Liebe ist tödlich - Tessa Koch - E-Book

Liebe ist tödlich E-Book

Tessa Koch

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Beschreibung

Alles, was er immer wollte, ist Liebe. Glück. Eine Familie. Mit einer schönen, liebevollen Frau an seiner Seite. Alles, was er immer wollte, ist das, was wir doch letztlich alle wollen. Und wenn er es nicht bekommen kann, dann wird er es sich eben nehmen. Er wird es bekommen. Und wer sich ihm in den Weg stellt, wird sterben.

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Seitenzahl: 625

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Tessa Koch

Liebe ist tödlich

Du kannst ihm nicht entkommen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Impressum neobooks

Kapitel 1

Sie läuft.

Sie weiß, dass ein Entkommen unmöglich ist. Irgendwo in ihrem tiefsten Inneren weiß sie es. Dennoch läuft sie. Immer weiter, so schnell wie es ihre schmerzenden Muskeln erlauben. Immer weiter und weiter, fort nur fort. Das ist das einzige, was zählt.

Doch er ist hinter ihr, irgendwo.

Auch das weiß sie. Er wird sie nicht gehen lassen, er wird sie nicht entkommen lassen. Zu lange schon hat er sie gefangen gehalten, sie gequält, gefoltert, verletzt … Er kann es sich nicht erlauben sie lebend aus diesem Albtraum zu entlassen. Denn dann würde es seinen eigenen Tod bedeuten.

Immer wieder rutschen ihre nackten Füße auf den nassen Blättern und Wurzeln, die den Waldboden bedecken, aus. Einmal fällt sie sogar hin. Doch sie zwingt sich den Schmerz zu ignorieren und wieder aufzustehen. Andernfalls wäre sie verloren. Für immer.

Sie weiß nicht, wo sie ist und in welcher Richtung Hilfe liegt. Seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten, hat sie kein Tageslicht mehr gesehen. Auch jetzt sieht sie kaum etwas. Das Bild vor ihren Augen ist verschwommen und unscharf, ihre Augen durch die Berührung mit der Entwicklerlösung verätzt. Wahllos sucht sie die Richtung aus, in die sie läuft, die Hände tastend vor sich ausgestreckt, mit der stillen Hoffnung im Herzen, dass sie ihrem Schicksal entrinnen kann.

Doch niemand kann seinem Schicksal entkommen.

Sie hört seine Schritte hinter sich, das leise Keuchen, das ihr verrät, dass er ihr bereits näher ist als sie angenommen hat. Die Hoffnung weicht ihrer Panik, die sie trotz ihrer schlechten Augen dazu antreibt noch etwas schneller zu laufen. Sie kann nicht rational denken, dass einzige, was sie wahrnimmt, ist sein leises Keuchen und das panische Klopfen ihres Herzens.

Wieder rutscht sie auf dem nassen Untergrund aus. Wieder stürzt sie. Panisch versucht sie sich erneut aufzurappeln, ihre verätzten Augen wollen ihr ihre Umgebung nur schemenhaft enthüllen. Sie weiß nicht, wo er ist, nur dass er irgendwo hier sein muss, hinter ihr. In ihrer Nähe. Und dass es ihren Tod bedeutet, wenn er sie findet.

Gerade als sie sich an einem niedrigen Zweig auf die Beine zieht, hallt ein lauter Knall durch den stillen Wald. Vögel stieben aus den Bäumen und auch andere Waldtiere ziehen sich in das Herz ihres Heimes zurück. Ein weiterer Schuss. Für einen Moment ist sie erstaunt, wie wenig Schmerz sie empfindet. Noch ein Schuss. Im nächsten Augenblick empfindet sie beinahe so etwas wie Erleichterung. Wieder ein Schuss. Dunkelheit kommt auf sie zu, hüllt sie für immer ein. Ein letzter Atemzug, ein Hauch.

Dann entweicht ihr jegliches Leben.

Kapitel 2

Als sie am frühen Morgen in den Nachrichten von dem Fund einer Frauenleiche hört, ist sie zutiefst bestürzt. Es ist eine beinahe solidarische Reaktion, wie sie findet. Wann immer eine Nachricht von einer entführten, missbrauchten oder misshandelten Frau an ihre Ohren dringt, empfindet sie tiefstes Mitleid mit ihr. Es ist wie ein schwaches Band, das sie dann mit dieser Frau verbindet, mit dem leisen Ahnen, dass ihr etwas vergleichbar Schreckliches ebenfalls geschehen könnte. Dass sie selbst nur eine schwache, wehrlose Frau ist.

Sie schiebt diese Gedanken beiseite und versucht nicht mehr an die Nachricht zu denken. Sie ist froh, dass sie sie im Radio gehört hat, statt es über das Fernsehen zu erfahren. Denn so fällt es ihr wesentlich einfacher, sie in einen hinteren Teil ihres Kopfes zu schieben, sie quasi zu den Dingen zu tun, die vergessen in einer abgelegenen Ecke ihres Kopfes ruhen. Hätte sie jedoch ein Bild des Opfers in den Nachrichten gesehen, so wäre es ihr garantiert schwerer gefallen.

Sie ist froh, als sie nach einer weiteren Viertelstunde Fahrt endlich ihren Wagen auf einen der wenigen Parkplätze abstellen und aussteigen kann. Den ganzen Morgen über schon brummt ihr der Schädel, ihre Migräne scheint ihr in den letzten Wochen ein ständiger Begleiter zu sein. Sie hätte gut auf sie verzichten können.

Sie hängt sich die Tasche über die Schulter, verriegelt das Auto und geht langsam auf den Laden zu. Von Weitem kann sie bereits ihre Chefin sehen, wie sie mit einem leicht unzufriedenen Blick die Pflanzen im Schaufenster hin und her schiebt und anders zu arrangieren versucht. Als sie den Laden betritt, hört sie damit auf und lächelt sie an. Ihre grünen Augen blitzen. „Guten Morgen, Lela.“ Wieder schiebt sie an einer Vase.

„Hallo Margret, seit wann bist du schon hier?“ Lela durchquert den Laden und betritt den Bereich, der nur für das Personal bestimmt ist. Also für sie und Margret. Seit Jahren sind sie schon zu zweit, nur ab und an verirrt sich noch gelegentlich eine Praktikantin in ihren kleinen Laden. Sie hängt ihre Tasche und ihre Jacke auf.

„Ach, seit sechs, sieben Uhr. Ich weiß es schon gar nicht mehr so genau.“ Margret lacht munter auf und flankiert die gewaltige Vase mit zwei kleineren. Sie steckt zwei orangefarbene Lilien in die schmalen Hälse und betrachtet ihre Dekoration. Es dauert etwas, bis sie Lelas entsetzten Blick bemerkt. Wieder muss sie lachen. „Mach dir keine Sorgen, wenn ich dich gebraucht hätte, hätte ich angerufen. Aber ich musste noch auf den Blumenmarkt und konnte noch ein bisschen aufräumen, das hat mir ganz gut gepasst.“ Sie wischt sich eine Strähne ihres ergrauten Haares aus der Stirn und wirft einen letzten Blick auf ihr Arrangement.

Lela kann nicht anders als zu seufzen. „Ganz wie du meinst.“ Sie bindet sich die grüne Schürze um, die sie immer bei der Arbeit trägt, und macht sich sofort daran die Bestellungen, die sie für heute haben, vorzubereiten. Darunter befindet sich neben einem Blumenstrauß für eine Hochzeit auch ein Friedhofsgesteck. Sofort muss sie wieder an die Schlagzeilen vom Morgen denken. Wieder schiebt sie sie beiseite.

Während sie still in einem hinteren Teil des Verkaufsraumes die Bestellungen vorbereitet, hantiert Margret vorne noch immer mit der Schaufensterdekoration herum, bis sich die ersten Kunden in ihren Laden verirren und sie ebenfalls gebraucht wird. Durch den aus Kirschholz geflochtenen Raumteiler, der den kleinen Laden klar in den Verkaufsraum und den Arbeitsbereich teilt, unterhält Margret sich munter mit ihrer Kundin, einer älteren Dame, die des Öfteren bei ihnen einkauft, während sie für sie einen Sommerstrauß bindet.

Lela hört dem Gespräch schweigend zu, während ihre Hände wie von selbst die Blumen zu stecken scheinen. Sie liebt ihre Arbeit in dem kleinen Blumenladen des Dorfes, auch wenn sie sich manchmal wünscht, etwas mehr zu verdienen. Dennoch, die Arbeit mit den Blumen gefällt ihr, ebenso wie das Ausleben ihrer Kreativität, wenn die Kunden ihr wieder einmal frei Hand lassen, und sie tun darf, was immer ihr gerade in den Sinn kommt. Außerdem weiß sie, dass sie Margrets vollstes Vertrauen besitzt, was sie sehr zu schätzen weiß.

