Liebe kommt auf leisen Sohlen - Andrew Grey - E-Book

Liebe kommt auf leisen Sohlen E-Book

Andrew Grey

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Beschreibung

Ein Titel der Sinne Serie Sich um einen geliebten Menschen zu kümmern, der Krebs hat, ist hart. Dabei auf sich allein gestellt zu sein, ist noch härter – besonders wenn der geliebte Mensch ein Kind ist. Seit Ken Brightons Lebensgefährte ihn verlassen hat, hat Ken den Großteil seiner Zeit im Krankenhaus bei seiner Tochter Hanna verbracht und auf ein Wunder gehofft. Die mysteriösen Geschenke, die für Hanna wie aus dem Nichts auftauchen, waren zwar nicht die ersehnte Heilung, dafür bringen sie allerdings einen Funken Hoffnung in Hannas und sein schwieriges Leben – genauso wie Kens Nachbar, der ehemalige Sänger Patrick Flaherty. In den letzten beiden Jahren konnte Patrick an nichts anderes denken als an das Leben, das er eigentlich führen sollte. Durch einen Unfall hat er seine Stimme verloren und seitdem fällt es ihm schwer, neue Menschen kennenzulernen. Doch in den letzten Monaten hat er viel Zeit damit verbracht, seinen Nachbarn dabei zu beobachten, wie er sich um sein krankes Kind kümmert. Als Patrick Ken kennenlernt, fängt er an, sich ein Leben mit ihm zu wünschen - ein Leben, von dem er sich nicht sicher ist, ob er es haben kann. Ken erkennt erst, dass er sich verliebt hat, als es beim Kampf der Ärzte um Hannas Leben zu Rückschlägen kommt. Ken ist fest entschlossen, neu anzufangen – zusammen mit Patrick und Hanna. Die zurückhaltende Stille seines Nachbarn lässt Ken allerdings wundern, ob Patrick das Gleiche will.

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Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Liebe kommt auf leisen Sohlen

By Andrew Grey

 

Ein Buch aus der Reihe „Sinne“

 

Sich um einen geliebten Menschen zu kümmern, der Krebs hat, ist hart. Dabei auf sich allein gestellt zu sein, ist noch härter – besonders wenn der geliebte Mensch ein Kind ist. Seit Ken Brightons Lebensgefährte ihn verlassen hat, hat Ken den Großteil seiner Zeit im Krankenhaus bei seiner Tochter Hanna verbracht und auf ein Wunder gehofft. Die mysteriösen Geschenke, die für Hanna wie aus dem Nichts auftauchen, waren zwar nicht die ersehnte Heilung, dafür bringen sie allerdings einen Funken Hoffnung in Hannas und sein schwieriges Leben – genauso wie Kens Nachbar, der ehemalige Sänger Patrick Flaherty.

In den letzten beiden Jahren konnte Patrick an nichts anderes denken als an das Leben, das er eigentlich führen sollte. Durch einen Unfall hat er seine Stimme verloren und seitdem fällt es ihm schwer, neue Menschen kennenzulernen. Doch in den letzten Monaten hat er viel Zeit damit verbracht, seinen Nachbarn dabei zu beobachten, wie er sich um sein krankes Kind kümmert. Als Patrick Ken kennenlernt, fängt er an, sich ein Leben mit ihm zu wünschen - ein Leben, von dem er sich nicht sicher ist, ob er es haben kann.

Ken erkennt erst, dass er sich verliebt hat, als es beim Kampf der Ärzte um Hannas Leben zu Rückschlägen kommt. Ken ist fest entschlossen, neu anzufangen – zusammen mit Patrick und Hanna. Die zurückhaltende Stille seines Nachbarn lässt Ken allerdings wundern, ob Patrick das Gleiche will.

Inhalt

Zusammenfassung

Einweihung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Nachwort

Auch bei Andrew Grey

Biografie

Bei Andrew Grey

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Copyright Seite

Für meinen Lebensgefährten Dominic, der mich, wenn auch selten lautlos, bedingungslos liebt und zu einer Zeit in mein Leben trat, als ich verzweifelt jemanden brauchte, den ich lieben konnte und der mich ebenfalls liebte.

Vorwort

 

 

Ken ging leise durch das kleine Haus. Er wühlte in Kisten herum und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er Geräusche aus Hannas Zimmer hörte. Er hätte schwören können, dass er die Kiste mit den Sachen fürs Badezimmer komplett ausgepackt hatte, aber er konnte das verdammte Thermometer einfach nicht finden. Als er Hannas Stirn berührt hatte, war sie ganz heiß gewesen. Er musste unbedingt wissen, ob sie Fieber hatte. „Papa“, rief seine Tochter kraftlos. Ken lief schnell die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Hanna hatte ihre Bettdecke zur Seite geworfen und lag zitternd in ihrem Bett. Ken deckte sie wieder zu, berührte ihre Stirn noch einmal, bevor er ihr ein Glas Wasser und einen feuchten Waschlappen holte, den er ihr in den Nacken legte, während er das Glas für sie hielt.

„So besser, Schätzchen?“ fragte Ken besorgt.

„Ja“, antwortete sie, machte es sich wieder bequem und schloss die Augen. Ken legte ihr den Waschlappen auf die Stirn und eilte wieder nach unten. Er hatte oben schon alle Kartons abgesucht, deswegen lief er in das kleine Esszimmer, das er zur Zeit als Lagerraum für die noch ungeöffneten Kisten nutzte, und suchte systematisch nach dem fehlenden Karton.

