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Bestseller-Autorin Kerstin Gier verzaubert mit der vollständig überarbeiteten Zeitreise-Edition der Edelstein-Trilogie in neuer Optik von Gwendolyn und Gideon mit exklusivem Zusatzmaterial. Nachdem Gwendolyn herausgefunden hat, dass sie das Zeitreise-Gen in sich trägt, muss sie alles lernen, was zum Zeitreisen dazugehört: Menuett tanzen zum Beispiel oder die Etikette des 18. Jahrhunderts (beides nicht wirklich einfach!). Dabei ist sie viel mehr damit beschäftigt, zu verstehen, warum Gideon sich so seltsam verhält. Erst küsst er sie, dann lässt er sie links liegen. Doch während ihrer Zeitreise-Mission gerät Gwendolyn immer tiefer in ein Netz aus Intrigen und Verrat. Kann sie dem Grafen von Saint Germain vertrauen? Gwendolyn muss sich zusammenreißen. Schluss mit Liebeskummer und Sehnsucht. Stattdessen muss sie herausfinden, was der Graf vorhat. Denn sonst wird das nichts mit der Liebe zwischen allen Zeiten. Romantisch, witzig, beispiellos – mit den Abenteuern von Gideon und Gwenny verzaubert Kerstin Gier ihre Leserinnen und Leser. Zu jeder Zeit! Mit vollständig überarbeitetem Inhalt der Edelstein-Trilogie. Mit exklusivem Zusatzmaterial aus Gideons Sicht, Vorwort der Autorin und Bonusmaterial zur Loge der Wächter. Weitere Bücher von Kerstin Gier im Arena Verlag: Liebe geht durch alle Zeiten (1). Rubinrot Liebe geht durch alle Zeiten (3). Smaragdgrün Jungs sind wie Kaugummi – süß und leicht um den Finger zu wickeln
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2025
Weitere Bücher von Kerstin Gier im Arena Verlag:
Rubinrot
Smaragdgrün
Jungs sind wie Kaugummi –
süß und leicht um den Finger zu wickeln
Kerstin Gier,
Jahrgang 1966, hat 1995 ihr erstes Buch veröffentlicht und schreibt seither überaus erfolgreich für Jugendliche und Erwachsene. Ihre Edelstein-Trilogie, die Silber-Reihe und ihre Vergissmeinnicht-Bände wurden zu internationalen Bestsellern, mehrere Romane von ihr sind verfilmt worden. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.
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Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. überarbeitete Neuauflage 2025 von Saphirblau
(erstmals 2010 in anderer Ausstattung beim Arena Verlag erschienen)
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Text: Kerstin Gier
Cover und Kapitelvignetten: Christian Keller unter Verwendung vonBildmaterial von Shutterstock (Bildnachweis am Ende des Buches)Lektorat der überarbeiteten Neuauflage: Anna-Lena AmendUmschlaggestaltung: Christian Keller und Juliane LindemannFarbschnitt: Christian Keller und Juliane LindemannInnengestaltung: Oana Ramneantu, Ronja Zakrzewskiund Malte Ritter unter Verwendung von Bildmaterial vonShutterstock (Bildnachweis am Ende des Buches)Londonkarte: Claudia GotthardtSatz: Malte Ritter
E-Book-ISBN 978-3-401-81106-2
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Ihr Lieben!
Da sich der Hauptteil dieser Geschichte wieder im Jahr 2011 abspielt, werdet ihr beim Lesen auf Dinge, Ausdrücke, Technik, Filme, Musik und Namen stoßen, die 2009, als ich dieses Buch geschrieben habe, alle kannten. Einiges davon haben wir, wie schon in Rubinrot, komplett aus dem Text gestrichen, aber vieles ist auch geblieben, weil wir den Zeitgeist nicht mit Gewalt in die Flasche sperren wollten. Das Gute ist: Falls ihr zu jung seid, um in Erinnerungen an Bon Jovis »Halleluja« zu schwelgen oder noch nie etwas von Klingonen gehört habt, könnt ihr einfach euer Smartphone nehmen und danach suchen – das ging damals auch noch nicht so leicht (fragt mal eure Eltern ).
Das Gleiche gilt für historische Personen und nicht extra erläuterte Andeutungen und Begriffe, auf die ihr bei den Ausflügen in die Vergangenheit trefft, sowie Wörter und Ausdrücke, die auch 2011 schon megaaltmodisch waren – was wiederum daran liegt, dass man sowohl bei den Wächtern als auch im Hause Montrose und Gier eher nostalgisch unterwegs ist. (Ich sage nur »Techtelmechtel«.) Aber vielleicht macht es euch ja Spaß herauszufinden, ob man das Wort »jovial« auch als Schimpfwort verwenden kann oder wie euch Großtante Maddys Lieblingsfilm gefallen würde.
Und jetzt … bereit?
Eure Kerstin Gier
London
14. Mai 1602
Es war dunkel in den Gassen von Southwark, dunkel und einsam. Gerüche von Algen, Kloake und totem Fisch hingen in der Luft. Paul drückte Lucys Hand unwillkürlich fester und zog sie weiter. »Wir wären besser wieder direkt am Fluss entlanggegangen. In diesem Gassengewirr kann man sich ja nur verlaufen«, raunte er.
»Ja, und in jedem Winkel lauern ein Dieb und ein Mörder.« Ihre Stimme klang vergnügt. »Herrlich, oder? Das ist tausendmal besser, als in diesem stickigen Gemäuer herumzusitzen und Hausaufgaben zu machen!« Sie raffte ihr schweres Kleid und eilte weiter.
Er musste grinsen. Lucys Talent, der Sache in jeder Lage und zu jeder Zeit etwas Positives abzugewinnen, war einzigartig. Selbst das sogenannte Goldene Zeitalter Englands, das seinen Namen im Moment Lügen strafte und ziemlich finster daherkam, konnte sie nicht schrecken, eher im Gegenteil.
»Schade, dass wir nie mehr als drei Stunden Zeit haben«, sagte sie, als er zu ihr aufschloss. »Hamlet hätte mir noch besser gefallen, wenn ich ihn nicht in Fortsetzungen hätte anschauen müssen.« Geschickt wich sie einer Schlammpfütze aus. Zumindest hoffte er, dass es Schlamm war. Ausgelassen drehte sie sich einmal um die eigene Achse. »Die Zeit ist aus den Fugen, verfluchte Schicksalstücken, dass ich geboren ward, um sie zurechtzurücken. War das nicht großartig?«
Er nickte und musste sich zusammenreißen, nicht schon wieder zu grinsen. In Lucys Gegenwart tat er das zu oft. Wenn er nicht aufpasste, wirkte er noch wie der letzte Idiot!
Sie waren auf dem Weg zur London Bridge – die Southwark Bridge, die eigentlich günstiger gelegen hätte, war dummerweise zu diesem Zeitpunkt noch nicht erbaut worden. Wenn sie nicht wollten, dass ihr heimlicher Abstecher ins 17. Jahrhundert auffiel, mussten sie sich beeilen.
Gott, was würde er dafür geben, endlich diesen steifen weißen Kragen ablegen zu können! Er fühlte sich an wie eines dieser Plastikteile, die Hunde nach Operationen tragen mussten.
Lucy bog um die Ecke Richtung Fluss. Sie schien in Gedanken noch immer bei Shakespeare zu sein. »Wie viel hast du dem Mann überhaupt gegeben, dass er uns ins Globe Theatre lässt, Paul?«
»Vier von diesen schweren Münzen, keine Ahnung, was die wert sind.« Er lachte. »Vermutlich war das ein Jahreslohn oder so.«
»Auf jeden Fall hat’s geholfen. Die Plätze waren super. Wie überhaupt dieser ganze Ausflug. Als ob man durch ein lebendig gewordenes Gemälde spazieren würde. Schau doch nur!«
Sie hatten die London Bridge erreicht, und wie schon auf dem Hinweg blieb Lucy stehen und wollte jedes einzelne der Häuser kommentieren, mit denen die Brücke überbaut war. Aber er zog sie weiter. »Leider kommt dieses lebendig gewordene Gemälde auch mit dem authentischen Gestank daher. Und du weißt doch, was MrGeorge immer sagt: Wenn man zu lange unter einem Fenster stehen bleibt, bekommt man einen Nachttopf auf den Kopf geleert«, erinnerte er sie. »Außerdem fällst du auf, wenn du zu sehr staunst!«
»Ach, Unsinn. Ich bin das perfekte 1602-Girl.« Sie schaute an den Fassaden hinauf. »Ist das nicht faszinierend? Man merkt gar nicht, dass man sich auf einer Brücke befindet, es sieht aus wie eine ganz normale Straße.«
»Sogar mit Stau. Und das um diese Uhrzeit!«
Die Brücke war – im Gegensatz zu den Nebengassen – noch recht belebt, aber die Fuhrwerke, Sänften und Kutschen, die zum anderen Themseufer hinüberwollten, bewegten sich keinen Yard vorwärts. Weiter vorne hörte man Stimmen, Fluchen und Pferdewiehern, doch die Ursache des Stillstands konnte man nicht erkennen.