Als das Gespräch der beiden Frauen sich über Blumen, das Wetter und den kranken Hund von Margret zu der Schreckensnachricht des heutigen Morgen tastet, hält sie in ihrer Arbeit inne. Sie weiß selbst nicht genau, was es ist, doch etwas, das mit diesen Geschehnissen zusammenhängt, ruft ein Unbehagen in ihr hervor. Sie weiß nur noch nicht, ob sie den Gründen dafür weiter nachgehen will.

„Es ist einfach schrecklich“, sagt Margret in diesem Moment und schüttelt bedauernd den Kopf. „Ein armes, junges Mädchen. Sie wurde mit fünf Schüssen getötet, haben Sie das schon gehört? Drei trafen sie in die Brust, in die Nähe des Herzens, und zwei in den Kopf. Als ich das in den Nachrichten gehört habe, musste ich sogar an den Straßenrand fahren und erst einmal anhalten! Das so etwas geschieht! Hier, in unserem Dorf! So etwas ist noch nie vorgekommen!“

Die alte Frau nickt bekümmert. „Ja, ich hoffe, dass dieser Widerling, wer immer er auch war, schnell gefasst wird! Bevor er noch einem jungen Mädchen etwas antun kann!“ Lela lässt das Messer, mit dem sie die Stiele der Blumen gerade kürzen wollte, fallen. Die Frauen beachten sie nicht. „Ich habe außerdem gehört, dass sie übel zugerichtet worden sein soll. Geschlagen und vergewaltigt! Was für eine kranke Seele tut so etwas?“

Margret schüttelt nur den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht. Gefällt es Ihnen so?“ Sie zeigt der Frau den Strauß und mit einem breiten Lächeln nickt sie diesen ab. Margret bindet ihn mit Bastband zusammen und tritt dann hinter die Kasse, um den Strauß zu berechnen. Die tote Frau scheint bereits wieder aus ihren Gedanken getreten zu sein, nur einen Moment gefüllt zu haben, in dem ihr Tod von Bedeutung gewesen ist.

Lela jedoch schafft es nicht mehr, sie aus ihren Gedanken zu verdrängen.

Kapitel 3

Lela ist dankbar, als sie endlich Feierabend machen und gehen darf. Margret wünscht ihr noch ein schönes Wochenende, ehe sie Lela die Tür vor der Nase zumacht und dann mit einem letzten Lächeln die Tür verschließt. Kurz verharrt Lela an Ort und Stelle, dann seufzt sie leise und macht sich auf zu ihrem Wagen.

Noch immer ist sie von einem Unbehagen erfüllt, das sie sich selbst nicht zu erklären vermag. Sie weiß nur, dass es ihr Angst bereitet, alleine durch die dunkle Nebenstraße zu ihrem Auto zu gehen. Normalerweise macht sie sich darüber keine Gedanken. Doch normalerweise geschehen in diesem kleinen Dorf auch keine Morde.

Als sie ihr Auto erreicht, ist sie erleichtert. Sie schließt es auf, setzt sich rein und verriegelt es sofort wieder von innen. Ihre Tasche landet auf dem Beifahrersitz und noch ehe sie den Motor anlässt und losfährt, stellt sie ihr Radio ein und schaltet solange durch die verschiedenen Sender, bis sie einen gefunden hat, der laute, sie ablenkende Musik spielt. Erst dann lässt sie ihren Motor aufheulen und rollt langsam vom Parkplatz.

Die Fahrt zu ihrer Wohnung dauert etwa eine halbe Stunde. Sie wohnt in einer benachbarten Stadt, die die Bezeichnung als diese nicht ganz verdient hat, in einem Mehrparteienhaus, in dem sie zusammen mit ihrer besten Freundin Stella und einem Kaninchen namens Sir Wingston lebt. Bereits seit vier Jahren wohnen sie dort, seit Lela aus ihrem Auslandsjahr in Australien zurück kam. Eigentlich hat sie vorgehabt nach diesem zu studieren, doch anfangs hat es keine freien Plätze mehr gegeben und dann ist ihr die Lust am Studieren mit einem Mal vergangen. Letztendlich hat sie eine Ausbildung bei Margret zur Floristin gemacht und arbeitet seitdem für sie. Sie hat ihre Entscheidung nie bereut.

Als sie einen Parkplatz direkt vor ihrem Wohnhaus findet, seufzt sie erleichtert auf. Es beruhigt sie, in ihrer merkwürdigen Gefühlslage nicht noch einmal eine dunkle Straße alleine durchqueren zu müssen. Sie sucht noch im Auto den richtigen Schlüssel für die Tür, ehe sie aussteigt, den Wagen verriegelt und dann das Wohnhaus betritt. Sie steigt in die zweite Etage auf und schließt die Tür auf. Sofort schlägt ihr das vertraute Plärren des Fernsehers entgegen und auch das warme Flurlicht hat eine beruhigende Wirkung auf sie. Es fühlt sich beinahe so an, als würde sie ihre plötzlichen Sorgen und Ängste einfach auf der Schwelle vor der Tür zurücklassen. Es fühlt sich gut an.

Auf dem Weg durch den kleinen Flur in das Wohnzimmer schleudert sie ihre Tasche in ihr Zimmer. Stella sitzt mit Sir Wingston auf dem Schoß auf dem Ledersofa und schaut eine ihrer geliebten Sitcoms. Der breite Fernseher zieht für ein paar Sekunden Lelas Aufmerksamkeit auf sich, dann gleitet ihr Blick über das Foto von ihrem Abschlussball, auf dem Lela und Stella sich fest umarmen, weiter zu ihrer besten Freundin, die gespannt ihrer Serie folgt. Im Gegensatz zu Lela hat sie es geschafft sich zum Studieren aufzuraffen und büffelt seitdem täglich über den verschiedensten Wälzern. Insgeheim bewundert Lela ihren Ehrgeiz, Sozialpädagogin zu werden, auch wenn sie weiß, dass dieser Beruf nichts für sie selber ist.

„Na, sind wir auch endlich mal da, Flower-Girl?“ Stella sieht zu ihr auf, in dem Kraulen von Sir Wingston innehaltend, was diesem nicht zu gefallen scheint. Ihre blauen Augen blitzen schelmisch, doch Lela glaubt, auch etwas anderes in dem Blick ihrer besten Freundin zu lesen. Dennoch muss sie ungewollt zurück grinsen. „Ja, endlich. Kaum zu glauben, wie viele Menschen immer Blumen, Gestecke und was weiß ich nicht alles haben wollen. Ich war den ganzen Tag nur am Tun und Machen.“

Stella lächelt schief und ihre blonden Locken fallen ihr in die Augen. Ein dunkler Schatten huscht über ihr Gesicht und lässt ihr Lächeln kurz flackern. „Das sieht dir ähnlich. Im Kühlschrank steht Nudelsalat, den habe ich vorhin gemacht, um mich … zu beschäftigen, irgendwie. Man kann ihn sogar essen, würde ich sagen, also wenn du magst, kannst du dir gerne etwas nehmen. Du hast bestimmt Hunger.“

Lelas Bauch knurrt laut, so als wolle er Stellas Worte unterstreichen. Sie müssen beide grinsen. „Ich bin sofort wieder da“, verkündet Lela und erhebt sich wieder vom Sofa. Kurz streicht sie Sir Wingston über den Kopf, der verträumt auf einem einzelnen Hälmchen kaut, dann verlässt sie das Wohnzimmer und geht in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Das fröhliche Gelb der Wände hebt ihre Laune augenblicklich, ebenso wie der kleine Kräutergarten, den sie auf dem Fensterbrett züchten und der gut zu gedeihen scheint.

„Hast du schon von dem toten Mädchen gehört?“, ruft Stella ihr fragend hinterher.

Lela hält in dem Beladen ihres Tellers inne, mit einem Mal scheint ihr Hunger einen gewaltigen Dämpfer bekommen zu haben. „Ja“, erwidert sie nur und versucht dabei ganz normal zu klingen. Sie stellt den Nudelsalat zurück in den Kühlschrank und nimmt sich Messer und Gabel.

„Weißt du auch schon, wer sie war?“

Mit einem unguten Gefühl im Bauch geht Lela zurück in das Wohnzimmer. Stella sieht zu ihr auf, wieder ist da dieser Schatten, der über ihr Gesicht streicht. „Nein“, antwortet sie, nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen will. Als sie sieht, wie sich Stellas Gesichtsausdruck verändert, ist sie sich sicher, es nicht wissen zu wollen.

„Es war Helen.“

Lela spürt, wie ihre Beine sie nicht mehr tragen wollen. Sie setzt sich auf das Sofa und starrt auf ihren Teller. Inzwischen ist ihr Hunger ganz vergangen. Sie spürt Stellas Blick auf sich, doch sie weiß, dass sie sich noch nicht genug gefasst hat, um ihn erwidern zu können. Helen, schießt es ihr durch den Kopf, mein Gott.

