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Cora hat den Glauben an die Liebe aufgegeben. Zumindest was sie selbst betrifft. Deshalb versüßt sie sich ihren Job am Check-in-Schalter des Londoner Flughafens damit, Singles hoch über den Wolken zu verkuppeln. Mithilfe der glamourösen Flugbegleiterin Nancy macht Cora die Reihe 27 zu einem Liebeslabor. Dort findet sich bei jedem Flug ein Passagier ganz unverhofft neben seinem potenziellen Traummann oder seiner Traumfrau wieder. Die Verwicklungen sind vorprogrammiert, auch mit Vielflieger Aidan, der nicht so durchschaubar ist, wie er scheint. Wird Cora selbst irgendwann wieder auf Wolke (2)7 schweben?
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Seitenzahl: 482
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das Buch
Liebe ist der beste Copilot
Cora hat den Glauben an die Liebe aufgegeben. Zumindest was sie selbst betrifft. Deshalb versüßt sie sich die Zeit am Check-in-Schalter in London-Heathrow damit, Singles hoch über den Wolken zu verkuppeln. Mithilfe der glamourösen Flugbegleiterin Nancy macht Cora die Reihe 27 zu einem Liebeslabor. Dort findet sich bei jedem Flug ein Passagier ganz unverhofft neben seinem potentiellen Traummann oder seiner Traumfrau wieder. Die Verwicklungen sind vorprogrammiert, auch mit Vielflieger Aidan, der nicht so durchschaubar ist, wie Cora annimmt. Wird auch Cora irgendwann in Reihe 27 Platz nehmen und der Liebe eine zweite Chance geben?
»Erfrischend, witzig und ungeheuer charmant.«
Marian Keyes
Die Autorin
Eithne Shortall hat an der Dublin City University Journalismus studiert und in London, Frankreich und Amerika gelebt. Inzwischen ist sie in Dublin zu Hause, wo sie als Kulturreporterin für die Sunday Times schreibt. Liebe in Reihe 27 ist ihr erster Roman.
EITHNE SHORTALL
Roman
Aus dem Englischen von Janine Malz
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Deutsche Erstausgabe 07/2018
Copyright © 2017 by Eithne Shortall
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Love in Row 27 bei Corvus, an imprint of Atlantic Books Ltd., London
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Hanne Hammer
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik∙Design, München
Umschlagmotiv: © Marish/shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-22281-9V002
www.diana-verlag.de
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Für meine geliebte Oma
Von: Marsha Clarkson, Chief Executive <[email protected]>
Gesendet: 23.07. um 23:11 Uhr
An: Alle Mitarbeiter
Betreff: FW: Folge-E-Mail: Künftige Sicherheitsmaßnahmen
Danke, dass Sie alle heute Nachmittag an der Besprechung teilgenommen haben. Hier noch einmal die wichtigsten Punkte:
Auch wenn sich die vor Kurzem aufgetretene Sicherheitspanne als falscher Alarm erwiesen hat, hat sie gewisse Schwachstellen im System offengelegt. In Absprache mit dem Innenministerium haben wir deshalb beschlossen, den Self-Check-in einzustellen, bis das einwandfreie Funktionieren unseres Sicherheitssystems wieder gewährleistet ist.
Die Check-ins aller Airlines werden mit sofortiger Wirkung manuell durchgeführt, d. h. die Passagiere müssen sich persönlich mit ihrer Flugnummer und ihrem Ausweisdokument an dem jeweiligen Check-in-Schalter einfinden. Zu diesem Zweck wurde zusätzliches Personal abgestellt – hinsichtlich der Arbeitsbelastung besteht somit kein Grund zur Sorge. Der Flughafenbetreiber stellt die nötigen finanziellen Mittel bereit.
Die Check-in-Automaten wurden entfernt und eingelagert. Des Weiteren wird der Online-Check-in eingestellt. Wie uns mitgeteilt wurde, können die Einschränkungen im Fluggastverkehr bis zu einem Jahr andauern. Über etwaige Änderungen werden wir Sie zeitnah informieren.
Ab morgen begeben wir uns also in die gute alte Zeit des internetlosen Flugverkehrs zurück. Lassen Sie uns das mit einem Lächeln tun und diese Gelegenheit nutzen, den Kundenservice wieder in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit zu rücken. Ich möchte Sie an dieser Stelle ermutigen, mit vollem Einsatz für unsere Passagiere da zu sein.
Marsha Clarkson
Chief Executive, Heathrow Airport Authority
<<NICHT AUF DIESE E-MAIL ANTWORTEN>>
1
1 Das Self-Check-in-Embargo war seit acht Tagen in Kraft, als eine Frau mit mehreren Tornistern an den Aer Lingus-Schalter trat und, ohne es zu ahnen, die größte Liebesgeschichte im Leben der Cora Hendrick ins Rollen brachte. Eine Liebesgeschichte, die umso reizvoller war, da Cora nicht selbst die Hauptrolle darin spielen musste. Cora war an einem Punkt angelangt, an dem sie völlig zufrieden war, in Herzensangelegenheiten nur eine Nebenrolle zu spielen.
Es war der letzte Julitag, und Cora arbeitete erst seit knapp einem Monat bei der Fluggesellschaft. Sie hatte kaum Zeit gehabt, sich einzugewöhnen, als das Embargo den gesamten Flughafen Heathrow in ein völliges Chaos stürzte. Sie fertigte gerade die endlose Schlange der zunehmend gereizten Passagiere ab und tat ihr Bestes, den Eindruck zu vermitteln, als hätte sie alles unter Kontrolle, als sich die vollbepackte Dame näherte und ein kleines Aufnahmegerät auf Coras Schalter legte.
»Das ist für meinen Podcast.« Die Frau betätigte einen Schalter an der Seite des Geräts und ließ ihren Wust an Taschen auf den blitzblanken Flughafenboden fallen. »Keine Sorge. Das hört sich sowieso niemand an. Mein Podcast läuft jetzt schon seit knapp einem Jahr, und bis jetzt hatte ich nicht mehr als drei Zuhörer.« Die Frau steckte ihren Kopf in eine überquellende Handtasche und kramte nach ihrem Reisepass. »Und obwohl sie behauptet, dass sie das nicht ist, weiß ich genau, dass meine Mutter eine davon ist … Gefunden!«
Cora nahm den zerfledderten Reisepass entgegen und tippte die Daten der Frau ein. »Und um was geht es in Ihrem Podcast?«
»Es ist eine Buch-Reise-Sendung. Ich habe mir immer gesagt: ›Trish, du musst mehr reisen und du musst mehr lesen.‹ Als dann mein Freund mit mir Schluss gemacht hat – über den ich übrigens total weg bin, don’t cry for me, Argentina – habe ich beschlossen, das als Chance zu sehen. Endlich kann ich all das tun, was ich immer tun wollte.«
»Lesen und reisen?«
»Genau. Und es ist mir egal, wenn niemand sich das anhört. Ich vergesse und verliere ständig Sachen, da ist es gut, alles aufzuzeichnen. Das hier« – sie tippte das Mikro an – »ist quasi die mündlich überlieferte Geschichte einer befreiten, sprich emanzipierten, jungen Frau.«
»Klingt toll«, sagte Cora aufrichtig. Ihr altes Ich hätte gerne etwas Ähnliches gemacht, doch als Cora »befreit« wurde, um den euphemistischsten aller Euphemismen zu verwenden, hatte sie eher den klischeehaften Weg eingeschlagen und sich in ein Häufchen Elend verwandelt.
»Ich lese tonnenweise Bücher, über die ich hier berichte, und wenn sie etwas taugen, versuche ich die Orte zu besuchen, an denen sie spielen. Die Sendung heißt ›Ganz viel Buch(en)‹ – falls Sie meine vierte Zuhörerin werden wollen.«
»Sitz 27B, Gate B«, sprach Cora vorgebeugt ins Mikro, als sie der Frau ihren Reisepass mit dem Flugticket darin zurückgab. »Und was ist das für ein Buch, das Sie nach Belfast führt? Ein Thriller?«
»Ehrlich gesagt habe ich hier ein wenig geschummelt. Ich habe mit dem Lesen der Game of Thrones-Bände zur gleichen Zeit angefangen wie mit dem Podcast. Mein Ex hat Fantasy gehasst, deshalb habe ich sie anfänglich einfach aus Trotz ausgesucht, aber inzwischen bin ich völlig vernarrt in die Reihe! Egal, doch da Westeros nicht wirklich existiert, habe ich mir gedacht, ich fliege nach Belfast, wo die Serie gedreht wurde. Das kommt dem wohl am nächsten.«
»Ehrlich gesagt hatte ich es nie so mit Science-Fiction.«
Die Frau hielt inne. »Das ist Fantasy.«
»Aha.«
»Da geht es nicht um Wissenschaft.«
»Das war mir nicht klar.«
»Das sind völlig unterschiedliche Genres.«
Cora schaffte es, den Augenkontakt abzubrechen. »Na schön, ich werde mir auf jeden Fall Ihre Sendung mal anhören.«
»Danke!« Die Frau stopfte ihr Aufnahmegerät zusammen mit ihrem Reisepass in einen ihrer vielen Rucksäcke. »Vermutlich sind Sie die Einzige!«
Sechs Monate später in der U-Bahn – auf den Tag genau sechs Monate – erinnerte sich Cora daran, wie sie sofort gespürt hatte, dass es irgendetwas Besonderes mit der Podcast-Dame auf sich hatte. Ihre Energie und ihre Begeisterung waren ansteckend gewesen. Cora, die sich immer für das Leben anderer Menschen interessiert hatte, hatte gewusst, dass da noch etwas kommen würde. Und als ungefähr eine Stunde später jemand eine zerknitterte Ausgabe von George R. R. Martins Game of Thrones auf ihren Schalter knallte, war die Check-in-Mitarbeiterin wenig überrascht gewesen. Das musste Schicksal sein.