Er fand ihn schließlich unter den Kisten mit dem guten Porzellan, das irgendwann einmal in der Vitrine landen würde, die allerdings im Moment noch leer an einer Wand des Esszimmers stand. Ken hob den Karton hoch, trug ihn nach oben ins Badezimmer und stellte ihn auf der Toilette ab. Er wühlte darin herum, bis er den gesuchten Gegenstand fand, und scherte sich nicht, dass er dabei den gesamten Inhalt auf dem Boden verstreute. Das verdammte Ding funktionierte jedoch nicht. Anscheinend war das Akku leer. Er hätte am liebsten geschrien, stattdessen wühlte er so lange weiter herum, bis er das Ladegerät gefunden hatte. Er trug alles in Hannas Zimmer, steckte das Thermometer in die Steckdose und ließ es etwa eine Minute laden, bevor er die Spitze in Hannas Ohr hielt. Ken wartete geduldig auf das leise Piepen und zog es anschließend heraus – 39,5 Grad. Damit stand seine Entscheidung fest. Ken ging zu Hannas Schrank, holte ihren kleinen Bademantel heraus und legte ihn aufs Bett. Er suchte nach den Häschen-Pantoffeln, die seine Eltern ihr zusammen mit Emily, Hannas Puppe, zu Weihnachten geschenkt hatten. Die Puppe hatte sie, außer zur Schule, immer bei sich.

„Schätzchen, kannst du bitte deine Augen öffnen?”, fragte Ken und hob sie hoch. Er setzte sie auf die Bettkante, schob ihre Arme durch die Ärmel des Bademantels und zog ihr Pantoffel an. „Ich bin gleich wieder da”, sagte er, eilte in den Flur und kam mit einer Decke zurück. In diese wickelte Ken sie ein, nahm Hanna in den Arm und stand zusammen mit ihr auf. Er sorgte dafür, dass sie warm eingepackt war, bevor er das Zimmer verließ. Mit dem Ellbogen machte er das Licht aus und ging dann die Treppe hinunter.

In dem erst halb eingerichteten Wohnzimmer legte er Hanna auf das Sofa, bevor er nach seiner Brieftasche und den Schlüssel suchte. Nachdem er auch seine Handschuhe und seinen Mantel gefunden hatte, hob er Hanna wieder hoch. Ihr Kopf lag schwer auf seiner Schulter, als er die Haustür öffnete.

Sobald Ken in die Abendluft hinaustrat, traf die Kälte sie wie ein Schlag. Er schloss die Tür hinter sich und lief so schnell wie möglich die Auffahrt hinunter zu seinem Auto. Kens nächstes Problem war, dass er nicht an seine Schlüssel herankam und daher die Tür nicht öffnen konnte. Er konnte Hanna nirgendwo absetzen und merkte, dass ihr langsam kalt wurde. Er bewegte Hanna vorsichtig, bis er die Schlüssel aus der Tasche holen und die Autotüren entriegeln konnte. Als Ken gerade nach der Tür greifen wollte, sah er, wie jemand an den Türgriff fasste und langsam die hintere Tür öffnete. Ken schaute den Mann kurz an, bevor er Hanna in ihren Kindersitz setzte. Ken schnallte sie an und schloss die Tür. „Danke”, sagte er eilig und konnte sich endlich den Mann ansehen, der etwa in seinem Alter zu sein schien, auch wenn das unter der ganzen Winterkleidung schwer zu erkennen war.

Der Mann lächelte und nickte. Er trat einen Schritt vom Auto zurück, als Ken die Fahrertür öffnete und hineinstieg. Das Auto war eisig kalt. Er wünschte, er hätte daran gedacht, es erst warmlaufen zu lassen, bevor er Hanna rausbrachte. „In ein paar Minuten wird es warm werden”, teilte er ihr mit und drehte den Schlüssel im Zündschloss um. Ken schaltete die Scheibenwischer ein, um die Schneeschicht von der Scheibe wegzuwischen. Dann fuhr er langsam die Einfahrt hinunter auf die Straße. Zum Glück schneite es gerade nicht. Ken schaltete das Radio ein, um den Wetterbericht zu hören, während sie über die geräumte Fahrbahn in Richtung der Schnellstraße fuhren. Es gab nur wenige Schnellstraßen auf der oberen Halbinsel von Michigan, was einer der Gründe für ihn gewesen war, hierhinzuziehen. Er hätte besser ein Haus suchen sollen, das näher an einem Krankenhaus lag. Obwohl er natürlich nicht wissen konnte, dass Hanna keine zwei Wochen nach dem Umzug in ihr neues Haus krank werden würde. Sie erreichten die Schnellstraße und Ken spürte, wie langsam warme Luft aus der Heizung kam, deswegen drehte er die Lüftung voll auf. Nachdem er auf die frisch geräumte, fast schneefreie Straße abgebogen war, gab Ken Gas und fuhr Richtung Marquette.

Die Fahrt zerrte an seinen Nerven und kam ihm viel länger vor, als sie wirklich dauerte. Die Angst um Hanna, die krank in ihrem Kindersitz saß, ließ ihn die paar Kilometer zehnmal so lang vorkommen. Seit Hanna und er vor ein paar Wochen nach Pleasanton gezogen waren, war Ken schon ein paar Mal in Marquette gewesen. Zum Glück war er dabei bereits am Krankenhaus vorbeigekommen, sodass er jetzt genau wusste, wo es lag. „Wir sind bald da.”

