Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält - Kai Wiesinger - E-Book
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Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält E-Book

Kai Wiesinger

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Beschreibung

Familie ist nichts für Weicheier Kai Wiesinger weiß, wovon er spricht. Ein Leben ohne Schlaf, zwischen harten Kitastühlen, chaotischen Kindergeburtstagen, Homeoffice und schlecht gelaunten Teenies. All das ist Familie. Aber auch befreiende Bäuerchen um Mitternacht, strahlende Augen und wohliges Kribbeln im Bauch. Kai Wiesingers Geschichten erzählen vom ganz normalen Alltagswahnsinn, von den grotesken, kuriosen und komischen Momenten aus dem Leben von Eltern, die auch ein Paar bleiben möchten. Das ist nicht immer einfach. Aber verdammt schön. Denn Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält

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Kai Wiesinger

Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält

Familiengeschichten

 

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Kai Wiesinger weiß, wovon er spricht. Ein Leben ohne Schlaf, zwischen harten Kitastühlen, chaotischen Kindergeburtstagen, Homeoffice und schlecht gelaunten Teenies. All das ist Familie. Aber auch befreiende Bäuerchen um Mitternacht, strahlende Augen und wohliges Kribbeln im Bauch. Kai Wiesingers Geschichten erzählen vom ganz normalen Alltagswahnsinn, von den grotesken, kuriosen und komischen Momenten aus dem Leben von Eltern, die auch ein Paar bleiben möchten. Das ist nicht immer einfach. Aber verdammt schön. Denn Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kai Wiesinger (Jahrgang 1966) ist seit »Kleine Haie« und »14 Tage lebenslänglich« nicht mehr aus der deutschen Film- und Fernsehwelt wegzudenken. Millionen Zuschauer verfolgen seine aktuelle Serie »Der Lack ist ab«. Der Schauspieler, Regisseur und Synchronsprecher lebt mit seiner Frau, der Schauspielerin Bettina Zimmermann, und seinen vier Kindern in Berlin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Ein paar Worte vorweg …

»Es wird ein Junge!«

»Wie Opa Herzberg.«

»Tu doch bitte einmal das, was man dir sagt!«

»Dann macht ihr hier gar keinen Lamaführerschein?«

»Sieh es als ganz normale Feier.«

»Warum darf der das und wir nicht?«

»Weiß Oma, wo der Milchreis steht?«

»Habe ich mich so in ihr getäuscht?«

»Bitte, bitte, darf ich Geige?«

»Eine Schlange wäre mega, oder Mama?«

»Du willst mich nicht verstehen.«

»Gans oder Würstchen mit Kartoffelsalat?«

»Sinnlos totgeschlagene Zeit.«

»Das nennst du Freundschaft?«

»Also dann: schönes Wochenende!«

»Was? Der schläft hier?«

»Hast du mich eigentlich noch lieb?«

»Wer braucht bitte fünf Windlichter?«

»Ich hab total Lust auf einen Pagenschnitt.«

»Wir haben ja noch uns.«

Ein paar Worte hinterher…

Danksagung

Ein paar Worte vorweg …

Na, wünschen Sie sich auch manchmal das Gegenteil von dem, was Sie gerade haben?

Obwohl Sie Ihren Weg gegangen sind, immer in der Überzeugung, das Richtige zu tun, viele Ziele erreicht haben und eigentlich glücklich sind, denken Sie manchmal »Verflixt!«?

Konnten Sie zu Schulzeiten auch das Wochenende kaum erwarten und sehnen jetzt den Montag herbei, dass bitte alle wieder in die Schule und die Kita gehen?

Die Familie ist für viele von uns zweifelsohne zu Recht das höchste Glück, aber je länger man vollkommen übermüdet vorgelesen, Lieder gesungen, Elternabende besucht, Lego und Baumhäuser gebaut hat, desto verlockender erscheint die Vorstellung, auch mal wieder eine Stunde für sich zu haben. Oder auch zwei. Ohne irgendwen um sich herum.

Die Liebsten wohlbehütet und fröhlich untergebracht zu wissen und einfach mal machen zu können, was man will.

Was ja absolut nicht heißt, die Familie nicht über alles zu lieben! Es heißt auch nicht, undankbar zu sein oder gar mit einem anderen Leben tauschen zu wollen oder alles anders zu machen, einfach zu verschwinden und nur noch an sich zu denken, ohne Kompromisse egoistisch nur noch Verantwortung für sich selbst tragen zu wollen –, sondern es heißt schlicht und einfach, sich einzugestehen, auch mal mit den Kräften am Ende zu sein und eine kurze, winzige Auszeit zu brauchen, um die Batterien zu laden, um dann wieder für die Familie da sein zu können.

Wahrscheinlich hat sich niemand von Ihnen träumen lassen, eines Tages vom Alltag überrollt zu werden. Auch nicht, dass es Eltern gibt, die nach einem nervenaufreibenden Kindergeburtstag zwei Stunden mit einem Glas Prosecco auf Ihrem Sofa sitzen, statt den Sohn oder die Tochter einfach an der Tür abzuholen. Kaum einer hat vorgehabt, mit einer gut gemeinten Notlüge eine Beziehungskrise auszulösen, oder geahnt, dass das Beibringen guter Tischmanieren eine 15-jährige Wiederholung der immer gleichen Bitten bei jedem Essen bedeutet.

