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Eine sinnliche, kraftvolle und zum Nachdenken anregende Tarzan-Nacherzählung Eden Matthews stolperte über die Entdeckung ihres Lebens, als sie tief im Herzen Afrikas Wildtiere fotografierte …
Ein umwerfender Gott von einem Mann, der in der Wildnis des afrikanischen Dschungels unter einer Familie von Gorillas lebt …
Nachdem er ihr das Leben gerettet hat, ist sie gezwungen, die tragische Vergangenheit des Mannes aufzudecken und das Schicksal, das dazu führte, dass er in der Wildnis aufwuchs. Doch Eden muss bald lernen, dass sie zwar den Mann aus der Wildnis holen kann, aber nicht die Wildnis aus dem Mann …
Als ihr wilder Retter ihr zeigt, was er von ihr will – ihre sinnliche Hingabe – kann sie sich nicht dagegen wehren, dass er ihr beibringt, wie man liebt … in der Wildnis.
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Mitternacht mit dem Teufel
Kapitel 1
Über den Autor
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Namen, Charaktere, Orte und Begebenheiten sind das Produkt der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, ob lebendig oder tot, ist rein zufällig.
Copyright 2021 von Lauren Smith
Translation by Anna Grossmann
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ISBN: 978-1-952063-65-7 (E-Book-Ausgabe)
ISBN: 978-1-952063-66-4 (Druckausgabe)
Dies ist eine Nacherzählung von Edgar Rice Burroughs‘ klassischer Geschichte Tarzan von den Affen. Ich erhebe nicht den Anspruch, dass ich sie besser geschrieben habe, aber ich glaube, dass diese Version bei modernen Lesern, die Abenteuer und erotische Romantik lieben, ein Zuhause finden wird.
Als ich mich daran machte, eine moderne Version von Tarzan zu schreiben, wollte ich vor allem eines: eine Liebesgeschichte erzählen. Wie Burroughs immer sagte: ›Es gibt keinen Tarzan ohne Jane.‹ Dieses Zitat ist mir immer im Gedächtnis geblieben und ich wollte sicherstellen, dass die Leser meine Heldin Eden als das sehen, was sie ist: eine Partnerin für Thorne, meinen an Lianen schwingenden Helden, jemand, der seine wahre andere Hälfte ist.
Sie werden feststellen, dass vieles in Liebe in der Wildnis von Tarzan abweicht, nicht nur die Namen, sondern auch der Schauplatz, der hier in Uganda und nicht an der afrikanischen Küste liegt. Ich habe echte Städte und echte Dschungel verwendet und die Gesellschaft, in der Charaktere wie Thornes Freund Bwanbale leben, gründlich recherchiert, um ein genaues Bild der aktuellen Kultur zu zeichnen. Die Freundschaft zwischen Bwanbale und Thorne ist ein entscheidender Punkt. Thorne repräsentiert den urzeitlichen Menschen, der vom Instinkt lebt, und Bwanbale den Edelmut und die Offenherzigkeit des modernen Menschen. Eden ist ebenfalls entscheidend für Thornes Charakter. Sie repräsentiert die äußere Manifestation seines Herzens und seiner Seele. Es hat mir Spaß gemacht, mit symbolischen Bildern zu spielen, wie etwa der Kraft des Wassers, die im gesamten Roman für Heilung und Wiedergeburt steht. Die Themen Gold und Macht sind ebenfalls von Belang, wenn Sie das Buch lesen.
Ich wollte eine mystischere Verbindung zum Dschungel herstellen als in der ursprünglichen Geschichte. Der urzeitliche Stamm aus dem Dschungel, der zu Thorne spricht, ist fiktional, aber der uralte Stamm der Batwa, der im Roman erwähnt wird, ist real und die Mitglieder dieses Stammes wurden aus dem Dschungel vertrieben, der für Tausende von Jahren ihre Heimat war. Ich habe mich dafür entschieden, den Tieren Afrikas eine Stimme zu geben, was durch kurze Einblicke in den Charakter Keza, dem Gorillaweibchen, das Thorne aufzog, deutlich wird. Ich glaube, es ist wichtig, dass der Leser diese Tiere als mächtige und wichtige Kräfte in der Welt sieht, und indem ich ihnen auf diesen Seiten eine Stimme gebe, hoffe ich, dass die Leser dazu inspiriert werden, sich mehr für sie im wirklichen Leben zu interessieren.
Ich hoffe, Sie werden sich zurücklehnen, wenn Sie die Seite umblättern und diese Reise beginnen, die Geschichte genießen und für einen Moment glauben, dass es noch Magie auf der Welt gibt …
»Runter auf die Knie«, befahl eine kalte Stimme.
Eden Matthews sank auf ihre Knie. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen neben ihr taten es ihr gleich. Eine Frau schluchzte und ein Mann bettelte um sein Leben. Aber Eden sah keine Gnade in den Augen des Mannes, der vor ihr stand und ihr eine Waffe an den Kopf hielt.
Um sie herum war der Dschungel still. Selbst die Tiere und Insekten wirkten, als hätten sie die Gefahr gespürt und beschlossen, stillzubleiben. Sie starrte auf den Lauf des Gewehrs, ihr Blick war auf das kreisrunde schwarze Loch fixiert, dann zwang sie sich, ihrem baldigen Mörder ins Gesicht zu sehen. Der Mann war unrasiert, Mitte vierzig, seine Kleidung war mit Blut und Schlamm bespritzt. Hinter ihm standen vier weitere Männer mit harten, leeren schwarzen Augen, alle bewaffnet. Eine Mischung aus weißen und schwarzen Männern und die schweren Waffen, die sie trugen, bedeuteten, dass sie höchstwahrscheinlich Rebellen waren. Oder noch schlimmer: Wilderer.
»Wir sollten doch sicher sein«, murmelte eine Frau vor sich hin. »Das ist ein Nationalpark. Wir haben Genehmigungen …«
Genehmigungen spielten für Männer wie diese hier keine Rolle – das waren die wahren Monster des Dschungels.
»Halt den Mund«, schnauzte der Anführer. Sie wagte es nicht, ihren Blick von ihm abzuwenden. Seine Waffe schwang eine Handbreit zu Edens Linken auf die ältere Frau, die gesprochen hatte.
Edens Herz schlug so schnell, dass sie sich wunderte, dass sie noch keinen Herzinfarkt bekommen hatte. Diese Männer würden sie nicht gehen lassen. Sie würden sie töten und ihre Leichen im ugandischen Dschungel zurücklassen, wo sie nie gefunden werden würden. Die Gorillas, die sie fotografieren wollte, waren geflohen, bevor die Männer kamen, als ob sie die Gefahr gespürt hätten. Wenn es Wilderer waren und die Gorillas ihr Ziel waren, hoffte Eden zumindest, dass die majestätischen Kreaturen weit weg und in Sicherheit waren.
»Cash, was machen wir mit ihnen, hm?«, fragte einer der Männer ihren Anführer.
»Halt die Klappe – ich denke nach«, knurrte dieser. Sein Blick schweifte über die Besuchergruppe und ihre beiden ugandischen Führer.
»Der Boss würde keine Zeugen mögen«, fügte der andere Mann hinzu.
»Stimmt.« Derjenige, der Cash genannt wurde, strich sich über den Bart, und dann – mit erschreckender Langsamkeit – richtete er die Waffe an die Stirn des Mannes am anderen Ende der Touristengruppe und feuerte. Eden zuckte zusammen, als sein Körper mit dem Gesicht voran auf den mit Laub bedeckten Boden fiel.
Weitere Schüsse hallten auf der kleinen Lichtung wider und weitere Körper fielen.
Eden war nicht in der Lage, ihre Augen zu schließen. Die Angst hatte sie so sehr gelähmt, dass sie sich einfach nicht bewegen konnte, nicht atmen konnte. Sie konnte nur zusehen.
»Vielleicht lassen wir eine von ihnen am Leben?« Cash wandte sich mit einem hämischen Lachen an seine Männer. »Die anderen Schlampen waren alt. Aber diese hier, die ist frisch und jung. Wir können zuerst unseren Spaß mit ihr haben. Der Boss braucht das nicht zu wissen.«
Mit brennender Lunge holte Eden tief Luft, ihr Rücken schmerzte vom steifen Sitzen auf ihren Knien.