„Papa, ich hab’ Durst”, sagte Hanna schwach.

„Ich weiß. Wenn wir im Krankenhaus sind, bekommst du, was immer du haben möchtest”, versprach Ken und konzentrierte sich darauf, in die Einfahrt der Notaufnahme einzubiegen und das Auto unter den kleinen Vorbau zu fahren. Ken hielt an, machte den Motor aus und stieg aus. Er öffnete Hannas Tür, hob sie heraus und trug sie durch die Notaufnahme hindurch direkt zu einem Schalter, hinter dem ihn eine Frau mittleren Alters besorgt ansah.

„Sie ist seit ein paar Tagen krank und hatte 39,5 Grad Fieber, als ich losgefahren bin”, fing Ken an, bevor die Frau Fragen stellen konnte. „Jemand muss sie sich sofort ansehen.” Ken fühlte sich schrecklich. Er konnte die Hitze spüren, die von Hanna ausging, und machte sich Sorgen, dass ihr Fieber noch weiter gestiegen war, seitdem er es zu Hause gemessen hatte.

„Bringen Sie sie hier herum zur Tür”, sagte sie und Ken trug Hanna zu dem hingewiesenen Bereich. Er hörte einen Buzzer, dann ging die Tür auf. Eine Krankenschwester wartete bereits auf sie. Diese führte ihn zum Behandlungsbereich, wo er Hanna auf ein Bett legte. Ken rechnete damit, dass sie ihn erst einmal warten lassen würden, doch die Krankenschwester begann sofort damit, Hannas Fieber und Puls zu messen sowie zu notieren, während sie ihm Fragen stellte.

Ken beantwortete jede Frage. Nein, sie hatte keine Allergien. Vor einer Woche war sie noch gesund gewesen, aber sie hatte eine Grippe bekommen, die immer schlimmer geworden war. Ken listete auf was er ihr gegeben und was er alles gemacht hatte, seit Hanna krank war. „Ich werde sofort einen Arzt vorbeischicken”, sagte sie und eilte hinaus.

„Schätzchen, ich muss den Wagen umparken, damit auch andere Leute Hilfe bekommen können. Ich lasse dich nicht lange allein, versprochen”, sagte er und hielt ihre kleine Hand. Hanna nickte. Ken eilte zum Ausgang, nachdem er an der Rezeption Bescheid gesagt hatte, wo er hinging und dass er gleich wieder zurück sein würde.

Ken lief zum Auto, parkte es schnell um und war schon nach zwei Minuten wieder zurück im Krankenhaus. Die Türen gingen auf, und Ken erreichte gleichzeitig mit einer Ärztin Hannas Bett. „Wir werden ihr eine Infusion legen, um ihr Flüssigkeit zuzuführen. Damit werden wir zusätzlich versuchen, das Fieber zu senken”, teilte sie Ken mit, nachdem sie sich Hanna genau angesehen hatte. „Wir werden außerdem ein paar Tests machen, um herauszufinden, was sie hat.” Die Ärztin strich Hanna die Haare aus den Augen. „Ich lasse ein Bett vorbereiten, damit wir sie so schnell wie möglich in ein Zimmer verlegen können.”

Ken nickte, griff nach Hannas blasser Hand und hielt sie fest. Dieses kleine Mädchen hatte er erst vor zwei Jahren adoptiert, da war Hanna vier Jahre alt gewesen, und wurde sehr schnell zum Mittelpunkt von Kens Leben. Sie hatten nach einem Ort außerhalb der Stadt gesucht, wo Hanna in einer ländlicheren, bodenständigeren Umgebung aufwachsen konnte, und dann hatte Ken Pleasanton entdeckt. Die Stadt schien ideal zu sein, sie lag an einer schmalen, geschützten Bucht des Lake Superior. Die Aussicht und die Landschaft waren spektakulär, und Ken freute sich schon darauf, alles um ihn herum malen zu können. Bestimmt würde er das auch, aber jetzt musste es Hanna erst einmal besser gehen. Im Moment war sie am wichtigsten.

Sein Handy klingelte. Als Ken es aus der Tasche zog, sah er, dass es Mark war. Er nahm den Anruf hastig an und stand auf. „Ich bin mit Hanna im Krankenhaus in Marquette”, fing Ken ohne Einleitung an.

„Was ist passiert?”, fragte Mark. Im Hintergrund konnte Ken Geräusche hören, die nach einer Gruppe von Menschen klangen.

„Ihr Fieber ist gestiegen. Es ging ihr einfach nicht besser, also bin ich mit ihr hierhin gefahren. Sie haben sie aufgenommen, um ein paar Tests zu machen.” Bei dem Gedanken wurde Ken so kalt, wie es nur draußen in der eisigen Luft möglich gewesen wäre. Sie war schon seit einer Weile krank und wurde einfach nicht gesund. Was wäre, wenn ihr etwas passieren würde und er sie schon früher ins Krankenhaus hätte bringen müssen?

Der Hintergrundlärm wurde leiser. „Sie wird wieder gesund. Du hast das Richtige getan, man wird ihr dort helfen”, erklärte Mark sachlich in seiner gewohnt ruhigen Art. „Ich war zum Abendessen bei ein paar Freunden und mache mich jetzt auf den Weg. Ich habe auch schon alles gepackt, also werde ich in ein paar Minuten losfahren. Heute Nacht nehme ich ein Hotelzimmer und bin spätestens morgen Abend da.”