»Es wird Zeit, dass sie noch ein paar andere Brücken bauen«, sagte Lucy.
Direkt neben ihnen beugte sich ein Mann mit schwarzem Hut aus dem Fenster einer Kutsche. Sein steifer weißer Spitzenkragen bog sich bis zu seinen Ohren hinauf.
»Gibt es nicht noch einen anderen Weg über diesen stinkenden Fluss?«, rief er seinem Kutscher auf Französisch zu.
Der Kutscher verneinte. »Und selbst wenn, wir können nicht umdrehen, wir stecken fest! Ich werde nach vorne gehen und sehen, was passiert ist. Sicher geht es bald weiter, Sire.«
Mit einem Grummeln zog der Mann seinen Kopf samt Hut und Kragen zurück in die Kutsche, während der Kutscher abstieg und sich einen Weg durch das Gedränge bahnte.
»Hast du das gehört, Paul? Das sind Franzosen«, flüsterte Lucy begeistert. »Touristen im 17. Jahrhundert!«
»Ja. Ganz toll. Aber wir müssen weiter, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Er erinnerte sich dunkel, gelesen zu haben, dass man diese Brücke irgendwann zerstört und später fünfzehn Meter daneben wieder aufgebaut hatte. Kein guter Platz für einen Zeitsprung also.
Sie folgten dem französischen Kutscher, doch ein Stück weiter vorn standen die Menschen und Fahrzeuge so dicht, dass kein Durchkommen möglich war.
»Ich habe gehört, da hat ein Fuhrwerk mit Ölfässern Feuer gefangen«, sagte eine Frau vor ihnen zu niemandem Bestimmten. »Wenn sie nicht aufpassen, fackeln sie noch die ganze Brücke ab.«
»Aber nicht heute, soviel ich weiß«, murmelte Paul und griff nach Lucys Arm. »Komm, wir gehen zurück und warten auf der anderen Seite auf unseren Sprung.«
»Erinnerst du dich noch an die Parole? Nur für den Fall, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen.«
»Irgendwas mit Kutte und Lava.«
»Gutta cavat lapidem, du Dummkopf.« Kichernd sah sie zu ihm hoch. Ihre blauen Augen blitzten vor Vergnügen, und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, was sein Bruder Falk gesagt hatte, als er ihn nach dem perfekten Zeitpunkt gefragt hatte: »Ich würde mich nicht lange mit Reden aufhalten. Ich würde es einfach tun. Dann kann sie dir eine runterhauen, und du weißt Bescheid.«
Falk hatte natürlich wissen wollen, von wem die Rede war, aber Paul hatte keine Lust auf Diskussionen gehabt, die mit »Du weißt doch, die Verbindungen zwischen den de Villiers und den Montroses sollten rein geschäftlicher Natur sein!« begannen und mit »Außerdem sind die Montrose-Mädchen alle Zicken und werden später mal Drachen wie LadyArista« endeten.
Von wegen Zicke! Möglicherweise traf das auf die anderen Montrose-Mädchen zu, auf Lucy aber mit Sicherheit nicht.
Lucy, über deren Mut, Witz und Schönheit er jeden Tag aufs Neue staunen konnte, Lucy, der er Sachen anvertraut hatte, die er noch niemandem erzählt hatte, Lucy, an die er nur denken musste, um dieses warme Gefühl unfassbaren Glücks im Bauch zu spüren … Er holte tief Luft.
»Warum bleibst du stehen?« Sie wandte sich zu ihm um, aber da hatte er sich auch schon zu ihr hinuntergebeugt und seine Lippen auf ihren Mund gepresst. Drei Sekunden lang fürchtete er, sie würde ihn wegschubsen, doch dann schien sie ihre Überraschung überwunden zu haben und erwiderte seinen Kuss, ganz vorsichtig zuerst, dann nachdrücklicher.
Eigentlich war das hier alles andere als der perfekte Moment, mit diesem schrecklichen Kragen um den Hals, und eigentlich hatten sie es auch furchtbar eilig, denn sie konnten jeden Moment in der Zeit springen, und eigentlich …
Paul vergaß, was das dritte Eigentlich war. Alles, was jetzt zählte, war sie.
Bis er den Fehler beging, die Augen zu öffnen, und sein Blick auf eine Gestalt mit einer dunklen Kapuze fiel. Erschrocken sprang er zurück.
Lucy sah ihn einen Moment irritiert an, bevor sie rot wurde und auf ihre Füße schaute. »Tut mir leid«, murmelte sie verlegen. »LarryColeman hat auch gesagt, wenn ich küsse, fühlt sich das so an, als würde einem jemand eine Handvoll unreifer Stachelbeeren ins Gesicht drücken.«
»Stachelbeeren?« Er schüttelte den Kopf. »Und wer zum Teufel ist LarryColeman?«
Jetzt schien sie vollends verwirrt, und er konnte es ihr noch nicht einmal übel nehmen. Irgendwie musste er versuchen, wieder Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Er zog Lucy aus dem Licht der Fackeln, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Okay, Lucy. Erstens: Du küsst ungefähr so, wie … wie Erdbeeren schmecken. Zweitens: Wenn ich diesen LarryColeman finde, haue ich ihm eins auf die Nase. Drittens: Merk dir dringend, wo wir aufgehört haben. Aber im Moment haben wir ein klitzekleines Problem.«
Ohne weitere Erklärung deutete er auf den hochgewachsenen Mann, der nun lässig aus dem Schatten eines Fuhrwerkes herausschlenderte und sich zum Kutschenfenster des Franzosen beugte.
Lucys Augen weiteten sich vor Schreck.
»Guten Abend, Baron.« Der Hochgewachsene sprach ebenfalls Französisch. Beim Klang seiner seidenweichen Stimme krallte sich Lucys Hand in Pauls Arm.
»Wie schön, Euch zu sehen.« Der Mann streifte seine Kapuze ab. »Ein weiter Weg aus Flandern hierher.«
Aus dem Inneren der Kutsche erklang ein überraschter Ausruf. »Der falsche Marquis! Was macht Ihr denn hier? Wie passt das zusammen?«
»Das wüsste ich auch gern«, wisperte Lucy.
»Begrüßt man so seinen eigenen Nachkommen?«, erwiderte der Mann gut gelaunt. »Immerhin bin ich der Enkelsohn des Enkelsohnes Eures Enkelsohnes, und auch wenn man mich gern den Mann ohne Vornamen nennt, darf ich Euch versichern, dass ich einen habe. Sogar mehrere, um genau zu sein. Darf ich Euch in der Kutsche Gesellschaft leisten? Es steht sich nicht besonders bequem hier, und diese Brücke wird noch eine gute Weile verstopft sein.« Ohne die Antwort abzuwarten oder sich noch einmal umzusehen, öffnete er die Tür und stieg in die Kutsche.
Lucy hatte Paul zwei Schritte zur Seite gezogen, weg aus dem Lichtkreis der Fackeln. »Er ist es wirklich! Nur viel jünger. Was sollen wir denn jetzt tun?«
»Gar nichts«, flüsterte Paul zurück. »Wir können ja schlecht hingehen und Hallo sagen! Wir dürften gar nicht hier sein.«
»Und wieso ist er hier?«
»Ein dummer Zufall. Er darf uns auf keinen Fall sehen. Komm, wir müssen zurück ans Ufer.«
Aber keiner von ihnen rührte sich von der Stelle. Wie gebannt starrten sie auf das dunkle Fenster der Kutsche, noch faszinierter als vorhin auf die Bühne des Globe Theatre.
»Ich habe Euch bei unserem letzten Treffen doch deutlich zu verstehen gegeben, was ich von Euch halte«, drang jetzt die Stimme des französischen Barons aus der Kutsche.
»Oh ja, das habt Ihr!« Das leise Lachen des Besuchers trieb Paul eine Gänsehaut auf die Arme, ohne dass er sagen konnte, warum.
»Mein Entschluss steht fest!« Die Stimme des Barons wackelte ein wenig. »Ich werde dieses Teufelsgerät der Allianz übergeben, ganz egal, welch perfide Methoden Ihr auch anwenden mögt, um mich davon abzubringen. Ich weiß, dass Ihr mit dem Teufel im Bunde steht.«
»Was meint er denn?«, flüsterte Lucy.
Paul schüttelte nur den Kopf.