»Belfast, nehme ich an?«, fragte sie den lockigen Besitzer des Buches mit hochgezogener Augenbraue.
Der junge Mann sah verlegen drein. »Gibt es so viele Game of Thrones-Fans, die nach Nordirland fliegen? Hätte ich mir eigentlich denken können, dass ich nur einer von vielen bin«, meinte er und überreichte ihr die erforderlichen Dokumente. »Nach dem ersten Herr der Ringe-Film bin ich nach Neuseeland geflogen, da war die Hälfte der Hostels voll von britischen Fans.«
»Sie sind extra wegen eines Films nach Neuseeland geflogen?«
»Na ja, ins Auenland ging ja schlecht.«
Cora betrachtete den schlaksigen Mann, und irgendwo in den dunklen Tiefen seiner nervös zuckenden Augen ergab plötzlich alles einen Sinn. Ihr Kopf spulte zu der Podcast-Dame zurück, die von den ausgefransten Enden ihres Schals bis in die letzten Spitzen ihrer statisch aufgeladenen Haare enthusiastisch und abgekämpft gewirkt hatte. Aufmerksam betrachtete sie diesen Mann mit seinem unbeholfenen Lächeln und seinem entspannten Verhältnis zum eigenen Aussehen. Coras Blick scannte seine Finger – kein Ehering – und landete wieder auf dem sichtlich abgewetzten Wälzer auf ihrem Schalter. An diesem Flughafen, an diesem Tag, fand ihr Leben plötzlich seine Bestimmung. »Eine Frage«, sagte sie und bemühte sich, nicht zu übereifrig zu klingen, »würden Sie Game of Thrones zu Fantasy zählen?«
Der Mann lachte begeistert. »Hat Bilbo Beutlin behaarte Füße?«
»Ähm … ja?«
»Ja, natürlich, das ist doch völlig klar!«
Ihre neue Anstellung am Flughafen war für Cora kein Karrieresprung gewesen, sondern vielmehr ein Rettungsanker. Sie war nach zwei Jahren aus Berlin zurückgekehrt, nachdem sie sich aus einer Beziehung befreit hatte, die ihr das Herz zerrissen und die Eingeweide umgedreht hatte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihr Inneres so kräftig geschüttelt, dass alles durcheinandergeraten war. Cora war mit dem Wunsch nach Hause gekommen, Menschen zu helfen, aber alle darauf ausgerichteten Bereiche – Krankenpflege, soziale Arbeit, Beratung – waren ihr zu verantwortungsvoll, zu gewichtig erschienen, und sie hatte Angst gehabt, es zu vermasseln. Der Job bei Aer Lingus sollte ihr Zeit geben, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen und sich zu fangen.
Wie konnte es sein, dass sie eine Woche gebraucht hatte, um zu erkennen, welche Chance sich direkt vor ihrer Nase auftat? Das Embargo war ein Geschenk des Himmels: kein Online-Check-in und keine Check-in-Automaten mehr, das hieß, dass alle Passagiere persönlich an den Schalter kommen mussten. Mit anderen Worten, ihr Schicksal – oder zumindest die Entscheidung, wo sie mehrere Stunden im Flugzeug sitzen würden – lag in ihrer Hand. Das Potenzial, Amor zu spielen, war schier endlos. Das war sie – das war ihre Chance, anderen Menschen zu helfen.
Cora prüfte den Sitzplan für den Flug nach Belfast und sah, dass Sitz 27A, der Platz direkt neben der Podcast-Lady noch frei war. Cora überreichte dem lockigen Typen das Flugticket, als ihr ein Zweifel kam. »Sie fliegen nicht mit Ihrer besseren Hälfte, oder?«
Er errötete. »Dafür müsste ich erst einmal eine haben, oder nicht?«
»Perfekt! Sie sitzen auf Platz 27A. Abflug ist an Gate B. Guten Flug!«
Während die morgendliche U-Bahn durch die Vororte Londons ratterte und gelegentlich von der Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels in die Dunkelheit des Wintermorgens hinaufstieg, verspürte Cora einen unwillkürlichen Freudenschauer. Alles Gute zum Halbjährigen!, beglückwünschte sie sich. Sechs Monate, seit sich ihr tägliches Pendeln wirklich lohnte. Sechs Monate, seit ihr Job hinter dem Check-in in Heathrow vom anständig bezahlten Broterwerb zur schicksalhaften Berufung geworden war.
Das meiste, was sie über ihre Kuppelkandidaten wissen musste, konnte sie den Passagierdaten oder dem Internet entnehmen. In den sozialen Medien erfuhr man mindestens ebenso viele Dinge über einen Menschen wie auf einem Datingprofil. Und als Dankeschön für seine kostenlosen Stand-by-Flüge hatte ihr jüngerer Bruder Cian ein Computerprogramm entwickelt, das im Handumdrehen alle »ledigen« Passagiere markierte.
Die U-Bahn fuhr in Heathrow ein, wo Cora mit den noch verbliebenen Fahrgästen ausstieg. Sie streckte den Rücken, fuhr die Rolltreppe hoch und nahm sich vor, später ein wenig Sonne zu tanken, sobald sie sich denn endlich zeigen würde. Hinter dem Taxistand gab es eine Bank, auf der sie gerne zu Mittag aß und völlig Fremden dabei zusah, wie sie darüber verhandelten, sich ein Taxi in die Stadt zu teilen. Es machte ihr Spaß, sich vorzustellen, wie diese Leute lebten und worüber sie wohl im Taxi redeten.
Für Cora war das Beste am Fliegen immer die große Frage gewesen, wer neben einem saß. Jedes Mal, wenn sie am Abfluggate saß, schaute sie sich um und überlegte, welchen der anderen Passagiere sie am liebsten als Sitznachbarn hätte. Man stelle sich nur einmal vor, man begegnete der Liebe seines Lebens in 12.000 Metern Höhe. Allein bei der Vorstellung geriet sie in Verzückung. Im Moment war Cora jedoch noch im Erholungsmodus, und eine solche Begegnung interessierte sie nicht. Aber für alle anderen waren die Möglichkeiten endlos, und nun saß sie am Hebel der Macht.
Der Personalraum war voll mit Mitarbeitern, die Frühschicht hatten, Kaffee kochten und sich aus ihren Pullovern wanden. Cora war nicht mehr draußen gewesen, seit sie um 5 Uhr die U-Bahnstation Finsbury Park betreten hatte, aber trotzdem spürte sie die Kälte noch immer in ihren Fingerspitzen. Sie hatte schon immer eine schlechte Durchblutung gehabt. Kalte Hände, warmes Herz, wie Friedrich zu sagen pflegte, doch sie verdrängte den Gedanken an ihn ebenso schnell, wie er gekommen war. Sie tippte die Zahlenkombination an ihrem Schließfach ein und öffnete die Metalltür genau in dem Moment, als Nancy von hinten herangewirbelt kam und mit ihrem perfekten Gesicht Coras Feierstimmung kaputt machte.
»Aloha, Miss Amor«, begrüßte die Stewardess sie, eine Hand gegen die Schließfächer gestützt, die andere in die Taille gestemmt.
Nancy Moone hatte gleichzeitig mit Cora bei der Fluggesellschaft angefangen und war mehr oder weniger zufällig ihre beste Freundin geworden. Es war ein Trugschluss zu glauben, man könnte sich seine Freunde aussuchen. Letztlich kam es auf die geografische Nähe an. Kinder mussten sich mit den Schulkameraden zufriedengeben, die in ihrem Einzugsgebiet lebten, und Erwachsene freundeten sich mit den Kollegen an, die das Schließfach neben ihrem hatten.
»Okay, Nancy«, sagte Cora, während sie ihre Turnschuhe abstreifte und in die vorgeschriebenen Arbeitsschuhe schlüpfte. »Dafür, dass es so früh ist, siehst du unverschämt munter aus.«
»Das wärst du auch, wenn du das Wochenende mit meiner Ma verbracht hättest. Alle meine Kinder versuchen, Babys zu bekommen. Alle, bis auf das eine, das eine Gebärmutter hat.«
»Das hat sie nicht wirklich gesagt, oder?«
»Na ja, nicht wirklich. Aber das war die Quintessenz ihres ganzen Besuchs. Schau mal, meine Fingernägel, schau. Alles abgeknabbert.«
Nancy hatte schon immer Flugbegleiterin werden wollen. Als Kind hatte sie ihre Brüder dazu verdonnert, auf den Stufen ihres Hauses in Liverpool brav hintereinander zu sitzen, während sie ein Papiertaschentuch und eine Handvoll Rosinen auf ihren Knien platziert und sie ermahnt hatte, ihre Tabletts hochzuklappen, wenn sie fertig waren. Und als die Familie Moone ihre erste Reise in den Süden ins spanische Benidorm angetreten hatte, hatte die zwölfjährige Cora die Stewardess, die die Sicherheitsvorkehrungen demonstriert hatte, um ein Autogramm gebeten.