„Danke. Wir sehen uns dann morgen”, sagte Ken. Jetzt, da er wusste, dass Mark unterwegs war, ging es ihm schon besser. „Ich muss los. Die Krankenschwester ist gerade zurückgekommen. Ruf mich doch später noch einmal an.” Mark stimmte zu und Ken legte auf, steckte das Handy wieder in seine Hosentasche. Er kehrte an Hannas Bett zurück, nahm ihre Hand in seine und sah zu, wie die Krankenschwester schmerzlindernde Salbe auf den Arm rieb. Als sie einen Zugang für die Infusion legte, atmete Hanna tief ein und fing an zu weinen. „Ich weiß, Schätzchen, aber es ist schon fast vorbei und danach wird es dir besser gehen.” Er hielt weiter ihre Hand, während die Krankenschwester ein Gestell an Hannas Bett schob und damit begann, die Infusion anzuschließen.

„Du warst sehr tapfer”, sagte die Krankenschwester mit ruhiger Stimme, bevor sie das Zimmer verließ. Kurze Zeit später kam sie mit etwas zurück, das wie ein Spritzbesteck aussah, und bereitete Hannas anderen Arm vor. Hanna drehte ihren Kopf zu ihm. Ken sah die Angst und Verwirrung in den Augen seiner Tochter. Es war ihm klar, dass er alles tun würde, um ihr das zu ersparen. Verdammt, er würde sich tagelang mit Nadeln traktieren lassen, wenn das bedeuten würde, dass Hanna es nicht ertragen müsste. „Ich bin vorsichtig, versprochen”, sagte die Krankenschwester. „Ich habe eine Tochter, die so alt ist wie du, und sie hat genauso eine Puppe wie du”, sagte sie, während sie weiter machte. „Wie heißt sie denn?”

„Emily”, antwortete Hanna. Ken ließ Hannas Hand los, sodass sie mit ihrer Puppe kuscheln konnte. Die Krankenschwester führte die Nadel ein und begann damit, Hanna Blut abzunehmen.

„Hast du sie zu Weihnachten bekommen?”, fragte die Krankenschwester, während sie die Ampullen wechselte.

„Papa hat sie mir geschenkt”, erklärte Hanna mit schwacher Stimme, als die Krankenschwester die Nadel herauszog und ein Pflaster mit Oskar aus der Mülltonne auf die Einstichstelle klebte.

„Klasse. Halt sie gut fest, denn ich weiß, dass das hier alles fremd für dich ist, aber solange Emily und dein Papa bei dir sind, musst du keine Angst haben.” Die Krankenschwester stand auf, und Ken lächelte sie an. „Fertig”, erklärte sie. Sie verließ das Zimmer und ließ Ken und Hanna allein.

„Schließ die Augen, Schätzchen, und versuche zu schlafen. Es wird bald jemand kommen und dich in dein Zimmer bringen. Dafür musst du auch überhaupt nicht aufstehen”, erklärte Ken. Hanna hielt ihre Puppe mit einem Arm noch fester umschlungen, der andere Arm war an den Tropf angeschlossen. Schließlich schloss Hanna die Augen und schlief ein. Kurz darauf kam auch schon jemand, um sie in ihr Zimmer zu bringen. Ken sammelte ihre Sachen ein und ging neben dem Bett her. Hanna hatte ihre Augen die ganze Zeit geschlossen.

Das Zimmer war nett, wenn auch spärlich eingerichtet. Zu Kens Überraschung gab es ein Sofa, das sich zu einem Bett ausziehen ließ, wie der Pfleger ihm erklärte. „Eltern verbringen oft die Nacht mit ihren Kindern. Ich bin gleich zurück, um Ihnen das Bett herzurichten.”

„Dankeschön, das ist wirklich nett”, sagte Ken, bevor er sich hinsetzte und seine schlafende Tochter beobachtete. Sein Herz zog sich bei dem Gedanken, welche Krankheiten sie alle haben könnte, zusammen. Er hasste, dass sie krank war und dass Mark nicht bei ihm war, wo er ihn doch brauchte. Ken stand auf und ging zur Tür. Er dimmte das Licht, dann trat er in den Flur hinaus, um den einen Menschen anzurufen, der ihn verstehen würde.

„Carrie?”, sagte Ken, als abgenommen wurde.

„Was ist los?”, fragte seine Freundin sofort. Sie war die Person, bei dem es ihm am schwersten gefallen war, sie zurückzulassen. „Irgendetwas stimmt nicht, das kann ich an deiner Stimme hören.”

„Hanna ist im Krankenhaus. Sie war krank und wurde einfach nicht gesund. Und als ich Fieber gemessen habe, war es viel zu hoch. Ich habe solche Angst. Sie liegt nur so da.”

„Schläft sie?”, fragte sie.

„Ja. Sie machen Tests und werden vor morgen keine Ergebnisse haben. Sie bereiten jetzt alles vor, damit ich bei ihr im Zimmer schlafen kann.” Ken schluckte schwer, aber der Knoten in seinem Hals blieb, wo er war.