Wer konnte sich schon vorstellen, dass Kaugeräusche des von ganzem Herzen geliebten Partners einen in den Wahnsinn treiben, oder eines Tages im Kinderzimmer zu drohen: »Eins, zwei und die letzte Zahl heißt drei«, nur weil man sich nicht mehr anders zu helfen wusste.

Die Geschichten auf den nächsten Seiten erzählen aus Sicht des Familienvaters Tim vom Auf und Ab des Familien- und Beziehungslebens. Von der Geburt ihres Sohnes bis zum Auszug der Tochter erleben wir, wie die Zeit an Tim und Tanja und uns vorbeifliegt. Gemeinsam durchleben sie Momente und Situationen, die wahrscheinlich vielen von uns bekannt vorkommen.

Wir versuchen, für unsere Partner und Kinder da zu sein, und ich habe festgestellt, dass viele von uns sich nicht eingestehen mögen, wie schwer das manchmal ist. Wie stressig, frustrierend und abtörnend. Wir trauen uns manche Dinge nicht zu hinterfragen aus Sorge, die Antwort könnte uns nicht gefallen. Vielleicht schämen wir uns sogar für diese Gefühle.

Tim und Tanja sind frei erfundene Figuren. Aber ihre Gefühle sind echt. Egal was den beiden geschieht, ich lege meine Hand dafür ins Feuer, ihre Gefühle sind mir sehr bekannt. Entweder habe ich mich in ähnlichen Situationen selbst so gefühlt, oder ich kenne jemanden, dem es ganz genau so erging.

Ich habe diese Geschichten geschrieben, weil ich glaube, nicht der einzige Vater zu sein, der sich manchmal fragt, wie wir in unserer heutigen Gesellschaft allen Anforderungen an ein harmonisches Familienleben mit allem Drum und Dran gerecht werden können –, aber auch nicht der Einzige zu sein, der keine wirkliche Antwort darauf hat. Aber eines weiß ich sicher: Ohne Liebe würden wir es nicht schaffen, denn die Liebe ist das, was den ganzen Scheiß zusammenhält.

»Es wird ein Junge!«

Ich öffnete die Wohnungstür und legte den Schlüssel auf die Kommode.

»Schätzchen?«

Während ich die Tasche um die Ecke neben meine Schuhe stellte und gerade dabei war, meine Jacke auszuziehen, stand Tanja schon im Flur. Sie strahlte. Ihre Augen glänzten, ich sah ihre Wangenknochen kurz aufblitzen, dann nickte sie. Ich hielt inne und richtete mich auf, mein rechter Arm steckte noch im Ärmel. Sie nickte weiter, eine Träne lief über ihre Wange, und sie lachte. Ich sah sie an, begann ebenfalls ganz zart zu nicken, meine Arme breiteten sich aus, meine Beine liefen auf sie zu. Tanja zog den Test hinter ihrem Rücken hervor und sprang mir in die Arme. Eng umschlungen schluchzten wir vor Glück. Wir küssten und liebkosten uns, in purer Liebe für immer vereint, hockten wir im Flur neben den Schuhen, meine Hand fand ihren Bauch und schützte unser Baby.

Auch wenn wir oft darüber gesprochen hatten, auch wenn es täglich Millionen Paare auf der Erde erlebten, auch wenn es schon Milliarden Mal geschehen war, es fühlte sich an wie ein Wunder.

Plötzlich machte alles Sinn, und Tanja war noch schöner, als sie schon immer war.

Als ich sie vor drei Jahren das erste Mal gesehen hatte, wurde ich von ihrem Lachen, ihrer Anmut, überhaupt dem ganzen Wesen gefangen und konnte seitdem kaum fassen, dass ausgerechnet ich mit dieser Frau zusammen sein durfte. Und nun hockte sie mir in dem engen Flur halb auf einem umgeknickten Gummistiefel sitzend gegenüber mit unserem Kind im Bauch. Die Zeit war gerast und stehen geblieben, wir waren alles, die Welt drehte sich um uns. Nein, wir waren die Welt.

Wenige Stunden später kamen Freunde zum Essen. Tanja und ich konnten den Blick nicht voneinander lassen. Wir versuchten, unauffällig normale Konversation zu machen, hatten aber nur einen Gedanken und waren ausschließlich darum bemüht, eben diesen für uns zu behalten –, und das sollte auch noch für die nächsten Wochen so sein.

Ich schlief die ganze Nacht mit meiner Hand auf ihrem Bauch, und als ich erwachte, kamen die ersten Sorgen. Ich war sechsunddreißig Jahre alt und ab heute nicht mehr der Freund von Tanja, sondern Vater unseres Kindes. Zwar noch ein unerfahrener Anfänger-Vater, aber doch mit der vollen Verantwortung eines Familienoberhauptes. Erschrocken setzte ich mich auf und sah sie an.

Mir schossen plötzlich all die Geschichten von Frauen durch den Kopf, denen monatelang kotzübel war, von werdenden Eltern, die täglich zur Ultraschalluntersuchung oder Überwachung der Herztöne mussten, und selbst wenn bei uns alles gut aussah, würden wir mit der nie ganz zu verdrängenden Angst vor einer Fehlgeburt leben müssen. Ab sofort hatten wir etwas zu verlieren, und unser Wohlbefinden, unser Glück, ja unser ganzes weiteres Leben würde für alle Zeit von der winzigen Zelle abhängen, welche sich in Tanja unaufhaltsam teilte, und es galt, eine Balance zwischen Glück und Angst zu finden, um die kommenden neun Monate zu überstehen.