Selbst wenn man die siebenundzwanzigjährige Nancy privat und ohne Uniform sah, erriet man sofort, welchen Beruf sie ausübte. Blond, wohlproportioniert und immer korrekt geschminkt, war sie die Bilderbuchversion der Stewardess der guten alten Zeit.
»Wie war dein Wochenende? Irgendwelche schnuckeligen Typen in Designeranzügen getroffen? Ist das der Grund für dein breites, verträumtes Lächeln?«
»Wohl kaum«, antwortete Cora gedämpft durch die zwischen die Lippen geklemmten Haarnadeln, während sie ihre dicken Haare hochsteckte.
»Bald bist du alt und grau, und deine Haut wird schlaff, und dann wirst du es bereuen, nicht auf deine gute Freundin Nancy gehört zu haben.«
»Und was genau sollte ich deiner Meinung nach als freche, farbige Frau im tiefsten Cornwall tun?«
»Du warst doch bei einer Hochzeit! Ein bisschen Flirten hat noch niemanden umgebracht! Du solltest mal wieder deinen Marktwert testen. Es ist nicht wie mit dem Fahrradfahren: Flirten kann man durchaus verlernen.« Nancy, die Coras Spiegel in Beschlag genommen hatte, hielt ihr Mascarabürstchen hoch. »Wer rastet, der rostet. Vertrau mir, Miss Amor, ich hab nur dein Bestes im Sinn.«
Nancy war die Art von Frau, der die Männer zu Füßen lagen, doch sie interessierte sich vor allem für Coras Liebesleben. Wenn ihre Freundin sich das Liebesglück anderer Menschen zur Aufgabe gemacht hatte, würde sich Nancy eben um Coras kümmern.
»Es ist immer gut, die unterschiedlichsten Leute kennenzulernen«, fuhr sie fort. »Hier triffst du sowieso niemanden; nur eingebildete Piloten, und die wenigen männlichen Crewmitglieder, die wir haben, sind nun mal nicht an Frauen interessiert – egal wie wenig Busen du hast. Deshalb musst du hier raus.«
Cora runzelte die Stirn und zupfte an ihrer Jacke.
»Und was ist mit diesem British-Airways-Piloten, den du gedatet hast – Paul, richtig?«
»Ach der, das war was anderes«, winkte Nancy ab. »Er sah unfassbar gut aus. Aber das war meine erste und letzte Flughafenaffäre. Arbeit und Vergnügen sollte man besser trennen. War denn niemand bei der Hochzeit?«
»Doch, ich würde sagen, so um die hundertzwanzig Gäste.«
»Haha, sehr witzig, Miss Amor. Du weißt, was ich meine. Hat dir keiner gefallen? War niemand Interessantes dabei? Bitte sag mir, dass es zumindest einen Singletisch gab.«
Auf der Hochzeit waren viele interessante Männer gewesen, auch im amourösen Sinn, aber nicht so, wie Nancy das meinte. Sie interessierten Cora nicht persönlich. Hochzeiten im Allgemeinen waren nicht so ihr Ding. Egal wie gut sie mit dem glücklichen Paar befreundet war, ihr Interesse an Braut und Bräutigam schwand, sobald sie sich das Jawort gegeben hatten und der Brautstrauß geworfen worden war. Schon als Kind hatte sie das Interesse an Serienfiguren verloren, sobald diese verheiratet waren. Ihre Geschichten wurden von da an merklich unspektakulärer, und ihr Potenzial nahm ab. Mit ihren achtundzwanzig Jahren sah sie das wahre Leben ähnlich. Einen Ring am Finger und den Ehevertrag unterschrieben zu haben war gleichbedeutend mit Game over – von nun an schaltete das Leben in den Schlafmodus. Cora empfand sich selbst als hoffnungslose Romantikerin, und nach ihrem Dafürhalten hatten Hochzeiten mit ihren festen Abläufen und monatelangen Planungen ziemlich wenig mit Romantik zu tun.
In einem Punkt allerdings waren sich Nancy und Cora einig: Hochzeiten lohnten sich allein schon wegen des Singletischs. Nicht, weil Cora hoffte, einen geeigneten Lebensgefährten für sich zu finden, sondern weil es der einzige Tisch im Raum war, der Potenzial hatte. An einem Tag, an dem es darum ging, das Leben in vorgefertigte Bahnen zu pressen, ging hier tatsächlich noch was.
An dem Singletisch am Samstag – die Braut war eine Freundin aus Coras Kunstgeschichtsseminar an der Uni – hatten acht potenzielle Kandidaten gesessen. Sieben, wenn man Cora ausklammerte, was sie tat. Sie sah sich als Vermittlerin.
Cora hatte sich die größte Mühe gegeben, mit dem Wenigen, was sie hatte, etwas anzufangen, und mit einer anderen Unifreundin die Plätze getauscht, damit die sich mit zwei Brüdern aus Walthamstow unterhalten konnte. Die beiden schienen allerdings nur daran interessiert, miteinander zu kichern. Eine weitere Kandidatin am Tisch war eine Künstlerin, deren Arbeiten die Braut kürzlich kuratiert hatte. »Post-Impressionismus«, hatte sie Cora erklärt. »Ich interessiere mich für den Raum zwischen der Farbe. Darin liegt die eigentliche Wahrheit.« Cora hatte versucht, die Künstlerin näher an einen Cousin des Bräutigams heranzurücken, aber der hatte eine unerträgliche Art, jedes Mal mit der Zunge zu schnalzen, wenn eine Frau unter fünfzig in sein Blickfeld trat, und sich ansonsten den Rest des Abends darauf verlegt, rhythmisch zu nicken, als ob er zu Jimi Hendrix’ »Foxy Lady« mitwippen würde. Das Einzige, was Cora am Ende mit ihrer Umsetzaktion erreicht hatte, war, dass die Kellnerin völlig durcheinanderkam und allen am Tisch den falschen Hauptgang servierte.
»Du musst dich auch mal um dein eigenes Liebesleben kümmern, Miss Amor«, rügte Nancy sie, die endlich den Spindspiegel geräumt hatte.
»Das sagst du immer«, erwiderte Cora und schlug die Metalltür zu. »Aber das macht nicht halb so viel Spaß.«
Das Ertönen der Klingel zeigte den Beginn einer neuen Check-in-Runde an. Cora und Nancy verließen den Pausenraum; Nancy Richtung Boarding-Gate, Cora Richtung Check-in-Schalter.
»Na, schönes Wochenende gehabt, Mäuschen?«, fragte Joan und hievte sich auf den Drehstuhl hinter dem zweiten Schalter. Die ältere Dame, die den Großteil der Woche neben Cora saß, war gerade von ihrer Vor-Sonnenaufgang-Raucherpause zurückgekehrt. Es war Mitarbeitern von Aer Lingus schon seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr gestattet, den Platz für eine Nikotinpause zu verlassen, aber Joan hielt sich daran ebenso wenig wie an die Vorschrift, einen Krankenschein einzureichen oder die Kabinencrew nicht mehr als »Trolley-Trolle« zu bezeichnen. Joan arbeitete seit dreiunddreißig Jahren für die Fluggesellschaft und würde zu exakt denselben Bedingungen weiterarbeiten, die sie unterschrieben hatte, bis sie in Rente ging.
»Ach, das Übliche: noch eine Hochzeit, noch ein Kater … Aber du hattest doch Hochzeitstag, Joan! Hat dir Jim irgendwas Schönes geschenkt?« Joan warf ihr einen Blick zu. »Hat dir Jim irgendwas geschenkt?«
Joan war nicht mehr gut auf ihren Mann zu sprechen, seit er vor zwei Monaten einen Taubenschlag in ihrem kleinen Garten im Londoner Stadtteil Hounslow eingerichtet hatte und Joans Wäscheleine zu einem Sammelplatz von Vogelexkrementen geworden war. Mit Erreichen des gesetzlichen Rentenalters war er gezwungen gewesen, seine Anstellung bei dem hiesigen Buchmacher aufzugeben, für den er sein ganzes Leben gearbeitet hatte. Er war am Boden zerstört – keine Pferde, keine Hunde, keine heißen Tipps mehr. Joan bemerkte oft trocken, er sei wohl der einzige Mann, der mehr Geld besaß, seit er nicht mehr arbeitete. Die Tauben waren ein Abschiedsgeschenk von ein paar Stammkunden gewesen, denselben Typen, mit denen er in der Goose Tavern beim Pubquiz ein Team bildete.
Für Joan war dieses Wochenende die letzte Chance für ihren Mann gewesen, ihre einunddreißigjährige Ehe zu retten. Wenn er ihr ein anständiges Geschenk mitbrachte (ein Küchengerät vom Flohmarktverkauf hinter dem Goose zählte nicht) und sie in eines der beiden Restaurants »für besondere Anlässe« in Hounslow ausführen würde, ohne seine übliche Märtyrernummer abzuziehen, bei der er sich weigerte, die Speisekarte zu öffnen, und den Kellner bat, ihm »einfach das günstigste Gericht« zu bringen, dann, aber nur dann, würde sie ihm die Vögel und deren unablässige Darmentleerung verzeihen. Selbstverständlich hatte Joan Jim mit keinem Sterbenswörtchen von diesem Ultimatum in Kenntnis gesetzt.