Wieder ertönte ein leises Lachen. »Mein engstirniger, verblendeter Vorfahre! Wie viel leichter hätte Euer Leben – und auch meins! – sein können, wenn Ihr auf mich gehört hättet und nicht auf Euren Bischof oder diese bedauernswerten Fanatiker der Allianz. Wenn Ihr Euren Verstand benutzt hättet anstelle Eures Rosenkranzes. Wenn Ihr erkannt hättet, dass Ihr Teil von etwas Größerem seid als dem, was Euer Priester Euch predigt.«
Die Antwort des Barons schien aus einem Vaterunser zu bestehen, Lucy und Paul hörten ihn leise murmeln.
»Amen!«, sagte der Besucher mit einem Seufzer. »Das ist also Euer letztes Wort in dieser Sache?«
»Ihr seid der Teufel persönlich!«, spie der Baron hervor. »Verlasst meinen Wagen, und kommt mir niemals wieder unter die Augen.«
»Ganz wie Ihr wünscht. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit. Ich habe es Euch bisher nicht gesagt, um Euch nicht unnötig aufzuregen, aber auf Eurem Grabstein, den ich mit eigenen Augen gesehen habe, steht der vierzehnte Mai 1602 als Euer Todestag verzeichnet.«
»Aber das ist doch …«, stotterte der Baron.
»… heute, richtig. Und es fehlt nicht mehr viel bis Mitternacht.«
Vom Baron war ein Keuchen zu hören.
»Was tut er denn da?« Lucys Hand umklammerte Pauls Arm.
»Er bricht seine eigenen Gesetze.« Pauls Gänsehaut war hinauf bis zu seinem Nacken gewandert. »Er spricht über …« Er unterbrach sich, denn in seinem Magen breitete sich ein wohlbekanntes, mulmiges Gefühl aus.
»Mein Kutscher wird gleich zurück sein«, behauptete der Baron. Seine Stimme klang nicht mehr verärgert, sondern ängstlich.
»Ja, da bin ich sicher«, erwiderte der Besucher fast ein bisschen gelangweilt. »Deshalb beeile mich ja auch.«
Lucy hatte die Hand auf den Bauch gelegt. »Paul!«
»Ich weiß, ich spüre es auch. Verfluchter Mist … Wir müssen los, wenn wir nicht elend tief in den Fluss stürzen wollen.« Er packte ihren Arm und zog sie vorwärts, sorgfältig darauf bedacht, sein Gesicht nicht dem Kutschenfenster zuzuwenden.
»Wohl seid Ihr eigentlich in Eurer Heimat verstorben, an den Folgen einer unangenehmen Influenza«, hörten sie die Stimme des Besuchers, während sie an der Kutsche vorbeischlichen. »Aber da meine Besuche bei Euch in letzter Konsequenz dazu geführt haben, dass Ihr heute hier in London seid und Euch bester Gesundheit erfreut, ist etwas empfindlich aus dem Gleichgewicht geraten. Korrekt, wie ich nun einmal bin, fühle ich mich daher verpflichtet, dem Tod ein wenig auf die Sprünge zu helfen.«
Paul war zwar vor allem mit dem Gefühl in seinem Magen beschäftigt und damit auszurechnen, wie viele Schritte es noch bis zum Ufer waren, dennoch sickerte die Bedeutung der Worte in sein Bewusstsein, und er blieb wieder stehen.
Lucy knuffte ihn in die Seite. »Lauf!«, zischte sie, während sie zu rennen begann. »Wir haben nur noch ein paar Sekunden!«
Mit weichen Knien setzte er sich ebenfalls in Bewegung, und während er rannte und das nahe Ufer vor seinen Augen zu verschwimmen begann, hörte er aus dem Inneren der Kutsche einen grauenhaften, wenn auch gedämpften Schrei, dem ein geröcheltes »Teufel!« folgte – dann herrschte tödliche Stille.
Saphir und Schwarzer Turmalin, Lucy und Paul, wurden heute um 15 Uhr zum Elapsieren ins Jahr 1948 geschickt. Als sie um 19 Uhr zurückkehrten, landeten sie im Rosenbeet vor dem Fenster des Drachensaals, in vollkommen durchnässten Kostümen des 17. Jahrhunderts. Sie machten einen recht verstörten Eindruck auf mich und redeten wirres Zeug, daher verständigte ich gegen ihren Willen LordMontrose und Falkde Villiers.
Die Geschichte ließ sich allerdings ganz einfach aufklären. LordMontrose erinnerte sich noch genau an das Kostümfest, das man im Jahr 1948 im Garten feierte und in dessen Verlauf einige Gäste, darunter auch Lucy und Paul, nach dem Genuss von zu viel Erdbeerbowle im Goldfischbecken landeten. LordMontrose, der die beiden damals auf das Fest schmuggelte, übernahm die Verantwortung für diesen Vorfall und versprach, die ruinierten Exemplare der Rosen »Ferdinand Pichard« und »Mrs John Laing« höchstpersönlich zu ersetzen.
Lucy und Paul wurden strengstens ermahnt, sich künftig, egal in welcher Zeit, von Alkohol fernzuhalten.
Bericht:
J. Mountjoy, Adept 2. Grades
22. Januar 1993
Mountjoy ist eine Petze
Herrschaften, das ist eine Kirche! Hier küsst man sich nicht!«
Erschrocken riss ich die Augen auf und fuhr hastig zurück, in Erwartung, einen altmodischen Pfarrer mit wehender Soutane und empörter Miene auf mich zueilen zu sehen, bereit, eine Strafpredigt auf uns niederdonnern zu lassen. Aber es war nicht der Pfarrer, der unseren Kuss gestört hatte. Es war überhaupt kein Mensch. Es war ein kleiner Wasserspeier, der auf der Kirchenbank direkt neben dem Beichtstuhl hockte und mich genauso verblüfft anschaute wie ich ihn.
Wobei das eigentlich schwer möglich war. Denn meinen Zustand konnte man gar nicht mehr mit Verblüffung umschreiben. Um ehrlich zu sein, hatte ich eher so etwas wie gewaltige denktechnische Aussetzer.
Angefangen hatte alles mit diesem Kuss.
Gideonde Villiers hatte mich, Gwendolyn Shepherd, geküsst.
Natürlich hätte ich mich fragen müssen, warum er auf die Idee gekommen war, dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Kuss war. Im Beichtstuhl in einer Kirche irgendwo in Belgravia im Jahr 1912, in die wir geflüchtet waren, nachdem wir im Haus meiner Ururgroßmutter haarscharf einem Hinterhalt entkommen waren. (Übrigens gar nicht so einfach, in einem knöchellangen, engen Matrosenkragenkleid und zierlichen Stiefelletten über Kopfsteinpflaster zu rennen.)
Ich hätte analytische Vergleiche anstellen können zu den Küssen, die ich von anderen Jungs bekommen hatte, und woran es wohl lag, dass Gideon so viel besser küssen konnte.
Mir hätte auch zu denken geben können, dass eine Wand mit einem Beichtstuhlfenster zwischen uns war, durch das Gideon seinen Kopf und seine Arme gezwängt hatte, und dass das keine idealen Bedingungen für einen Kuss waren. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht noch mehr Chaos in meinem Leben brauchen konnte, nachdem ich erst vor drei Tagen erfahren hatte, dass ich das Zeitreise-Gen von meiner Familie geerbt hatte.
Tatsache allerdings war, dass ich überhaupt nichts dachte, außer vielleicht Oh und Hmmmm und Mehr!
Deswegen hatte ich auch das Ziehen im Bauch nicht richtig mitbekommen, und erst jetzt, als dieser kleine Wasserspeier seine Arme verschränkte und mich von seiner Kirchenbank anfunkelte, erst, als mein Blick auf den kackbraunen Vorhang des Beichtstuhls fiel, der eben noch samtgrün gewesen war, schwante mir, dass wir in der Zwischenzeit zurück in die Gegenwart gesprungen waren.
»Mist!« Gideon zog sich auf seine Seite vom Beichtstuhl zurück und rieb sich den Hinterkopf.
Mist? Ich plumpste unsanft von meiner Wolke sieben und vergaß den Wasserspeier.
»So schlecht fand ich es auch wieder nicht.« Ich bemühte mich um einen möglichst lässigen Tonfall. Leider war ich ziemlich außer Atem und hätte Gideon nicht in die Augen sehen können, ohne rot zu werden, also konzentrierte ich meinen Blick auf den Beichtstuhlvorhang, als fände ich gerade nichts interessanter als braunen Polyesterstoff.
Gott! Ich war beinahe hundert Jahre durch die Zeit gereist, ohne etwas zu merken, weil dieser Kuss mich so vollkommen und ganz und gar … überrascht hatte. Ich meine, in der einen Minute meckert der Typ an einem herum, in der nächsten befindet man sich mitten in einer Verfolgungsjagd und muss sich vor Männern mit Pistolen in Sicherheit bringen, und plötzlich – wie aus dem Nichts – behauptet er, man sei etwas ganz Besonderes, und küsst einen. Und wie Gideon küsste! Ich wurde sofort eifersüchtig auf alle Mädchen, bei denen er das gelernt hatte.