Ich gab ihr einen Kuss.

»Guten Morgen, mein Schatz.«

Ich hatte es noch nie so tief empfunden wie heute, sie war mein Schatz, mein Ein und Alles, sie war die Mutter unseres Kindes, und ich würde ihr mein ganzes Leben unendlich dankbar sein. Wir würden uns nie streiten oder getrennter Wege gehen.

Sie drehte sich genüsslich zu mir um, ich strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und küsste ihre Nasenspitze.

»Soll ich uns ein Frühstück machen?«

Tanja zog die Mundwinkel angewidert nach unten und schüttelte den Kopf.

»Noch nicht. Ich will erst duschen.«

Ich strich über unseren Bauch.

»Alles gut? Hat der oder die Kleine gut geschlafen?«

Tanja strahlte.

»Alles gut. Ich glaube, sie fühlt sich ganz wohl da drinnen.«

Ich sah sie an.

»Glaubst du, dass es ein Mädchen ist?«

Sie nahm meine Hand und küsste sie.

»Nein, das weiß ich nicht, und es ist mir ganz egal, Hauptsache es ist gesund. Ich meine sie, die Zelle.«

Ich holte frische Croissants von unserem Lieblingsbäcker und kaufte alle roten Rosen mit langen Stielen, die der asiatische Blumenladen hatte. Ich war Stammkunde, habe aber an diesem Morgen das erste Mal eine Spende auf den stets rauchenden Buddhatempel unterhalb der Kasse gelegt und mich unmerklich davor verbeugt.

Ich schnitt die Rosen an und stellte sie in unsere größte Vase auf den Boden neben den Frühstückstisch. Tanja kam in Jogginghose mit einem Handtuchturban um den Kopf gewickelt.

»Schatz, du musst bitte mal bei der Hausverwaltung anrufen, das Wasser stinkt ganz komisch.«

Ich legte das Messer ab und drehte den Wasserhahn auf. Es war nichts zu riechen.

»Überall oder nur im Bad?«

Sie öffnete den Kühlschrank.

»Beim Duschen roch es widerlich.«

Ich ging ins Bad und zog den Duschvorhang zurück, konnte aber auch dort nichts feststellen. Sie rief aus der Küche.

»Schatz, bitte sag jetzt nicht, du hast den Matjes weggeschmissen, den meine Mutter hier vergessen hatte?«

Und schlagartig war mir klar, dass die Klischees stimmten. Schwangere Frauen blühen auf, strahlen von innen und essen Gurken.

 

Im Laufe der folgenden Monate stellte sich heraus, dass zwar nicht alle Klischees stimmten, aber zumindest einige. Tanjas Bauch wurde spitz und nicht rund, und tatsächlich erwarteten wir einen Jungen. Wir gingen gemeinsam durch tausend Höhen und Tiefen, trafen uns mit Hebammen und besuchten Kreißsäle, lernten zu hecheln und zu pressen, verkauften meinen geliebten, alten Spider und hatten schon Wochen vor dem errechneten Termin einen dunkelblauen Kombi vor der Tür.

Und dann kam der Tag, an dem die Fruchtblase platzte. Wir wollten gerade den Tisch abräumen, als Tanja mich ansah, und ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Ich schnappte die gepackte Reisetasche, hakte Tanja unter und raste mit ihr in die Klinik. Tatsächlich ließ die Geburt dann doch noch erstaunlich lange auf sich warten. Ich tigerte im Kreißsaal auf und ab, die Hebamme war bei einer Geburt nebenan, versprach aber rechtzeitig zurück zu sein. Am liebsten hätte ich angefangen zu rauchen. Ich fühlte jeden Atemzug mit Tanja, sie quälte sich und hatte Angst vor der Spritze, die ihr nahe ans Rückenmark gesetzt werden sollte. Nach drei Stunden stimmte sie dann doch einer PDA zu und quetschte mir auf dem Höhepunkt jeder Wehe die Hand derartig, dass ich nicht mehr wusste, wohin mit mir. Mein Herz bollerte, Tanja schwitzte, die Hebamme wollte immer mehr pressen und dann schrie es.

Die Sonne ging auf.

Wenn es eine Götterdämmerung gab, dann hier, in diesem orange erstrahlenden Zimmer. Ich war zutiefst ergriffen und gerührt. Das kleine Wesen lag bei Tanja ganz verschrumpelt und ruhig auf dem Bauch. Ich beugte mich zu ihm heran, konnte ihn durch den Schleier meiner Tränen kaum sehen und flüsterte über den Kloß in meinem Hals:

»Hallo Enno. Danke, dass du da bist. Du bist der tollste Mensch, den es gibt, und machst uns so glücklich. Wir werden immer für dich da sein. Immer und immer. Danke, du süßer, kleiner Fratz.«

Tanja lag ganz still, vollkommen erschöpft und beseelt, sie war eins mit sich und diesem zauberhaften, neuen Menschen. Es umgab uns eine fast greifbare Aura vollkommenen Glücks und tiefer Dankbarkeit.

»Wollen Sie oder soll ich?«

Die Hebamme stand mit einer Schere vor mir und deutete auf die Nabelschnur. Ich schreckte hoch.