»Sinnlos«, begann Joan und verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl, während sie sich voll und ganz auf die Geschichte einließ. Joan liebte es zu jammern. Sie war Fatalistin mit Leib und Seele.
»Dieser Mistkerl ruft mich doch Samstagabend vom Goose aus an und fragt mich allen Ernstes, ob ich ihm etwas beim Chinesen bestellen kann. Er sei auf dem Heimweg. Hähnchen süß-sauer, und ob ich nicht probieren könnte, ob sie ihm ein paar Krabbenchips dazu spendieren. Und ich dumme Kuh hatte wirklich geglaubt, wir würden vielleicht doch noch ausgehen, jetzt vielleicht nicht mehr ins Il Giordano, da hätten wir reservieren müssen – das Lokal ist ohnehin ein bisschen zu vornehm, und Jim war mit seinem wackelnden Zahn auch noch nicht beim Arzt –, aber ins Alistair’s. Also bin ich raus in den Garten gelaufen, habe die stinkenden Käfige aufgemacht, um die Viecher freizulassen, und mich auf den Weg zu Maura gemacht. Habe ich dir mal von Maura erzählt? Der Freundin, die den Brustkrebs besiegt hat, nur um kurz darauf zu erfahren, dass bei ihrer Schwester Brustkrebs diagnostiziert worden ist. Jedenfalls komme ich drei Stunden später zurück in der Erwartung, dass er sich entschuldigt oder zumindest vor Wut rast, dass seine hübschen Täubchen auf und davon sind – und was tut er? Graf Koks liegt in aller Seelenruhe schlummernd auf dem Sofa, das Hähnchen auf dem Schoß und eine Bierdose in der Hand. Ich also raus, und da sitzen diese verflixten Hühner …«
»Tauben.«
»Tauben. Sitzen in ihren Käfigen und glotzen mich durch die offen stehende Käfigtür an.«
»Scheinbar sind es Brieftauben.«
»Das hab ich in dem Moment auch kapiert! Ich also wieder rein, ihn aufgeweckt und ihm eine Standpauke gehalten. Am nächsten Morgen hat er mir dann ein weiches Ei mit Toaststreifen zum Reintunken gemacht. Na ja, man nimmt, was man kriegen kann.« Joan stieß enttäuscht die Luft durch ihren Schmollmund aus und drehte sich von Cora weg, um den ersten Passagier des Tages zu begrüßen. »Wohin soll’s denn gehen, Schätzchen?«
Joan hatte Jim kennengelernt, als sie zusammen mit Coras Mutter bei Aer Lingus angefangen hatte. Die beiden waren beste Freundinnen gewesen, zumindest solange ihre Mutter noch für die Fluggesellschaft gearbeitet hatte. Inzwischen kam sie nicht mehr so viel raus.
»Wie geht’s Sheila?«, erkundigte sich Joan, als ob sie Gedanken lesen könnte, nachdem sie die überpünktliche Passagierin mit ihrem Ticket nach Madrid abgefertigt hatte. »Hast du sie dieses Wochenende überhaupt gesehen?«
»Ich war das ganze Wochenende in Cornwall, aber ich werde heute Abend mal bei ihr vorbeischauen.«
»Ich muss sie auch unbedingt mal besuchen.«
Sheila Hendricks lebte seit mehreren Monaten in einer medizinischen Einrichtung. Cora und ihre ältere Schwester Maeve besuchten sie jede Woche, und Cian, der hochfunktionalen Autismus hatte und seine Asperger-Karte immer dann ausspielte, wenn irgendetwas Unangenehmes anstand, sah gelegentlich bei ihr vorbei. Sheila hatte Cora den Job bei Aer Lingus besorgt, eine ihrer letzten Amtshandlungen bei klarem Verstand. Sie hatte ein paar Beziehungen spielen lassen und ihre Tochter an Bord geholt, während sie sich allmählich verabschiedete. Cora verspürte plötzlich Schuldgefühle, weil sie sie bereits seit fast einer Woche nicht mehr besucht hatte. Heute Abend würde sie auf jeden Fall bei ihr vorbeigehen.
Cora ließ das Computerprogramm ihres Bruders über die Passagierliste für den Morgenflug nach Edinburgh laufen. Auf der Liste standen ein paar Männer Mitte zwanzig – zu jung, um bereits die Partnerin fürs Leben gefunden zu haben, aber alt genug, um offen für eine Beziehung zu sein, wie sie hoffte. Sie gab ein paar der Namen bei Facebook ein. Einige der Kandidaten fielen durch ihre Profilbilder (Selfie mit Freundin auf dem Berggipfel/vor dem Eiffelturm) und ihren Beziehungsstatus sofort durchs Raster.
Dann kam Andrew Small: Single, zweiundzwanzig Jahre, aus London, wohnhaft in Edinburgh. Seine Fotoalben zeigten einen gut aussehenden jungen Mann mit kräftigem schwarzen Haar. Laut Steckbrief stammte er aus einem Londoner Problemviertel, das nicht weit von Joans Wohngegend lag, studierte aber inzwischen Politikwissenschaften in Schottland. Andrew Small war der ideale Kandidat. Heterosexuell, da war sich Cora ziemlich sicher, obwohl das immer eine potenzielle Stolperfalle war.
Die ersten paar Check-ins waren wenig interessant: viele ältere Pendler und ein übernächtigt aussehender Junggesellenabschied auf dem Rückflug. Eine junge Frau näherte sich dem Schalter, den Reisepass griffbereit. Cora musterte sie rasch: bunte Strumpfhose, farbige Haarspitzen, Leinenrucksack. Eine potenzielle Anwärterin.
»Geschäftlich oder privat?«
»Nur ein Tagesausflug, ich will meinen Freund überraschen.«
Durchgefallen. Zwei weitere Kandidatinnen fielen ebenfalls durch – die erste, weil sie zu still war, um überhaupt mit ihrem Flugnachbarn ins Gespräch zu kommen, die zweite, weil sie in Leeds wohnte. Cora schwebte schließlich unsterbliche Liebe vor, da war der Standort ein wesentlicher Faktor.
Aber die dritte war ein Volltreffer. Cora wusste es bereits, als sie sie sah: Sie war die perfekte Unbekannte für Andrew Small.
»Hi«, sagte die junge, hochgewachsene Frau, deren glattes Haar ihr bis über die Schultern reichte und deren Nase mit Sommersprossen gesprenkelt war. Sie verkniff sich ein Gähnen und legte ihren Reisepass und einen Ausdruck ihrer Flugnummer auf den Schalter.
»Geschäftlich oder privat?«
»Ähm, geschäftlich«, antwortete das Mädchen, das ein T-Shirt einer Cora unbekannten Band sowie eng anliegende Jeans trug. Sie lächelte. »Ich freue mich, wieder heimzufliegen.«
Cora klappte den Reisepass auf: Rita MacDonald, Schottin, dreiundzwanzig, viel gereist.
»In Ordnung, Rita«, sagte sie, klappte den Reisepass zu und gab ihn ihr mit ihrem Flugticket darin zurück. »Du sitzt auf Platz 27A.«
»Ein Fensterplatz. Super.«
Während Rita sich auf den Weg zum Boarding machte und den Reisepass in ihrer Lederumhängetasche verstaute, trat Andrew Small an den Schalter. Er war größer, als es auf den Fotos den Anschein hatte, und beim Anblick seiner dunklen Haare juckte es Cora in den Fingern hineinzugreifen.
»Hallo«, begrüßte er sie und reichte ihr seinen Pass.
»Willkommen bei Aer Lingus, Andrew. Sitzplatz 27C, Gate B. Guten Flug!«
Andrew schlurfte mit jenem breitbeinigen Gang davon, der unter jungen Männern äußerst beliebt war. Persönlich mochte Cora Männer lieber, die eine gute Haltung hatten, aber wie sie sich ebenso erleichtert wie ermahnend ins Gedächtnis rief, hatte das hier nichts mit ihren Präferenzen zu tun. Die Check-in-Angestellte nahm den Hörer ab und rief im Aer Lingus Airbus 320 an.
»Nancy? Alles bereit? Gut. Ich hab dir gerade jemanden rübergeschickt.«
2
LHR EDI 8:20 Uhr
2 Rita MacDonald war dreiundzwanzig und hatte bislang drei Beziehungen gehabt, die man wahrscheinlich als ernst bezeichnen konnte. Die erste mit Adam, ihrem Teenagerfreund. Allerdings war er nicht ihre erste Liebe gewesen. Auf die wartete sie noch, da war sich Rita ziemlich sicher. Aber Adam war der erste Junge gewesen, den sie ihren Eltern vorstellte, der erste Junge, der ihre Brüste berührte, und der erste Junge, bei dem sie es genoss, welche Wirkung sie auf Männer ausübte. Danach war Aaron gekommen, ihr Uni-Freund: der erste Junge, mit dem sie richtigen Sex hatte, der erste Junge, der ihr ein Gedicht schrieb, und bislang ihre längste Beziehung. Und dann Alex: der erste Junge, der zu ihr »Ich liebe dich« sagte, der erste Junge, der ein richtiger Mann war (29 Jahre) und der erste Junge, für den sie quer durchs Land geflogen war, um mit ihm ein zweites Mal Schluss zu machen, weil er es nicht akzeptieren wollte, solange sie es ihm nicht persönlich ins Gesicht sagte.