Obwohl sie und Stella erst seit vier Jahren hier wohnen, haben sie viele Bekannte und Freunde in der Stadt und auch in den umliegenden Dörfern gesammelt. Helen hat sie von Anfang an gekannt. Lela und sie sind vor Jahren auf einem der Dorffeste ineinander gelaufen, sodass sie sich gegenseitig mit ihren Getränken begossen haben. Daraufhin hat Helen sie mit in ihre nahe gelegene Wohnung genommen und Lela ein T-Shirt von sich geliehen, obwohl die beiden Frauen sich zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt haben. Sie haben den Abend zusammen verbracht, sich gegenseitig Getränke ausgegeben und sich angefreundet. Von diesem Tag an haben sie ihren Kontakt zueinander stets gepflegt, haben sie doch immer nur ein paar Kilometer voneinander getrennt.

Und nun ist sie tot. Lela sieht wieder zu Stella auf, so ganz will diese Nachricht nicht zu ihr durchdringen. Sie will es nicht verstehen. Es wäre viel zu grausam. „Woher weißt du das?“ Ihre Stimme zittert leicht, es fällt ihr schwer sie unter Kontrolle zu halten.

„Sie haben es vorhin in den Nachrichten gesagt“, erwidert Stella traurig. Sie hat sich mit Helen ebenso gut verstanden wie auch Lela und erst jetzt scheint sie selbst zu verstehen, was ihre eigenen Worte bedeuten. „Es ist einfach schrecklich“, fährt sie leise fort, während Lela ihr unangetastetes Essen beiseiteschiebt. „Sie haben in den Nachrichten gesagt, dass sie schon seit Tagen tot ist. Sie wurde erschossen, geradezu hingerichtet. Mit mehreren Schüssen. Und sie soll gefoltert und vergewaltigt worden sein.“ Stella hält kurz inne. „Es ist einfach schrecklich. Ich wusste nicht einmal, dass eine Vermisstenanzeige rausgegangen ist. Ich habe keinen einzigen Gedanken mehr an Helen verschwendet, seit wir sie auf ihrem Geburtstag das letzte Mal gesehen haben. Ich dachte einfach, dass sie ihren Dingen hinter hängt und wir unseren, weißt du?“

Lela nickt abwesend, mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie sieht das hübsche Gesicht von Helen vor sich, eine junge, fröhliche Frau, die gerade dabei gewesen ist Geschichte zu studieren. Dass sie nun tot sein soll, will Lela nicht verstehen. Helen ist erst vierundzwanzig gewesen, ein Jahr älter als Lela und Stella. Es hätte genauso gut eine von uns treffen können.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf erhebt Lela sich, nimmt stumm ihren Teller mit dem Nudelsalat und geht zurück in die Küche, um das Essen in den Mülleimer zu kippen. Der Appetit ist ihr vergangen.

Und er würde erst einmal nicht mehr zurückkehren.

Kapitel 4

Die nächsten Tage sind der reinste Horror. Die Nachrichtensender laufen heiß über die Ereignisse, die das Dorf erschüttert haben. Jeden Tag dringen durch die polizeiliche Nachrichtensperre immer mehr Details über den grausamen Mord an Helen Jakobit.

Inzwischen hat man herausgefunden, dass sie an dem fünften Schuss starb, der sie traf. Zuvor hat sie eine Kugel in die linke Schulter und drei weitere in die Brust, nahe ihrem Herzen, getroffen. Letztendlich ist sie an der letzten Kugel, einem Kopfschuss gestorben, der ihr das Gehirn regelrecht aus dem Kopf geblasen haben soll.

Doch neben diesem sind noch mehr schreckliche Dinge an die Öffentlichkeit gelangt.

Zum Beispiel ist bereits am nächsten Tag bekannt geworden, dass Helen nicht einfach nur zufällig entführt worden ist. Sie ist wochenlang vorher ausgekundschaftet und genauestens beobachtet worden. In einem alten Herrenhaus, nahe des Waldes, in dem ihre Leiche gefunden worden ist, hat die Polizei Dutzende Fotos und genaue Pläne über ihre zeitlichen Abläufe gefunden.

Wer auch immer ihr all das angetan hat, hat sie Wochen, wenn nicht sogar Monate zuvor auf Schritt und Tritt verfolgt. Und alles genauestens dokumentiert. Sei es bei ihren täglichen Erledigungen oder nachts in ihrer Wohnung, wenn sie vergessen hat die Vorhänge vor den Fenstern zuzuziehen.

Außerdem ist bekannt geworden, wie schrecklich ihre Gefangenschaft gewesen sein muss. Die Vermisstenanzeige, die ihre Mutter nach etwa zwei Tagen ihres Verschwindens aufgegeben hat, war bereits fünf Wochen alt. Helen muss sich über einen Monat in den Händen ihres Peinigers befunden haben. Und wie sich bei der Hausdurchsuchung ebenfalls gezeigt hat, muss sie unglaublich gefoltert und gequält worden sein. In dem Haus hat die Polizei eine Art Folterkammer gefunden, mit Handschellen, Fußfesseln, Peitschen, Messern und anderen Gegenständen, die sich zum Verletzen und Foltern eines Menschen eignen.

Auf manchen der Bilder ist sogar die Folterung von Helen festgehalten worden. Man hat sie geschlagen, getreten, ihren Körper mit Messern zerschnitten und sie vergewaltigt. Dabei wurde sie nicht nur <<normal>> vergewaltigt, sondern der Täter hat sie mit verschiedenen Gegenständen, wie Kleiderbügeln, Flaschen und Stiften vaginal sowie anal penetriert. Er hat sie gequält, immer und immer wieder. Es ist widerwärtig.

Neben der Folterkammer hat vor allem die Dunkelkammer die Aufmerksamkeit der Beamten erregt. Zum einen, weil sie erklärt, wie der Mann, der Helen entführt und ihr all das angetan hat, seine Fotos entwickelt hat – und zwar selbstständig. Und zum anderen, weil sie in den verschiedenen Becken, in denen sich noch einzelne Fotos befunden haben, Chemikalien gefunden haben, die man eigentlich nicht zur Fotoentwicklung braucht.

Heute Morgen haben sie in den Nachrichten gesagt, die Lela auf dem Weg zur Arbeit gehört hat, dass Helen Jakobit mit diesen Chemikalien verätzt worden sei. Vor allem ihre Augen hätten starke Verätzungen aufgewiesen, sodass man davon ausgehen könne, dass sie fast blind gewesen sei.

Lela machen diese Neuigkeiten krank. Und nicht nur das. Der Gedanke, dass der Kerl, wer immer er auch ist, noch immer auf freiem Fuß ist, es nicht einmal einen Anhaltspunkt zu geben scheint, bereitet ihr unglaubliche Angst. Vielleicht hat der Täter Helen gekannt, vielleicht ist er ein alter Verflossener von ihr, der die Trennung von Helen nie richtig hat verkraften können. Vielleicht hat er nur – so widerlich und krank einem dieser Gedanke auch erscheinen mag – Rache an ihr nehmen wollen. Doch vielleicht ist er auch einfach nur eine gestörte Persönlichkeit, die Helen aus anderen Gründen ausgewählt hat. Vielleicht ist er ein Wiederholungstäter. Ein Serienmörder.

Es nicht zu wissen, bringt Lela beinahe um.

Und nicht einmal auf der Arbeit scheint sie diesen Gedanken und der Trauer um Helen davonlaufen zu können. Als einer der wenigen Blumenläden in dem Dorf kommen nun täglich Dutzende Einwohner vorbei, die Blumensträuße, Kränze und Gestecke für die Beerdigung von Helen bestellen oder Sträuße für Helens Familie kaufen wollen. Manche von ihnen kommen auch einfach nur, um jemanden zu haben mit dem sie über das, was mit einem Mal das ganze Land zu erschüttern scheint, reden zu können. Ob so oder so, Lela wird die ganze Zeit über mit den schrecklichen Geschehnissen konfrontiert. Und je länger sie im Laden ist, je mehr Kunden vorbeikommen, desto mehr schreckliche Details muss sie über die Entführung, Folter und Ermordung ihrer Freundin hören.

All das macht sie von Tag zu Tag kränker. Der Hass, dem sie demjenigen, der Helen, ihrer Familie, ihr all das hat antun können, gegenüber empfindet, scheint von Sekunde zu Sekunde immer mehr zuzunehmen. Dennoch darf sie sich nichts anmerken lassen. Denn sie muss trotz allem arbeiten.

Die Beerdigung von Helen ist für den kommenden Samstag anberaumt. Ihre Leiche soll heute Morgen freigegeben werden und bereits jetzt graut Lela vor dem, was die Medien dann wieder berichten werden. Sie hat Angst davor noch mehr zu erfahren. Denn obwohl es sie innerlich zerfrisst zu wissen, was mit Helen geschehen ist, kann sie eines dennoch nicht tun: Weghören. Es ist wie ein perverser, selbstzerstörerischer Drang alles erfahren zu wollen, so schrecklich es auch sein mag.