»Entschuldigung, was soll ich bitte?«

»Wir müssen jetzt die Nabelschnur durchtrennen und gleich den ersten Test machen.«

Sie hob die dicke rotlila Kordel an und reichte mir die Schere.

»Hier, hinter der Klemme.«

Tanja sah mich an und nickte. Gemeinsam drückten wir die Schere zu, dann nahm sie auch schon den kleinen Enno und legte ihn auf das Laken zwischen Tanjas Beine. Eine zweite Schwester schaute ins Zimmer.

»Apgar schon fertig?«

»Bin dabei. Acht Punkte im ersten.«

Tanja hob den Kopf.

»Ist alles gut mit dem Kleinen?«

Sie griff nach meiner Hand.

Die Hebamme machte ein paar Tests und legte Enno wieder hoch auf Tanjas Brust.

»Alles prima, Atmung, Reflexe, Muskeltonus, Hautfarbe, Herzschlag, perfekt! Jetzt hat er auch seine zehn Punkte. Alles gut! Ein prächtiger Bursche.«

Sie nahm ihre Sachen und zog die Tür leise hinter sich zu.

Und schwupps waren wir eine echte Familie.

»Wie Opa Herzberg.«

Tanjas Mutter strahlte den kleinen Enno an.

Der Mensch, der meinem Leben einen völlig neuen Sinn gegeben hatte, der das Wertvollste auf der Erde war, unendlich süß, an dem ich immerzu riechen musste, weil ich noch nie so viel Liebe eingeatmet hatte wie an seinem kleinen Köpfchen, sollte aussehen wie der Uropa meiner Schwiegermutter?

Sicher nicht! Ganz im Gegenteil, er war wirklich niedlich, mit Abstand das hübscheste Baby, das ich je gesehen hatte.

Meine Mutter meinte, er ähnele besonders meinem Vater, und mein Vater sah in ihm eigentlich nur Onkel Horst.

Ich erkannte vor allem Tanjas Augen, zwar etwas verquollen, aber dafür tiefblau, wie ein klarer Bergsee. Einzig der etwas senioride Haarkranz erinnerte mich an unseren Postboten und machte mir Sorge. Nicht dass oben auf dem Kopf vielleicht gar keine Haare angelegt waren?

»Meinst du, oben wachsen auch noch welche?«

Ich strich dem Kleinen vorsichtig über den Bauch, während Tanja seine Beinchen hochhob, um die Windel zu wechseln.

»Na sicher, wir haben beide volles Haar, das kommt schon noch! Gib mir doch bitte mal die Creme aus der Schublade, ganz unten neben dem Beißring.«

Ich ging hinter Tanja um die Wickelkommode und reichte ihr die Dose. Sie machte einen Schritt zur Seite, um die Windel unter Enno zu schieben, als dieser plötzlich stöhnte und eine Ladung gelben Brei in einem kräftigen Strahl halb auf mein T-Shirt, halb an die Wand schoss.

Noch vor wenigen Tagen hätte der Gedanke an Exkremente auf mir oder unserer Badezimmerwand Ekel und Abscheu ausgelöst, doch Ennos erfolgreiches Geschäft versetzte uns in Entzücken. Lachend beugten wir uns über den kleinen Fratz und gratulierten ihm.

»Ja toll, mein Schatz, ganz toll hast du das gemacht! Da müssen Mama und Papa gar nicht mehr warten und das Bäuchlein massieren. Gaaaanz toll, so ein großer Junge!«

Während Tanja dem Erleichterten einen kuscheligen Frotteestrampler überzog, holte ich ein neues Hemd, wischte die Wand und dachte an Konrad Lorenz, der den Begriff »Kindchenschema« geprägt hatte. Ganz offensichtlich funktionierte es bei Männern ebenso gut wie bei Frauen, und ein verhältnismäßig großer Kopf mit großen, runden Augen, einer kleinen Stupsnase, zarter Haut und einem ganz speziellen Geruch weckten in mir nie geahnte Instinkte. Negative Gedanken wurden durch die Gegenwart unseres Sohnes ausgelöscht oder im Keim erstickt, sein Geschrei klang nach einer höflichen Bitte um Hilfe, und auch ohne Schlaf waren wir rundum einfach nur glücklich.

 

Leider verflüchtigte sich das Gefühl, Teil dieser einfach schwerelos auf Wolke sieben schwebenden Ursuppe zu sein, nach einigen Wochen zusehends, und Tanja und ich wurden wieder zwei Individuen, welche die Welt und sich unterschiedlich wahrnahmen. Hatte sie das Gefühl, unser Sohn würde schwitzen, hielt ich ihn noch für zu dünn angezogen, wollte sie ihm einen Rhythmus beibringen, war ich der Überzeugung, Enno müsste essen oder schlafen, wann immer ihm danach war. Und wenn ich es okay fand, dass er auf einer Decke lag, wollte sie ihn lieber in den Wagen legen.

Der Schlafmangel begann, an uns zu zehren. Die dauernde Müdigkeit machte uns dünnhäutig.

»Ich kann nicht mehr. Bitte nimm du ihn heute Nacht, ich muss einfach mal durchschlafen.«

Tanja war so blass wie noch nie. Sie drückte mir den schreienden Enno im Schlafsack in die Arme und ging ins Bad.

»Aber wenn er Hunger hat, muss ich dich ja sowieso wecken …«

»Ich habe Milch abgepumpt – steht im Kühlschrank.«

Ich sah auf.