Rita sah auf ihre Boardingkarte, schob ihre Lederumhängetasche auf die Schulter hoch und lief weiter. Als sie zu Reihe 27 kam, war diese leer. Nachdem sie den Reißverschluss fest zugezogen hatte, verstaute sie die Tasche im Gepäckfach. Da sie nur eine Nacht in London verbracht hatte, um die Sache über die Bühne zu bringen, hatte sie nur Handgepäck. Sie setzte sich auf den Fensterplatz, zog die Blende herunter und rollte ihren Schal zu einem Kissen zusammen. Alex hatte acht Stunden lang mit ihr über das Ende einer Beziehung diskutiert, die kaum sechs Monate gedauert hatte – wovon sie die Hälfte der Zeit in verschiedenen Städten gelebt hatten. Aber wenn er sich jetzt besser fühlte und sie sich weniger schuldig, dann war es eine schlaflose Nacht und die Kosten für den Hin- und Rückflug wert gewesen. Von nun an würde sie jedoch »kann mit Zurückweisung umgehen« auf die Liste ihrer Kriterien für potenzielle Dating-Partner setzen, und sie musste unbedingt noch mal ihre nicht beabsichtigte Vorliebe für Männer mit dem Anfangsbuchstaben ›A‹ überdenken.
Als Andrew Small bei Reihe 27 ankam, schnarchte auf dem Fensterplatz ein Mädchen. Glückspilz, dachte Andrew. Der Fensterplatz war der einzige Platz, auf dem er schlafen konnte. Andrew zog sein Handy heraus und schrieb seiner Schwester, dass er es noch rechtzeitig geschafft hatte. Er hätte ihr beinahe von seinem Pech berichtet, nur einen Platz am Gang erwischt zu haben, entschied sich aber dagegen. Mit solchen Dingen zogen sie ihn inzwischen nur noch auf.
»Nur ein Platz am Gang? Ohhh, armer Andy, wissen die nicht, was du für eine Abi-Note hast?«
Sie weigerten sich, ihn Andrew zu nennen. Das war sein neuer Schnöselname. Früher hatten ihn alle Andy genannt. Was okay war, denn nun musste er nicht mehr mit ihnen leben. Er hatte es geschafft, da rauszukommen. Seine Schwestern verübelten es ihm, dass er keinen Haufen Kinder hatte, und sein Vater verübelte es ihm, dass er nicht die ganze Nacht Besoffene mit dem Taxi herumkutschieren musste. Sie empfanden seine Entscheidung, zur Uni zu gehen, als persönliche Beleidigung. Es machte ihnen Angst. Aber er würde sich nicht mit dem begnügen, was er hatte: Er würde etwas aus sich machen.
»Guten Morgen, Sir. Willkommen an Bord.«
Als Andrew hochsah, erblickte er eine blonde Stewardess mit einem breiten Lächeln und – er wollte ja nicht frech sein, aber – großen Titten. »Morgen«, sagte er und versuchte, nicht rot zu werden.
»Könnten Sie bitte die junge Dame anstupsen? Die Blenden müssen nur noch hochgeschoben werden, dann sind wir im Nu in der Luft.«
Andrew zögerte, aber die Flugbegleiterin verlieh ihrer Bitte mit einem Nicken Nachdruck. Schüchtern schüttelte er das Mädchen leicht. Mit einem Ruck fuhr sie hoch, und Andrew zog seinen Arm zurück. »Sorry.«
»Morgen, Miss. Könnten Sie bitte für den Start die Blende hochschieben?« Die Flugbegleiterin deutete auf das Fenster, und das Mädchen schob die Jalousie hoch. »Prima. Na dann«, klatschte sie in die Hände, »kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Auf Kosten des Hauses. Als Dankeschön für Ihre Kooperation.«
»Nicht schlecht«, freute sich Andrew, der in Edinburgh Kaffee für sich entdeckt hatte. Sein Mitbewohner hatte eine Percolator-Kaffeekanne – nicht, dass er dieses Wort zu Hause je in den Mund genommen hätte.
»Sind wir uns jetzt zu fein für Tee, ja? Isst du jetzt auch Kaviar zum Kaffee, Andy, oder versaut der nur das Aroma?«
»Von mir aus.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Ich kann jetzt sowieso nicht mehr einschlafen«, sagte sie zu Andrew, als die Stewardess gegangen war.
»Tut mir leid.«
»Nicht deine Schuld. Flugzeuge sind zum Schlafen einfach super ätzend.«
»Kann man wohl sagen«, pflichtete Andrew, der noch nie geflogen war, bevor er an der Uni angefangen hatte, und auch noch nie irgendwo anders hin als nach Edinburgh, ihr mit einem Nicken bei.
Rita empfand sich nicht als oberflächlich. Auf keinen Fall. Aber wie sollte sie dann erklären, weshalb sie Alex abserviert hatte? Sie hatte ihm gesagt, sie seien auf verschiedenen Ebenen inkompatibel: emotional, sozial …
»Sexuell?«
»Nein! Natürlich nicht!«, hatte sie ihm versichert, und vermutlich stimmte das auch. Rita hatte den Sex mit Alex genossen. Und wenn sie das eine Mal nicht nach unten geschaut hätte, wäre das vermutlich immer noch so. Aber sie hatte nach unten geschaut und einfach nicht ignorieren können, was sie dort gesehen hatte. Die kleine kahle Stelle direkt am Scheitel. Das war ein solcher Abtörner gewesen, dass ihr die Lust an einem weiteren Versuch vergangen war und sie seinen Kopf sanft weggeschoben hatte.
»Einfach inkompatibel«, hatte sie gestern Abend wiederholt, als sie in seiner Londoner Wohnung gesessen und all die vagen Gründe aufgelistet hatte: gefühlstechnisch, freundetechnisch, wohnorttechnisch … Aber an keinem Punkt ihres Gesprächs hatte sie den wahren Grund genannt. An keinem Punkt hatte sie erwähnt, dass sie vor allen Dingen glatzkopftechnisch inkompatibel waren. In dem Sinne, dass sie Haare am Hinterkopf hatte und er nicht.
Die Stewardess brachte ihnen den Kaffee und fragte Rita, woher sie komme und was sie so mache. Danach fragte sie den Jungen neben ihr. Er kam aus London, studierte aber in Edinburgh.
»Entschuldigung«, meldete sich eine Frau aus der Reihe vor ihnen. »Ich hätte gerne einen Tee.«
»Im Moment bediene ich ausschließlich diese Reihe. Der allgemeine Bordservice beginnt, sobald das Flugzeug in der Luft ist und seine Flughöhe erreicht hat.« Die Flugbegleiterin winkte Rita und ihrem Nachbarn zu. »Wir haben ein Herz für Reihe 27.«
Als die Flugbegleiterin ging, stellte sich Rita vor.
Der Junge reichte ihr die Hand. »Andrew.«
»Ohne Scheiß jetzt?«
»Was?«
»Sorry, nichts.«
»Was denn? Sehe ich etwa nicht aus wie Andrew? Bitte sag mir nicht, dass ich wie Andy aussehe.«
»Nein, das ist es nicht. Es ist nur …« Rita wusste nicht, wie sie es erklären sollte, ohne unbeabsichtigt irgendetwas zu unterstellen, aber scheiß drauf. »Jeder Freund, den ich bisher hatte, hat mit dem Buchstaben ›A‹ angefangen. Irgendwie scheine ich das magisch anzuziehen.«
Aber Andrew blinzelte nicht einmal. »Und wie viele Freunde waren das?«
»Drei.«
»Drei? Und wie alt bist du?«
»Dreiundzwanzig. Wieso? Sind drei viele? Willst du damit sagen, dass ich eine Schlampe bin?« Sie wollte noch hinzufügen, dass sie nur mit zweien geschlafen hatte und in keinen von ihnen verliebt gewesen war, aber sie hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen. Wenn er glaubte …
»Scheiße, nein. Ich wollte nicht … Nein. Ich bin beeindruckt«, sagte er und sah aus, als meinte er es ernst. »Drei ist prima.«
Da, wo Andrew herkam, datete man Mädchen nicht. Man schlief mit ihnen, und wenn man eine schwängerte, heiratete man sie vielleicht, aber dazwischen gab es nicht viel. Seine Schwestern waren beide ein Jahr nachdem sie aus der Schule raus waren, schwanger geworden. Rebecca hatte geheiratet, aber Janine hatte nicht verraten wollen, wer der Vater war. »Ich bin keine Petze, ich werde ihn nicht reinreiten«, hatte sie ihren Dad angeschrien, und alle hatten diese Logik hingenommen.
Anfangs hatte sich Andrew schuldig gefühlt, dass er zur Uni ging, und viel zu viel seines Stipendiums dafür ausgegeben, jedes Wochenende nach Hause zu fliegen, um mit seinen Kumpels abzuhängen, auf die Kinder seiner Schwestern aufzupassen und über all die Wichser herzuziehen, die er in Edinburgh getroffen hatte. Das schien sie zu besänftigen, denn alle wollten, dass Andrew einer von ihnen blieb.