»Niemand zu sehen.« Er lugte aus dem Beichtstuhl und trat dann hinaus in die Kirche. »Gut. Wir nehmen den Bus zurück nach Temple. Komm, sie werden uns schon erwarten. Unterwegs können wir uns überlegen, was genau wir ihnen erzählen.«
Fassungslos schob ich den Vorhang beiseite und starrte Gideon an. Hieß das jetzt etwa, dass er wieder zur Tagesordnung übergehen wollte? Nach einem Kuss (am besten natürlich schon vorher, aber dafür war es ja nun zu spät) sollte man vielleicht doch ein paar grundsätzliche Dinge klären, oder? War der Kuss eine Art Liebeserklärung gewesen? Waren Gideon und ich jetzt vielleicht sogar zusammen? Oder hatten wir nur ein bisschen rumgeknutscht, weil wir gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatten?
»In diesem Aufzug fahre ich nicht mit dem Bus«, erklärte ich kategorisch, während ich so würdevoll wie möglich aufstand. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als eine der Fragen zu stellen, die mir durch den Kopf schossen.
Mein Kleid war weiß mit himmelblauen Satinschleifen in der Taille und am Kragen, vermutlich der letzte Schrei im Jahr 1912, aber definitiv nicht geeignet für öffentliche Verkehrsmittel im 21. Jahrhundert. »Wir nehmen ein Taxi.«
Gideon drehte sich zu mir um, doch er widersprach mir nicht. In seinem Gehrock und der Bügelfaltenhose schien er sich wohl auch nicht unbedingt busfein zu fühlen. Dabei sah er darin wirklich gut aus, zumal seine Haare nicht mehr so geschniegelt hinter die Ohren gebürstet waren wie noch vor zwei Stunden, sondern in zerzausten Locken in seine Stirn fielen.
Ich trat zu ihm hinaus ins Kirchenschiff und fröstelte. Es war saukalt hier drinnen. Oder lag das vielleicht daran, dass ich in den letzten Tagen so gut wie gar nicht zum Schlafen gekommen war? Oder an dem, was eben passiert war?
Vermutlich hatte mein Körper allein in der letzten Stunde mehr Adrenalin ausgeschüttet als in den ganzen sechzehn Jahren davor. Seit meinem ersten Zeitsprung war so viel geschehen, und ich hatte so wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken, dass mein Kopf vor lauter Informationen und Gefühlen explodieren wollte. Jedenfalls fühlte es sich so an. Wäre ich eine Figur in einem Comic gewesen, hätte gerade eine Denkblase mit Fragezeichen und Blitzen über mir geschwebt. Und vielleicht ein paar Totenköpfe, weil Gideon so gar nichts tat, um ein bisschen Ordnung in mein inneres Chaos zu bringen.
Ich gab mir einen kleinen Ruck. Wenn er zur Tagesordnung übergehen wollte – bitte, das konnte ich auch. »Okay, dann nichts wie raus hier«, sagte ich patzig. »Mir ist kalt.«
Ich wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er hielt mich am Arm fest.
»Hör mal, wegen eben …« Er brach ab, wohl in der Hoffnung, dass ich das Reden übernahm. Was ich natürlich nicht tat. Ich wollte nur zu gern wissen, was er zu sagen hatte. Außerdem fiel mir das Atmen schwer, so nah, wie er bei mir stand. Ungefähr drei Sekunden lang schauten wir einander nur an, dann versuchte er es noch einmal.
»Diesen Kuss … Das habe ich …« Wieder verstummte er. Aber ich vollendete seinen Satz in Gedanken automatisch: Das habe ich nicht so gemeint.
Oh, schon klar, aber dann hätte er es auch nicht tun sollen, oder? Das war so, wie einen Vorhang anzuzünden und sich hinterher zu wundern, wenn das ganze Haus brennt. (Okay, blöder Vergleich.) Und was sollte dieses Rumgestammel? Ich wollte es ihm kein bisschen leichter machen und sah ihn kühl und abwartend an. Das heißt, ich versuchte, ihn kühl und abwartend anzusehen, aber in Wirklichkeit hatte ich vermutlich so einen Ich bin das kleine Bambi, bitte erschieß mich nicht-Blick aufgesetzt, ich konnte gar nichts dagegen machen. Fehlte nur noch, dass meine Unterlippe zu beben anfing.
Das habe ich nicht so gemeint. Komm schon, sag es!
Aber Gideon sagte gar nichts. Er zupfte eine Haarnadel aus meinen wirren Haaren (meine 1912-Hochsteckfrisur hatte sich auf der Flucht völlig aufgelöst), nahm eine Strähne in die Hand und wickelte sie sich um seinen Finger. Mit der anderen Hand begann er, mein Gesicht zu streicheln, und dann beugte er sich zu mir herunter und küsste mich noch einmal, diesmal ganz vorsichtig. Ich schloss die Augen – und schon passierte dasselbe wie zuvor: Mein Gehirn hatte wieder diese wohltuende Sendepause. Es funkte nichts als Oh, Hmmm und Mehr.
Allerdings nur etwa zehn Sekunden lang, bis eine genervte Stimme direkt neben uns »Geht das etwa schon wieder los?« sagte.
Erschrocken gab ich Gideon einen Schubs vor die Brust und starrte direkt in die Fratze des kleinen Wasserspeiers, der mittlerweile kopfüber von der Empore herabbaumelte, unter der wir standen. Mist, Mist, Mist!
Gideon hatte meine Haare losgelassen und eine neutrale Miene aufgesetzt. Oh Gott! Was musste er denn jetzt von mir denken? In seinen grünen Augen war nichts zu erkennen, höchstens leichtes Befremden.
»Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört«, murmelte ich. »Okay«, antwortete er etwas gedehnt, aber durchaus freundlich.
»Du hast mich gehört«, stellte der Wasserspeier fest und wiederholte den Satz gleich noch mal mit anderer Betonung: »Du hast mich gehört!«
Jep. Und ich konnte ihn leider auch sehen. Er war in etwa so groß wie eine Katze. Sein Gesicht ähnelte ebenfalls dem einer Katze, allerdings hatte er zusätzlich zu seinen spitzen, großen Luchsohren auch noch zwei rundliche Hörner dazwischen, außerdem Flügelchen auf dem Rücken und einen langen, geschuppten Eidechsenschwanz, der in einem Dreieck mündete und aufgeregt hin und her peitschte. »Und du kannst mich auch sehen!« Ich gab keine Antwort.
»Wir gehen dann besser mal«, sagte Gideon.
»Du kannst mich sehen und hören!«, jubelte der kleine Wasserspeier, ließ sich von der Empore auf eine der Kirchenbänke fallen und hüpfte dort auf und nieder. Er hatte eine Stimme wie ein verschnupftes, heiseres Kind. »Ich hab’s genau gemerkt!«
Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst wurde ich ihn nie wieder los. Ich ließ meinen Blick betont gleichgültig über die Bänke gleiten, während ich zur Kirchentür ging. Gideon hielt mir die Tür auf.
»Danke, sehr freundlich!«, sagte der Wasserspeier und schlüpfte ebenfalls hinaus. »Auch wenn ich natürlich durch Wände gehen kann.«
Draußen auf dem Bürgersteig blinzelte ich ins Licht. Es war bewölkt und die Sonne daher nicht zu sehen, aber meiner Schätzung nach musste es früher Abend sein.
»Warte doch mal!« Der Wasserspeier zupfte mich am Rock. Jedenfalls versuchte er es. »Wir sollten uns dringend unterhalten! Hey, du trampelst mir auf die Füße … Tu nicht so, als ob du mich nicht sehen könntest. Ich weiß, dass du es kannst.« Aus seinem Mund kam ein Schluck Wasser geschossen und bildete eine winzige Pfütze vor meinen Knopfstiefelchen. »Ups. ’tschuldigung. Passiert nur, wenn ich aufgeregt bin.«
Ich blickte an der Fassade der Kirche hinauf. Sie war vermutlich viktorianischen Baustils, mit bunten Glasfenstern und zwei hübschen verspielten Türmen. Ziegelsteine wechselten sich mit cremefarbenem Putz ab und bildeten ein fröhliches Streifenmuster. Aber so hoch ich auch schaute, am ganzen Bauwerk war keine einzige Figur oder gar ein Wasserspeier zu entdecken. Seltsam, dass der Geist hier trotzdem herumlungerte.
»Hier bin ich!« Der Wasserspeier krallte sich direkt vor meiner Nase ans Mauerwerk. Er konnte klettern wie eine Eidechse, das können sie alle. Ich starrte eine Sekunde auf den Ziegel neben seinem Kopf und wandte mich ab.