»Kann er denn schon aus der Flasche trinken?«

»Versuch es!«

»Und wenn er nicht will?«

»Dann bring es ihm bei.«

Tanja putzte sich die Zähne und schloss die Schlafzimmertür hinter sich.

Enno weinte. Ich nahm ihn etwas näher an mein Gesicht und versuchte, leicht zu schunkeln, aber er wollte sich nicht beruhigen. Ich sah in Richtung Schlafzimmer, doch die Tür blieb geschlossen. Statt zu schunkeln, begann ich, vorsichtig hoch- und runterzuruckeln, doch die neue Bewegung schien ihm noch weniger zu gefallen, sein Schreien wurde lauter und lauter. Also hielt ich still. Enno blinzelte mit einem Auge. Ich lächelte in der Annahme, ihn verstanden zu haben, schmiegte meine Wange an die seine und summte ganz leise an das winzige Ohr. Offenbar ein Missverständnis, denn er begann, fürchterlich zu brüllen.

»Was ist denn mein kleiner Schatz? Hm, tut dir was weh?«

Er schrie und brüllte weiter, als hätte ich ihn nicht gefragt. Ich atmete tief durch und hob den Blick. Die Schlafzimmertür bewegte sich nicht. Ich wippte ein wenig in den Knien und machte »Schtscht«-Geräusche, legte ihn auf die andere Schulter und drehte mich sachte hin und her.

Leider erfolglos, Enno brüllte wie am Spieß.

Dann fiel mir die Hebamme ein. Sie hatte uns den »Fliegergriff« empfohlen, bei dem das Baby auf dem Unterarm liegt wie ein schlafendes Faultier. Das sollte selbst in schwierigen Situationen Entspannung bringen. Und da es sich gerade zweifelsohne um eine schwierige Situation handelte, nahm ich Enno von der Schulter und versuchte, ihn bäuchlings auf meinen Unterarm zu legen. Doch da er seine Arme und Beine nicht wie geplant links und rechts von meinem Unterarm hängen ließ, sondern sich nach hinten warf, den ganzen Körper anspannte, mit den Beinen zuckte und überhaupt nichts von einem Faultier an sich hatte, wäre er um ein Haar runtergefallen. Geschockt fing ich ihn auf halbem Wege auf, war glücklich, ihn wieder sicher in Händen zu haben, drückte ihn an mich und lief adrenalindurchflutet und wippend um das Sofa im Kreis. Aber egal ob links oder rechts herum, mit großen Schritten oder tippelnd, Enno beruhigte sich nicht, war knallrot und sabberte wütend vor sich hin, als wäre ich ein Fremder und würde mich nicht um ihn bemühen.

»Hallo, mein großer kleiner Schatz, ist es nicht gemütlich so bei Papi? Willst du denn gar nicht mal schlafen?«

Da er weiter nicht reagierte, legte ich ihn wieder über die Schulter und klopfte vorsichtig auf dem Po herum, vielleicht wartete er ja auf ein Bäuerchen. Und tatsächlich wurde nach zwei weiteren Sofarunden meine linke Schulter ganz warm. Hinter mir plätscherte es. Ich platzierte mehrere Kissen auf dem Boden als Polster um den Sessel herum und legte Enno auf die Sitzfläche, um Zewa aus der Küche zu holen und das Hemd schnell auszuziehen und gegen ein sauberes zu tauschen. Dann wischte ich über das Parkett und Enno den Mund ab, nahm ihn wieder auf den Arm, legte ein Mulltuch unter sein Kinn und schaltete eine CD von Disneys Mulan an. Zur Musik schunkelnd wanderte ich endlos gähnend Achten durch das Wohnzimmer, bis er sich langsam beruhigte, ab und an leise wimmerte und am Ende des dritten Aktes endlich einschlief. Vorsichtig beugte ich mich zum Sofa und kuschelte uns beide unter Tanjas großes Halstuch.

Mulan lief wohl noch eine Weile, doch irgendwann war es still. Ich war mir nicht sicher, ob ich schlief, schon geschlafen hatte oder nur träumte, ich wäre wach. Alle paar Minuten legte ich die Hand auf Ennos Bauch, um zu fühlen, ob er atmete.

Das Sofa war unbequem, die Straßenlaterne taghell. Mir wurde kalt, das Kissen war zu hoch, das Sofa viel zu schmal und meine Hüfte tat weh. Plötzlich schreckte ich auf. Enno röchelte. Ich fühlte seinen Bauch, der ging zwar auf und ab, aber das konnte kein normales Atmen sein.

»Tanja!«

Ich sprang auf, legte einige Kissen vor das Sofa, rückte den Sessel mit seiner breiten Lehne als Barriere näher ran und lief ins Schlafzimmer.

»Tanja, komm mal, der klingt ganz komisch!«

Tanja schreckte auf.

»Was ist?«

Sie lief schlaftrunken drauflos, schien mich nicht zu sehen und war vor mir im Wohnzimmer.

»Guck mal, wie das klingt!«

Gleichzeitig stürzten wir an das Sofa, fühlten den Bauch, legten das Ohr an die Nase, ich machte das Licht an.

Tanja drehte sich panisch zu mir.

»Die Nase ist völlig zu, die müssen wir frei kriegen!«

Ich lief in die Küche und holte ein Taschentuch.

»Hier.«

Sie sah mich entgeistert an.