An dem Tag, an dem Andrew seine Abiturnote bekommen hatte, war er mit seinem Vater in Streit geraten. »Wir sind wohl jetzt was Besseres, Andy?«, hatte sein Dad gestichelt, und Andy hatte ihn einen Neidhammel genannt, woraufhin sein alter Herr ihm eine gläserne Auflaufform an den Kopf geworfen hatte. Es musste ja so kommen, dachte er, bei zwei Männern in einem kleinen Haus. Inzwischen stritten sie nicht mehr so häufig, und dieses Wochenende hatten eher Schweigen und kleine Seitenhiebe vorgeherrscht.
»Na, und was machst du den ganzen Tag so, Andy, Bücher lesen und dir schlaues Zeug überlegen? Nette Arbeit, die du dir da ausgesucht hast.«
»Arbeit? Andy weiß doch gar nicht, was Arbeiten heißt.«
Und Andrew hatte sich immer wieder gesagt, dass es ihre eigene Entscheidung war – dass seine Schwestern und seine Kumpels selbst entschieden hatten, nichts an ihren Verhältnissen zu ändern; in der Scheißgegend, in der sie aufgewachsen waren, zu bleiben und jedes Wochenende oder noch öfter in denselben Pub zu gehen. Aber tief im Innersten wusste er, dass es keine Frage der Entscheidung war, sondern dass sie keine andere Wahl hatten. Deshalb hatte er auch keine Sekunde gezögert, als ihm ein Stipendium angeboten worden war, um in Edinburgh Politik zu studieren.
»Du bist der Erste in deiner Familie, der studiert?«, fragte Rita, die aussah, als würde sie in einer Band spielen oder Gedichte schreiben oder so was. »Deine Familie ist bestimmt stolz auf dich.«
»Die wären eher stolz auf mich, wenn ich Sozialleistungen erschleichen und davon ein Haus kaufen würde. Und das ist nicht einmal gelogen.«
»Aber du hast es geschafft, ein Stipendium zu bekommen! Als Ersti! Die Uni kostet ein Heidengeld. Du musst ja wirklich superschlau sein. Ich an deiner Stelle würde mich gar nicht mehr einkriegen und es überall herumerzählen.«
»Zu Hause kann ich über so was nicht reden.«
»Also, ich finde das Wahnsinn.«
»Echt?« Andrew musste grinsen. Im Moment waren sie nicht zu Hause. Sie waren nirgendwo. Sie waren hoch in der Luft. »Eigentlich finde ich es auch ganz cool.«
Das Telefon klingelte.
»Stell es durch«, sagte Nancy Moone, den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, weil sie die Hände dazu brauchte, ein eingeschweißtes getoastetes Sandwich in die Mikrowelle zu stecken, das die Dame in Reihe 29 bestellt hatte.
Der Betriebsleiter, der auf Nancy stand und es ihr durchgehen ließ, während des Flugs mit Heathrow zu telefonieren, verschwand aus der Leitung, und Cora war dran.
»Und, wie läuft’s?«
»Bunt durchmischt, Miss Amor. Zuerst dachte ich: ›Was für eine Lusche!‹, weil er sich kaum getraut hat, das Mädchen anzustupsen, das ein Nickerchen machen wollte, aber dann habe ich den Klassiker abgezogen …«
»Kaffee aufs Haus?«
»Hat prima geklappt!« Kostenfreie Getränke waren Nancys erste Strategie, wenn es darum ging, eine Unterhaltung in Reihe 27 in Gang zu bringen. Kostenloser Alkohol funktionierte in der Regel noch besser, aber das ging nur, wenn der jeweilige Vorgesetzte an Bord mitspielte, und nicht um acht Uhr morgens. Immerhin sollte es unauffällig wirken. »Sie haben angefangen, miteinander zu reden.«
»Und dann?« Coras Stimme knackte in der Leitung. »Reden sie immer noch?«
»Na ja, dann hat dieser nervige Junggesellenabschied in Reihe 18 Trara gemacht, sodass ich abgelenkt war. Und glaub mir, ich wünschte, ich könnte meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. Der glatzköpfige Typ aus Game of Thrones sitzt in Reihe 1, und ich bin noch nicht mal am Notausgang vorbei.«
»Komm schon, Nancy. Ich brauche mehr Details!«
»Warte, ich schau mal eben nach.«
Nancy ließ das Telefon an der Schnur baumeln und schnappte sich das Schinken-Käse-Sandwich aus der Mikrowelle, wobei sie die Tür offen stehen ließ. Dann sauste sie den Gang hinunter, an der hungrigen Frau in 29E vorbei, und machte in Reihe 27 halt. Der Junge erzählte gerade etwas von Familie, worauf das Mädchen energisch nickte.
»Schinken-Toast?«
Die zwei sahen zu ihr hoch. Nancy gefiel, dass beide hochgewachsen waren. »Nein? Dann sorry. Falsche Reihe.«
Sie machte auf ihren Kitten-Heel-Absätzen kehrt, lieferte das Sandwich in Reihe 29 ab, ohne auch nur das Tempo zu drosseln, und fing den Telefonhörer beim Hochschwingen auf.
»Ein voller Erfolg, Miss Amor.«
»Echt? Ich war mir nicht sicher, ob sie genug Energie hätte, um …«
»Tja, hat sie offenbar. Und er quasselt nur so drauflos, voll ernst und so. Dass diese jungen Leute immer so ernste Dinge bereden müssen.«
Mehrere Plings aus Reihe 18 ertönten. Nancy streckte ihren Rücken durch und kreiste mit den Schultern.
»Ich muss los, Miss Amor. Der Junggesellenabschied ist wieder auf Beutezug.«
»Schuldgefühle«, sagte Andrew.
Rita nickte. »Das ist das Schlimmste.«
Zuvor hatten sie über die Cliquen in Edinburgh und über das Pendeln geredet, und als das Flugzeug mit dem Landeanflug begann, hatte Rita ihm erzählt, weshalb sie für weniger als zwölf Stunden extra nach London geflogen war. Was sie zum Thema Schuldgefühle gebracht hatte. Zu wenig Deckhaar, zu viel Distanz, weil es sich nicht richtig für sie angefühlt hatte; eigentlich war es auch egal, weshalb, sie hatte einfach Schluss machen wollen. Aber das Schuldgefühl hatte dafür gesorgt, dass sie neunzig Pfund für Hin- und Rückflug ausgegeben hatte, nur damit Alex ihr noch mal persönlich Vorwürfe machen konnte.
»Ich fühle mich schuldig, selbst wenn ich weiß, dass es Quatsch ist«, sagte sie. »Ich hasse es, mich wie ein schlechter Mensch zu fühlen. Und dann hasse ich es, überhaupt so zu empfinden.«
»Das kenne ich, Rita«, sagte Andrew, und ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als ihm ihr Name erstmals über die Lippen kam. »Ich habe mir die ersten beiden Jahre die größte Mühe gegeben, die Uni zu hassen, weil ich das Gefühl hatte, all meine Leute zu Hause zu verraten, wenn es mir gefällt.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich bin nicht mehr so oft heimgefahren.«
»Das ist echt hart.«
»Kann man wohl sagen.«
Andrew war klug, aber nicht selbstgefällig und hatte diese gewisse Selbstsicherheit, als wüsste er, wer er war und woher er kam und all das, und sie liebte seinen coolen Style. Diesen authentischen Londoner Style.
»Schuldgefühle können aber auch was Gutes haben«, sagte sie. »Weil sie uns dazu bringen, das Richtige zu tun.«
»Inwiefern?«
»Zum Beispiel sammeln die Leute den Hundekot auf, um sich nicht schuldig zu fühlen.«
»Quatsch! Die machen das nur, weil du hinschaust. Das kannst du vergessen, dass die den auch aufsammeln, wenn niemand in der Nähe ist. Da geht es nur um die öffentliche Wahrnehmung, nicht um Schuldgefühle. Das ist genauso, wie wenn ich auf einer öffentlichen Toilette bin und mir hinterher die Hände wasche. Das mache ich nur, wenn irgendein Depp mir dabei zusieht, der mich sonst verurteilen würde. Wenn niemand hinsieht, wasche ich sie mir nicht.«
»Mann, das ist so was von ekelhaft.«
»Was?« Andrew lachte ebenfalls. »Ich war doch nur pinkeln!«
Rita rümpfte angewidert die Nase, aber in Wirklichkeit fand sie es gar nicht eklig. In Wirklichkeit fand sie ihn ziemlich süß.
Sie fragte ihn, welche Bands er mochte, und Andrew nannte ein paar Songs, die er gehört hatte, als er ausgegangen war, doch im Grunde genommen interessierte er sich nicht dafür. Es war eine typische Uni-Frage: »Und, auf welche Musik stehst du so?« Letztlich wollten die Leute einen nur einordnen. Genau wie früher in der Schule. Nur dass die Leute in Edinburgh ihn nie danach fragten, von welcher Fußballmannschaft er Fan war.
»Ich höre meistens Nachrichtensender.«
»Und welche?«
»Radio 4 zum Beispiel.« Eine weitere Info über sich, die er zu Hause nie preisgegeben hätte.