Nun war der Wasserspeier nicht mehr so sicher, dass ich ihn wirklich sehen konnte. »Ach bitte«, jammerte er. »Es wäre so schön, mal mit jemand anderem zu reden als mit dem Geist von Sir Arthur Conan Doyle.«
Nicht unraffiniert, das Kerlchen. Aber ich fiel nicht darauf rein. Er tat mir zwar leid, aber ich wusste, wie lästig die kleinen Biester werden konnten. Außerdem hatte er mich beim Küssen gestört, und seinetwegen hielt Gideon mich jetzt wahrscheinlich für eine launische Kuh.
»Bitte, bitte, biiiiiiiitte!«, flehte der Wasserspeier.
Ich ignorierte ihn weiterhin nach Kräften. Meine Güte, ich hatte weiß Gott genug andere Probleme am Hals.
Gideon war an den Fahrbahnrand getreten und winkte ein Taxi heran. Er gehörte offenbar zu den beneidenswerten Leuten, bei denen a) immer ein freies Taxi vorbeikommt, wenn sie es gerade brauchen, und die b) niemals übersehen werden. Meine Großmutter LadyArista war auch so. Sie musste nur am Straßenrand stehen bleiben und streng gucken, und schon machten die Taxifahrer eine Vollbremsung. Ich hingegen …
»Kommst du, Gwendolyn?«, fragte Gideon ungeduldig und hielt mir die Taxitür auf.
»Nein!«, rief der Wasserspeier. »Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen!« Die heisere Kinderstimme klang weinerlich, herzzerreißend. »Wo wir uns gerade erst gefunden haben.«
Ich biss mir auf die Lippe. Wären wir allein gewesen, hätte ich mich vermutlich dazu hinreißen lassen, mit ihm zu sprechen. Trotz der spitzen Eckzähne und der Klauenfüße war er irgendwie niedlich, und wahrscheinlich hatte er nicht viel Gesellschaft. (Der Geist von Sir Arthur Conan Doyle hatte mit Sicherheit Besseres zu tun, als mit ihm abzuhängen. Was hatte der überhaupt in London zu suchen?) Aber wenn man in Gegenwart von anderen Menschen mit Geistwesen kommuniziert, halten sie einen – wenn man Glück hat – für eine Lügnerin und Schauspielerin oder aber – in den meisten Fällen – für verrückt. Ich wollte nicht riskieren, dass Gideon mich für verrückt hielt. Außerdem hatte der letzte Wasserspeier, mit dem ich gesprochen hatte, so viel Anhänglichkeit entwickelt, dass ich kaum allein aufs Klo hatte gehen können.
Also nahm ich mit steinerner Miene im Taxi Platz und guckte starr geradeaus.
»Crown Office Row, Temple«, wies Gideon den Taxifahrer an. Der Fahrer musterte unsere Kostüme zwar im Rückspiegel mit hochgezogenen Augenbrauen, fuhr aber ohne einen Kommentar los. Das musste man ihm hoch anrechnen.
»Es ist gleich halb sieben«, sagte Gideon zu mir, offensichtlich um neutrale Konversation bemüht. »Kein Wunder, dass ich vor Hunger sterbe.«
Jetzt, als er es aussprach, merkte ich, dass es mir ganz ähnlich ging. Meine Frühstücks-Cornflakes hatte ich wegen der miesen Stimmung am Familientisch nicht mal halb heruntergewürgt, und das Schulessen war wie immer ungenießbar gewesen. Sehnsüchtig dachte ich an die appetitlich hergerichteten Sandwichs und Scones auf Lady Tilneys Teetafel, die uns leider entgangen waren.
Lady Tilney! Jetzt erst fiel mir ein, dass Gideon und ich uns besser absprechen sollten, was unser Abenteuer im Jahr 1912 anging. Schließlich war die Sache völlig aus dem Ruder gelaufen, und ich hatte keine Ahnung, was die Wächter, die in Sachen Zeitreisemission so gar keinen Spaß verstanden, davon halten würden.
Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Vergangenheit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen. Die Gründe dafür hatte ich, nebenbei bemerkt, noch immer nicht richtig kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein. Lady Tilney wollte sich allerdings kein Blut abnehmen lassen, und dann waren auch noch zwei weitere Zeitreisende, meine Cousine Lucy und ihr Freund Paul, um die Ecke gekommen – ihres Zeichens die Bösewichte der ganzen Geschichte. Davon waren zumindest Gideon und die Wächter fest überzeugt. Lucy und Paul hatten nämlich den zweiten Chronografen gestohlen und sich damit irgendwo in der Vergangenheit versteckt. Seit Jahren hatte niemand von ihnen gehört – bis sie heute im Jahr 1912 bei Lady Tilney aufgetaucht waren. Zusammen mit zwei bewaffneten Männern. Bevor die aber von ihren Waffen Gebrauch machen konnten, hatte Gideon seinerseits eine Pistole gezogen und sie Lucy an den Kopf gehalten. Eine Pistole, die er genau genommen gar nicht hätte mitnehmen dürfen. (Wie ich nicht mein Handy, aber mit einem Handy konnte man wenigstens niemanden erschießen!) Daraufhin waren wir in die Kirche geflüchtet. Aber die ganze Zeit war ich das Gefühl nicht losgeworden, dass die Sache mit Lucy und Paul nicht ganz so schwarz-weiß war, wie die de Villiers und DoktorDr.White es gerne behaupteten.
»Was sagen wir denn nun wegen Lady Tilney?«, fragte ich.
»Na ja.« Gideon rieb sich müde über die Stirn. »Nicht, dass wir lügen sollten, aber vielleicht wäre es in diesem Fall klüger, die ein oder andere Sache wegzulassen. Am besten, du überlässt das Reden komplett mir.«
Da war er wieder, der altvertraute Kommandoton. »Ja, klar«, ätzte ich. »Ich werde nicken und die Klappe halten, wie sich das für ein Mädchen gehört.« Unwillkürlich verschränkte ich die Arme vor der Brust. Warum konnte sich Gideon nicht einmal normal benehmen? Erst küsste er mich (zweimal!), um gleich darauf wieder einen auf Großmeister der Wächterloge zu machen?
Wir schauten angestrengt aus unseren jeweiligen Fenstern.
Es war Gideon, der schließlich das Schweigen brach, und das erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung. »Was ist los, hat die Katze deine Zunge gestohlen?« So, wie er es sagte, klang es fast verlegen.
»Wie bitte?«
»Das hat meine Mutter immer gefragt, als ich klein war. Wenn ich so verstockt vor mich hin geguckt habe wie du gerade.«
»Du hast eine Mutter?« Erst als ich es ausgesprochen hatte, merkte ich, wie dämlich diese Frage war. Meine Güte!
Gideon zog eine Augenbraue hoch. »Was hast du denn gedacht?«, fragte er amüsiert. »Dass ich ein Androide bin und von Onkel Falk und MrGeorge zusammengeschraubt wurde?«
»Das ist gar nicht mal so abwegig. Hast du Babyfotos von dir?« Bei dem Versuch, mir Gideon als zahnloses Baby vorzustellen, mit einem runden, weichen Pausbackengesicht und einer Babyglatze, musste ich grinsen. »Wo sind denn deine Mum und dein Dad? Leben sie auch hier in London?«
Gideon schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist tot, er hatte einen Autounfall, als ich vier war. Und meine Mutter lebt in Antibes in Südfrankreich.« Für einen kurzen Moment presste er seine Lippen aufeinander, und ich dachte schon, er würde wieder in sein Schweigen verfallen. Aber dann fuhr er fort: »Mit meinem kleinen Bruder Raphael und ihrem neuen Mann, MonsieurNenn-mich-doch-PapaBertelin. Er hat eine Firma, die kupferbeschichtete Leiterplatten herstellt, und offensichtlich läuft das Geschäft super: Seine protzige Jacht hat er jedenfalls Krösus getauft.«
Ich war ehrlich verblüfft. So viele persönliche Informationen auf einmal, das sah Gideon gar nicht ähnlich. »Oh, aber das ist doch sicher cool, dort Ferien zu machen, oder nicht?«
»Ja, klar«, antwortete er spöttisch. »Es gibt einen Pool, so groß wie drei Tennisplätze, und die bescheuerte Jacht hat goldene Wasserhähne.«
»Stelle ich mir auf jeden Fall besser vor als ein unbeheiztes Cottage in Peebles.« In meiner Familie verbrachte man die Sommerferien traditionell in Schottland.