»Der kann doch noch nicht schnupfen! Das muss anders raus!«

»Ich weiß nicht, vielleicht gibt sich das ja wieder von alleine.«

Tanja schüttelte den Kopf.

»Ich habe so ein Geräusch noch nie gehört!«

»Ob das Schnarchen ist?«

Ich schloss die Augen, um besser hören zu können.

»Das kommt nicht aus dem Mund. Da blubbert was in der Nase.«

»Ich finde, das rasselt mehr, vielleicht sind die Bronchien dicht?«

»Von außen kann ja nichts reingekommen sein.«

Wir sahen uns hilflos an.

»Aber wie soll er sich in der letzten Stunde erkältet haben?«

»Wie soll ich das wissen, du warst doch bei ihm!«

»Da war nichts, er ist ganz normal eingeschlafen.«

»Aber so kriegt er ja keine Luft!«

»Was soll ich machen? Kann man das vielleicht irgendwie absaugen?«

»Womit denn?«

»Guck mal in die Nase!«

Ich sprang auf und holte die Taschenlampe aus dem Schränkchen im Flur. Gemeinsam versuchten wir, etwas zu erkennen.

»Das ist ja alles zu, gleich vorne und verkrustet.«

»Ein Schlauch? Haben wir nicht einen Schlauch oder eine Spritze mit einer großen Öffnung?«

Tanja nahm Enno auf den Arm und schaukelte ihn.

»Ich hab’ keine Spritze!«

Ich ging in die Küche und öffnete alle Schubladen.

»Hier ist nichts!«

»Dann mach was anderes. Wir müssen es ja irgendwie rauskriegen!«

Ich lehnte mich in den Türrahmen und strich mir durch die Haare.

»Wenn es einfach ein normaler Schnupfen wäre, würde es ja aber auch fließen, oder nicht?«

»Was soll es denn sonst sein?«

Ich atmete tief durch.

»Ich weiß nicht. Es gibt ja richtig schlimme Verschleimungskrankheiten. Es muss ja etwas dagegen geben, auch für Babys. Ich fahr jetzt zur Notapotheke und hole was.«

Glücklicherweise hatten wir schon seit Wochen einen Notfallzettel am Küchenschrank. Hier waren die Telefonnummern für Brand, Vergiftungen und die Apothekennotdienste notiert.

Ich zog irgendeine Jacke aus dem Schrank, nahm den Autoschlüssel und lief die Treppe runter. Der Wagen sprang stotternd an und mit quietschendem Keilriemen raste ich über das nasse Kopfsteinpflaster. Es war 3.25 Uhr. Auf den Straßen war nicht viel los, ein Mann wankte zur Tankstelle, eine Frau wartete neben einem Baum auf ihren Hund. Ich überholte einen Müllwagen rechts, fuhr über zwei dunkelgelbe Ampeln und hielt direkt vor der Apotheke. Es war nicht zu erkennen, ob wirklich Licht brannte oder das Innere nur von der Straßenlaterne erhellt wurde. Ich klopfte energisch an das runde Fenster in der Glastür.

»Hallo!«

Ich pochte und schlug noch mal, dann ging ein Licht an, und ein Mann in Zivil öffnete die Luke.

»Ja, bitte?«

»Ich brauche was für unseren Sohn.«

Der Mann sah mich an.

»Ja?«

»Haben Sie was zum Absaugen?«

»Was hat denn Ihr Sohn?«

»Ich weiß es nicht, vielleicht Grippe oder Schnupfen, er kriegt auf jeden Fall keine Luft mehr!«

»Fieber?«

»Glaube ich nicht. Kann auch sein, aber haben Sie denn nichts zum Absaugen?«

»Wie alt ist denn der Sohn? Haben Sie schon Nasentropfen gegeben?«

»Acht Wochen. Ne, Tropfen noch nicht, da ist ja alles schon unten zu, da geht nichts rein.«

»Och, so ein Kleiner. Na, da kann so ein Schnupfen schon unangenehm sein. Ich gucke mal, es gibt so eine kleine Pumpe, die kann man zusammendrücken und durch den Unterdruck wird dann das Sekret abgesaugt.«

»Ja bitte, das brauche ich.«

Der Apotheker verschwand hinter einigen Regalen im Dunkeln. Ich sah mich um und auf die Uhr. Viertel vor vier. Eine Straßenbahn quietschte im Gleis. Dann kam er mit einer Pappschachtel und holte den kleinen Blasebalg heraus.

Ich griff nach meinem Portemonnaie und zog einen Zehneuroschein hervor.

»Was kostet das?«

»Warten Sie, hier, vier Euro dreiundsechzig.«

Ich gab ihm den Schein, griff den Sauger und lief zum Auto. Er rief was von Wechselgeld, doch die Zeit hatte ich nicht.

Ich parkte den Wagen, rannte die Treppen hinauf und öffnete die Wohnungstür.

»Schatz? Wo seid ihr?«

Tanja saß über Enno gebeugt auf unserem Bett.

»Und – wie klingt es jetzt?«

»Wie vorhin. Ich dachte schon, er hätte Hunger, aber als ich ihn angelegt habe, hat er nur gestrampelt. Ging gar nicht.«

»Hier, der Absauger!«

Sie sah sich den Blasebalg an und gab ihn mir zurück.

»Spül bitte mal heiß ab.«

»Bakterien sind da wohl gerade die geringste Gefahr. Lass mich mal probieren! Ist denn inzwischen schon mal Schnodder rausgekommen?«

Tanja verneinte.