„Ähm, Entschuldigung?“

Lela zuckt zusammen und sieht von den Rosen, die sie in der Vase gerade arrangiert, auf. Ein junger Mann, Mitte bis Ende zwanzig, steht vor ihr. Er hat blondes Haar, blaue Augen und einen trainierten Körper. Er ist attraktiv. Und er lächelt sie unsicher an. Sie muss so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen sein, dass sie ihn nicht gehört hat.

„Tut mir leid.“ Eilig rappelt Lela sich auf, klopft ihre Hände an der Schürze ab, so wie sie es immer tut, wenn sie nervös ist, und erwidert dann das Lächeln des Mannes. „Ich war in Gedanken versunken, es tut mir wirklich leid. Was kann ich für Sie tun?“ Sie lächelt noch immer.

Nun festigt sich auch wieder das Lächeln des Fremden. „Das macht doch nichts. Ähm, ich hätte gerne einen Blumenstrauß, für die Beerdigung … Sie wissen schon.“ Sein Lächeln verblasst und er weicht Lelas Blick aus, als er sieht wie sehr seine Worte sie treffen. Es tut weh, immer und immer wieder mit diesen Schrecken konfrontiert zu werden. Immerhin ist es nicht irgendjemand, dem all das widerfahren ist. Niemand, den man einfach wieder vergessen kann. Es ist Helen.

„Ich … ja – ja klar, ich habe davon gehört. Wer nicht.“ Sie versucht sich wieder an einem Lächeln, doch es will ihr nicht so wirklich gelingen. „Können Sie mir vielleicht sagen, was Sie sich denn genau vorgestellt haben?“ Sie tritt ein paar Schritte beiseite, um ihn einen Blick auf die unzähligen Blumen werfen zu lassen.

Er sieht sich kurz um. „Ich denke, dass ich Sie das lieber entscheiden lasse.“ Im Gegensatz zu Lela scheint ihm das Lächeln nicht weiter schwer zu fallen.

„Okay.“ Lela sieht sich nun ebenfalls im Laden um. „Ich würde Ihnen Lilien empfehlen. Sie sind nicht nur sehr schöne Blumen, die recht lange blühen, sonder sie sind auch die Blumen … die Blumen der Toten.“ Ihr Lächeln flackert kurz. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Blumenstrauß aus weißen Lilien, etwas Schleierkraut, Grün und diesen hell rosanen Gladiolen hier binde?“ Sie deutet auf besagte Blume. „Die würden einen sanften Farbakzent setzen. Außerdem war rosa immer Helens Lieblingsfarbe.“ Ihr Blick verliert sich kurz in den Blüten der Gladiole.

„Hört sich gut an.“ Der Mann lächelt sie wieder leicht verunsichert an.

Lela erwidert es abermals, dann zupft sie vorsichtig die Lilien und die Gladiolen aus den Vasen und sammelt die Blumen in ihrem Arm. „Wie viele Lilien und Gladiolen dürfen es denn sein?“, fragt sie, als sie jeweils drei gesammelt hat.

„So viele wie Sie wollen. Ich verlasse mich da ganz auf Sie.“

Seine Worte werden mit einem weiteren Lächeln belohnt. Lela zupft jeweils zwei weitere Blumen aus den Vasen, dann wendet sie sich, den Arm voller Blumen, zum Arbeitsbereich. Als sie an der Kasse vorbeikommt, lächelt Margret ihr schwach zu. Sie unterhält sich gerade mit der alten Frau, die sie bereits am Morgen des Leichenfundes im Laden besucht hat.

Lela legt die Blumen auf der Arbeitsplatte ab und macht sich daran, unnötige Blätter von den Stielen zu entfernen und diese schräg anzuschneiden, damit die Pflanzen das Wasser besser aufnehmen können. Der Mann ist ihr gefolgt, hält sich jedoch in einem guten Meter Abstand zu ihr auf, vielleicht weil ihm bewusst wird, dass er in dem hinteren Teil des Ladens nichts zu suchen hat. Lela kann sich nicht erinnern, ihn zuvor schon einmal gesehen zu haben.

„Kannten Sie sie?“, fragt er schließlich, als Lela schon dabei ist, die Blumen mit etwas Grün anzuordnen. Immer wieder zupft und schiebt sie an einzelnen Blatt- oder Blumenstielen, damit die Blumen wie erwünscht in ihrer Hand liegen.

„Ja“, antwortet sie, ohne von ihrem Tun aufzusehen. Die Arbeit lenkt sie soweit ab, dass der Schmerz, der sonst auf diese Worte hin immer folgt, dieses Mal ausbleibt. „Wie kommen Sie darauf?“ Sie nimmt sich etwas Schleierkraut.

„Naja, Sie sagten, dass rosa die Lieblingsfarbe von Helen gewesen ist.“ Er zuckt mit den Schultern. „Da habe ich mich gefragt, woher Sie das wissen und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie sie wohl gekannt haben müssen.“

Lela nickt. „Wir waren seit Jahren befreundet.“

„Es tut mir sehr leid.“ Er spricht die Worte mit einer solchen Inbrunst aus, dass Lela unweigerlich zu ihm aufsehen muss. Er sieht sie intensiv an, als wolle er, dass sie versteht, dass er es wirklich bedauert. Es irritiert sie.

„Danke.“ Sie wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. „Woher kannten Sie sie?“, fragt sie dann und versucht es beiläufig klingen zu lassen. Seine Reaktion eben hat sie neugierig gemacht.

„Durch die Arbeit“, erwidert er ebenso beiläufig.

Dann schweigen sie beide.

Als Lela fertig mit ihrem Strauß ist, zeigt sie ihn ihm und er segnet ihn mit einem Lächeln ab. Sie bindet die Stiele mit festem Bastband zusammen und tritt dann hinter die Kasse, um den Strauß zu verpacken und ihm dann zu berechnen. Nachdem er ihr das Geld gegeben hat, reicht sie ihn ihm über die Theke. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Danke, ich Ihnen auch – äh?“ Er sieht sie fragend an.

„Lela.“ Sie muss lächeln.

Auch er lächelt. „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag, Lela.“ Er nimmt den Strauß, lächelt sie ein letztes Mal an, dann dreht er sich um und verlässt den Laden. Das Glöckchen, das immer verkündet, wenn ein Kunde den Laden betritt oder verlässt, bimmelt über seinem Kopf. Lela sieht dem gut aussehenden jungen Mann hinterher. Dann wendet sie sich an ihre nächste Kundin.

Im nächsten Moment hat sie ihn bereits wieder vergessen.

Kapitel 5

Die Sonne scheint, doch es kommt Lela falsch vor. Sie ist bis jetzt erst einmal auf einer Beerdigung gewesen. Es war die Beerdigung ihres Pflegevaters. Ihre leiblichen Eltern sind gestorben, als Lela keine zwei Jahre alt war. An sie hat sie keinerlei Erinnerungen mehr. Sie landete in einem Heim, kam jedoch nach ein paar Jahren in eine Pflegefamilie, in der sie unter der größten Fürsorge und Liebe aufgewachsen ist, die sie sich nur hat wünschen können.

Vor zwei Jahren, im Alter von achtundfünfzig Jahren, erlitt ihr Pflegevater einen Herzinfarkt. Kurz darauf ist ihre Pflegemutter an Alzheimer erkrankt. Die Krankheit ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie Lela nicht mehr erkennt. Der Tod ihres Mannes hat ihr wahrhaftig den Verstand geraubt. Und das Herz gebrochen. Auf der Beerdigung ihres Pflegevaters hat es damals geregnet.

Doch nun scheint die Sonne.

Lela findet es unpassend. Mit dem Tod und dem Abschied von einem geliebten Menschen verbindet sie Schmerz, Trauer, Wut und Verzweiflung. Sie will, dass die Welt dies alles mit ihr teilt. Dass die Welt mit ihr weint. Doch der Schein der Sonne zeigt ihr stattdessen, dass das Leben weitergeht, egal welche Schicksalsschläge es auch erschüttern mögen.

Es ist verkehrt. Denn jetzt, in diesem Moment, möchte Lela nicht daran erinnert werden, dass jeder Schmerz einmal versiegt, und jede Wunde, so tief sie sich auch ins Herz gerissen hat, einmal vernarben wird. Sie möchte in dem Gedanken ertrinken, dass dieser Schmerz, der Verlust einer ihrer guten Freundinnen, die Erinnerungen, die Helens Tod an den ihres Vaters und ihrer leiblichen Eltern weckt, für immer anhalten wird. Dass er sie zerreißen wird.

Auch wenn die Wahrheit anders aussieht.