»Wenn ich du wäre und eine Familie in Südfrankreich hätte, würde ich sie jedes Wochenende besuchen. Selbst wenn sie keinen Pool und keine Jacht hätten.«
Gideon sah mich kopfschüttelnd an. »Ach ja? Und wie würdest du das anstellen, wenn du dabei alle paar Stunden in die Vergangenheit springen müsstest? Nicht unbedingt ein prickelndes Erlebnis, wenn man gerade mit hundertfünfzig Sachen auf der Autobahn entlangfährt.«
»Oh.« Diese Zeitreisegeschichte war irgendwie noch zu neu für mich, als dass ich mich mit allen Konsequenzen auseinandergesetzt hätte. Es gab nur zwölf Träger des Gens – quer über alle Jahrhunderte verteilt –, und ich konnte immer noch nicht recht fassen, dass ich eine von ihnen war. Dafür war eigentlich meine Cousine Charlotte vorgesehen gewesen, die sich mit Feuereifer auf diese Rolle vorbereitet hatte. Aber meine Mutter hatte aus unerfindlichen Gründen mit den Daten meiner Geburt getrickst, und jetzt hatten wir den Salat. Genau wie Gideon hatte ich nun die Wahl, entweder kontrolliert mithilfe des Chronografen in der Zeit zu springen oder aber jederzeit und an jedem Ort von einem Zeitreisesprung überrascht zu werden, was, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, nicht gerade angenehm war.
»Du müsstest natürlich den Chronografen mitnehmen, damit du zwischendurch immer in ungefährliche Zeiten elapsieren könntest«, überlegte ich laut.
Gideon stieß ein freudloses Schnauben aus. »Ja, auf diese Weise ist natürlich sehr entspanntes Reisen möglich, und man lernt auch gleich noch so viele historische Orte auf der Strecke kennen. Aber mal abgesehen davon, dass man mir niemals erlauben würde, mit dem Chronografen im Rucksack durch die Gegend zu fahren – was würdest du denn solange ohne das Ding machen?« Er sah an mir vorbei aus dem Fenster. »Dank Lucy und Paul gibt es nur noch einen Chronografen, oder hast du das vergessen?« Seine Stimme war wieder hitzig geworden, wie immer, wenn von Lucy und Paul die Rede war.
Ich zuckte mit den Schultern und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Das Taxi schlich in Schrittgeschwindigkeit in Richtung Piccadilly. Na super. Feierabendverkehr in der City. Wahrscheinlich wären wir zu Fuß schneller gewesen.
»Dir ist offensichtlich noch nicht ganz klar, dass du nicht mehr viel Gelegenheit haben wirst, von dieser Insel herunterzukommen, Gwendolyn.« In Gideons Stimme schwang Bitterkeit mit. »Oder aus dieser Stadt heraus. Anstatt dich Urlaub in Schottland machen zu lassen, hätte deine Familie dir lieber mal die große weite Welt gezeigt. Jetzt ist es dafür zu spät. Stell dich darauf ein, dass du dir alles, wovon du träumst, nur noch im Internet anschauen kannst.«
Das Taxi war im Stau ganz zum Stehen gekommen, und der Fahrer kramte ein zerfleddertes Taschenbuch hervor, lehnte sich in seinem Sitz zurück und begann ungerührt zu lesen.
»Aber … du bist doch in Belgien gewesen und in Paris«, erinnerte ich mich. »Um von dort in die Vergangenheit zu reisen und das Blut von … wie hieß er noch gleich und dieser Dings …«
»Ja, klar«, fiel er mir ins Wort. »Zusammen mit meinem Onkel, drei Wächtern und einer Kostümbildnerin. Ganz tolle Reise! Abgesehen davon, dass Belgien ja auch so ein wahnsinnig exotisches Land ist. Träumen wir nicht alle davon, mal für drei Tage nach Belgien zu reisen?«
Von seiner plötzlichen Heftigkeit eingeschüchtert, fragte ich leise: »Wo würdest du denn hinfahren, wenn du es dir aussuchen könntest?«
»Du meinst, wenn ich nicht mit diesem Zeitreisefluch belegt worden wäre? Oh Gott – ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen würde. Chile, Brasilien, Peru, Costa Rica, Nicaragua, Kanada, Alaska, Vietnam, Nepal, Australien, Neuseeland …« Er grinste schwach. »Na ja, so ziemlich überallhin außer auf den Mond. Aber es macht echt keinen Spaß, darüber nachzudenken, was man im Leben niemals tun kann. Wir beide müssen uns damit abfinden, dass unser Leben reisetechnisch eher eintönig ausfallen wird.«
»Wenn man von den Zeitreisen mal absieht.« Ich wurde rot, weil er unser Leben gesagt hatte und es irgendwie so … intim klang.
»Das ist wenigstens ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit für diese ewige Kontrolle und das Eingesperrtsein.« Gideon atmete tief ein. »Wenn es die Zeitreisen nicht gäbe, wäre ich vor Langeweile längst gestorben. Paradox, aber wahr.«
Langeweile? Ich fand, dass allein die letzten Tage genug Aufregung für ein ganzes Leben bereitgehalten hatten. Das brauchte doch kein Mensch. Schon bei dem Gedanken an zu Hause überrollte mich eine Welle von Heimweh. »Mir würde es als Nervenkitzel genügen, ab und zu einen spannenden Film anzuschauen, ehrlich.«
»Wirklich?« Gideon sah mich von der Seite an. »Ich habe nicht den Eindruck, dass du besonders schwache Nerven hast.«
Die Autos vor uns bewegten sich keinen Millimeter, was unserem lesenden Fahrer ganz recht zu sein schien.
Wenn ich schon hier festsaß, konnte ich die Zeit auch nutzen, noch mehr über Gideon in Erfahrung zu bringen. »Wenn deine Familie in Südfrankreich lebt, wo wohnst du denn dann?«
»Seit Neuestem habe ich eine Wohnung in Chelsea. Aber da bin ich eigentlich nur zum Duschen und Schlafen. Wenn überhaupt.« Er seufzte. Zumindest in den letzten drei Tagen hatte er offensichtlich genauso wenig Schlaf abbekommen wie ich. Wenn nicht noch weniger. »Vorher habe ich bei meinem Onkel Falk in Greenwich gelebt, seit meinem elften Lebensjahr. Als meine Mutter Monsieur Leiterplatten-Ohrfeigengesicht kennengelernt hat und England verlassen wollte, hatten die Wächter natürlich etwas dagegen. Schließlich waren es nur noch ein paar Jahre bis zu meinem Initiationssprung, und ich hatte noch so viel zu lernen.«
Ich schaute ihn ungläubig an. »Und da hat deine Mutter dich allein gelassen?« Das hätte meine Mum niemals übers Herz gebracht, da war ich sicher.
Gideon zuckte mit den Schultern. »Ich mag meinen Onkel. Er ist in Ordnung, wenn er nicht gerade den Logengroßmeister raushängen lässt. Auf jeden Fall ist er mir tausendmal lieber als mein sogenannter Stiefvater.«
»Aber …« Ich traute mich beinahe nicht zu fragen und flüsterte deshalb. »Aber vermisst du sie denn nicht?«
Wieder ein Schulterzucken. »Bis ich fünfzehn war und noch gefahrlos verreisen durfte, war ich in den Ferien immer dort zu Besuch. Und dann kommt meine Mutter ja auch mindestens zweimal im Jahr nach London, offiziell, um mich zu besuchen, in Wirklichkeit aber wohl eher, um MonsieurBertelins Geld auszugeben. Sie hat ein Faible für Klamotten, Schuhe und antiken Schmuck. Und für makrobiotische Sterne-Restaurants.«
Die Frau schien ja wirklich eine Bilderbuch-Mum zu sein. »Und dein Bruder?«
»Raphael? Der ist mittlerweile ein richtiger Franzose. Er sagt Papa zum Ohrfeigengesicht und soll einmal das Leiterplatten-Imperium übernehmen. Obwohl es im Augenblick so aussieht, als würde er nicht mal seinen Schulabschluss schaffen, der alte Faulpelz. Er beschäftigt sich lieber mit Mädchen anstatt mit seinen Büchern.« Gideon legte den Arm hinter mir auf die Rückenlehne, und prompt reagierte meine Atemfrequenz. »Warum guckst du so schockiert? Tu ich dir jetzt etwa leid?«
»Ein bisschen«, gab ich zu und dachte an den elfjährigen Jungen, der ganz allein in England hatte zurückbleiben müssen. Bei geheimnistuerischen Männern, die ihn dazu zwangen, Fechtunterricht zu nehmen und Violine zu spielen. Und Polo! »Falk ist doch nicht mal dein richtiger Onkel. Nur ein entfernter Verwandter.«
Hinter uns hupte es wütend. Der Taxifahrer sah flüchtig hoch und setzte dann den Wagen in Bewegung, ohne sich groß von seiner Lektüre ablenken zu lassen. Ich hoffte nur, dass das Kapitel nicht allzu spannend war.