»Ja, ich denke, wir werden sie behalten.« Cash senkte seine Waffe, aber Eden entspannte sich nicht. Was auch immer für eine Hölle als Nächstes auf sie zukommen würde, es würde weit, weit schlimmer sein als ein schneller Tod.
Das Blut rauschte in ihren Ohren, so laut, dass die Bäume regelrecht zu zittern und der Boden zu vibrieren schien.
Moment, nein. Dieses Geräusch war nicht in ihrem Kopf. Es kam von irgendwo anders, irgendwo in der Ferne, aber nahe genug, um die Männer in ihrer Nähe zu beunruhigen.
»Was zum Teufel war das?«, wollte Cash wissen.
»Mnyama«, murmelte einer der Männer auf Suaheli. »Mnyama Anakuja!«
Eden sprach nicht viel Suaheli, aber es hörte sich so an, als ob er sagte: Die Bestie kommt.
»Ein Silberrücken?«, fragte Cash.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Der bleiche Geist.«
»Bleicher Geist? Wovon zum Teufel redest du?«
Zwei der Männer tauschten einen Blick aus und rannten einfach los. Sie verschwanden zwischen den moosbewachsenen Kosobäumen, die hoch über ihnen die Baumkronen bildeten.
Cash wirbelte herum und feuerte Schüsse in ihre Richtung ab, bevor er sich wieder Eden zuwandte. Abermals hallte das Brüllen wider, veranlasste die Vögel zu flüchten und die kleinen Affen in den Bäumen, davonzuhuschen.
»Wir sollten von hier verschwinden!«
Die anderen Männer stürmten los, aber Cash schrie sie an. »Nicht bevor ich die hier getötet habe.« Er richtete erneut seine Waffe auf sie.
Eden schloss ihre Augen fest. Sie stellte sich die Gesichter ihrer Eltern in Arkansas vor, konnte die Tür des Hauses ihrer Kindheit sehen. Sie würgte ihre Verzweiflung und Sehnsucht herunter, in diesem Moment dort zu sein und nicht hier – irgendwo, nur nicht hier.
Die Waffe ging los. Eden erlebte eine Sekunde der fassungslosen Überraschung, denn sie spürte noch immer die feuchte Dschungelluft und roch den schweren Geruch von Schweiß um sich herum. Sie war tot, warum also roch sie immer noch den Dschungel?
»Ah!«, erklang Cashs Schrei eine Millisekunde später, gefolgt von einem üblen Knirschen.
Eden wagte es nicht, die Augen zu öffnen, als sie Geräusche von Gewalt hörte – Schreie und knackende Knochen.
Die Bestie war hier. Ihr Magen drehte sich um, als sie die aufsteigende Galle in ihrer Kehle hinunterschluckte, und ihr Atem entwich in schnellem Keuchen ob ihres Entsetzens. Sie würde die Nächste sein. Die lange Stille, die folgte, verlieh ihr den Mut, ihre Augen zu öffnen und langsam die Szene des Gemetzels zu betrachten. Cash lag ein paar Yards entfernt tot da, den Hals umgedreht. Das war wenigstens etwas.
Die anderen Touristen, mit denen sie gekommen war, waren alle tot, aber sie waren von der Bestie unberührt geblieben. Sie schluckte schwer, als Tränen ihre Sicht trübten.
Das Geräusch von Schritten hinter ihr und ein schnaufendes Geräusch ließen sie zusammenzucken und veranlassten sie, ihre Augen wieder zu schließen. Die Wärme eines Körpers und der heiße Atem in ihrem Nacken jagten ihr einen Schauder über den Rücken und brachten ihr Haar in Bewegung. Die Bestie war immer noch hier. Sie war die Nächste.
Bitte, lass sie mich schnell töten.
Ein grunzendes Geräusch, ähnlich dem der Gorillas, kam von hinter ihr. Etwas berührte ihren Pferdeschwanz. Sie keuchte und warf sich aus reinem Instinkt auf den Boden, ihre Hände gruben sich in die Blätter unter ihr. Die Bestie bewegte sich irgendwo vor ihr. Als sie es wagte, hinzusehen, öffneten sich ihre Lippen, aber es entkam kein Laut.
Ein Mann kauerte vor ihr, weniger als zwei Schritte entfernt. Seine gebräunte Haut war mit schwarzem, trocknendem Schlamm bedeckt und ließ ihn mehr wie ein Monster als einen Menschen aussehen. Sein langes, dunkles Haar hing in losen Strähnen über seine Schultern. Seine Augen waren von einem lebhaften dunklem Blau und auf sie gerichtet, während sich seine vollen Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpressten.
In einer Hand hielt der Mann eine Klinge. Seine andere Hand war zu einer Faust geballt. Sie beobachtete, wie sich die schnurartigen Muskeln seines Unterarms kräuselten, als er sich bewegte. Sein fast nackter Körper hatte eine geschmeidige Anmut, als er sich auf seinen nackten Füßen hin und her bewegte. Ein Lendenschurz aus Tierhaut bedeckte seine Leistengegend, ließ aber seine Beine für ihren Blick frei. Er schnurrte sie sanft an, wie ein Jaguar. Aber das Seltsamste war vielleicht ein Band aus Gold, das wie eine Krone auf seiner Stirn ruhte, das Edelmetall zu kleinen Blättern geformt wie ein Lorbeerkranz.
Er gestikulierte mit seiner geballten Faust zu dem Mann am Boden und grunzte erneut.
Eden blinzelte, unsicher, was sie tun oder sagen sollte. Dieser Mann hatte sie gerettet. Aber wer war er? Woher war er gekommen? Warum grunzte er, anstatt zu sprechen?
»Hallo«, flüsterte sie und er hielt in seinen Gesten inne. »Verstehst du mich?«
Der Mann neigte den Kopf zur Seite und seine Nasenlöcher blähten sich. Es war schwer, sein Gesicht zu lesen, da es mit Schlamm verschmiert war.
»Hallo?« Sie versuchte erneut, ihn zu begrüßen. Das Wort ›Hallo‹ wurde auch in Suaheli verwendet, falls er das statt Englisch sprach.
Er richtete sich langsam zu einer überragenden Größe auf und sie rappelte sich ebenfalls auf die Beine. Eden hielt Abstand, da sie nicht wusste, was sie bei diesem wilden Mann zu erwarten hatte.
Sie versuchte etwas Kisuaheli und sah ihn weiter an. »Kiswahili?«
Plötzlich drehte er seinen Kopf und musterte den Wald. Es war immer noch unheimlich still. Eden wusste, dass seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war, doch sie hatte das Gefühl, dass ihm nichts entging, auch nicht ihre Bewegungen. Der Mann warf seinen Kopf zurück und stieß ein Brüllen aus, dasselbe Brüllen, das Cashs ugandische Männer in die Flucht geschlagen hatte. Sie hatten die Gefahr erkannt, die von diesem Mann ausging.
Sie fragte ihn, ob er Suaheli spreche. »Unaongea Kiswahili?« Leider kannte sie die Sprache nicht gut genug, um ein richtiges Gespräch zu führen.
Ihr Retter warf ihr noch einen verwirrten Blick zu, bevor er erneut in den Wald grunzte und scharf pfiff. Weit links von ihr ertönte ein Gegenpfiff. Der Mann drehte sich in ihre Richtung und mit blitzschnellen Reflexen packte er sie.
Eden schrie auf, aber eine Sekunde später wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst, als er sie über seine Schulter warf. Er begann zu rennen, schlängelte sich zwischen den Bäume hindurch und sprang über die höheren Büsche und die Vegetation wie ein olympischer Hürdenläufer. Der Aufprall seiner Füße ließ sie zusammenfahren und versetzte ihr einen Schlag in den Magen. Sie würde sich übergeben müssen, wenn er so weitermachte.
Wo wollte er hin? Was hatte er mit ihr vor? Warum hatte er nicht mit ihr kommuniziert? Er verhielt sich … nun, er verhielt sich eher wie ein Tier als ein Mensch. Ein wilder Mann. Es ergab keinen Sinn.
Schließlich blieb er stehen. Er rollte sie von seiner Schulter und auf den Boden. Sie konnte es nicht verhindern – ihr Magen entleerte seinen Inhalt und sie lag keuchend auf dem Boden am Fuße eines besonders dickwurzeligen Kosobaumes. Sie krümmte sich und versuchte, Luft zu holen und das Zittern ihrer Arme und Beine zu stoppen.