Nachdem der Sarg in das Grab gelassen ist, tritt Helens Mutter Carmen vor und legt als erste eine tiefrote Rose auf den Sarg ihrer Tochter. Lela bemerkt, dass sie nicht weint. Vermutlich hätten Tränen ihrem Schmerz nicht genug Ausdruck verliehen. Ihr folgt Helens Schwester Anja, die Lela bis jetzt erst zweimal in ihrem Leben gesehen hat. Sie ist zwei Jahre älter als Helen und studiert in Leipzig, soweit Lela weiß. Im Gegensatz zu ihrer Mutter wird sie von Schluchzern geschüttelt, als sie ebenfalls eine Rose auf das Grab legt und eine Handvoll Erde hinterher wirft.

Lela und Stella warten bis alle Verwandten und näheren Angehörigen von Helen ihre letzten Minuten an ihrem Sarg haben, ehe sie sich ebenfalls dem Sarg nähern, um ihre Blumen auf ihm abzulegen. Sie haben beide eine weiße Lilie, die sie auf das dunkle Holz legen. Danach schütten sie ebenfalls eine Handvoll Erde in das Grab. Der Pastor richtet ein paar letzte, wie er meint, tröstliche Worte an die Trauergemeinschaft, ehe sich nach und nach alle langsam zerstreuen. Lela und Stella wollen der Trauerfeier bei den Jakobits zu Hause nicht beiwohnen, haben sie mit Helens Familie nie besonders viel zu tun gehabt.

Da Lela jedoch den Tag von Margret frei bekommen hat, beschließen die beiden in einem nahe liegenden Café einen Cappuccino trinken zu gehen und die ganze Beerdigung erst einmal etwas sacken zu lassen, ehe sie den Heimweg anschlagen. Langsam schlendern sie mit getrübten Gesichtern in ihren pechschwarzen Kleidern über den Friedhof auf die Tore zu, die ihn von der Straße abgrenzen. Sie sprechen beide kein Wort.

„Lela!“

Lela dreht sich nach der Stimme um, die sie gerufen hat. Ein Mann kommt auf sie zu, er muss in der Nähe der Tore gestanden haben. Es dauert etwas bis Lela in ihm den Mann erkennt, der ein paar Tage zuvor bei ihr im Laden gewesen ist. Der Arbeitskollege von Helen. Sie bleibt stehen und Stella folgt ihrem Beispiel. Als der Mann näher tritt, wirft er ihr einen nervösen Blick zu. Stella versteht sofort. „Ich geh schon mal vor, Lia. Cappuccino?“

„Ja, bitte.“ Lela sieht Stella hinterher, die sich mit raschen Schritten von ihnen entfernt. Am Tor dreht sie sich noch einmal zu ihnen um und wirft ihr einen neugierigen Blick zu. Lela zuckt kaum merklich mit den Schultern. Sie hat Stella nichts von dem Mann erzählt, weil sie ihn über den Tag hinweg schlichtweg vergessen hat. Er war ein Kunde wie jeder andere auch. Was er nun von ihr wollen kann, ist ihr ein Rätsel.

„Lia?“ Sie wendet sich wieder an den Mann. „Sie sagten mir, Sie heißen Lela.“ Er sieht verunsichert aus, so als bereue er bereits Lela angesprochen zu haben.

Sie zuckt halbherzig mit den Schultern. „Ich heiße auch Lela, Lia ist nur mein Spitzname. Zumindest nennt Stella mich so.“ Sie deutet in die Richtung, in die Stella verschwunden ist, damit er weiß, wen sie meint. Sie kann sich selbst nicht genau erklären, weswegen sie ihm überhaupt ein dermaßen privates Detail von sich erzählt. Im Grunde geht es ihn nichts an. Doch er hat etwas an sich, dass ihr gefällt. Was ihr die Zuversicht gibt, ihm vertrauen zu können.

„Achso.“ Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.

Kurz schweigen sie beide. „Was – was möchten Sie denn?“ Lela kommt sich dumm vor.

„Oh, eigentlich …“ Er lächelt verlegen. „Ich schätze, dass ich Ihnen nur kurz Hallo sagen wollte.“ Sein Blick sucht den ihren. „Hallo.“

Sie muss ein Seufzen unterdrücken. Natürlich, er ist nett. Und er ist sehr attraktiv. Doch ist das einfach nicht der richtige Moment für solche Lappalien. Hinter seinem Rücken kann sie die Totengräber sehen, die Helen begraben. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, ähm ...“ Sie hält inne und überlegt, ob er ihr seinen Namen überhaupt schon gesagt hat.

„Oh, verzeihen Sie!“ Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn, als wolle er sich für seine eigene Unhöflichkeit bestrafen. „Mein Name ist Leon. Leon Berger.“ Er reicht ihr die Hand und sie ergreift sie recht widerwillig.

„Okay, es freut mich wirklich Sie wiederzusehen, Leon, doch nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, dass das einfach gerade ein ganz, ganz unpassender Moment für Smalltalk ist.“ Sie deutet auf die Totengräber hinter ihm. „Außerdem wartet meine beste Freundin auf mich.“

„Oh, ja, das verstehe ich natürlich!“ Sie glaubt zu sehen, wie er rot anläuft. „Tut mir leid, es war wirklich dumm von mir, ich habe mich nur so gefreut Sie hier wiederzusehen, das ist alles, wirklich …“

Lela muss ein Lächeln unterdrücken. Dieser Leon ist wirklich süß. „Das macht doch nichts, wirklich. Nur ein anderer Zeitpunkt wäre vielleicht besser gewesen.“

„Ja, ja, da haben Sie Recht …“ Er versucht sich an einem Lächeln. „Es tut mir wirklich leid. Vielleicht ein andermal.“ Er räuspert sich leise. „Sie sollten Ihre Freundin nicht warten lassen. Gehen Sie nur, ich wollte noch zu – zu ihr.“ Er nickt in die grobe Richtung von Helens Grab und zeigt ihr dann die schlichte weiße Lilie, die er in der Hand hält. Es ist die gleiche Blume, die auch Lela und Stella auf ihr Grab gelegt haben.

„Gut.“ Lela schenkt ihm ein Lächeln. „Es war wirklich nett Sie wiederzusehen, Leon. Vielleicht sieht man sich ja noch einmal. Ich wünsche Ihnen noch einen, naja, vielleicht nicht schönen, aber den Umständen entsprechend angenehmen Tag.“

„Danke. Ich Ihnen auch.“

Sie reichen sich erneut die Hand. Dann geht Lela mit einem letzten Lächeln an ihm vorbei auf das Tor zu, die Hände tief in die Taschen ihres Mantels vergraben. Obwohl es bereits März ist, sind die Tage noch immer recht frisch wie ihr wieder einmal auffällt. Vielleicht liegt ihr Frösteln aber auch nur an der inneren Kälte, die Helens Tod in ihr geschaffen hat. Sie verlässt den Friedhof.

Leon sieht ihr hinterher.

Kapitel 6

Lela ist gerade dabei neue Preisschilder für die Chrysanthemen zu schreiben, als das hohe Bimmeln ihr verrät, dass ein neuer Kunde den Laden betreten hat. Sie sieht von den kleinen Schildern auf, die Kappe für den Stift noch immer zwischen den Zähnen, als sie Leon auf sich zukommen sieht. Muss er nicht eigentlich auch mal arbeiten?, ist der erste Gedanke, der ihr bei seinem Anblick durch den Kopf schießt. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, Margret ist bereits dabei die Pflanzen und Blumenkränze, die sie immer vor dem Laden ausstellen, herein zu räumen. Sie wollen den Laden bald schließen.

Leon lächelt sie an, es ist wieder dasselbe unsichere Lächeln, das er ihr bereits auf dem Friedhof vor wenigen Tagen geschenkt hat, so als sei er sich nicht sicher, ob das, was er gerade tut, wirklich so klug sei. „Hallo Lela.“

Obwohl er ihr sympathisch ist, gefällt es Lela nicht, dass er sie mit ihrem Vornamen anspricht. Es erscheint ihr viel zu vertraut, fast so als seien sie alte Freunde. Doch das sind sie nicht. Sie kennen sich seit nicht einmal einer Woche. „Hallo“, entgegnet sie nur, während sie die Kappe wieder auf den Stift steckt. „Was kann ich für Sie tun?“

Er sieht sich kurz in dem Laden um, dann wendet er sich wieder an sie. „Nichts weiter. Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht.“ Er schlendert mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf sie zu, sein Lächeln scheint sich von Schritt zu Schritt mehr zu festigen.

Lela weiß nicht, was sie von ihm halten soll. „Es geht mir gut, danke. Aber wir wollen den Laden gleich schließen, also wenn Sie nichts kaufen möchten, muss ich Sie leider bitten, gleich wieder zu gehen. Ich habe momentan nämlich noch ein bisschen zu tun.“ Sie deutet auf die Preisschilder und dann auf den Wischmob, der bereits auf sie wartend an der Wand lehnt.

Leon wirkt beinahe enttäuscht. „Oh, das tut mir leid, ich will Sie ja nicht nerven oder belästigen, aber …“ Er weicht ihrem Blick aus und seine Worte verlieren sich in der darauf folgenden Stille.