»Ich weiß nicht, wie da noch was durchkommen soll!«

»Vielleicht müsste man auch erst mal Wasser von unten reinmachen oder mit einem Lappen dran?«

Ich drückte den Balg zusammen und hielt die schmale Öffnung an meinen Finger. Die Tülle saugte sich sofort fest.

»Was das für ein doller Sog ist, kann man da was kaputt machen?«

Tanja sah mich mit großen Augen an.

»Nicht dass man da die ganze Schleimhaut mit rauszieht oder was von den Nebenhöhlen.«

»Bevor er keine Luft mehr kriegt. So kann es ja nicht bleiben. Versuch einfach, vorsichtig zu sein!«

Ich nahm den Sauger in die rechte Hand und hielt mit der linken Ennos Kopf, doch er drehte im Schlaf den Kopf zur Seite. So hatte ich keine Chance, die Tülle überhaupt in die Nähe der Nase zu bekommen.

»Dreh ihn mal zu mir und halt den Kopf.«

Tanja beugte sich über uns beide und bugsierte Enno in eine andere Position. Langsam näherte ich mich mit der Pumpe.

»Ins rechte oder linke Loch?«

»Egal, wo du besser rankommst.«

Sein linkes Nasenloch war weiter oben, ich drückte den Balg zusammen und näherte mich wie eine Katze auf der Pirsch, doch als ich gerade das Nasenloch erreicht hatte, drehte Enno den Kopf wieder abrupt zur Seite. Ich zog beide Hände zurück und setzte mich gerade auf.

»Mist. Der hat das gemerkt.«

Tanja guckte verzweifelt.

»Können wir es vielleicht mit Spray versuchen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Für so Kleine gibt’s nur Tropfen. Da müssten wir ja genauso an das Loch kommen. Und das ist schon total dicht.«

»Hat man dir denn in der Apotheke nicht einen Tipp gegeben oder noch andere Sachen vorgeschlagen, die man machen kann?«

»Ne, nur Tropfen, aber ich dachte, die bringen sowieso nichts, wenn die Nase so doll zu ist.«

»Aber dafür sind die doch da?!«

»Es nützt jetzt ja nichts, bitte dreh ihn noch mal so, dass ich versuchen kann, an das andere Nasenloch zu kommen.«

»Wenn das nicht klappt, dann fährst du aber noch mal zur Apotheke und holst Spray. Dann sprühen wir eben von weiter weg!«

Ich atmete durch.

»Ja, aber jetzt probieren wir es erst noch mal zusammen so.«

Tanja rutschte langsam auf den Knien näher an unseren Sohn heran, schob ihre Hände unter seinen Körper und drehte ihn behutsam, bis sein Kopf wieder nach oben gerichtet war. Ich bewegte mich gleichzeitig mit dem bereits saugbereit zusammengedrückten Balg in der Hand immer näher an den Kopf heran. Es gelang mir, die Tülle an den Rand des Nasenloches zu führen, doch als ich die Hand öffnete und sich der Blasebalg pfeifend am Schnodder festsaugen wollte, riss Enno seinen Kopf nach hinten und nieste aus Leibeskräften. Wir schreckten zurück, er nieste wieder, ich versteckte den Balg hinter meinem Rücken, Tanja beugte sich vor und nahm den Kleinen hoch auf den Arm. Ich wischte ihm die Nase sauber, und dann atmete er ganz ruhig weiter, als sei nichts gewesen. Und die Nase war frei. Ich strich Tanja über den Kopf, sie strahlte mich an und kuschelte sich mit Enno auf meinen Schoß.

Ich sah aus dem Fenster. Es dämmerte, und ich schmunzelte.

Schon zum zweiten Mal waren es Exkremente, die uns glücklich machten, aber ich ahnte, dass es nicht immer so einfach sein würde und diese Nacht nur ein Vorgeschmack auf all die Sorgen und Aufregungen war, die wir in den kommenden Jahren noch vor uns hatten. Ich hoffte, es möge sich immer so glimpflich zum Guten wenden.

Da mein Rücken zu schmerzen begann, versuchte ich, mich etwas bequemer hinzusetzen und ein Kissen in mein Kreuz zu schieben, aber Tanja drehte sich im Schlaf und schmiegte sich mit Enno noch weiter in meinen Schoß, dass ich darauf verzichtete und meinen Arm auf ihre Schulter legte. Enno seufzte ganz zart und nuckelte an ihrer Nase. Er sah aus wie sie.

Und ich war das erste Mal in meinem Leben stolz. Stolz und glücklich, so eine tolle Frau und so einen tollen Sohn zu haben. Stolz, hier schief und verkrampft zu sitzen, um ihnen das Gefühl geben zu können, in Sicherheit zu sein.

»Tu doch bitte einmal das, was man dir sagt!«

Meine Frau las aus der Zeitung vor, wie die 42-jährige Kelly Perkins als erster Mensch nach einer Herztransplantation das über viertausend Meter hohe Matterhorn in zwölf Stunden erklommen hatte: »›Es ist herrlich. Ich war überrascht, wie gut ich das physisch durchgehalten habe. Ich fühlte mich stark‹, sagte die Amerikanerin nach der Rückkehr in ihr Hotel in Zermatt.«

Tanja legte den Artikel kraftlos beiseite.