Ihr Kopf drehte sich und sie sah hinauf zu dem fernen Licht, das sie kaum durch die Bäume über sich erkennen konnte. Sie entdeckte etwas, das aus der Basis des Baumes ragte und den ganzen Weg nach oben führte. Kleine Holzstücke, wie winzige Stufen im Stamm, bildeten einen Pfad, der den ganzen Baum hinaufführte. Der wilde Mann ergriff ihre Hand und zog sie auf die Füße. Dann bedeutete er ihr, auf seinen Rücken zu klettern. Wollte er sie verarschen?
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, ich bin nicht …«
Er stürzte sich auf sie und sie schrie auf und hielt ihre Hände hoch.
»Okay!«
Er zeigte auf seinen Rücken und er stellte sich vor den Baum und wartete geduldig.
Es war seltsam, auf den Rücken dieses Fremden zu klettern, aber sie tat es. Er benutzte die hölzernen Stufen so, wie ein Bergsteiger Tritte benutzen würde. Beinahe hätte sie die Augen geschlossen, als sie ungefähr eine Höhe von zehn Fuß erreicht hatten und immer weiter gingen. Die Wipfel der Bäume schienen noch zehn oder fünfzehn Fuß entfernt zu sein.
Als sie das dichte Laub über ihnen erreichten, stemmte sich der Mann nach oben, und das Laub bewegte sich in einer nahezu perfekten quadratischen Form auseinander, gerade groß genug, um ihre beiden Körper aufzunehmen. Er kletterte weiter und Eden keuchte auf.
Der Baum über ihnen war noch weitere fünfzehn Fuß hoch, wuchs durch ein Loch im Dach, das mit Schlamm abgedichtet war. Überall um sie herum war Holz – gehackte Hölzer, die zu glatten Bohlen verarbeitet worden waren und um sie und den Mann herum eine Struktur wie ein Baumhaus bildeten.
Ein Baumhaus? Hier?
Er krabbelte über den Boden und tippte ihre Beine an. Sie ließ langsam los und berührte mit den Füßen den Boden. Der Holzboden war so fest wie ein Fels. Eden sah sich in dem Baumhaus um. Es musste fast zwanzig Fuß über der Erde gebaut worden sein. Der Boden war von unten her vollkommen getarnt.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte sie, sprach hauptsächlich zu sich selbst. Sie sah eine Holztür mit einem einfachen Verschluss aus dickem Seil. Eine kleine fensterähnliche Öffnung sorgte für ein wenig spärliches Licht.
Der Mann grunzte sie an und zeigte auf eine Ecke des kleinen Bauwerks. Eden sah dort nichts. Der Mann bewegte sich auf sie zu und sie wich sofort in die Ecke zurück, auf die er zeigte. Sie stürzte nach hinten und landete auf ihrem Hintern. Er hielt eine Handfläche hoch und machte wieder dieses leise schnaufende Geräusch. Wollte er, dass sie dort blieb? Er öffnete die Falltür und begann, den Weg hinunterzuklettern, den sie hochgekommen waren.
»Warte! Wo willst du hin?« Sie rappelte sich auf, aber er grunzte und schnaufte sie an, und sie verharrte in ihrer Bewegung. Er deutete auf die Ecke, und sie schob sich zurück an die Wand, die Kamera an ihre Brust gepresst. Er betrachte sie einen langen Moment, seine blauen Augen waren fest und unergründlich, während er sie musterte. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld und zog die Falltür hinter sich zu.
Eden war sich nicht sicher, wie lange sie dasaß und auf die Tür starrte. Nach einer gefühlten Ewigkeit entspannten sich ihre Muskeln und die Anspannung in ihrem Körper ließ langsam nach und sickerte aus ihr heraus. Sie sackte seitlich auf dem Boden. Ihr Körper zitterte und ein heftiger Schwall von Tränen überwältigte sie. Sie weinte, als die jüngsten Ereignisse alle zu ihr zurückfluteten. Die toten Gesichter der Männer und Frauen, die mit ihr tief in den undurchdringlichen Regenwald gereist waren. Alle waren sie begierig auf die Erfahrung ihres Lebens gewesen.
Die süße Maggie, der humorvolle Harold und all die anderen, mit denen sie sich in so kurzer Zeit angefreundet hatte. Alle tot. Ihre Leben waren ausgelöscht worden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Und was war mit ihr? Sie war am Leben, aber würde sie jemals aus dem Dschungel herauskommen? Und wer war die Bestie des Waldes, die sie gerettet hatte? Wer war der bleiche Geist?
Zweiundzwanzig Jahre zuvor
Amelia Haywood saß in der kleinen Cessna, ihr kleiner Sohn, Thorne, auf dem Sitz neben ihr.
Sie lachte und zeigte auf die dichten, sich meilenweit ausbreitenden ugandischen Wälder weit unter ihnen. »Siehst du? Sieh dir den Dschungel an.« Thorne zappelte in seinem Sitz und streckte sich, um aus dem ovalen Fenster sehen zu können. Amelia strich mit einer Hand über sein dunkles Haar. Es war seidig wie das eines Babys, auch wenn Thorne seit letzter Woche drei Jahre alt war.
Thorne zeigte mit einem seiner Fingerchen auf das Fenster. »Mama!«
»Ja, Thorne, das ist der Dschungel.«
»Affe!« Er sah auf das Kinderbilderbuch in seinem Schoß hinunter, auf dem ›A‹ für Affe stand. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Fenster.
»Jacob, wie weit ist es noch?«, fragte Amelia ihren Mann.
Jacob drehte sich von seinem Sitz neben dem Piloten zu ihr um. Sein dunkles Haar und seine leuchtend blauen Augen waren ein Spiegelbild ihres Sohnes. Doch Thorne sah auch ihr ein wenig ähnlich, um den Mund herum, besonders wenn er lächelte. Das gefiel Amelia, denn Jacob sagte immer, es sei ihr Lächeln, von dem er träumte, wenn er die Augen schloss. Amelia hatte sich nie vorgestellt, dass sie jemanden so sehr lieben könnte wie ihren Mann, aber sie tat es. Jacob und Thorne waren ihre ganze Welt.
»Wir haben noch etwa eine Stunde, bis wir zur Landebahn kommen«, schätzte Jacob.
Charlie, der von ihnen angeheuerte Pilot, nickte. »Er hat recht, etwa eine Stunde.«
»Morgen werden wir die Affen sehen«, sagte Amelia zu ihrem Sohn. Sie blätterte die Seiten des Buches um, bis sie zu dem Buchstaben G kam.
»Gorilla.« Sie sprach das Wort langsam und deutlich.
Thorne patschte seine Handfläche auf das Bild und sagte laut: »Affe!«
»Gorilla«, wiederholte sie.
Das Kind wandte sich ihr mit ernsten Augen zu und sagte dann: »Go-willa.«
»Beinahe.« Amelia lachte und griff mit dem Finger nach der Kette um ihren Hals. Es war eine dünne Goldkette mit einem goldenen Ginkgoblatt. Jacob hatte sie ihr in der Nacht geschenkt, als er ihr einen Antrag machte. Sie hatte natürlich einen Ring bekommen, einen wunderschönen Diamanten im Prinzessinnenschliff, der ein Familienerbstück war, aber Jacob hatte gesagt, er wolle ihr ein besonderes Geschenk machen, und das war es ganz sicher.
Von Anfang an waren sie und Jacob ein perfektes Paar, beide liebten sie die Tierwelt und den Naturschutz. Dank des Vermögens seiner Familie konnten sie in der Nähe des Bwindi Impenetrable Forest ein Zentrum bauen, in dem sich Parkführer und Gäste ausruhen und erfrischen konnten, bevor sie sich auf den Weg in den Dschungel machten, um die Gorillas zu sehen.
Sie hatten auch eine große Summe Geld gespendet, um Anti-Abholzungsbemühungen und eine Polizeitruppe zum Schutz der schrumpfenden Population der Berggorillas zu unterstützen. Zum ersten Mal, seit sie mit Thorne schwanger war, konnten sie nach Afrika, der Wiege der Zivilisation, zurückkehren.