Sofort spürt Lela kleine Gewissensbisse. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht so als ob ich Sie immer abwimmeln wollte, aber Sie haben ein schlechtes Timing, verstehen Sie? Es liegt nicht an Ihnen persönlich.“

Er kaut auf der Unterlippe herum, so als wiege er ihre Worte ab. Dann hellt sich seine Miene wieder etwas auf. „Sie meinen also, dass Sie an sich nichts dagegen haben, wenn ich da bin, richtig?“ Lela nickt. Sein Lächeln wird etwas breiter. „Und ich habe nur ein schlechtes Timing?“ Wieder ein Nicken. „Wie wäre es dann“, fährt er fort, „wenn ich Sie einfach zum Essen einlade? Diesen Samstag?“ Sein Lächeln ist unglaublich charmant und der Blick aus seinen blauen Augen sanft und fesselnd.

Lela spürt, wie sie sowohl unter dem Lächeln als auch unter dem Blick einknickt. Er ist ja eigentlich ganz nett. „Diesen Samstag?“ Sie legt den Stift beiseite um kommt um die Theke herum, um den Wischmob zu nehmen. Sie will Zeit schinden, obwohl sie bereits weiß, was sie ihm antworten wird. „Gerne.“

Sein Lächeln wird noch breiter und sie glaubt zu sehen wie erleichtert er ist. „Sehr schön! Darf ich Sie dann von Ihrem Zuhause abholen? Gegen acht?“ Er zieht eine seiner Brauen hoch und ein Blitzen erhellt seine Augen.

Kurz fragt Lela sich, wieso er auf sie so eine … anziehende Wirkung hat. „Es wäre mir lieber, wenn wir uns hier treffen könnten. Vor dem Laden. Aber gegen acht passt mir gut.“ Sie erwidert sein Lächeln, obwohl sie weiß, ihm gerade eine kleine Abfuhr erteilt zu haben. Sie mag es nicht, wenn jeder Hans und Franz weiß, wo sie wohnt. Mit solchen Angaben ist sie lieber vorsichtig. Vor allem seit dem Tod von Helen.

Doch Leon fängt sich schnell wieder. „Gerne doch. Dann sehen wir uns am Samstag, ja? Und bitte kommen Sie, ansonsten bin ich am Boden zerstört, wenn Sie mich hier wie einen Idioten stehen lassen, okay?“

Sie muss ungewollt lachen. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde da sein.“

„Gut.“ Er schenkt ihr ein letztes Lächeln. „Dann bis Samstag, Lela.“

„Bis dann, Leon.“

Sein Lächeln wird etwas breiter, als ihm bewusst wird, dass sie seinen Namen nicht vergessen hat. Dann tippt er sich kurz an die Stirn, so als wolle er einen imaginären Hut als Abschiedsgruß für sie ziehen, und verlässt den Laden. Lela sieht wie er etwas zu Margret sagt und sie mit einem Lächeln von den Blumenkästen aufsieht und etwas erwidert. Lela weiß nicht was es ist, doch dieser Mann hat etwas unglaublich Attraktives und Anziehendes an sich. Es liegt nicht einmal an seinem Aussehen (auch wenn er alles andere als schlecht aussieht), sondern eher an seinem charmanten und irgendwie doch so jungenhaften Auftreten. Er hat einfach etwas an sich.

Und sie spürt jetzt schon die Vorfreude auf Samstag.

Kapitel 7

Lela spürt ein erwartungsvolles Kribbeln, als sie neben Stella auf dem Beifahrersitz sitzt und sich im Rückspiegel die Lippen nachzieht. Natürlich hat ihre beste Freundin sich sofort dazu bereit erklärt sie zu fahren und – falls Leon sie nicht rumbringen sollte – wieder abzuholen. Lela weiß, dass Stella insgeheim hofft, noch einmal einen Blick auf ihn erhaschen zu können, jetzt wo er Lela zum Essen eingeladen und sie so viel von ihm geschwärmt hat.

Als sie in einer Nebenstraße hält (Lela möchte, nur falls er schon da ist, nicht genau vor seiner Nase aus dem Auto steigen), grinst Stella sie breit an. „Du musst mir nachher alles erzählen, hast du gehört? Und falls es scheiße laufen sollte, dann schick mir einfach ´ne SMS und dann rufe ich dich an, um dir zu berichten, dass Sir Wingston gerade im Sterben liegt oder so.“

Lela muss ungewollt lachen. „Halt das arme Kaninchen da raus!“

Auch Stella lacht. „Ich möchte nur, dass du für den Notfall Bescheid weißt.“

„Keine Sorge, das wird schon irgendwie.“ Sie zwinkert Stella zu. „Und danke fürs Fahren, Elli. Mach dir ´nen schönen Abend und wehe du gehst gleich beim ersten Klingeln ran, falls ich dich anrufe. Du sollst dich entspannen und nicht auf der Lauer liegen und auf ein Zeichen von mir warten, okay?“

„Ich kann dir versprechen zu versuchen es zu versuchen, okay?“, grinst Stella.

Lela seufzt. „Das muss mir wohl reichen. Dann sehen wir uns nachher.“

„Viel Spaß!“, ruft Stella ihr hinterher, ehe sie die Tür zuschlagen kann.

Lela winkt ihr ein letztes Mal, dann dreht sie sich um und geht zügigen Schrittes die Straße entlang. Es ist schon fast ganz dunkel und wieder fällt Lela auf wie kalt es noch immer ist. Sie zieht den Mantel fest um ihren Körper und achtet darauf, wo sie hin tritt. Sie möchte sich weder einen Absatz abbrechen noch mit Hundescheiße unter dem Schuh ihr erstes Date antreten.

Als sie aus der Nebenstraße tritt, sieht sie sofort, dass Leon bereits da ist. Er steht vor dem dunklen Blumenladen, etwas Längliches in den Händen, und sieht sich nervös nach links und rechts um, so als erwarte er beinahe, dass Lela jeden Moment hinter einem der umliegenden Bäume hervor gesprungen kommt. Sie muss unweigerlich grinsen, als sie ihn so sieht. Wann und wie nur hat sie es geschafft diesem gut aussehenden, jungen Kerl dermaßen den Kopf zu verdrehen?

Natürlich weiß Lela, dass sie nicht hässlich ist. Das stützt sie nicht nur auf die Aussagen ihrer Eltern und ihrer Ex-Freunde, die (mehr oder weniger) eh subjektiv gewesen sein mögen, sondern auf die schlichte Tatsache, dass sie im Blumenladen des Öfteren von Männern angesprochen wird, die sie fragen, ob sie sich nicht mit ihnen treffen möchte. Einmal hat sie auf der Straße sogar ein Typ angesprochen, der meinte, Modelagent zu sein und sie gerade entdeckt zu haben. Doch sie hat ihn nicht ernst genommen.

Außerdem muss Lela zugeben, dass sie sich selbst auch hübsch findet. Sie ist nicht eingebildet, keineswegs. Nie hätte wohl jemand behauptet, dass sie narzisstische Züge an sich hat. Sie weiß einfach, dass es keinen Sinn hat sich selbst etwas vorzulügen. Sie findet sich hübsch, auch wenn sie das eine oder andere gerne an sich verbessern würden. Zum Beispiel wäre sie gerne etwas kleiner. Mit ihren 1,76 Meter kann sie so gut wie nie hohe Schuhe tragen. Und sie hätte auch viel lieber braune Haare, anstatt ihrer blonden Zotteln. Dafür mag sie jedoch ihre braunen Augen, die einen interessanten Kontrast zu ihren sehr hellen Haaren bilden. Und sie mag ihren Körper, obwohl sie an ein, zwei Stellen auch ab und an etwas zu meckern findet.

Dennoch scheint es ihr nach wie vor ein Rätsel wie sie Leon in nur wenigen Tagen so in ihren Bann geschlagen haben soll, dass er unbedingt mit ihr ausgehen möchte. Vielleicht überreagiert sie auch einfach nur und er spielt mit ihr. Er will sie glauben lassen, dass sie ihn mit einem kleinen Lächeln vollkommen aus den Schuhen gehauen hat, nur damit er sie umso besser um seinen kleinen Finger wickeln und sie letztendlich flach legen kann.

Als Lela keine zehn Meter mehr von Leon trennen, schüttelt sie leicht ihren Kopf, um diese Gedanken abzuschütteln. Es ist vollkommen lächerlich sich jetzt über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen, wo sie nicht einmal mehrere Minuten, Stunden, am Stück mit ihm verbracht hat. Sie schiebt all ihre Gedanken beiseite. Leon hört das Geräusch ihrer Absätze auf dem Boden und dreht sich in ihre Richtung um. Als er sieht, dass es tatsächlich Lela ist, breitet sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht aus. Sie muss ebenfalls lächeln, während sie sich ihm nähert.