»Ich bin erst einunddreißig und will mich nicht mit jemandem nach einer Herzoperation vergleichen, aber ich glaube, für mich wäre es fast genauso eine große Freude, einmal wieder alleine rausgehen zu können. Ich will nichts Besonderes, nicht klettern oder so, nur von niemandem begrabbelt oder ausgesaugt werden: Ich möchte einfach mal eine Stunde, ohne dass irgendjemand ›Mama‹ ruft. Einfach nur raus und bummeln. Ohne irgendwen. Und in Schaufenster gucken. Und übrigens: Ich kündige.«

Sie liebte ihre Arbeit, aber tatsächlich war der Gedanke nicht neu. Als sie ein gutes Jahr nach Ennos Geburt wieder schwanger geworden war, wurde die Belastung immer größer, und Tanja entschied sich, ihre Elternzeit doch voll in Anspruch zu nehmen. Um nicht mehr so viel weg zu sein, arbeitete auch ich seit ein paar Monaten ab und zu im Homeoffice. Und wenn wir während der Schwangerschaft noch gehofft hatten, ein zweites Kind liefe einfach so mit, wurden wir schon am Tag von Elfies Geburt eines Besseren belehrt. Es fühlte sich sogar an, als hätten sich die Anforderungen verdreifacht. Enno war zwar sofort verliebt in seine kleine Schwester, aber trotzdem eifersüchtig, die Windelberge verdoppelten sich, und wir alle schliefen so gut wie gar nicht mehr.

Da mir der Frieden zu Hause inzwischen wichtiger war als die Arbeit, nahm ich mir in der folgenden Woche einen Tag frei und kümmerte mich nur um Enno und die sechs Monate alte Elfie, so dass Tanja die gewünschte Zeit für sich hatte und ganz alleine und in Ruhe durch die Stadt bummeln konnte. Erstaunlicherweise funktionierte alles bestens. Um ehrlich zu sein, erschien es mir sogar viel einfacher, wenn ich alleine mit den beiden war. Enno, inzwischen zweieinhalb, konnte uns nicht gegeneinander ausspielen und nölte nicht, Elfie beschäftigte sich stundenlang mit dem Mobile, was Tanja ihr angeblich erfolglos versucht hatte, schmackhaft zu machen. Als beide schliefen und gefühlt das erste Mal seit Wochen Ruhe einkehrte, kam Tanja ganz aufgedreht zurück und redete wie ein Wasserfall. Wie herrlich und unbeschwert sie durch die Straßen geschlendert war und so lange vor Geschäften stehen geblieben war, wie sie wollte. Wie sie sich dies und das und allen möglichen Krimskrams angesehen und die ungewohnte Freiheit genossen hatte.

Die Drogerie erschien ihr wie ein Kosmetikparadies. Sie hatte Wimperntusche und Pflegecreme probiert, sich eine Fanta gegönnt und in einer Broschüre über Fotoalben zum Selbstausdrucken geblättert. Dann hatte sie Reiswaffeln, Windeln und Milchpulver genommen, alles in den Einkaufswagen gelegt und war zur Kasse gegangen. Sie hatte bezahlt und alle Einkäufe in ihrem Rucksack verstaut. Als sie den Laden verlies, begann es zu nieseln.

»Und jetzt kommt’s!«

Tanja lief durchs Wohnzimmer und spielte mir die Szene vor.

»Es nieselte mir ins Gesicht, und ich ließ mich einfach so treiben. Bin ganz gemütlich zu dem kleinen Café, um da dieses portugiesische Croissant mit Käse zu essen, und freute mich auf den köstlichen Cappuccino. Dann habe ich in einem Schaufenster eine superschöne Handtasche entdeckt und überlegt, ob der Kinderwagen da wohl durch die Gänge von dem Laden passen würde. Dabei haben sich aber irgendwie meine Augen auf die Spiegelung von dem Schaufenster scharf gestellt, und mir fiel schlagartig ein, dass die Kinder ja zu Hause geblieben waren und ich gar keinen Kinderwagen mithatte. Ich stand da mit dem leeren Einkaufswagen, den ich die ganze Zeit vor mir hergeschoben und geschuckelt hab! Oh Mann, war mir das peinlich! Glücklicherweise waren nur wenige Leute auf der Straße, und ich hab’ den Wagen so schnell wie möglich zurück in die Drogerie gebracht!«

 

Bei dem Gedanken an die Geschichte musste ich noch Monate später lachen, als ich mit dem Kinderwagen im Babyzubehörladen stand und Elfie schuckelte, damit Tanja neue Hosen und ein Buch für Ennos dritten Geburtstag aussuchen konnte. Vor mir stand eine ganze Armada von Kinderwägen. Daneben ebenso viele Buggys mit gebogenen Griffen oder einer Lenkstange, mit Regenhaube in waagerechter Liegeposition, mit Schirm- und Getränkehalter. Ich war froh, vorläufig noch unser Modell für Elfie zu haben, da ich es hasste, Ennos Buggy auf- oder zuzuklappen.

Der Laden wimmelte von schwangeren Frauen und beseelt guckenden Pärchen, die offenbar ihr erstes Kind erwarteten und die gleichen, naiven Fragen stellten, die auch wir beim Kauf des ersten Kinderwagens gestellt hatten. Omas und Opas standen strahlend dahinter und staunten über die Wendigkeit, welche ihre Wagen,