Solange Amelia sich erinnerte, hatte sie eine Anziehungskraft auf diesen wunderschönen Kontinent verspürt. Er war einer der wenigen Orte, die noch Geheimnisse enthielten, die dem menschlichen Auge verborgen blieben. Er war keine ebene Wüste – er war gebirgig, mit Vertiefungen und flachen Seen, Wasserfällen und Flüssen.
Amelia hatte während ihres Studiums die vielfältige Geografie des Kontinents studiert. Die Berge speisten die großen Flüsse, wodurch die Wasserwege in hügelige Savannen mündeten, bis sie in einer Reihe von Stromschnellen und Wasserfällen in enge Schluchten und Küstenebenen abfielen.
Die Flüsse selbst waren über weite Strecken nicht schiffbar. Reisende, Händler, Soldaten und Entdecker von der Antike bis heute hatten es nicht geschafft, in das innere Herz Afrikas vorzudringen.
Amelia konnte spüren, wie dieses Herz schlug, gleichmäßig wie eine Trommel, und sie aufforderte, näher zu kommen, um tief in den nebligen Bergen nach Antworten zu suchen. Hier wurden Legenden geboren und geschaffen. Amelia wollte unter ihnen sein, erforschen und entdecken, bewahren und schützen.
Thorne blätterte weiter in dem Buch und sprach die Worte leise zu sich selbst in seiner Kleinkindstimme, die manchmal mehr Kauderwelsch als echte Worte war. Er war ein stilles Kind. Er sprach wenig, aber sie wusste, dass er klug war. Er lernte bereits, die Buchstaben und ihre Laute zu erkennen, und er sprach sogar ein paar einfache Wörter in seinen Bilderbüchern laut aus.
Das Flugzeug senkte sich plötzlich ein wenig. Amelias Herz hüpfte in ihrer Brust, aber dann gluckste sie. Thorne quietschte vor Freude.
»Himmel, was ist denn los, Charlie? Du hast Jacob doch nicht das Fliegen überlassen, oder?«
Charlie hielt sich an der Steuerung fest. »Nein, es scheint, als hätten wir einen Windschatten erwischt.«
Das Flugzeug ruckte und Amelia überprüfte ihren und Thornes Sicherheitsgurt, um sich zu vergewissern, dass sie angeschnallt waren.
»Seid ihr angeschnallt?«, rief Jakob zurück zu ihnen.
»Ja.«
»Gut. Warte mal …«
Der Motor des Flugzeugs stotterte plötzlich und das Flugzeug sackte nach unten. Der Motor sprang für ein paar Sekunden wieder an, bevor er erneut ausfiel. Aber es war zu spät. Das Flugzeug fiel aus dem Himmel auf den Dschungel unter ihnen.
Die nächsten Sekunden vergingen wie im Flug. Rauch – Schreie – umstürzende Bäume – Absturz – Stille.
* * *
Amelia hustete, als sie in der dichten Dunkelheit erwachte. Eine Sekunde lang konnte sie sich nicht erinnern, was passiert war. Sie bemühte sich, etwas zu sehen, während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein leises Wimmern neben ihr ließ sie zusammenzucken.
»Mama …« Thornes Stimme kam von irgendwo neben ihr.
»Einen Moment, Schatz«, sagte sie und löste ihren Sicherheitsgurt. Das Innere der Cessna wurde immer klarer, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Sie mussten unter dem Baldachin der Kosobäume gelandet sein.
Sie löste Thornes Sicherheitsgurt und tastete sein kleines Gesicht ab. »Bist du verletzt, mein Liebling?«, fragte sie und suchte nach einer Verletzung. Er schüttelte den Kopf.
»Jacob! Charlie!«, rief sie.
Im vorderen Teil des Flugzeugs wurde gehustet. »Schatz?«, meldete sich Jacob, seine Stimme klang gedämpft.
»Charlie?«, rief sie erneut, aber aus dem Pilotensessel kam kein Ton. Ein massiver Baum hatte das Fenster zwischen den beiden Sitzen im vorderen Teil des Flugzeugs durchbohrt.
Ihr Mann griff hinüber, legte Charlie eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn sanft. Er reagierte nicht. Jacob hob das Handgelenk des Mannes auf und legte zwei Finger auf seine Haut.
»Kein Puls«, sagte Jacob. Er drehte Charlies Kopf ein wenig und enthüllte den Teil seines Schädels, der von dem Baumstamm eingedrückt worden war. »Mein Gott …« Jacob schloss kurz die Augen und atmete einen schweren Seufzer aus.
Amelia bedeckte ihren Mund mit den Händen, während die Trauer ihr Herz zusammenpresste. Armer Charlie.
Jacob öffnete seinen Sicherheitsgurt und kletterte durch den schmalen Gang über heruntergefallenes Gepäck zu ihnen. »Geht es dir und Thorne gut?«
»Ja, wir sind in Ordnung.« Sie zog Thorne auf ihren Schoß. »Was ist passiert?«
»Der Motor hat den Geist aufgegeben.« Jacob fuhr mit einer Hand durch Thornes Haar und küsste Amelia auf die Stirn. »Gott sei Dank, es geht euch gut.«
Jacob wandte sich der Tür an der Seite des Flugzeugs zu und drehte den Griff. Nach ein paar Sekunden ächzte sie und gab nach. Eine Welle von Hitze und feuchter Luft erfüllte die Kabine. Jacob steckte seinen Kopf hinaus in den Dschungel.
»Ich glaube, wir sind noch weit von der Landebahn entfernt. Es sieht so aus, als wäre das Flugzeug auf dem Boden aufgekommen, aber wir müssen uns keine Sorgen machen, dass die Kabine instabil ist, wenn wir uns darin bewegen.« Er zog den Kopf zurück ins Innere und sah sich um. »Such nach dem Erste-Hilfe-Kasten. Vielleicht gibt es dort eine Leuchtpistole und ein paar Vorräte.«
Amelia setzte ihren Sohn zurück auf seinen Sitz und half Jacob, die Kabine zu durchsuchen.
»Wenigstens haben wir Lebensmittel«, sagte sie. Sie hatten Vorräte für ein paar Wochen mitgebracht. Sie hatte darauf bestanden, lang haltbare Lebensmittel ins Flugzeug zu laden, bevor sie London verließen.
»Ich habe das Satellitentelefon gefunden«, sagte Jacob mit einem erleichterten Seufzer. »Ich rufe Cameron an.« Er wählte die Nummer seines jüngeren Bruders in London.
»Verdammt. Nur die Mailbox«, murmelte er. »Cameron, ich bin es, Jacob. Unser Flugzeug ist irgendwo westlich der Landebahn von Bwindi abgestürzt. Du musst die Nummer der Waldführer anrufen, die ich dir letzte Woche in einer E-Mail geschickt habe. Sie sollen sich sofort auf die Suche nach uns machen. Stell sicher –« Jacob stoppte abrupt. »Verdammte Scheiße.«
»Was ist los?«
»Die Aufzeichnung wurde abgebrochen.« Er beendete den Anruf und schaltete das Telefon aus, um den Akku zu schonen.
Amelia fand den Erste-Hilfe-Kasten und Jacobs Handfeuerwaffe, die sicher in ihrem Etui mit einer Schachtel Munition lag.
»Ich will, dass wir im Inneren des Flugzeugs schlafen. Es ist der sicherste Ort. Ich werde Charlies Leiche nach draußen bringen und ihn begraben, wenn ich kann. Wenn sie uns finden, können wir seine Überreste dann bergen. Ich werde nach dem Multitool suchen. Es sollte eine Spitzhacke an einem Ende haben.«
Amelia nickte zustimmend. Ihr gefiel der Gedanke nicht, dass Charlies Leiche dort draußen lag, wo sie Tiere und Insekten anlocken konnte, aber sie mussten in Sicherheit bleiben. Eine Leiche in ihrer Nähe würde nur das Risiko von Raubtieren erhöhen, ganz zu schweigen von Infektionen und Krankheiten.