„Ist schon gut. Sie hat bestimmt nur eine schlimme Grippe, die Tests werden das bestätigen”, beschwichtige Carrie. „Ruh’ dich ein bisschen aus und kümmere dich darum, dass sie sich wohl fühlt. Mehr kannst du nicht machen. Wenn du was hörst, ruf mich gleich an. Ich kann sofort kommen, wenn du mich brauchst”, sagte sie. Ken war ihr dankbar dafür, er wusste jedoch, dass es nicht leicht für sie war, von ihrer eigenen Familie wegzukommen. Auch wenn ihm das Gespräch mit ihr half und sie genau das gesagt hatte, was er hören wollte, machte es ihm doch nur deutlich, wie alleine er sich fühlte.

„Ich rufe an, sobald ich was weiß”, versprach Ken und legte auf, als der Pfleger zurückkam. Dieser richtete ihm zuerst das Bett her und brachte ihm anschließend ein paar Decken und ein Kissen. „Versuchen Sie, sich etwas auszuruhen”, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln, dann verließ er das Zimmer. Ken wusste, dass es eine lange Nacht werden würde, egal, ob mit Bett oder ohne.

 

 

KEN WACHTE plötzlich auf und wusste nicht, wo er war. Hanna lag ruhig im Bett. Ihm fiel wieder ein, wo sie waren und was der Grund war. Er stand auf, ging zum Bett seiner Tochter und legte seine Hand auf ihre Stirn. Zumindest schien das Fieber heruntergegangen zu sein, und Hanna schien bequem zu liegen. Ken öffnete die Zimmertür, trat leise hinaus und ging den dämmerigen Gang hinunter zum Schwesternzimmer, wo die Nachtschicht arbeitete und flüsternd miteinander redete. Eine der Krankenschwestern sah ihn und lächelte.

„Wir haben Kaffee, wenn Sie welchen möchten”, teilte sie ihm flüsternd mit.

„Dankeschön”, sagte Ken. „Hannas Fieber scheint heruntergegangen zu sein.”

„Das ist gut. Ich komme gleich, um nach ihr zu sehen”, erklärte die Schwester. Dann stand sie auf, verschwand in einem kleinen Raum hinter dem Schreibtisch und kam mit einem Pappbecher zurück. „Bitte schön.”

Ken lächelte dankbar, nickte und nippte von seinem Becher. Der Kaffee lief seine Kehle hinunter und wärmte ihn, weckte aber auch wieder das bekannte Gefühl von Angst in ihm, weil Hanna im Krankenhaus war. Die Schwester wendete sich wieder ihrer Arbeit zu und Ken ging zurück in Hannas Zimmer. Um ein bisschen Luft hineinzulassen, ließ er die Tür leicht offen stehen und setzte sich auf seinen Bettersatz. Während er seinen Kaffee trank, beobachte er, wie Hanna schlief. Die Krankenschwester kam herein, sah nach ihr und bestätigte, dass Hannas Fieber tatsächlich heruntergegangen war, bevor sie wieder ging.

Trotz des Kaffees musste Ken eingeschlafen sein, denn er wachte auf, als die Zimmertür aufging. „Ich bin Dr. Helen Pierson, ihre Tochter wurde mir als Patientin zugewiesen”, sagte sie erstaunlich fröhlich, bevor sie Hanna vorsichtig anfasste. „Süße, ich bin dein Arzt und muss mir deine Lunge und dein Herz anhören.” Hanna öffnete die Augen, und Dr. Pierson half ihr, sich aufzusetzen. Sie hörte sowohl ihre Brust als auch ihren Rücken ab und legte sie dann wieder hin. „Dankeschön”, sagte sie zu Hanna, die ihre Augen wieder schloss. „Die Testergebnisse sind noch nicht da, aber ich erwarte sie in den nächsten zwei Stunden.”

„Sie haben eine Vermutung”, stellte Ken fest. Er konnte ein Flackern in den Augen der Ärztin sehen.

„Wir müssen abwarten, bis wir die Testergebnisse haben, dann werde ich über alles mit Ihnen reden. Ich möchte im Moment keine Vermutungen anstellen. Sie hat fest geschlafen, das ist gut. Ihr Fieber ist auf jeden Fall heruntergegangen, das ist auch ein gutes Zeichen. Wir müssen nur noch ein bisschen warten”, erklärte sie. „Sobald ich die Ergebnisse habe, komme ich zu Ihnen.” Sie lächelte Ken aufmunternd zu und verließ das Zimmer.

In seiner Tasche klingelte sein Handy. Ken holte es heraus und ging in den Flur, um Hanna nicht zu stören. „Ich bin gerade losgefahren und werde in weniger als einer Stunde auf der Mackinac-Brücke sein”, teilte Mark ihm mit.

„Ich bin im Krankenhaus in Marquette. Kannst du am Haus vorbeifahren und mir frische Kleidung und mein Rasierzeug mitbringen?”, fragte Ken. Er warf einen Blick ins Zimmer, weil er glaubte, Hanna gehört zu haben, aber sie schlief noch.

Mark antwortete nicht sofort, erst nach einer Weile sagte er: „Ist gut. Wir sehen uns in ein paar Stunden.” Mark legte auf und Ken steckte das Handy wieder in seine Tasche. Er hatte im Moment weder Zeit noch die Energie für Marks Empfindlichkeiten. Er wusste, dass Mark es hasste, für andere Besorgungen zu machen, doch im Moment war ihm das herzlich egal. Ebenso wusste er aber auch, dass Mark ein guter Mensch war und dass er nach dem Telefonat schnell realisieren würde, dass Ken seine Hilfe brauchte. Dann würde sein Verhalten ihm leidtun.

