ich liebte unser Stockwerk vor allem, weil Mum, Nick, Caroline und ich hier ganz für uns waren, was in diesem Haus manchmal ein echter Segen sein konnte.

Nachteil war nur, dass wir verdammt weit weg von der Küche waren, was mir wieder mal unangenehm auffiel, als ich jetzt oben ankam. Ich hätte mir wenigstens einen Apfel mitnehmen sollen. So musste ich mich mit den Butterkeksen aus dem Vorrat zufriedengeben, den meine Mum in der kleinen Anrichte im Nähzimmer angelegt hatte.

Aus lauter Angst, das Schwindelgefühl könnte zurückkehren, aß ich elf Butterkekse hintereinander. Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus, ließ mich auf das Sofa im Nähzimmer plumpsen und streckte mich lang aus.

Heute war irgendwie alles seltsam. Ich meine, noch seltsamer als sonst.

Es war erst zwei Uhr. Bis ich Leslie anrufen und meine Probleme mit ihr erörtern konnte, dauerte es noch mindestens zwei Stunden. Auch meine Geschwister würden nicht vor vier Uhr aus der Schule kommen, und meine Mum machte immer erst gegen fünf bei der Arbeit Schluss. Normalerweise liebte ich es, allein in der Wohnung zu sein. Ich konnte in Ruhe ein Bad nehmen, ohne dass jemand an die Tür klopfte, weil er dringend auf die Toilette musste. Ich konnte die Musik aufdrehen und laut mitsingen, ohne dass mich jemand auslachte. Und ich konnte auf dem Sofa liegen und Filme anschauen, ohne dass jemand »Ihhh, die küssen sich ja!« quengelte.

Aber heute hatte ich zu alldem keine Lust. Nicht mal nach einem Schläfchen war mir zumute. Im Gegenteil, das Sofa – sonst ein Platz unübertroffener Geborgenheit – kam mir vor wie ein wackliges Floß in einem reißenden Fluss. Ich hatte Angst, es könnte mit mir davonschwimmen, sobald ich die Augen schloss.

Um auf andere Gedanken zu kommen, stand ich auf und fing an, das Nähzimmer ein bisschen aufzuräumen. Es war so etwas wie unser inoffizielles Wohnzimmer, denn glücklicherweise nähten weder die Tanten noch meine Großmutter, weshalb sie höchst selten in den dritten Stock hinaufkamen. Es gab hier auch schon längst keine Nähmaschine mehr, dafür eine enge Stiege, die hinauf aufs Dach führte. Diese Stiege war nur für den Schornsteinfeger bestimmt, doch Leslie und ich hatten das Dach zu einem unserer Lieblingsplätze erkoren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick von da oben, und es gab keinen besseren Ort für Mädchengespräche. Zum Beispiel darüber, welche Länder wir bereisen würden, wenn wir mit der Schule fertig waren, und dass der Mann unserer Träume Hunde und Katzen mögen sollte.

Natürlich war es ein bisschen gefährlich, weil es auf dem Dach kein Geländer gab, nur eine kniehohe Firstverzierung aus galvanisiertem Eisen. Aber man musste ja da auch nicht gerade Weitsprung üben oder bis an den Abgrund tanzen. Der Schlüssel, der zu der Tür auf dem Dach gehörte, lag in einer Zuckerdose mit Rosenmuster im Schrank.

In meiner Familie wusste niemand, dass ich das Versteck kannte, sonst wäre sicher die Hölle los gewesen. Deshalb passte ich immer sehr auf, dass niemand mitbekam, wenn ich mich aufs Dach schlich. Man konnte sich dort auch sonnen, picknicken oder sich einfach nur verstecken, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Was ich wie gesagt oft wollte, nur gerade jetzt nicht.

Ich faltete unsere Wolldecken zusammen, fegte Kekskrümel vom Sofa, klopfte Kissen in Form und räumte herumfliegende Schachfiguren zurück in ihre Schachtel. Ich goss sogar die Azalee, die in einem Topf auf dem Sekretär in der Ecke stand, und wischte mit einem feuchten Tuch über den Couchtisch. Dann sah ich mich unschlüssig in dem nun tadellos aufgeräumten Zimmer um. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen, und ich sehnte mich noch mehr nach Gesellschaft als vorher.