»Lass mich dir helfen.« Amelia vergewisserte sich, dass Thorne auf seinem Platz saß. Sie umfasste sein Gesicht und blickte in seine großen blauen Augen. »Bleib hier, Schatz. Mama und Papa sind gleich wieder da.«
Sie schloss sich Jacob im vorderen Teil des Flugzeugs an. Das Cockpitfenster war in hunderte Stücke zersplittert. Charlies schlaffer Körper war im Sitz zurückgesackt und Jacob beugte sich vor und schlang seine Arme um ihn, bevor er ihn hochhob. Dann bewegte er sich mit dem Körper auf sie zu. Amelia zitterte, als sie die Handgelenke des Mannes ergriff und sich rückwärts aus der Flugzeugtür bewegte. Jacob und sie trugen den Piloten ein gutes Stück vom Flugzeug weg, aber sie behielten das Flugzeug im Blick, während sie ihn auf den Boden legten.
Jacob fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar und begegnete Amelias Blick. »Wir können kein tiefes Grab ausheben, nicht ohne Schaufeln. Die kleine Axt wird reichen müssen. Sie hat eine scharfkantige Schaufel am anderen Ende.«
Amelia fand keine Worte. Es war eine unsägliche Tragödie, den Körper ihres Piloten den Elementen und wilden Tieren zu überlassen, aber welche Wahl hatten sie?
Sie streckte die Hand ihres Mannes aus und drückte sie. »Es tut mir leid, Jacob.« Sie konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Er war ein Mann mit einem Herzen, das größer war als der Ozean. Er liebte alle Lebewesen und schätzte das Leben.
Jacob führte sie von Charlies Leiche weg zurück zum Flugzeug. Sie blieben vor der Kabine stehen und lauschten dem Rauschen des Dschungels, dem Summen und Zirpen der Insekten, der Mischung aus wilden, exotischen Vögeln und Affen, die nichts von der Katastrophe mitbekommen hatten, die gerade geschehen war. Jacob und Amelia tauschten einen langen, bedeutungsvollen Blick aus. Es war, als ob der Dschungel das Flugzeug und die drei überlebenden Passagiere ganz zu verschlingen begann.
Jacob griff sanft nach ihren Hüften, zog sie an sich und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Er umarmte sie, drückte sie an sich und strich mit seiner Hand ihren Rücken auf und ab.
»Wir werden das durchstehen. Cameron weiß, dass wir leben. Er wird nicht aufhören, nach uns zu suchen. Bis dahin können wir ein richtiges Familienabenteuer erleben. Lofty und Cameron würden sich köstlich amüsieren, wenn sie hier bei uns wären.«
Amelia lachte zaghaft. »Für Lofty ist alles ein Abenteuer.« Sie dachte an Jacobs alten Schulkameraden, den Earl of Lofthouse, den alle Lofty nannten, und der Gedanke gab ihr ein wenig Hoffnung zurück. Lofty war ein reizender Mann mit Sinn für Humor und einer Vorliebe für teuren Brandy. Er, Cameron und Jacob waren schon als Jungen beste Freunde gewesen.
Sie nickte. Jacob versuchte, die Stimmung hochzuhalten, aber die Emotionen rollten durch sie wie ein aufkommender Sturm. Ihr Mann und ihr Kind befanden sich in einem uralten Dschungel, möglicherweise unerreichbar für jede Rettung, und sie wusste nicht, wie sie sie schützen sollte. Die Gefahr lauerte überall.
* * *
Die folgenden zwei Wochen in dem abgestürzten Flugzeug waren nicht einfach. Jacob Haywood hatte ein wachsames Auge auf seine Frau und sein Kind und sorgte dafür, dass sie jederzeit in Sicherheit waren.
Er reinigte auch ihr Wasser aus einem nahegelegenen Fluss, indem er es mit einer Lösung mischte, die Jod- und Chlordioxidtabletten enthielt, die einige der Giardien-Parasiten abtöteten. Thorne verzog immer das Gesicht, wenn er das mit Tabletten behandelte Wasser trinken musste, aber wenn er Jacob ansah, trank er mit einem kleinen erschöpften Seufzer das Wasser. Der Junge beschwerte sich nie, selbst wenn sein kleiner Bauch vor Hunger knurrte. An den meisten Tagen fühlte sich Jacob wie ein Versager. Er und Amelia hatten, wann immer es möglich war, auf das Essen verzichtet, um ihrem Sohn mehr Nahrung zu geben, aber es war an der Zeit, dass er anfing zu jagen. In Uganda gab es eine Antilopenart namens ›Kob‹, die in diesen Wäldern lebte. Mit etwas Glück konnte er welche aufspüren oder in dem Fluss fischen, den er nicht allzu weit von ihnen entfernt gefunden hatte.
»Liebling?« Jacob holte seine Waffe aus dem Koffer im Cockpit, wo er sie zur Sicherheit außer Sichtweite von Thorne versteckt hatte.
Amelia saß mit Thorne auf einem der Sitze und las ihm das Dschungel-Alphabet-Buch vor. »Ja?«
»Ich gehe auf die Jagd und vielleicht fische ich im Fluss. Bleib hier bei Thorne. Ich sollte in ein paar Stunden zurück sein.«
Sie stand auf und hob Thorne in ihre Arme. »Jacob, ich weiß nicht, ob das sicher ist.«
Er war fast zu groß, um ihn so zu halten, aber Jacob hatte den plötzlichen Drang, seinen Sohn in die Arme zu nehmen. Er streckte seine Hände aus und Amelia reichte ihm den Jungen. Während er ihn in den Armen hielt, legte Thorne seine Wange an Jacobs Schulter und er drückte seine eigene Wange an den Kopf des Kindes.
Eine Erkenntnis dämmerte ihm, während er den kleinen Jungen in seinen Armen wiegte. Eines Tages würde er Thorne zum letzten Mal im Arm halten. Irgendwann würde der Junge zu groß sein, zu alt für so etwas. War dies das letzte Mal? Würde Jacob sich dessen bewusst sein, wenn das letzte Mal, dass er seinen Sohn hielt, kam und ging? Ein Schauder kroch ihm über die Arme und den Nacken. Es fühlte sich an, als wäre jemand auf sein Grab getreten.
Er hielt Thorne noch einen Moment länger, bevor er ihn seiner Frau zurückgab. Amelia schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln, aber ihre Augen waren schwer vor Sorge.
»Ich bin bald wieder da«, versprach er und küsste sie schnell und innig.
»Sei vorsichtig«, warnte Amelia, als er in den Dschungel trat, der ihn außerhalb der Sicherheit der abgestürzten Cessna erwartete.
Der Marsch durch den Dschungel dauerte fast eine Stunde. Er erblickte ein paar affenartige Schatten über ihm, die zwischen den Bäumen schwangen oder sprangen. Aber er richtete seine Waffe nicht auf sie. Er kannte die Gefahren des Verzehrs von Affenfleisch, also würde er sie nur als letzten Ausweg töten. Er kletterte über die Felsen, schlängelte sich durch dicht stehende, moosbewachsene Bäume und hackte mit einer Machete, die sie im Flugzeug mitgebracht hatten, die dichte Vegetation ab.
Er war fast am Fluss – es war nur noch eine Viertelmeile – als er hörte, wie sich etwas durch das Gebüsch bewegte. In der Nähe gab es einige niedrig gelegene Hügel, die Höhlen beherbergten. Er hatte vor einer Woche eine dieser Höhlen entdeckt, war aber nicht allzu weit hineingegangen. Ebola wurde oft in afrikanischen Höhlen nachgewiesen. Er wollte nicht riskieren, sich mit dem Virus zu infizieren.
Was auch immer sich auf die Höhle zubewegte, war definitiv groß. Es könnte eine Antilope sein. Er verließ seinen Weg zum Fluss und folgte dem Geräusch in sicherem Abstand.
Als die Geräusche vor ihm in der Nähe des schwarzen, höhlenartigen Höhleneingangs aufhörten, blieb er stehen und hielt den Atem an, aber eine Sekunde später atmete er hastig aus, als er menschliche Stimmen hörte.
»Das ist die besagte Höhle, Holt«, sagte ein Mann. »Ich habe das Gold selbst gesehen.«
Gold? Jakob fragte sich, wie sie hier Gold gefunden haben konnten.