Gideon schien gar nicht auf ihn zu achten. »Falk war zu mir immer wie ein Vater.« Er lächelte mich schief von der Seite an. »Wirklich, du musst mich nicht ansehen, als wäre ich David Copperfield.«
Der Name kam mir entfernt bekannt vor.
Gideon stöhnte. »Ich meine die Romanfigur von Charles Dickens. Liest du eigentlich ab und zu ein Buch?«
Und da war er wieder, der alte, überhebliche Gideon. Mir hatte ja schon der Kopf geschwirrt vor lauter Freundlichkeit und Vertraulichkeiten. Seltsamerweise war ich beinahe erleichtert, das alte Ekelpaket zurückzuhaben. Ich setzte eine möglichst hochnäsige Miene auf und rückte etwas von ihm ab. »Ehrlich gesagt bevorzuge ich moderne Literatur.«
»Ach ja?« Gideons Augen glitzerten belustigt. »Was denn so zum Beispiel?«
Er konnte nicht wissen, dass meine (äußerst belesene) Cousine Charlotte mir diese Frage jahrelang ebenfalls regelmäßig gestellt hatte, und zwar mit genau der gleichen Arroganz. Eigentlich las ich nicht mal wenig und hatte deshalb immer bereitwillig Auskunft gegeben, aber da Charlotte meine Lektüre stets verächtlich als nicht anspruchsvoll und albernen Mädchenkram abgetan hatte, war mir irgendwann der Kragen geplatzt, und ich hatte ihr den Spaß ein für alle Mal verdorben. Manchmal muss man die Leute mit ihren eigenen Waffen schlagen. Der Trick ist, dass man beim Sprechen nicht das geringste Zögern erkennen lassen darf, und man sollte mindestens einen anerkannten Bestsellerautorennamen einflechten, am besten einen, dessen Buch man auch wirklich gelesen hat. Außerdem gilt: je exotischer die Namen, desto besser.
Ich hob also mein Kinn und sah Gideon fest in die Augen. »Na, George Matussek lese ich zum Beispiel gern, Wally Lamb, Pjotr Selvjeniki, Liisa Tikaanenen. Überhaupt finde ich finnische Literatinnen toll, die haben so einen besonderen Humor. Dann alles von Jack August Merrywether, obwohl mich das letzte ein bisschen enttäuscht hat, Helen Marundi selbstverständlich, Tahuro Yashamoto, Lawrence Delaney, und natürlich Grimphook, Tscherkowsky, Maland, Pitt …« Mir ging die Luft aus.
Gideon wirkte eindeutig verdutzt.
Ich verdrehte die Augen. »Rudolf Maria Pitt, nicht Brad.«
In seinen Mundwinkeln zuckte es leicht.
»Obwohl ich sagen muss, dass mir Amethystschnee überhaupt nicht gefallen hat«, fuhr ich rasch fort. »Zu viele schwülstige Metaphern, fandest du nicht auch? Beim Lesen habe ich die ganze Zeit gedacht, das hat jemand anders für ihn geschrieben.«
»Amethystschnee?«, wiederholte Gideon, und jetzt lächelte er richtig. »Ah, ja, das fand ich auch furchtbar schwülstig. Dafür hat mir Die Bernsteinlawine unheimlich gut gefallen.«
Ich konnte nicht anders, ich musste zurücklächeln. »Absolut. Für Die Bernsteinlawine hatte er den Österreichischen Buchpreis wirklich verdient. Was hältst du denn von Takoshi Mahuro?«
»Das Frühwerk ist okay, aber ich finde es ein wenig ermüdend, dass er immer und immer wieder seine Kindheitstraumata verarbeitet«, antwortete Gideon, ohne zu zögern. »Von den japanischen Literaten liegt mir Yamamoto Kawasaki mehr oder Haruki Murakami.«
Jetzt kicherte ich haltlos. »Murakami gibt es aber wirklich!«
»Ich weiß.« Gideon grinste. »Charlotte hat mir ein Buch von ihm geschenkt. Wenn wir das nächste Mal über Bücher reden, werde ich ihr Amethystschnee empfehlen. Von … wie hieß er noch?«
»Rudolf Maria Pitt.« Charlotte hatte ihm ein Buch geschenkt? Wie, äh, nett von ihr. Auf so eine Idee musste man erst mal kommen. Und was taten sie wohl sonst noch miteinander, außer über Bücher zu reden? Meine Kicherlaune war mit einem Mal wie weggeblasen. Wie konnte ich einfach so hier sitzen und mit Gideon plaudern, als wäre nie etwas zwischen uns passiert? Vielleicht sollte ich jetzt doch langsam mal den Mut aufbringen, ihn zu fragen, warum verdammt noch mal er mich geküsst hatte und was das für uns bedeutete. Ich holte tief Luft.
»Wir sind gleich da«, sagte Gideon.
Aus dem Konzept gebracht blickte ich aus dem Fenster. Tatsächlich – irgendwann während unseres literarischen Schlagabtausches hatte der Taxifahrer offenbar sein Buch zur Seite gelegt und die Fahrt fortgesetzt, und nun war er kurz davor, in den Temple-Bezirk abzubiegen, wo die Geheimgesellschaft der Wächter ihr Hauptquartier hatte. Wenig später parkte er den Wagen auf einem der reservierten Stellplätze neben einem glänzenden Bentley.
»Und Sie sind ganz sicher, dass wir hier stehen bleiben dürfen?«, meinte der Taxifahrer skeptisch.
»Das geht schon in Ordnung«, versicherte ihm Gideon und stieg aus. »Nein, Gwendolyn, du bleibst im Taxi, während ich das Geld hole«, bestimmte er, als ich hinterherklettern wollte. »Und vergiss nicht: Egal, was sie uns auch fragen werden: Du lässt mich reden. Ich bin gleich wieder da.«
»Die Uhr läuft«, sagte der Taxifahrer mürrisch.
Er und ich sahen Gideon zwischen den altehrwürdigen Häusern von Temple verschwinden, und erst jetzt begriff ich, dass ich als Pfand für das Fahrgeld zurückgelassen worden war.
»Sind Sie vom Theater?«, wollte der Taxifahrer wissen.
»Wie bitte?«, fragte ich, von einem flatternden Schatten über uns abgelenkt.
»Ich mein ja nur, wegen der komischen Kostüme.«
»Nein. Museum.« Vom Autodach kamen seltsame kratzende Geräusche. Als wäre ein Vogel darauf gelandet. Ein großer Vogel. »Was ist das?«
»Was denn?«, fragte der Taxifahrer.
»Ich glaube, da ist eine Krähe oder so auf dem Auto.« Das hoffte ich zumindest. Aber es war natürlich keine Krähe, die nun ihren Kopf über das Dach neigte und zum Fenster hereinschaute. Es war der kleine Wasserspeier aus Belgravia. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, verzog sich seine Katzenfratze zu einem triumphierenden Lächeln, und er spuckte einen Schwall Wasser über die Windschutzscheibe.
Die Goldenen Regeln
zur Wahrung des Kontinuums,
Teil 2
Gewaltanwendung jeder Art ist auf Zeitreisen ausdrücklich verboten.
Zeitreisende dürfen sich in der Vergangenheit unter keinen Umständen in Konflikte einmischen oder deren Ausgang beeinflussen. Jegliche moralischen Überlegungen und Emotionen bei der Konfrontation mit Gewalt müssen sich dem Vorrecht der Unversehrtheit vergangener Geschehnisse unterordnen.
Ausnahmen der Regel bestehen nur dann, wenn der Zeitreisende selbst Ziel einer gewalttätigen Aggression ist. Hier gilt es situativ und im Hinblick auf das größere Wohl der Menschheit abzuwägen, ab welchem Grad des Angriffs Regel 7) außer Kraft gesetzt wird.
Mit anderen Worten: Ein bisschen Prügel muss man schon mal einstecken können zur Wahrung des Kontinuums?
Wenn tatsächlich ernsthafte Gefahr für Leib und Leben besteht, muss zunächst geprüft werden, ob man sich der Situation nicht durch entweder deeskalierende Kommunikation oder Flucht entziehen kann.
Erst wenn diese Mittel ausgeschöpft worden sind, darf der Zeitreisende sich gegen den Angriff körperlich wehren, wobei er den Gegner nach Möglichkeit nur außer Gefecht setzt und nicht lebensgefährlich verletzt.
PARADOXON!!!
Sollte eine Person historischer Relevanz bei einer Gewaltkonfrontation zu Schaden kommen oder sterben, ist es oberste Pflicht der Loge, den konsistenten Ablauf der Geschichte zu gewährleisten, indem Zeitreisende oder Wächter der jeweiligen Zeit diese Aufgabe übernehmen, wenn irgend möglich.