„Hallo!“ Leon kommt ihr entgegen, das Wort stößt er leicht atemlos hervor.

„Hey.“ Lächelnd bleibt Lela vor ihm stehen und nimmt zum ersten Mal bewusst war, dass Leon fast einen ganzen Kopf größer ist als sie. Es erleichtert sie. Es hätte bestimmt unglaublich dämlich ausgesehen, wenn sie neben Leon her gegangen wäre und ihn um ein paar Zentimeter überragt hätte.

Für ein paar Sekunden sieht er sie einfach nur an. „Äh, die hier sind für Sie.“ Er hält ihr das Längliche Paket hin. „Ich dachte, dass Blumen vielleicht etwas … naja, nicht gerade unpassend aber vielleicht etwas einfallslos wären, wo Sie doch tagein, tagaus mit Blumen arbeiten. Deswegen habe ich Ihnen das hier mitgebracht.“ Er deutet auf das Päckchen.

Als Lela es sich genauer besieht, muss sie anfangen zu lachen. „Mikado-Stäbchen!“, lacht sie, „die habe ich als Kind geliebt!“ Auch Leon muss nun lachen, anscheinend erleichtert, dass sein doch etwas extravaganteres Geschenk bei ihr gut ankommt. „Und Sie können mich ruhig duzen, Leon“, fügt sie dann hinzu. „Immerhin haben Sie vor, den Abend mit mir zu verbringen. Außerdem komme ich mir dabei immer so alt vor.“ Sie lacht wieder. Mit einem Mal fühlt sie sich unglaublich losgelöst.

„Aber nur, wenn Sie mich auch duzen.“ Er zwinkert ihr zu.

Sie grinst ihn an. „Gerne doch. Also, wohin entführst du mich?“

Er lacht kurz auf. Es klingt schrill und etwas zu heiter. Doch in diesem Moment fällt es Lela nicht einmal auf. „Erst mal nirgendwohin. Lass dich überraschen.“ Er bietet ihr den Arm an und sie hakt sich mit einem vorherigen Knicks unter. Sie müssen beide lachen, als er sie zu seinem Auto, einem Seat Ibiza, führt. Er entriegelt den Wagen und hält ihr dann die Tür auf.

Lela kommt aus dem Grinsen nicht mehr raus. „Unfassbar sage ich dir! Ich habe sowas zuvor noch nie gesehen! Er hat sich so viel Mühe gemacht, es ist … unfassbar, wirklich!“ Sie drückt das Kissen etwas fester an ihre Brust.

Auch Stella grinst. „Wow, ich stelle es mir absolut himmlisch vor!“

„Glaub mir, dass war es auch!“

Obwohl Stella sie weiterhin angrinst, sieht Lela dennoch den blassen Neid in ihren Augen. Sie freut sich über ihn. Denn sie hat wirklich allen Grund neidisch auf sie zu sein. Leon hat sich an dem Abend nämlich wirklich jedes kleinste Detail genau überlegt, um ihr einen schönen Abend zu bereiten. Lela ist davon ausgegangen, dass sie irgendwo zusammen etwas Essen gehen, so wie man es eigentlich immer beim ersten Date macht. Über das Alter, in dem man immer ins Kino gegangen ist, um dann heimlich in der letzten Reihe zu knutschen, sobald es dunkel wurde, ist sie schon etwas hinweg. Seitdem ist es immer das Essengehen gewesen.

Nein, Leon hat sich für sie etwas Besonderes ausgedacht – und zwar hat er ihr Karten für das Schwarzlichttheater in Hamburg geschenkt. Es war atemberaubend, wie man mit bloßen Lichtern dermaßen schöne Dinge zaubern konnte. Lela hat sich an den Bildern gar nicht satt sehen können. Danach hat er sie zu einem großen Haus direkt an der Elbe geführt, das seinem älteren Bruder gehört, der momentan jedoch auf Geschäftsreise ist, wenn sie es richtig verstanden hat. Dort war alles für ein romantisches Essen vorbereitet. Es hat sehr gut geschmeckt und Lela ist von der Mühe, die er sich nur für sie gemacht hat, sehr beeindruckt gewesen.

Zwar haben sie nicht miteinander geschlafen, beim ersten Date wäre ihr das etwas zu voreilig erschienen, doch sie hat auf jeden Fall einen Eindruck davon bekommen wie gut er küssen kann. Schon jetzt liebt sie es ihn zu küssen. Er hat so weiche und warme Lippen, mit denen er ganz zart und behutsam und im nächsten Moment wieder stürmisch und leidenschaftlich sein kann. Er kann einen so küssen, dass einem die Knie weich werden.

„Und wann seht ihr euch wieder?“ Stella sieht sie erwartungsvoll an.

Lela muss grinsen. „Hoffentlich bald.“

Sie lacht. „Ist da etwa wer verliebt?“

Nun muss Lela ebenfalls lachen. „Ach, komm schon Elli, mach dir nichts vor! Aber wenn er bei jedem Date so einfallsreich ist, und wenn er mit seinem restlichen Körper ebenso leidenschaftlich sein kann wie er küsst …“ Stellas Augen blitzen schelmisch. „… dann denke ich, dass ich mich durchaus in ihn verlieben könnte.“ Stellas Grinsen wird etwas breiter. Auch Lela grinst – sie fühlt sich wie ein Honigkuchenpferd. Sie ist sich zu einhundert Prozent sicher, sich in ihn verlieben zu können.

Sie hat ihren Verstand schon jetzt halb verloren.

Kapitel 8

Nie zuvor hat Lela einen Jungen kennengelernt, der sich um sie so sehr bemüht hat. Seit sie angefangen hat regelmäßig mit Leon auszugehen, glaubt sie erst zu wissen, was Romantik wirklich ist. Es scheint ihr so als sei Leon Casanova persönlich – er weiß, wie er sie für sich gewinnen und beeindrucken kann.

Jedes einzelne Date scheint von ihm genau durchgeplant zu sein. An dem einen Tag gehen sie zusammen zum Paintball und bereits am nächsten Wochenende lädt er sie in den Zoo ein, nur um dann abends wieder romantisch für sie zu kochen, ihr nachts die Sterne über der Elbe zu zeigen und sie dann das Wochenende darauf zum Wasserskifahren einzuladen. Er denkt sich jedes Mal etwas Neues aus und immer wenn Lela glaubt, dass es nicht mehr besser oder schöner oder lustiger geht, beweist er ihr das Gegenteil. Nein, sie kann sich wirklich nicht erinnern, jemals zuvor einen Mann gekannt zu haben, der vergleichbare Mühen auf sich genommen hat, nur um sie zum Staunen und Lachen zu bringen. Leon ist wirklich unvergleichbar.

Und es ist nicht nur das. Er ruft sie jeden Abend an, weil er sagt, dass er ihre Stimme so gerne hört. Er schreibt ihr SMS, er schickt Blumen zu ihrer Wohnung und manchmal kommt er sie auf der Arbeit besuchen. Er sagt ihr, wie schön sie ist und was für einen wundervollen Charakter sie hat. Wie sehr ihr Lächeln ihn jedes Mal aufs Neue verzaubert. Er gibt ihr einfach das Gefühl eine Prinzessin zu sein.

Und es scheint nicht einfach nur eine Phase zu sein, so wie Stella es genannt hat, als sie mit Lela über Leons Kreativität gesprochen hat. (Inzwischen ist Lela sich sicher, dass Stella einfach nur eifersüchtig ist. Sie kann es ihr nicht verübeln, immerhin hat sie selbst noch nie einen Mann gekannt, der eine ähnlich romantisch-kreative Ader an sich hat, doch sie findet auch, dass Stella es nicht übertreiben soll. Wenn sie an Lelas Stelle gewesen wäre, hätte sie sich bestimmt für sie gefreut, anstatt ihr alles zu vermiesen). Nein, Leon scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Mit dem, was er tut. Was er sagt. Einfach mit ihr.

Und immer wenn sie Leon dann wiedersieht, er sie anruft oder ihr eine kleine Nachricht schreibt, will sie ihr Glück kaum fassen, dass er mit ihr zusammen sein möchte und sich so sehr für sie interessiert und um sie sorgt. Sie ist einfach … ja, glücklich mit ihm.

An ihrem achten Date nimmt er sie das erste Mal mit zu sich nach Hause. Zuvor haben sie die Zeit, wenn sie nicht unterwegs gewesen sind, immer in dem Haus von seinem Bruder verbracht. (Leon hat ihr erklärt, dass sein Bruder als Dolmetscher fast nie zu Hause ist, er das Haus damals jedoch gekauft hat und es auch behalten möchte. Deswegen kümmert er sich immer um die Pflanzen und die Post, wenn sein Bruder wieder einmal unterwegs ist).