»Verdammte Eingeborene«, brummte ein Mann. »Vergraben Gold in einer verdammten Höhle. Wozu soll das gut sein? Na los, an die Arbeit. Ich will es sehen.«
Jakob bog einen Ast aus dem Weg und erblickte eine Gruppe von Männern, die die Höhle betraten. Sie sahen nicht freundlich aus. Die Waffen, die sie bei sich trugen, und ihr ungepflegtes Äußeres, zusammen mit ihrem Gerede über verstecktes Gold, machten sie gefährlich. Sie waren nicht die Art von Männern, die Jacob um Hilfe bitten konnte.
Langsam wich er zurück, aber nicht bevor er einen Mann aus der Höhle kommen sah, der eine Kiste trug. Ein Dutzend goldener Objekte – von Tellern und Bechern bis hin zu anderen nicht identifizierbaren Gegenständen – ragten aus der offenen Holzkiste heraus. Der Mann stellte die Kiste in der Nähe ab und als er wegging, schlich Jakob näher heran und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, den er zu fassen bekam, duckte sich zurück in den Schutz der Büsche und untersuchte ihn. Es war ein ungeschliffener Diamant, so groß wie seine Faust.
Guter Gott.
Wer auch immer diese Männer waren, sie waren über einen archäologischen Fund von großer Bedeutung gestolpert, und sie plünderten ihn. Die Gegenstände, die sie stahlen, gehörten zu den Nachfahren der Menschen, die sie dort abgelegt hatten, oder, wenn es solche Menschen nicht mehr gab, in ein Museum.
Ich sollte jetzt gehen, warnte Jakobs innere Stimme ihn. Aber der Gedanke an eine solche Ungerechtigkeit … nein. Er musste gehen. Er konnte seine Frau und sein Kind nicht in Gefahr bringen. Nicht für das hier. Er wollte den Diamanten gerade wieder in die Kiste legen, als er spürte, wie er unter seiner Handfläche warm wurde, und ein seltsames Brummen erfüllte seinen Kopf. Lichtblitze, Flüstern … Stimmen, die er nicht ganz verstehen konnte, aber er spürte, was sie wollten.
Behalte den Diamanten. Lauf, jetzt!
Er duckte sich zwischen das Laub der Bäume, verstaute den Diamanten in einer Tasche seiner Cargohose und drehte sich um, um loszurennen, nur um direkt gegen einen Mann zu prallen. Sie stolperten beide zurück. Jacob sah, dass der Mann locker ein Gewehr umklammerte, und er handelte schnell. Er versetzte ihm einen Schlag, der seine Boxerzeit in Cambridge zahm aussehen ließ. Der Mann schlug bewusstlos auf dem Boden auf und hatte zum Glück keine Aufmerksamkeit erregt.
Jacob schüttelte seine Faust aus und streckte seine Finger, bevor er über den gefallenen Körper sprang und zu rennen begann. Sobald der Mann aufwachte, würde er den anderen sagen, dass sie ihn verfolgen sollten. Jacob musste zu Amelia und Thorne gelangen.
Jacob war schon eine Viertelmeile weit gekommen, als er hinter sich schwache Rufe hörte. Er beschleunigte sein Tempo. Über ihm schnatterten die Vögel wie verrückt und die Affen schrien warnend. Es war, als würde der ganze Dschungel schreien, dass Gefahr drohte.
Er erreichte das Flugzeug und platzte hinein. »Amelia, schnapp dir Thorne! Wir müssen von hier verschwinden!«
Seine Frau schnappte sich ihr Kind. Jacob steckte die restlichen Proteinriegel und Wassertabletten in eine Tasche und warf sie sich über die Schulter. Sie waren etwa hundert Yards vom Flugzeug entfernt, als sie direkt in den Weg eines Silberrücken-Gorillas stolperten. Der Gorilla schlug sich mit den Fäusten auf die Brust und machte ein lautes ›pok-pok-pok‹-Geräusch, bevor er sie anknurrte und sich näherte.
Jakob schob seine Frau hinter sich und neigte den Kopf.
»Sieh nicht hin. Behalte den Blick unten«, warnte er Amelia.
Sie bedeckte Thornes Kopf mit einer Hand, während sie zurücktraten. Der männliche Gorilla ging noch ein paar Schritte weiter. Jakobs Atem ging schnell, während er versuchte, zu denken und ruhig zu bleiben. Der Gorilla drängte sie zurück zum Flugzeug – zurück zu den Golddieben. Er streckte eine Hand hinter sich aus und Amelia verschränkte ihre Finger in seinen zur stillen Unterstützung.
Plötzlich richtete sich die Aufmerksamkeit des Gorillas auf etwas hinter ihnen. Seine Lippen kräuselten sich zu einem erneuten Knurren, und er stürzte sich auf das, was er hinter ihnen gesehen hatte.
Eine Salve von Kugeln schlug in die Brust des Tieres ein. Blut spritzte in die Luft, und der Gorilla brach tot zu Jacobs Füßen zusammen.
»Nein!« Trotz der Gefahr, in der sie sich befanden, schmerzte sein Herz um das Leben des Gorillas. Mit grauenhaftem Entsetzen drehten er und Amelia sich um, um der wahren Gefahr des Dschungels ins Auge zu sehen.
»Jacob«, flüsterte Amelia, ihre Hand immer noch in seiner, ihr anderer Arm hielt ihr Kind an ihre Brust gedrückt.
Sie standen der Gruppe von bewaffneten Männern gegenüber. Ein weißer Mann, jung, vielleicht Anfang zwanzig, schien derjenige zu sein, der das Kommando hatte. Seine blassblauen Augen waren so kalt, dass sie Jacob frösteln ließen. Jakob wusste, dass er und seine Familie nicht überleben würden. In diesen Augen war keine Gnade zu sehen, nur kalte Berechnung.
»Bitte«, sagte Jacob. »Bitte lassen Sie uns in Ruhe. Wir werden niemandem etwas verraten.« Er stellte sich schützend vor Amelia und sein Kind. Er würde, ohne zu zögern oder nachzudenken, seinen letzten Atemzug geben, um sie zu beschützen.
»Wie sind Sie so tief in den Wald gekommen?«, fragte der junge Mann. »Die Touren kommen nicht so weit nach Osten.«
»Unser Flugzeug ist abgestürzt. Wir waren auf dem Weg zum Flugplatz in der Nähe der Waldführerstation.« Jacob nickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Der Mann richtete seine Waffe ruckartig auf sie. »Zeigen Sie sie mir.«
Jacob nahm Thorne in die Arme und Amelia blieb dicht bei ihm, als sie zur Absturzstelle zurückgingen. Er und seine Familie standen mit der Cessna im Rücken, während sich die bewaffneten Männer in gedämpftem Ton unterhielten.
»Amelia, wir kommen hier nicht lebend heraus.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder den Männern zuwandte.
»Warum können sie uns nicht einfach gehen lassen?«, fragte sie.
»Weil ich das Gold und die Diamanten gesehen habe, die sie aus einer Höhle geplündert haben.« Er fing ihren Blick auf und legte eine Hand leicht, fast beiläufig auf die leichte Ausbuchtung seiner Tasche, wo er den Diamanten hatte.
»Gold?«, echote sie. »All das hier ist wegen Gold und Diamanten?«
Die Gier der Menschen verlief tief wie die Risse im Gestein, die die Adern des Goldes freilegten, das sie so sehr begehrten. Und mit jeder Unze Gier würde doppelt so viel Blut vergossen werden. Jakob wusste es besser, als mit solchen Männern zu verhandeln.
Die Diebe standen ihnen wieder gegenüber. Der Jüngste, der mit den kalten Augen, deutete mit seiner Waffe auf Jacob.
»Wir haben abgestimmt. Du bist es nicht wert, am Leben zu bleiben.« Das war Jacobs einzige Warnung, bevor die Waffe abgefeuert wurde.
»Jacob!« Amelia schrie auf.
Die Kugel riss durch seine Brust. Er griff langsam nach oben und berührte die Wunde, Blut sprudelte über seine Hand. Amelias Stimme war jetzt weit entfernt in seinen Ohren, als er zurück gegen die Seite des Flugzeugs taumelte und auf die Knie sank.
Über ihm kreischten die exotischen Vögel eine Warnung, die zu spät kam. Er würgte. Das Gefühl zu ersticken, war so beängstigend, dass er sich nicht bewegen, nicht sprechen konnte. Seine Sicht wurde an den Rändern eher blass als dunkel, als ob er langsam von einem leichten, beruhigenden Nebel umgeben wurde. Im Stillen fragte er sich, ob das der Grund war, warum sich die Augen eines Menschen trübten. Es war, als ob der Tod sich wie ein unentrinnbarer Nebel über sie stahl.