Ken ging wieder ins Zimmer und wurde von Hannas blauen Augen begrüßt. Sie sah immer noch müde aus, aber sie war wach. „Hast du Hunger?” fragte er. Sie nickte leicht. „Ich rufe an und lasse dir was zu essen bringen”, teilte Ken ihr mit und hob den Telefonhörer ab. Er sprach mit dem Menschen am anderen Ende der Leitung, der ihm versprach, ein Tablett hochzuschicken. „Du darfst gerne fernsehen, wenn du möchtest”, sagte Ken zu Hanna, machte den Fernseher an und suchte nach dem Disney Channel. Normalerweise erlaubte er Hanna nicht oft fernzusehen. Als sie noch in Grand Rapids lebten, hatten sie die meiste Zeit draußen verbracht und gemeinsam etwas unternommen. Hanna hatte Bilder gezeichnet und ausgemalt, während Ken selbst auch gemalt hatte. Hanna war nicht seine leibliche Tochter, aber ihre Begabungen und Interessen hätten nicht ähnlicher sein können. Hanna hatte alle Voraussetzungen, eine begnadete Künstlerin zu werden, das konnte Ken jetzt schon sehen. Ihre Zeichnungen waren wunderschön, doch vor allem fielen ihr Dinge auf, die andere Menschen gar nicht sahen.

„Darf ich malen?” fragte Hanna und sah vom Fernseher weg.

„Mark kommt gleich. Wenn er hier ist, kann er eine Weile bei dir bleiben, während ich dir deine Malsachen hole”, sagte Ken. Er hatte ihr alles gekauft, von dem er dachte, dass es ihrem Alter angemessen wäre. Ken setzte sich in den Stuhl neben ihrem Bett. Sie sahen gemeinsam fern, bis Hannas Frühstück kam. Sie aß ein bisschen und schob dann das Tablett weg.

„Hast du keinen Hunger?”, fragte Ken.

„Das ist eklig”, antwortete Hanna mit ihrem „ich habe lieber Hunger, als dass ich das esse”-Gesichtsausdruck, welchen Ken gut kannte. Genau in diesem Moment kam die Krankenschwester herein.

„Ich habe Fruchtsalat. Möchtest du welchen?”, fragte sie. Hanna nickte. Die Krankenschwester verschwand und kehrte mit zwei kleinen abgepackten Bechern Fruchtsalat zurück. Sie gab einen an Hanna weiter und den anderen an Ken, der ihn für später zur Seite stellte.

„Wie sagt man?”, ermahnte Ken.

„Dankeschön”, sagte Hanna und zog den Deckel ab. Die Krankenschwester überprüfte Hannas Temperatur und Puls, verabschiedete sich und verließ das Zimmer.

Hanna war gerade mit den Mandarinenscheiben fertig, als die Ärztin zurückkam. Ken versuchte vergeblich, in ihrem Gesicht zu lesen. „Es sieht so aus, als wärst du ein sehr krankes kleines Mädchen, aber wir werden dafür sorgen, dass es dir besser geht”, sagte die Ärztin lächelnd zu Hanna. „Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Minuten alleine mit deinem Papa spreche? Ich verspreche dir, dass ich ihn nicht zu lange aufhalte.”

„Ist gut”, sagte Hanna arglos und sah zu Ken, der versuchte, so offen wie möglich zu lächeln, auch wenn sein Herz viel zu schnell in seiner Brust schlug und sich sein Magen zusammenzog. Ken verließ das Zimmer und folgte der Ärztin den Flur hinunter und um eine Ecke herum in ein kleines Büro. Die Ärztin bot Ken einen Stuhl an und setzte sich dann neben ihn.

„Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung. Hanna ist krank, weil sie eine Grippe hat”, fing die Ärztin an. „Aber es geht ihr einfach nicht besser, weil sie Leukämie hat. Die Leukämie hat ihr Immunsystem geschwächt. Wir wissen jedoch noch nicht, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Dazu müssen wir weitere Tests machen.”

Diese Nachricht traf Ken wie ein Schlag in den Magen. Er konnte kaum atmen. Er schloss die Augen und versuchte, alle Gedanken auszublenden, die ihm in den Sinn kamen. Niemals, auch nicht in tausend Jahren, hatte er sich vorgestellt, dass Hanna Krebs haben könnte. Ken versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die ihn überwältigen wollten, vor allem, als ihm Bilder von Hannas Beerdigung durch den Kopf gingen.

„Herr Brighton”, sagte die Ärztin leise. Ken atmete tief ein und versuchte, sich und seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.”

Ken griff nach einem Taschentuch und wischte sich seine laufende Nase ab. „Wie geht es jetzt weiter?”

„Wir machen ein paar Tests und werden dann einen Behandlungsplan erstellen”, erklärte die Ärztin.

„Sollten wir sie nach Ann Arbor verlegen?” fragte Ken. Er war bereit, alles zu tun, damit Hanna die bestmögliche Behandlung bekam.

„Das können Sie gerne tun”, sagte die Ärztin. „Ich möchte mich ja nicht selber loben, aber Sie sollten die Fakten kennen. Meine Familie und ich sind von Ann Arbor hierhergezogen, weil meine Söhne auf die Technische Universität von Michigan gehen wollten. Mein Mann und ich sind mitgekommen, da wir beide aus der Gegend stammen und dachten, hier etwas Gutes bewirken zu können. Ich habe mich auf Onkologie spezialisiert und mein Mann auf Herzerkrankungen.” Die Ärztin machte eine Pause. Ken blinzelte ein paar Mal und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Er wischte sich die Augen mit einem Taschentuch ab. „Ich würde Hanna gerne behandeln. Ich war lange Jahre Mitglied der onkologischen Abteilung in Ann Arbor und leite die Onkologie hier. Dieses kleine Krankenhaus ist eins der besten in diesem Teil des Landes. Ich will Ihnen aber nicht Ihre Entscheidung vorwegnehmen und unterstütze Sie gerne, wenn Sie sie verlegen möchten.”