»Wow«, sagte Rita. »Das ist echt cool.«
Die meisten seiner Erfahrungen mit Frauen hatte Andrew in seiner Wohnsiedlung gesammelt, und es hatte nie irgendwelche Klagen gegeben. Er war ziemlich selbstbewusst, was Sex anging, und küsste gut; dessen rühmte er sich, seit er zwölf war und die Mädchen aus seiner Straße ihm attestiert hatten, dass er der Einzige seiner Kumpel war, der beim Knutschen mit seiner Zunge nicht wild herumwirbelte wie eine Waschmaschine im Schleudergang. Das Problem, wenn man aus einer sozialen Schicht kam, in der es keine Datingkultur gab, war nur, dass man nicht wusste, wie man ein Mädchen fragte, ob sie mit einem ausgehen wollte.
Der Junggesellenabschied war hellwach und forderte singend das Abendessen ein – oder zumindest einen Drink. Einer von ihnen hatte Nancys Namensschild entdeckt, und alle zusammen hatten sie einen Heidenspaß, Oliver Twist zu zitieren.
»I’ll do anything for you, dear, anything …«, sang der eine.
»Komm schon, Nancy!«, rief der andere.
»Ich kämpfe auch gegen deinen Bill, wenn es sein muss!«
Nancy, die sie höflich darauf hingewiesen hatte, dass es neun Uhr morgens war und dass auf diesem Flug kein Alkohol ausgeschenkt wurde, drehte sich um und ging. Sie gab sich größte Mühe, stets professionell zu bleiben, aber sie ließ sich auch von niemandem zum Affen machen.
»Bitte, Sir«, schrien sie ihr hinterher, »ich möchte noch etwas haben.«
Nancy mochte es, dass sie genauso hieß wie die Heldin aus dem Film Oliver! Sie erinnerte sich, wie sie das Musical als Jugendliche im Empire-Kino gesehen und die Schauspielerin einfach hinreißend gefunden hatte. Nancy erzählte den Leuten normalerweise, dass sie nach Nancy Sikes benannt war. Das war deutlich glamouröser als zuzugeben, dass sie nach ihrer Oma Moone benannt war. Es war nicht das erste Mal, dass jemand ihr I’ll do anything for you, dear, anything vorgesungen hatte – allerdings war das letzte Mal in einem hübschen Cottage in den Cotswolds gewesen, und da hatte ihr ein Mann ein Ständchen dargeboten, während er am Bettende gestanden und eine Flasche Rosé entkorkt hatte.
Während das Flugzeug unmittelbar vor der Landung stand, lief sie an Coras Pärchen vorbei. Nancy liebte es, wenn Reihe 27 ein voller Erfolg war. Als sie bei der Nische im Heck des Flugzeugs war, bezog sie auf der rechten Seite Position, um zu beobachten, wie die beiden ausstiegen, damit sie später alles haarklein Cora berichten konnte.
Man traf selten jemanden, der ganz anders war als man selbst. Die meisten Menschen, mit denen man im Leben zu tun hatte, waren wie man selbst. Der Gedanke kam Rita, als sie am Flughafen Edinburgh landeten. Klar, wir alle hielten uns für Sonderlinge oder Außenseiter, aber am Ende gingen wir doch zu denselben Konzerten und in dieselben Pubs wie all die anderen gleichgesinnten Sonderlinge und Außenseiter. Aber als Andrew sagte, dass er Drake mochte – der für Ritas Geschmack viel zu populär war –, dachte sie insgeheim, der Typ ist der Hammer. Und sie war völlig hin und weg von seinem dichten Haar.
Als das Flugzeug zum Stehen kam, kam die blonde Flugbegleiterin, die ihnen den kostenlosen Kaffee gebracht hatte, erneut an ihrer Reihe vorbei.
Der Lautsprecher knackte: Disarm doors and cross-check.
»Also, was ist jetzt, fragst du mich nun, ob ich dich wiedersehen will, oder nicht?«, sagte sie und gab vor, mit ihrem Sicherheitsgurt zu kämpfen, damit sie ihn nicht anschauen musste.
»Soll ich das denn?«
»Na ja, ich hatte den Eindruck, dass du total auf mich stehst«, versuchte sie ebenso selbstbewusst zu kontern.
»Ach so, ja«, grinste er, unsicher, ob das eine Frage oder eine Aussage war. Sie standen von ihren Sitzen auf. »Ich wollte dich tatsächlich fragen.«
»Du wolltest mich nur noch ein bisschen zappeln lassen, was?«
»Ich dachte, du hättest vielleicht Vorbehalte. Wo ich doch Andrew heiße.«
»Scheiße, stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Das Unheil verheißende A.«
»Ein paar meiner Kumpels nennen mich bei meinem Nachnamen, vielleicht hilft das ja.« Er zog seinen Reisepass aus seiner Gesäßtasche und reichte ihn ihr. Sie brach in Lachen aus.
»Schon in Ordnung, Andrew Small«, sagte sie und gab ihm den Pass zurück. »Wir bleiben mal lieber bei deinem Vornamen und schauen, wie du dich so machst.«
Während sie den Gang entlangschlurften, bestaunte Rita heimlich Andrews breite Schultern und versuchte, das dämliche Grinsen zu unterdrücken, das ihr gesamtes Gesicht überzog. Als sie am Heckausgang des Flugzeugs ankamen, stand die blonde Flugbegleiterin vor ihnen, mit perfekten weißen Zähnen zwischen perfekt geschminkten Lippen. »Ich hoffe, der Flug war ganz zu Ihrer Zufriedenheit«, strahlte sie.
Und als Rita auf die Gangway nach draußen in den erfrischenden Edinburgher Wind trat, hätte sie schwören können, dass sie die Stewardess hinter sich jubeln hörte.
3
3 Cora sah das Verkuppeln gern als perfektes Zusammenspiel ihrer positiven Eigenschaften an: Vorstellungskraft, Sinn für Romantik, Interesse an Menschen. Klar, man konnte es auch als Zeitvertreib einer Wichtigtuerin betrachten, aber bislang hatte ihr das noch niemand gesagt. Zumindest nicht ins Gesicht.
Ihre erste erfolgreiche Verkupplungsaktion hatte sie als Teenager in ihrem Jugendzimmer im ruhigen Londoner Vorort Kew gestartet. Und zwar kurz nachdem sich ihre Eltern hatten scheiden lassen. Sheila Hendricks (geborene O’Reilly) war nach ihrem Schulabschluss von Irland nach London gekommen, wo sie eine Stelle in der Heathrow-Zweigstelle von Aer Lingus angenommen hatte. Ihr Plan war es gewesen, nach ein paar Jahren zurückzugehen, aber dann hatte sie Coras Vater kennengelernt und war in England sesshaft, wenn auch nie richtig heimisch geworden.
Nachdem sie ihr Erwachsenenleben mit einem Mann verbracht hatte, der sie zum Dank für ihren Wohnortkompromiss letztendlich betrogen hatte, ärgerte sie sich zunächst einmal schwarz. Sie erwog sogar, Maeve, Cora und Cian mit zurück nach Irland zu nehmen, weshalb sie ihren Ehenamen behielt; es war das Gerücht im Umlauf, dass alleinerziehende Mütter am Flughafen Dublin zur Arbeit in der Gepäckermittlung verdonnert wurden. Am Ende entschied sich Sheila dann doch dafür, ihren Mann aus ihrer Londoner Wohnung rauszuschmeißen und alle Räume komplett umzugestalten. Es folgten Wochen grimmiger Renovierung, in denen man ihre Mutter oft ihre eigene Version des Klassikers von Peggy Lee singen hörte: »I’m gonna paint that man right outta my hair.«
Ihre Mutter hatte Cora freie Hand gelassen, sich in ihrem Zimmer »selbst auszudrücken«, was die damals Fünfzehnjährige überaus ernst genommen hatte. Sie strich die Decke, alle Wände, den Heizkörper und die Rückseite der Tür in einem appetitanregenden Lila. Am nächsten Morgen, als die Farbe getrocknet war, setzte sie sich in der Mitte des Raums auf den Boden und heulte. Die nächsten Jahre würde sie in einer Riesenweintraube schlafen. Nachdem die Möbel wieder an ihren Plätzen standen und Wolldecken das Bett bedeckten, hatte der visuelle Schock jedoch nachgelassen. Statt der alten Boyband-Poster hingen nun Kunstdrucke an den Wänden. Der Ehrenplatz war für eine gerahmte Kopie von Sir John Everett Millais’ Ophelia reserviert – dasselbe Bild, das seither jedes ihrer Zimmer geschmückt hatte. Die dunkelhaarige Ophelia, die mit gebrochenem Herzen in einem flachen Bach trieb, war das Romantischste, was Cora je gesehen hatte. So, hatte die Fünfzehnjährige erwartet oder erhofft, würde sich die Liebe eines Tages anfühlen. Sheila hatte diese Faszination nie verstanden.
»Sie ist so eine tragische Figur«, hatte Coras Mutter gesagt, als sie nach Abschluss der Renovierung im Türrahmen gestanden hatte. »Wieso hast du dir nicht irgendeine Heldin hingehängt? Irgendjemanden, der keine Leiche ist. Jeanne d’Arc zum Beispiel.«
»Jeanne d’Arc wurde mit neunzehn auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Mum.«
»Dann eben eine andere Heldin. Was ist mit dieser Frau, die auf dem Dachboden Tagebuch geführt hat?«
Die neuen Bücherregale waren mit zwei Sylvia-Plath-Sammelbänden, einer Shakespeare-Anthologie und James Joyces Dubliner bestückt worden. Die neuen Bücher erkannte man leicht an ihren glatten Buchrücken, aber sie würde es schon noch hinkriegen, dass auch die abgenutzt aussahen.