Seine Wohnung gefällt ihr. Obwohl sie natürlich im Vergleich zu dem Haus seines Bruders recht klein erscheint, hat sie ihr ganz eigenes besonderes Flair. Er scheint viel Wert auf Dekorationen zu legen, denn in jedem einzelnen Zimmer, sogar auf dem Flur, sieht Lela Bilder, Blumen, Kerzen und kleine Figuren aus Glas und Porzellan. Das Wohnzimmer ist das größte und gemütlichste Zimmer, mit einem kleinen Körbchen für seinen Hund Buster, dem folgt sein Schlafzimmer. Seine Küche bietet genug Platz, um herumwirbeln und etwas auf dem Herd zaubern zu können, und sein Badezimmer ist sauber und ordentlich. Am meisten jedoch fasziniert Lela die Dunkelkammer, die Leon besitzt.

„Eigentlich ist es ein Gästezimmer“, erklärt er ihr, während sie sich in dem rot erleuchteten Raum umsieht. „Aber ich habe einfach das Fenster abgeklebt und die Becken aufgestellt, in denen man die Fotos dann entwickelt.“

„Ich wusste gar nicht, dass du ein Fotograf bist“, erwidert sie beeindruckt.

Er lacht. „Eher Hobby-Fotograf, würde ich sagen. Um es wirklich beruflich zu machen, bin ich nicht gut genug.“ Er lacht erneut. „Außerdem macht mir meine Arbeit dafür einfach viel zu viel Spaß.“ Er arbeitet als Immobilienmakler. Vermutlich der entscheidende Grund, weswegen er sie zu solch extravaganten und garantiert teuren Ausflüge einlädt. Lela selbst hätte sich das nicht leisten können – zumindest nicht jedes Wochenende. „Aber so nebenbei …“ Er streicht über die dunkle Folie, die das Fenster verdunkelt. „… macht das echt Spaß.“

„Du musst mir irgendwann mal ein paar deiner Fotos zeigen.“ Lela lächelt ihn an.

Er erwidert es. „Ja. Irgendwann.“

Leon hält ihr die Tür auf und sie versteht den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. Sie treten wieder hinaus in den Flur und sie sieht zu, wie er die Tür hinter ihr zu macht und dann verschließt. Kurz wundert sie sich, warum er das tut, doch ehe sie ihn danach fragen kann, hat er sich mit einem Lächeln schon wieder an sie gewandt. „Wollen wir etwas essen? Wir könnten uns was vom Chinesen bestellen. Oder ich koche uns schnell eine Kleinigkeit, du musst mir nur sagen, auf was du Appetit hast.“ Er legt seine Hände auf ihre Hüften und sieht sie mit einem schiefen Lächeln an. Lelas Blick huscht zurück zu der abgeschlossenen Tür. „Ach, mach dir deswegen keine Gedanken“, lacht Leon und zwingt sie sanft, ihn wieder anzusehen. „Ich will nichts vor dir verstecken oder so, aber die Chemikalien sind nicht ganz ungefährlich. Und falls Buster irgendwie die Tür aufmacht oder so …“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin lieber etwas übervorsichtig, als dass am Ende tatsächlich irgendwas passiert, verstehst du?“ Er sieht sie fragend an.

Lela muss lächeln. „Natürlich.“

Für ein paar Sekunden sehen sie sich schweigend in die Augen. Dann beugt er sich zu ihr hinab und küsst sie. Dieses Mal ist es ein sanfter, beinahe zaghafter Kuss, doch er lässt ihre Beine nicht weniger zittrig werden. Ihr Herz schlägt mehrere Takte schneller, als er seine Lippen schließlich von ihren nimmt und sie anlächelt. „Also, etwas essen?“, fragt er und seine blauen Augen vertiefen sich in ihre. Lela fällt auf, dass seine Augen nicht einfach blau sind. Sie sind eher Türkis – sie kann sich nicht erinnern, jemals zuvor so klare und blaue Augen gesehen zu haben. Sie sind wunderschön.

„Ja“, haucht sie, von seiner ganzen Art tatsächlich etwas benommen, „und danach eine kleine Runde mit Buster?“ Ebenso wie Leon hat sie seinen zwei Jahre alten Hund Buster, einen hellen Pyrenäenschäferhund, sofort in ihr Herz geschlossen.

Leon muss lachen. „Wen magst du eigentlich lieber, den Hund oder mich?“

Auch Lela lacht. „Da bin ich mir noch nicht so ganz sicher.“

Er zieht sie fest in seine Arme und küsst sie wieder, dieses Mal mit einer drängenden Leidenschaft, die sie fast den Verstand verlieren lässt. Wie macht er das nur? Als er seine Lippen wieder von ihren löst, grinst er leicht selbstgefällig. „Das kann Buster nicht.“

„Vielleicht hast du gewonnen.“ Sein Grinsen wird etwas breiter. „Aber nur vielleicht“, setzt sie hinzu und er tut so, als fahre ein Stich durch sein Herz, indem er sich taumelnd an die Brust greift. Lela lacht und er fällt in ihr Lachen mit ein.

Dann zieht er sie wieder eng an sich. „Vielleicht ist es etwas verfrüht“, beginnt er und seine Augen scheinen Bände zu sprechen, „aber du bist einfach eine wundervolle und wunderschöne Frau und ich …“ Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen. „Ich glaube wirklich, dass du die Eine bist, Lela.“

Ihr Herz macht einen Satz, der sie auf Wolke Sieben zu katapultieren scheint. Statt ihm zu antworten, küsst sie ihn nur wieder. Sie weiß, dass ihre Lippen auf seinen mehr sagen als Worte jemals hätten ausdrücken können. Denn auch sie spürt, dass er, dass das, was da zwischen ihnen ist, etwas Besonderes ist. Etwas, was sie nicht verlieren möchte.

In dieser Nacht schlafen sie das erste Mal miteinander.

Kapitel 9

Er macht sie glücklich.

Eine schlichte Tatsache, die Lela selbst sehr schnell einsieht. Auch Stella beginnt, wenn vielleicht auch etwas widerwillig, dies einzusehen. Sogar Margret sieht es und jedes Mal, wenn sie Lela und Leon zusammen sieht und ihr dabei das glückliche Lächeln ihres einstigen Schützlings auffällt, spürt sie, wie auch sie lächeln muss. Es ist schön, diese junge Liebe zu sehen.

Inzwischen sehen Leon und Lela sich jeden Tag. Sie braucht diese Nähe zu ihm einfach, ebenso wie er sie zu ihr braucht. Natürlich können sie nicht jeden Tag Stunde um Stunde miteinander verbringen, müssen sie nun einmal beide arbeiten. Doch wenn sich Zeit bietet, dann nutzen sie diese auch aus – zusammen.

Lela kann sich nicht erinnern, jemals eine derartige Verbundenheit und Liebe für einen ihrer Ex-Partner empfunden zu haben. Doch ihr ist schnell klar geworden, dass diese Beziehung zu Leon, er selbst, besonders und einfach besser ist. Dieses Wissen lässt sie auch glauben, dass er der Partner für ihr restliches Leben sein wird. Vielleicht ist es auch etwas verfrüht mir dreiundzwanzig Jahren zu behaupten, den Menschen gefunden zu haben, mit dem man alt werden möchte, doch Lela ist sich dennoch sicher, ihn bereits gefunden zu haben. Denn Leon ist einfach perfekt. Sollen die anderen doch denken, was immer sie wollen. Denn solange sie glücklich ist, kann es ihr egal sein, was andere Leute über sie reden. Im Gegenteil, sie kann sogar stolz darauf sein – denn warum sollen andere sich über sie und ihr Glück das Maul zerreißen, wenn sie nicht so etwas wie Neid empfinden?

Lela zumindest weiß, auf was die anderen Frauen eifersüchtig sein können.

Auf einen liebevollen, humorvollen, kreativen Mann, der sie auf Händen trägt, alles für sie tut, sich keiner Mühen scheut, nur um sie lächeln zu sehen. Auf einen leidenschaftlichen, feurigen Liebhaber, der ebenso romantisch und sanft sein kann. Auf einen begnadeten Koch und Hobby-Fotografen, der es liebt, in der Natur zu sein und Zeit mit ihr zu verbringen, auch wenn sie nur schweigend nebeneinander sitzen. Auf ihren Traumprinzen. Sie hat so ein festgefahrenes, durch und durch positives Bild von ihm, dass sie sich niemals habe träumen lassen, dass es mit einem Mal kleine Flecken bekommen soll, dunkle Flecken, die das Gute an ihm verdunkeln und zum Bösen werden lassen. Denn er ist doch nun mal ihr Traumprinz.

Als sie eines Abends zusammen (natürlich zusammen) einkaufen fahren, um Zutaten für ein leckeres Abendessen zu holen, etwas Sekt und ein paar Leckerlis für Buster, scheint alles noch vollkommen in Ordnung zu sein. Natürlich ist es das. Lela ist mit Leon zusammen, Leon mit Lela, und sie sind beide glücklich über die Nähe zum jeweils anderen. So, wie es immer ist.