Es fiel ihm so schwer zu denken. Er klammerte sich an die letzten Sekunden seines Lebens und seine Gedanken drifteten zu Erinnerungen an Herbstblätter, die vom Wind erfasst und an weit entfernte Orte getragen wurden.
* * *
Amelia schob Thorne hinter sich. Das Kind war steif und stumm vor Angst. Jacob lag regungslos ein paar Yards entfernt. Das Licht in seinen Augen brannte wie eine Kerze in einem heftigen Wind und erlosch schließlich. Sie hatte keine Zeit zu trauern – ihre mütterlichen Instinkte überlagerten alles andere.
»Bitte, wir werden es niemandem sagen. Mein Sohn ist erst drei. Ich muss mich um ihn kümmern.« Thorne schlang einen Arm um ihr Bein und klammerte sich an sein kleines Leben.
»Es ist nichts Persönliches. Keine losen Enden.«
»Bitte nicht. Nicht mein Baby!«
Der Mann lächelte beinahe. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich töte keine Kinder.«
Der Mann mit den blauen Augen hob erneut seine Waffe und Amelia sah ihn unverwandt an, trotzig bis zum Schluss, als er feuerte. Sie sackte auf den Boden, Thorne umklammerte ihren Arm und schniefte, während er versuchte, ruhig zu bleiben.
»Bitte nicht. Nicht mein Baby …« Sie versuchte mit ihrem letzten Atemzug, Thorne an ihrer Seite zu schützen. Es war so schwer zu atmen. So schwer …
»Die Liebe einer Mutter – wie rührend«, sagte der Mann nachdenklich, während er auf das Kind hinunterblickte. Er begegnete Thornes Blick und sah dann zu Jacobs Körper. »Durchsucht seine Taschen. Ich möchte nichts zurücklassen, womit jemand ihn identifizieren könnte.«
Einer der Männer durchsuchte Jacobs Taschen und fand den riesigen ungeschliffenen Diamanten. Der Mann mit den blauen Augen steckte seine Waffe ein, nahm den Diamanten und hielt ihn mit einem besitzergreifenden Schimmer, der seine Augen überschattete, hoch.
»Legt ihre Leichen in das Flugzeug. Ich möchte nicht, dass jemand denkt, sie hätten den Absturz überlebt, vorausgesetzt, jemand findet das Wrack.« Er ging weg und die übrigen Männer gingen zu Jacob.
»Was ist mit ihm?«, fragte einer seiner Männer und nickte in Richtung des Kindes.
Der Mann mit den blauen Augen drehte sich um. »Ihm wird nichts geschehen. Bringt ihn in das Flugzeug zu seinen Eltern. Ich töte keine Kinder, aber er wird hier draußen noch früh genug sterben. Lassen wir der Natur ihren Lauf.« Amelia atmete jetzt flach, ihre Glieder waren kalt und taub.
»Fassen Sie … ihn nicht an!«, keuchte sie und verschluckte sich an ihrem eigenen Blut, als die Männer ihren geliebten Mann hochhoben. »Nicht …«
Dann kamen sie zu ihr. Das Leben verließ sie bereits. So eine komische Sache, das Sterben. Sobald der Schmerz verblasst war, blieb nur noch die Stille, wie das Einschlafen an einem sonnigen Samstagnachmittag. Aber es war nicht leicht, loszulassen – nicht, wenn sie ihr Kind zurückließ.
* * *
Adroa Okello hielt sein Gewehr locker, eine Leinentasche mit Gold über eine Schulter geschlungen, als er im Inneren des abgestürzten Flugzeugs stand. Die anderen hatten die Leichen hereingetragen und in die Sitze gesetzt. Aber der Junge, das hilflose Kind, wollte nicht von seiner Mutter getrennt werden. Er lag zusammengerollt auf ihrem Schoß, eine Hand ruhte auf ihrem leblosen Arm, sein Körper zitterte, während er murmelte und sie bat, aufzuwachen, immer und immer wieder.
Adroa wollte dem Jungen helfen. Er war kein Mörder, aber er wurde von seinem Chef, dem Engländer namens Archibald Holt, den er aber auf Suaheli ›Death Eyes‹ nannte, wenn dieser ihn nicht hören konnte, anständig entlohnt. Adroa hatte eine Ehefrau und seine eigenen Kinder zu ernähren und er konnte es nicht riskieren, Holt in die Quere zu kommen.
Das Kind schniefte, seine lebhaften dunkelblauen Augen waren so groß und voller Tränen, dass Adroa es nicht ertragen konnte. Er war jetzt der letzte von Holts Männern im Inneren des Flugzeugs. Niemand würde sehen, was er im Begriff war zu tun. Er schwang die Segeltuchtasche von seiner Schulter und nahm eines der goldenen Schmuckstücke heraus, die sie aus der Höhle gestohlen hatten – einen goldenen Blätterkranz, der aussah wie eine Krone. Er hielt ihn dem Kind hin. Holt würde nie erfahren, dass es ein solches Stück gegeben hatte. Und vielleicht würde das Gold das Kind für eine kleine Weile ablenken.
»Sei jetzt brav«, sagte er zu dem kleinen Jungen auf Englisch und streichelte das seidige dunkle Haar des Kindes. »Bleib hier drin, hörst du? Jemand wird dich abholen kommen.« Er wollte nicht lügen, aber was konnte er sonst tun? Den Jungen retten und Death Eyes würde ihn töten. Den Jungen töten und Death Eyes würde ihn töten.
Der Junge blickte stumm zu Adroa auf, seine winzigen Finger krümmten sich um den goldenen Blätterkranz. Ein plötzliches unheimliches Gefühl stahl sich durch Adroa. Er spürte die Gegenwart seiner Vorfahren in den Lichtstrahlen, die das Blätterdach über ihm durchdrangen. Vor vielen tausend Jahren hatte sein Volk in diesem Dschungel gelebt. Sie hatten große Städte zwischen den Bäumen gebaut und in der Höhle hatten sie ihren heiligen Schatz aufbewahrt. All das war für Adroa ein Mythos gewesen, bis er vor ein paar Wochen mit Holt und den anderen die Höhle betreten hatte. Das Glitzern des Goldes im fahlen Licht ihrer Taschenlampen hatte ihn beinahe geblendet. Und er hatte den Zorn der Alten in der Höhle gespürt, ihren gerechten Zorn tief in seinem Blut und seinen Knochen gefühlt. Aber sie waren tot, tot und weg, und hatten keine Verwendung mehr für Schätze.
Vielleicht war es seine Einbildung, vielleicht auch nicht, aber er war sich sicher, dass er eine geflüsterte Warnung zwischen den Bäumen hörte, als er das abgestürzte Flugzeug verließ. Das Geflüster murmelte, dass ein Geist aufsteigen würde, gekrönt in Gold, ein Herr des Dschungels, der zurückkehren würde, um seine Familie zu rächen.
Adroa stolperte zurück und rannte in den Dschungel, um Holt und die anderen einzuholen. Er versuchte, das Bild dieses Kindes aus seinem Kopf zu verbannen, aber er wusste, dass es ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde.
Eine halbe Meile von der Stelle entfernt, an der das Flugzeug der Haywoods abgestürzt war, hielt eine Gruppe von Gorillas beim Dröhnen seltsamer Geräusche in der Ferne inne. Die schnellen Geräusche klangen harsch und brachial in ihren Ohren. Ihr Anführer, der Silberrücken Mukisa, war ihnen weit voraus gewesen, um die unbekannte Gegend auszukundschaften und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Aber Mukisa war nicht zurückgekehrt.
Keza, ein junges erwachsenes Weibchen, trug ihr Neugeborenes Akika, eines von Mukisas Kindern, auf einem Arm, während sie den anderen folgte und Mukisas Geruch nachspürte.
Nun wehte der Geruch von Blut im Wind zu ihnen und die Gruppe wurde unruhig. Keza hielt ihr Kind fest, bereit zu rennen oder zu klettern, um ihr Baby zu schützen. Sie verfolgten den Geruch weiter tief in den Dschungel hinein, bis sie auf Mukisas Körper stießen. Er lag mit dem Gesicht nach unten, eine schwarze Handfläche in den Dschungelboden gekrallt.