Diese Einrichtung – ergänzt durch die selbst gewählte Uniform aus einem Che-Guevara-T-Shirt und einem Halsband aus schwarzen Schnürsenkeln – repräsentierte die Frau, die Cora einmal werden wollte. Wenn sie an ihr künftiges Ich dachte, sah sie sich an der Universität, das struppige Haar gebändigt, ihr gemütliches möbliertes Zimmer vollgestellt mit kleinen Leinwänden ihrer selbst gemalten Bilder, ernsthafte Jungs, die sie zum Tee einluden, in der Hoffnung, sie würde sich in sie verlieben, Demonstrationen und Friedensmärsche am Wochenende, bei denen alle mit Leidenschaft dabei waren. Sie war sich zwar noch nicht ganz sicher, wofür sie sich einsetzen würde, aber sie wusste, dass da draußen unzählige Möglichkeiten auf sie warteten. Sie würde eine Idealistin sein, die sich für das Gute einsetzte, eine Romantikerin, der andere am Herzen lagen.
An dem Tag, an dem Cora ihre erste große Verkupplungsaktion startete, saß die Fünfzehnjährige auf ihrem neu gestalten Bett und blätterte in einem Fotoalbum von dem Ferienlager der Deutsch-Akademie vom letzten Jahr, zu der sie bald wieder fahren würde. Und diesmal würde ihre beste Freundin Roisin mitkommen.
»Wusstest du, dass es den Namen Ophelia nicht gab, bevor Shakespeare ihn erfunden hat?«, fragte sie Roisin, die auf dem Boden saß und in Coras bescheidener, aber stetig wachsender CD-Sammlung stöberte. »Er hat viele Wörter erfunden: ›addiction‹, ›assassination‹, ›eyeball.‹ Cora hatte gerade erst entdeckt, in welchem Maß der Dichter die englische Sprache bereichert hatte, und war so begeistert, dass sie es jedem erzählen musste. Roisin war nicht wirklich interessiert.
»Hast du auch ihre erste Platte?«, fragte ihre Freundin und hielt eine White Stripes-CD hoch. Roisin Kelly war in diesem Jahr neu an ihre Schule gekommen. Sie war aus Dublin nach Kew gezogen (Sheila war aus dem Häuschen gewesen, als sie von der »irischen Freundin« ihrer Tochter erfahren hatte) und in Coras Ansehen zusätzlich noch dadurch gestiegen, dass sie einen Plattenspieler besaß. Mit einem Mal war es gar nicht mehr so cool, CDs zu brennen, und alle hatten begonnen, auf den Dachböden ihrer Eltern nach alten Platten zu stöbern. Roisin wusste mehr über Musik als irgendjemand sonst an ihrer Schule. Sie definierte sich selbst als Dylanologin, Neo-Curefan und Strokes-Groupie. Sie war ein eingefleischter Musikfan.
»Die erste? Klar, die hab ich mir vor Jahren gekauft«, winkte Cora ab. »Die muss irgendwo unten sein.« Sie machte sich gedanklich eine Notiz, dass sie unbedingt herausfinden musste, welches das erste Album der White Stripes war, und dass sie es sich bei der nächstbesten Gelegenheit kaufen musste. Eine gute Musiksammlung aufzubauen war ein Ding der Unmöglichkeit. Ständig kam Neues hinzu, von dem coolen alten Zeug gab es einfach Unmengen, und Cora musste mit dem Budget ihres Samstagabend-Babysitterjobs haushalten.
Sie rutschte zu ihrer Freundin hinunter auf den Fußboden und legte das Fotoalbum von der Deutsch-Akademie auf ihrem Knie ab. »Wie findest du ihn? Die Haare musst du ignorieren.« Cora deutete auf einen lächelnden jungen Mann, der ein T-Shirt trug, auf dem all seine Freunde sich mit ihren Namen verewigt hatten, und der sich für den letzten Tag im Ferienlager Haaraufhellerspray auf die Stachelfrisur gesprüht hatte.
»Nicht wirklich mein Typ«, sagte Roisin. Es war das erste Mal, dass ihre beste Freundin erwähnte, dass sie überhaupt einen Typ hatte.
Begleitet von Coras Kommentaren zu den einzelnen Bildern, gingen sie den Rest des Albums durch, bis Roisin auf der vorletzten Seite bei einem Gruppenbild anhielt. »Was ist mit dem?«
Zwei Plätze von Cora entfernt stand Roger Gorman. Er war der Junge, dessen Gruppe Cora in diesem Deutsch-Akademie-Sommer allein zu dem Zweck infiltrieren würde, um ihn mit ihrer Freundin zu verkuppeln. Er war der Junge, den Roisin bei der Disco am letzten Abend küssen würde, nachdem drei quälende Wochen lang in ihr die Überzeugung gewachsen war, dass er nicht einmal wusste, dass sie existierte. Er war der Junge, an den sie im darauffolgenden Sommer ihre Unschuld verlieren würde, mit dem sie die ganze Unizeit über zusammen sein und anschließend ins Herz von London ziehen würde.
Als Roisin und Roger sich trennten, war Cora am Boden zerstört gewesen. Sie hatte gehofft, dass ihre erste Verkupplungsaktion ihre erfolgreichste sein würde, und sich die Fotoalbumanekdote bereits für ihre Hochzeitsrede zurechtgelegt. Allerdings hatte Roisins Single-Status es auch mit sich gebracht, dass sie im vorigen Jahr genau zu dem Zeitpunkt auf der Suche nach einer Mitbewohnerin gewesen war, als Cora in die Gegend um den Finsbury Park hatte umziehen müssen, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein. Und heute wohnte Cora mit Roisin über einer 24-Stunden-Sauna in der Seven Sisters Road. Die genauen Aktivitäten des nächtlichen Betriebs waren zwar zweifelhaft, doch zumindest mussten die beiden Frauen nie die Heizung einschalten. Die dritte Mitbewohnerin, Mary, wohnte am längsten von ihnen in der Wohnung. Cora fand sie im gleichen Maße faszinierend wie dröge. Mary war bei den Weight Watchers und hatte fünfundzwanzig Kilo abgenommen. In dieser Zeit war Essen zu ihrem einzigen Interesse geworden. Abends bereitete sie sich aufwendige Low-Fat-Mahlzeiten für eine Person zu und zog sich vor dem Fernseher am laufenden Band Fatshaming-Sendungen rein. Der besondere Clou an dem Ganzen war, wie Cora fand, dass Mary tagsüber als Hausärztin arbeitete.
Roisin ging seit etwa einem Monat mit einem neuen Typen aus – eine weitere Cora-Vermittlung. Die beiden Frauen waren an den Weihnachtsfeiertagen an einem Abend in den Pub The Dolphin gegangen. Während sie auf der gut gefüllten Tanzfläche gestanden hatten, war Roisin daran verzweifelt, wie schwer es war, überhaupt mit jemandem in einem Londoner Pub ins Gespräch zu kommen. »Wo sind die Nonsensgespräche? Wo das betrunkene Geplänkel?«, schrie Roisin, deren flacher Dubliner Akzent die Musik deutlich übertönte. »Schau sie dir an, wie sie alle in ihren Grüppchen verharren. Vergiss die Klassengesellschaft, Cora, das hier ist die wahre Spaltung der englischen Gesellschaft.«
Ohne ein Wort zu erwidern, zog Cora den linken Schuh aus und warf ihn in die Mitte der Tanzfläche. Als die beiden Frauen ihn zurückholen wollten, standen sie einem verdatterten Mann gegenüber, der den Schuh begutachtete, der ihn mitten auf der Brust getroffen hatte. Cora schnappte sich das fliegende Schuhwerk und zischte ab, sodass Roisin allein zurückblieb und irgendetwas sagen musste. Seitdem sah Cora Prince Charming fast jeden Samstagmorgen aus dem Zimmer ihrer besten Freundin kommen. Roisins »Sohlenverwandter« war einer von Coras Glücksgriffen. Es kam ihr vor, als hätte sie bei einer Hochzeit den Brautstrauß gefangen, nur mit weniger Erwartungen an sie.
Cora freute sich sehr für Roisin. Sie fand es gut, dass etwas Aufregendes passierte – und dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Doch wenn sie früh am Morgen im Halbschlaf hörte, wie Prince Charming den Riegel an der Tür zurückschob, um sich hinauszuschleichen, holte Coras Vergangenheit sie für einen Moment ein, und das Geräusch der sich schließenden Tür riss sie mit einem flauen Gefühl in der Magengrube aus dem Schlaf. Und jedes Mal wusste sie, dass sie keinen Schlaf mehr finden würde, selbst wenn sie sich klarmachte, dass sie sich über einer Sauna in London und nicht in einem vierstöckigen Haus ohne Fahrstuhl in Berlin befand. Cora war sich bewusst, dass das nicht er war, der sie zwar wortlos, aber dennoch laut genug, dass sie ihn gehen hörte, verließ, und trotzdem spukte ihr Friedrich im Kopf herum.
Jedes Mal, wenn Cora ihre Mutter besuchte, erkundigte sie sich nach Roisin. Sheila bezeichnete die Freundin ihrer Tochter als das »Salz der Erde«, was so ziemlich das größte Kompliment war, das sie anderen machte und das grundsätzlich ihren im Exil lebenden Landsleuten vorbehalten war.