„Dankeschön”, sagte Ken ein bisschen erleichtert.

„Wenn Sie allerdings hier bleiben, hätte sie es nicht so weit nach Hause, was bei der Behandlung einen kleinen, aber wichtigen Unterschied machen könnte.” Die Ärztin war für einen Moment ruhig. „Haben Sie im Moment noch Fragen an mich?” Ken schüttelte den Kopf. Es war ihm klar, dass die Fragen später kommen würden, aber im Moment konnte er nicht besonders gut denken. „Ich werde die nächsten Tests veranlassen. Lassen Sie mich wissen, wie Sie sich entscheiden”, sagte sie. Ken nickte. Die Ärztin stand auf und verließ leise das Zimmer.

Ken blieb sitzen und fragte sich, was er tun sollte. Hanna hatte Krebs. Sein kleiner, süßer Schatz könnte sterben. Das hatte die Ärztin zwar nicht gesagt, aber er wusste es. Ken konnte fast spüren, wie er innerlich auseinanderfiel. Mehr als alles andere wünschte er sich, dass Mark jetzt da wäre, nur um von ihm zu hören, dass alles gut werden würde. Das brauchte er jetzt, selbst wenn sie beide wussten, dass es möglicherweise nicht stimmte.

Ken stand auf und versuchte, seine zitternden Knie unter Kontrolle zu bringen. Irgendwie musste er zu Hannas Zimmer zurückgehen und so tun, als wäre alles in Ordnung, zumindest bis er mehr Informationen von der Ärztin hatte. Dann konnte er ihr erklären, was passieren würde. Im Moment war es allerdings besser, wenn sie nicht Bescheid wusste.

Sein Handy klingelte in seiner Tasche. Er holte es heraus und sah, dass der Anruf von seinen Eltern war. „Hallo Mutter”, sagte Ken, wohl wissend, dass sie diejenige war, die immer anrief.

„Wie geht es meiner geliebten Enkelin?”, fragte sie umgehend. Ken fiel in seinen Stuhl zurück.

„Hanna hat Krebs, Mutter”, sagte er. Er konnte hören, wie seiner Mutter der Atem stockte und sie leise anfing zu weinen. Ken lehnte seinen Kopf auf den Schreibtisch der Ärztin ab. Er war einfach nicht mehr in der Lage, stark zu sein, und brach ebenfalls in Tränen aus. Er weinte gemeinsam mit seiner Mutter am Telefon.

Kapitel 1

 

 

DIE SONNE spiegelte sich auf sämtlichen Flächen, als Ken neben Hannas Rollstuhl herging, der von einem Pfleger aus dem Krankenhaus geschoben wurde. Monatelange Behandlungen, die Hanna manchmal so sehr geschwächt hatten, dass sie ihren Kopf nicht selber heben konnte, lagen nun hinter ihnen. Seiner Tochter ging es stetig besser und sie wurde täglich etwas kräftiger. Die Luft war noch kühl, also war Hanna in Decken gepackt. Ken hoffte einfach, dass es ein gutes Zeichen war, dass heute die Sonne schien, die sich während des Winters so selten am Lake Superior gezeigt hatte. Am Auto angekommen, stand Hanna auf, während Ken schnell um den Wagen herumging und ihr die Tür aufmachte. Als sie gerade einsteigen wollte, öffneten sich die Türen des Krankenhauses. Dr. Pierson kam in ihrem weißen Arztkittel heraus und umarmte seine Tochter. In den letzten Monaten hatte Hanna die Herzen vieler Mitarbeiter erobert, von den Ärzte bis zu den Schwestern. Letztere brachten ihr sogar häufig besondere Leckereien vorbei, damit Hanna nicht immer nur Krankenhauskost essen musste. „Mach schön, was dein Papa dir sagt, und dann sehe ich dich in ein paar Wochen wieder”, sagte Dr. Pierson. „Und ich hätte gerne noch eins von deinen tollen Bildern für mein Büro.”

Hanna lächelte. „Versprochen”, sagte sie glücklich und kletterte auf den Rücksitz des Autos.

„Passen Sie gut auf sich auf”, sagte Dr. Pierson und drehte sich zu Ken um. „Sie sind ihr keine Hilfe, wenn Sie selber zusammenklappen. Rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben oder sich Sorgen machen. Und wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin ganz gut darin, mit Versicherungen zu kämpfen.” Dr. Pierson grinste und zog Ken zu seinem Erstaunen ebenfalls in ihre Arme. „Sie sind ein wunderbarer Vater und Hannas beste Chance auf eine völlige Genesung.” Sie ließ ihn los, trat zurück und winkte gemeinsam mit den anderen, als Ken sich ins Auto setzte.

„Hast du den Sicherheitsgurt angelegt?”, fragte Ken. Hanna schnallte sich an, dann sah sie aus dem Fenster und winkte allen zurück, während Ken den Gang einlegte und langsam losfuhr. So hilfsbereit und verständnisvoll sie auch alle gewesen waren, war er doch froh, dass das Krankenhaus im Rückspiegel immer kleiner wurde.