Da staunst du, was?«, rief der kleine Wasserspeier. Seit ich aus dem Taxi gestiegen war, redete er unaufhörlich auf mich ein. »So einfach kann man unsereins nicht abschütteln.«
Ja, leider. »Hör mal …« Ich schaute nervös zum Taxi zurück. Dem Fahrer hatte ich gesagt, ich müsse dringend an die frische Luft, weil mir schlecht sei, und jetzt starrte er misstrauisch zu uns herüber und wunderte sich, warum ich mit der Hauswand sprach. Von Gideon war nichts zu sehen.
»Außerdem kann ich fliegen.« Zum Beweis fächerte der Wasserspeier seine Flügel auseinander. »Wie eine Fledermaus. Schneller als jedes Taxi.«
»Jetzt hör doch mal: Nur weil ich dich sehen kann, heißt das noch lange nicht …«
»Sehen und hören!«, fiel mir der Wasserspeier ins Wort. »Weißt du, wie selten das ist? Die Letzte, die mich sehen und hören konnte, war Madame Tussaud, und sie legte leider nicht besonders viel Wert auf meine Gesellschaft. Meistens hat sie mich mit Weihwasser beträufelt und gebetet. Die Ärmste war ein bisschen empfindlich.« Er rollte mit den Augen. »Du weißt schon: zu viele abgeschlagene Köpfe …« Wieder spuckte er einen Schwall Wasser aus, direkt vor meine Füße.
»Lass das!«
»Entschuldige! Das ist nur die Aufregung. Kleine Erinnerung an meine Zeit als Regenrinne.«
Ich hatte wenig Hoffnung, ihn wieder loszuwerden, aber ich wollte es zumindest versuchen. Also beugte ich mich zu ihm hinunter, bis unsere Augen auf einer Höhe waren. »Du bist bestimmt ein netter Kerl, aber du musst zurück in deine Kirche. Bitte.«
»Das ist nicht meine Kirche, ich hänge da nur gern rum.«
»Mir egal! Du kannst unmöglich bei mir bleiben! Mein Leben ist schon kompliziert genug. Die Geister, die ich kenne, reichen mir vollkommen.«
»Ich bin kein Geist«, erklärte der Wasserspeier beleidigt. »Ich bin ein Dämon.«
»Dämon, Geist – für mich macht das keinen Unterschied«, zischte ich ihn an. »Ich dürfte weder das eine noch das andere sehen, versteh das doch! Du musst wieder zu deiner Kirche zurück.«
»Keinen Unterschied? Also wirklich! Geister sind lediglich Abbilder verstorbener Menschen, die aus irgendeinem Grund diese Welt nicht verlassen wollen. Aber ich, ich bin ein Dämon, oder vielmehr das, was von einem Dämon übrig bleibt, wenn man ihn in eine Steinfigur bannt, die dann, samt der Kirche, auf der er festsitzt, von einer Bombe getroffen und quasi pulverisiert wird …« Er verstummte kurz. »Deswegen kannst mich du mich nicht mit gewöhnlichen Geistern in einen Topf werfen.«
»Von mir aus – dann bist du halt ein Dämon.« Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn. »Trotzdem kannst du nicht bei mir bleiben. Auf gar keinen Fall.«
Der Taxifahrer starrte mich mit weit aufgesperrtem Mund an. Durch das offene Autofenster konnte er vermutlich jedes Wort hören – jedes meiner Worte.
»Wovor hast du denn Angst?« Der Wasserspeier kam zutraulich näher und legte seinen Kopf schief. »Heutzutage wird niemand mehr als Hexe verbrannt, nur weil er etwas mehr sieht und weiß als gewöhnliche Menschen.«
»Aber heutzutage wird jemand, der mit Geistern – äh, und Dämonen – redet, in die Psychiatrie eingeliefert«, gab ich zurück. »Verstehst du denn nicht, dass …« Ich brach ab. Es hatte keinen Zweck. Auf die freundliche Tour würde ich hier nicht weiterkommen. Deshalb runzelte ich die Stirn und sagte so barsch wie möglich: »Nur weil ich das Pech habe, dich sehen zu können, hast du noch lange keinen Anspruch auf meine Gesellschaft.«
Der Wasserspeier zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. »Aber du auf meine, du Glückliche …«
»Um es mal ganz klar zu sagen: Du störst! Also bitte, verschwinde einfach!«, fauchte ich.
»Nein, tu ich nicht! Hinterher würdest du es bereuen. Da kommt übrigens dein Knutschfreund zurück.« Er spitzte seine Lippen und gab laute Kussgeräusche von sich.
»Ach, halt den Mund.« Ich sah, wie Gideon mit großen Schritten um die Ecke bog. »Und hau endlich ab.« Letzteres zischte ich, ohne die Lippen zu bewegen, wie eine Bauchrednerin. Natürlich war der Wasserspeier davon nicht im Geringsten beeindruckt.
»Nicht in dem Ton, junge Dame!«, flötete er vergnügt. »Denk immer daran: Wie man in den Dämon hineinruft, so schallt es auch wieder heraus.«
Gideon war nicht allein. Hinter ihm kam MrGeorges rundliche Gestalt herangeschnauft; er musste laufen, um mit Gideon Schritt halten zu können. Dafür strahlte er mich schon von Weitem an.
Ich richtete mich auf und strich mein Kleid glatt.
»Gwendolyn, Gott sei Dank.« MrGeorge tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Alles in Ordnung mit dir, mein Mädchen?«
»Der geht es bestens, denn sie hat gerade einen wahnsinnig interessanten Dämon kennengelernt«, krähte der Wasserspeier.
»Alles gut, MrGeorge. Wir hatten nur ein paar, äh, Probleme.«
Gideon, der dem Taxifahrer einige Pfundnoten in die Hand drückte, sah mich über das Autodach hinweg warnend an.
»… mit dem Timing«, ergänzte ich und schaute dem Taxifahrer hinterher, der kopfschüttelnd aus der Parklücke steuerte und davonfuhr.
»Ja, Gideon sagte bereits, dass es Komplikationen gegeben hat. Es ist nicht zu fassen. Da ist irgendwo eine Lücke im System, wir müssen das gründlich analysieren. Und möglicherweise umdenken. Aber Hauptsache, euch beiden ist nichts passiert.« MrGeorge bot mir seinen Arm an, was ein bisschen merkwürdig aussah, weil er fast einen halben Kopf kleiner war als ich. Sein Anblick hatte immer etwas Tröstliches für mich, von den Wächtern war er der einzige, dem ich vertraute. »Komm, mein Mädchen, es gibt noch einiges zu tun.«
»Ich wollte eigentlich so schnell wie möglich nach Hause«, entgegnete ich. Der Wasserspeier turnte ein Fallrohr hinauf, hangelte sich an der Dachrinne entlang und stimmte dabei ein offenkundig selbst gedichtetes Lied an: »Hat Haare wie ein Elsternnest, doch kann mich seh’n und hör’n, und ein Dämon lässt sich nie von einer Frisur stör’n …«
Durch das Gegröle hindurch hatte ich Mühe, MrGeorge zu verstehen. »Tut mir leid, Gwendolyn«, erklärte er. »Aber du hast heute erst drei Stunden in der Vergangenheit verbracht. Um bis morgen Nachmittag auf Nummer sicher zu gehen, musst du jetzt noch ein paar Stunden elapsieren. Keine Sorge, nichts Anstrengendes. In einem gemütlichen Kellerraum, wo du deine Hausaufgaben machen kannst.«
»Aber … meine Mum wartet sicher schon und macht sich Sorgen!« Außerdem war heute Mittwoch, da hatten wir immer unseren Mutter-Tochter-Filmabend, mit Gesichtsmaske, Pommes und Popcorn auf dem Sofa, während meine kleinen Geschwister schon im Bett waren. Schlimm genug, dass ich darauf verzichten musste, aber mich in so einer Lage auch noch mit Hausaufgaben zu behelligen, war eine Unverschämtheit. Jemand sollte mir einfach eine Entschuldigung schreiben. Da Gwendolyn neuerdings täglich auf wichtigen Zeitreisemissionen ist, muss sie von den Hausaufgaben in Zukunft grundsätzlich befreit werden.
Oben auf dem Dach verfolgte uns der Wasserspeier immer noch lauthals singend. Ich erkannte die Melodie von »Can you feel the love tonight« aus König der Löwen. Dank zahlloser Karaokenachmittage mit meiner Freundin Leslie war ich bei Musicals ziemlich textsicher, daher wusste ich genau, dass das Wort »Struwwelliese« in diesem Song nicht vorkam. Verstohlen fuhr ich mir durch die Haare.
»Zwei Stunden werden genügen.« Gideon machte wieder so große Schritte, dass MrGeorge und ich kaum hinterherkamen. »Dann kann sie nach Hause und sich mal ausschlafen.«