Ob Charlotte unten im Musikzimmer wieder schwindelig war? Was passierte eigentlich, wenn man vom ersten Stock eines Hauses im Mayfair des 21. Jahrhunderts ins Mayfair des, sagen wir mal, 15. Jahrhunderts sprang, als es an diesem Ort noch gar keine oder nur wenige Häuser gegeben hatte? Landete man dann in der Luft und plumpste sieben Meter tief auf die Erde? In einen Ameisenhaufen vielleicht? Arme Charlotte. Aber vielleicht lehrte man sie ja in ihrem mysteriösen Mysterienunterricht das Fliegen.

Apropos Mysterien: Mit einem Mal fiel mir etwas ein, womit ich mich ablenken konnte. Ich ging in Mums Zimmer und schaute hinunter auf die Straße. Im Hauseingang von Nummer 18 stand immer noch der Mann im schwarzen Trenchcoat. Ich konnte seine Beine sehen. So tief wie heute waren mir die drei Stockwerke noch nie vorgekommen. Spaßeshalber rechnete ich aus, wie weit es von hier oben bis zum Erdboden war, vierzehn oder fünfzehn Meter doch mindestens.

Konnte man einen Sturz aus so einer Höhe überhaupt überleben? Na, vielleicht, wenn man Glück hatte und in sumpfigem Marschland landete. Angeblich war ganz London mal sumpfiges Marschland gewesen, behauptete jedenfalls Mrs Counter, unsere Erdkundelehrerin. Sumpf war gut, da landete man wenigstens weich. Allerdings nur, um dann elend im Schlamm zu ertrinken.

Ich schluckte. Meine eigenen Gedanken waren mir unheimlich.

Um nicht länger allein sein zu müssen, beschloss ich, der Verwandtschaft im Musikzimmer einen Besuch abzustatten, auch auf die Gefahr hin, wegen streng geheimer Gespräche wieder hinausgeschickt zu werden.

Als ich eintrat, saß Großtante Maddy auf ihrem Lieblingssessel am Fenster, und Charlotte stand am anderen Fenster, ihren Hintern gegen den Louis-quatorze-Schreibtisch gelehnt, dessen bunt lackierte und vergoldete Oberfläche zu berühren uns streng verboten war, egal mit welchem Körperteil. (Nicht zu fassen, dass etwas so Kitschiges wie dieser Schreibtisch so wertvoll sein konnte, wie LadyArista immer behauptete. Er hatte nicht mal Geheimfächer, das hatten Leslie und ich vor Jahren schon überprüft.) Charlotte hatte sich umgezogen und trug anstelle der Schuluniform ein langes dunkelblaues Kleid, das wie eine Mischung aus Bademantel und Nonnenkluft aussah.

»Ich bin noch da, wie du siehst«, sagte sie gereizt.

»Das ist … schön«, erwiderte ich, während ich mich bemühte, das Kleid nicht allzu entsetzt anzustarren. Vermutlich war es so gewählt, damit Charlotte bei ihrem Zeitsprung möglichst unauffällig gekleidet wirkte.

»Es ist unerträglich.« Tante Glenda, die zwischen den beiden Fenstern auf und ab ging, klang ebenfalls gereizt. Wie Charlotte war sie groß und schlank und hatte leuchtend rote Locken. Meine Mum hatte die gleichen Locken, und auch meine Großmutter war mal rothaarig gewesen. Caroline und Nick hatten die Haarfarbe ebenfalls geerbt. Nur ich war dunkel- und glatthaarig wie mein Vater.

Früher hatte ich auch unbedingt rote Locken haben wollen, aber irgendwann hatte Leslie mich davon überzeugt, dass meine schwarzen Haare einen reizvollen Kontrast zu meinen blauen Augen und der hellen Haut bildeten. Leslie redete mir auch erfolgreich ein, dass mein halbmondförmiges Muttermal an der Schläfe – das Tante Glenda immer »komische Banane« nannte – geheimnisvoll und apart aussähe. Mittlerweile fand ich mich selbst ganz hübsch, nicht zuletzt dank der Zahnspange, die meine vorstehenden Vorderzähne gebändigt hatte. Auch wenn ich natürlich längst nicht so »liebreizend und voll bezaubernder Anmut« war wie Charlotte, um mit James zu sprechen. Ha, ich wünschte, er könnte sie in diesem Sackkleid sehen.