Keza war die Einzige, die mutig genug war, sich dem Körper ihres Gefährten zu nähern. Sie berührte seine Finger, fühlte die Kälte, die unnatürliche Steifheit, die sich bereits in ihm ausgebreitet hatte. Als Nächstes stieß sie an seine Schulter, aber sie wusste, wie alle Tiere, dass ihr Gefährte tot war. Ihr Anführer war tot.
Sunya, einer von Mukisas jüngeren Söhnen, trat vor, grunzte leise und erklärte sich zum neuen dominanten Männchen. Er hatte keinen Widerstand zu befürchten. Er führte sie vorwärts, in die Richtung, die Mukisa eingeschlagen hatte, um den Fluss zu erreichen, wo sie Wasser finden konnten.
Seltsame neue Gerüche erfüllten Kezas Sinne – ein Tier, das sie nicht erkannte, zusammen mit einem beißenden, brennenden Geruch, der sie nervös und besorgt um die Sicherheit ihres Babys Akika werden ließ. Bald erreichten sie eine Lichtung, auf der eine große weiße Gestalt im Unterholz lag.
Ein spitzer Schrei kam aus dem Inneren der weißen Masse. Die meisten der Gorillas wichen zurück, drückten ihre Knöchel hart gegen den Boden, bereit für einen Angriff. Ein erneuter Schrei erklang und etwas tief in Kezas Brust zog sich zusammen. Dies war der Schrei eines Kindes. Ein Schrei nach Hilfe. Ihre mütterlichen Instinkte waren durch ihr erstes Kind stark ausgeprägt und sie würde auf jeden Hilferuf reagieren. Sie näherte sich der weißen Gestalt allein, immer noch ihren süßen Akika an ihre Brust gedrückt. Als ein weiterer Schrei erklang, schob sich Keza vorsichtig in das dunkle Loch.
Ihre Augen stellten sich auf das schwache Licht ein und sie hielt inne, als ihre Nase wieder den Geruch des Todes und diesen seltsamen Tiergeruch wahrnahm, den sie nicht kannte. Sie ging näher heran. Es war ein Geräusch der Verzweiflung, nicht unähnlich den schwachen Schreien ihres eigenen Babys.
Eine weißgesichtige Kreatur blickte sie an, ihre Augen waren blau wie der Himmel. Keza legte den Kopf schief, war verwirrt. Sie hatte noch nie eine solche Kreatur gesehen. Es hatte keine Haare am Körper, nur ein paar auf dem Oberkopf. Das Wesen hielt etwas in der Hand, das im schwindenden Licht glitzerte, aber dieser Gegenstand interessierte Keza nicht. Sie rief dem kleinen Wesen leise zu und streckte einen Finger in seine Richtung aus.
Das Kind ließ den glänzenden Gegenstand fallen und schlang seine winzigen Finger um den dicken schwarzen Finger. In diesem Moment verband sich Keza mit dem fremden Kind. Sie griff nach ihm, schlang ihren anderen Arm um seinen kleinen Körper und schmiegte ihn neben ihre kleine Akika. Das Kind bewegte sich, schniefte und wurde dann still. Sie konnte hören, wie sein Bauch vor Hunger knurrte.
Sunya würde vielleicht nicht wollen, dass dieser Säugling in ihrer Horde blieb, da er nicht Sunyas Kind war, aber sie war älter als Sunya und mit der Liebe einer Mutter gesegnet. Sie würde ihn töten, wenn er versuchen sollte, einem ihrer Söhne etwas anzutun. Selbst über die Grenzen der Spezies hinweg konnten sich eine Mutter und ein Kind bedingungslos lieben. Es gab in Kenzas Welt viele harte Regeln, aber eine stand über allen, und das war die Liebe einer Mutter.
* * *
Thorne klammerte sich an die Gorillamutter, sein Bauch knurrte. Er verstand nicht, warum Mama und Papa nicht aufwachten, egal wie sehr er sie darum bat oder weinte. Aber das schwarze Biest aus seinem Lieblingsbuch hatte seine Schreie erhört.
G. Gorilla.
Die Gorillamutter war auf ihn zu gekrochen und er hatte aufgehört zu weinen. Er schmiegte sein Gesicht an ihr dunkles, borstiges Haar und starrte mit großen Augen auf das Gorillababy neben sich. Die rötlich-braunen Augen des Babys waren weit aufgerissen, während er Thorne ansah.
Als Thorne durch den Dschungel getragen wurde, nahmen seine Ohren das Rascheln der Blätter und das Summen der Insekten wahr, den exotischen Klang der Vögel und Affen. Die Mischung aus Geräuschen wurde zu einer sanften Symphonie, die ihn zwischen der Wärme von Kezas Brust und der feuchten Dschungelluft in den Schlaf wiegte.
Die Horde Gorillas hielt nach mehreren Stunden an und ließ sich an einem sicheren, dichten Ort nieder, um zu fressen und zu ruhen. Nebel zog um sie herum auf, dick und kühlend auf der Haut. Keza hielt Thorne in ihrer Reichweite und setzte Akika neben ihm ab.
Der kleine Menschenjunge betrachtete das Gorillaweibchen, das ihn in Sicherheit gebracht hatte. Ihr schwarzes und silbernes Fell verschmolz zu einer brünierten Bronze an der Spitze ihres Kopfes. In diesem Moment war sie für ihn wunderschön, schöner als alles, was er je zuvor gesehen hatte.
Sie war jetzt seine Mutter; er spürte die fürsorgliche Berührung einer Mutter, als sie mit ihren Fingern über seinen Kopf strich, und sein kleines Herz füllte sich mit unendlicher Liebe zu ihr.
* * *
Keza rätselte über die winzigen Finger ihres neuen Kindes, die denen von Akika ähnlich und doch nicht ganz gleich waren. Sie streichelte mit einer Hand über das dunkle Haar auf seinem Kopf. Es war weich, viel weicher als ihr eigenes. Sie zupfte sanft an seinen Ohren, um nach Milben zu suchen. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich und fletschte die Zähne, aber es wirkte nicht bedrohlich auf sie.
Sie kräuselte ihre Lippen, zeigte ihre eigenen scharfen weißen Zähne, und er klatschte seine winzigen Hände zusammen. Das kleine schmatzende Geräusch war seltsam. Keza fragte sich, ob er versuchte, seine Stärke in einem so jungen Alter zu zeigen. Sie ballte ihre Faust und gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Brust. Das erschreckte das Kind und es wurde still. Aber nach einem Moment ballte er seine eigene Faust und schlug diese nachahmend auf seine eigene Brust. Keza johlte zustimmend. Er lernte schnell. Und das war gut so. Der Dschungel barg viele Gefahren und je schneller dieser haarlose Affe lernen konnte, desto sicherer würde er sein.
Die anderen Gorillas in der Gruppe beobachteten das junge Kind misstrauisch. Sunya schnaubte und fletschte die Zähne, aber ein beschwichtigender Blick von Keza genügte und er kam nicht näher auf sie zu.
»Ich bin Thorne.« Das Kind sprach mit einer fremden Zunge. Sie grunzte ihn an.
Er tippte sich gegen die Brust. »Thorne.« Dann kletterte er auf ihre Beine und setzte sich auf ihren Schoß, tippte ihr auf die Brust und sah ihr tief in die Augen, als ob er auf eine Antwort von ihr wartete. Sie schien zu verstehen, dass er ihren Namen zu erfahren wünschte.
»Keza.« Sie sprach in ihrer eigenen Sprache und er wiederholte den Laut. Dann legte er sanft eine Hand auf Akikas winzigen Arm, seine fragenden Augen blickten so eifrig, dass Keza von ihnen in den Bann gezogen wurde.
»Akika … Bruder … Freund«, sagte sie in ihrer Sprache und er antwortete, indem er sie nachahmte. Obwohl ihre Laute zunächst nur ein angenehmes Geräusch für Thorne waren, wurden die Gedanken hinter diesen Geräuschen immer deutlicher. Mit der Zeit würde er ihre Sprache deutlicher lernen als die, in die er hineingeboren worden war.