»Gwendolyn, Engelchen, möchtest du ein Zitronenbonbon?« Großtante Maddy klopfte auf den Schemel neben sich. »Setz dich doch zu mir und lenk mich ein bisschen ab. Glenda macht mich schrecklich nervös mit ihrem Hin- und Hergerenne.«

»Du hast keine Ahnung von den Gefühlen einer Mutter, Tante Maddy«, fuhr Tante Glenda sie an.

»Nein, das habe ich wohl nicht.« Großtante Maddy seufzte. Sie war die jüngere Schwester meines Großvaters und nie verheiratet gewesen, eine rundliche, kleine Person mit fröhlichen blauen Kinderaugen und goldblond gefärbten Haaren, in denen nicht selten ein vergessener Lockenwickler steckte.

»Wo ist denn LadyArista?«, fragte ich, während ich mir ein Zitronenbonbon nahm.

»Sie telefoniert nebenan.« Großtante Maddy grinste mich verschwörerisch an. »Aber so leise, dass man leider kein Wort verstehen kann. Das war übrigens das letzte Bonbon in der Dose. Du hättest nicht zufällig Zeit, mir neue zu besorgen? Und Bittermints? Und könntest du diesen Brief für mich einwerfen?«

»Klar.« Meine Geschwister und ich übernahmen oft Großtante Maddys Erledigungen, sie verließ das Haus nur, wenn es unbedingt sein musste.

Charlotte verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, und sofort fuhr Tante Glenda herum. »Charlotte?«

»Nichts«, sagte Charlotte mürrisch, und Tante Glenda kniff ihre Lippen zusammen.

»Solltest du nicht besser im Erdgeschoss warten?«, fragte ich Charlotte. »Du würdest dann nicht so tief fallen.«

»Solltest du nicht besser die Klappe halten, wenn du von Dingen überhaupt keine Ahnung hast?«, fragte Charlotte zurück.

»Wirklich, das Letzte, was Charlotte im Augenblick gebrauchen kann, sind blöde Bemerkungen.« Tante Glenda bedachte mich mit einem tadelnden Blick.

Ich fing an zu bereuen, heruntergekommen zu sein.

»Beim ersten Mal springt der Gen-Träger nie weiter zurück als hundertfünfzig Jahre«, erklärte Großtante Maddy liebenswürdig. »Das habe ich mir gemerkt. Dieses Haus ist 1810 fertiggestellt worden, hier im Musikzimmer ist Charlotte also absolut sicher. Sie könnte höchstens ein paar musizierende Ladys erschrecken.«

»In dem Kleid bestimmt«, sagte ich so leise, dass nur meine Großtante mich hören konnte. Sie kicherte.

Die Tür flog auf, und LadyArista kam herein. Wie immer sah sie aus, als habe sie einen Stock verschluckt. Oder auch mehrere. Einen für ihre Arme, einen für ihre Beine und einen, der in der Mitte alles zusammenhielt. Die weißen Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gesteckt wie bei einer Ballettlehrerin, mit der nicht gut Kirschen essen war. »Ein Fahrer ist unterwegs. Die de Villiers erwarten uns in Temple. Dann kann Charlotte bei ihrer Rückkehr gleich in den Chronografen eingelesen werden.«

Ich verstand nur Bahnhof.

»Und wenn es heute noch gar nicht passiert?«, fragte Charlotte.

»Charlotte, Liebes, dir war schon dreimal schwindelig«, erinnerte Tante Glenda sie.

»Früher oder später wird es passieren«, sagte LadyArista. »Kommt jetzt, der Fahrer wird jeden Augenblick hier sein.«

Tante Glenda nahm Charlottes Arm, und zusammen mit LadyArista verließen sie den Raum. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, sahen Großtante Maddy und ich uns an.