„Papa, werden meine Haare jetzt wieder wachsen?”

„Ja”, versicherte Ken ihr erleichtert. „Du hast noch ein paar Behandlungen vor dir, aber wenn du damit fertig bist und die Medikamente aus deinem Körper raus sind, werden deine Haare wieder anfangen zu wachsen.” Als sie mit der Therapie begonnen hatten, waren Hannas Haare sehr schnell ausgefallen. Das war für Ken schwerer gewesen als für seine Tochter. Dr. Pierson hatte es Hanna erklärt und ihr sogar eine selbstgemachte, rosafarbene Mütze geschenkt, die aus unglaublich weicher Wolle gestrickt wurde. Hanna hatte sich mit einer Umarmung bedankt und Ken musste wegen so viel Anteilnahme beinahe weinen. Die Ärztin hatte ihm erklärt, dass sie schon immer gerne strickte und sich darüber freute, wenn sie kleinen Mädchen etwas anfertigen konnte. Das war mit ihren beiden Söhnen nie möglich gewesen. Hanna hatte die Mütze seither fast täglich getragen und sie nur abgesetzt, wenn Ken darauf bestanden hatte, sie zu waschen.

„Kann ich im Sommer schwimmen gehen?”, fragte Hanna, als sie an einer Lichtung vorbeikamen, durch die sie den noch zugefrorenen Lake Superior sehen konnten.

„Das hoffe ich. Der See wird wohl zu kalt sein, aber es gibt hier ein Schwimmbad, da können wir hin.” Ken wusste, dass es von Hannas Immunsystem abhängen würde, das in den letzten Monaten arg zu kämpfen gehabt hatte. Aber er hoffte, dass sie bis dahin kräftiger sein würde. „Warum fragst du nicht Dr. Pierson, wenn du sie das nächste Mal siehst”, schlug Ken vor und sah, wie Hanna nickte und aus dem Fenster sah.

„Wird es denn bald wieder warm sein?”, fragte Hanna, während sie an kahlen Bäumen vorbeifuhren.

„Ja. In ein paar Monaten werden die Bäume wieder Blätter haben. Wenn es wieder warm ist, können wir eine unserer Kunstwanderungen machen”, erzählte Ken ihr. Hanna lächelte. Bevor sie umgezogen waren, hatten Hanna und er die Sommerabende im Park verbracht. Ken packte einen Skizzenblock ein und Hanna nahm ihre Malsachen mit, um den ganzen Tag die Welt um sie herum zu zeichnen.

„Wird Dr. Pierson dann mitkommen?”, fragte Hanna.

„Wenn sie möchte. Du kannst sie ja mal einladen.” Ken wusste jedoch, dass Dr. Pierson sehr viel zu tun hatte.

„Wirst du sie heiraten?”, fragte Hanna plötzlich. Ken trat vor Schreck fast auf die Bremse. „Ich habe gesehen, wie du sie umarmt hast, und sie hat dich auch umarmt. Heißt das, ihr werdet heiraten?”

„Nein. Dr. Pierson ist schon verheiratet und hat erwachsene Kinder.” An der Frage war so viel verkehrt, dass Ken gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. „Wie bist du denn auf die Idee gekommen?”, fragte Ken, während er kurz in den Rückspiegel sah.

„Callie hat mir erzählt, dass sie einmal in das Zimmer von ihrer Mama und ihrem Papa gekommen ist und die haben sich umarmt, oder zumindest hat ihr Papa ihre Mama ganz fest gedrückt. Sie haben ihr gesagt, dass Mamas und Papas sich drücken, wenn sie sich lieb haben”, sagte Hanna so glücklich, als wenn sie das Universum und seine Mysterien verstehen würde. Callie wusste und sah auf jeden Fall viel zu viel für ihr Alter.

„Dr. Pierson ist meine Freundin, so wie sie auch deine Freundin ist”, erklärte Ken. „Außerdem weißt du doch, dass ich Mark liebe.”

„Weil du schwul bist?”, fragte Hanna.

„Ja. Wir haben doch darüber gesprochen”, erinnerte Ken sie. „Ich verliebe mich nicht in Mädchen, sondern in Jungen.”

„Du liebst mich”, widersprach sie.

„Ja. Ganz doll”, versicherte ihr Ken.

„Aber ich bin ein Mädchen”, entgegnete Hanna ernst.

„Ja, du bist ein Mädchen und ich liebe dich. Aber ich werde dich nicht heiraten.” Es war Ken schwergefallen, seiner Tochter zu erklären, was es bedeutete, schwul zu sein. Anscheinend war er nicht erfolgreich gewesen. „Stell dir das mal so vor. Die meisten Männer wollen Frauen heiraten und Kinder haben. Ich habe dich stattdessen adoptiert und möchte Mark heiraten.” Ken hoffte, dass ihr die Erklärung reichte. Zumindest schien es so, denn Hanna war eine Weile ruhig. Ken wusste, dass das bedeuten konnte, dass sie entweder zufrieden war oder dass sie sich über etwas anderes den Kopf zerbrach.

„Was ist der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen?”, fragte Hanna. Ken merkte, dass er das Gaspedal ein kleines bisschen mehr durchtrat. Dieses Gespräch konnte für ihn nicht schnell genug vorbei sein.

„Was glaubst du, was der Unterschied ist?”, fragte Ken und fühlte sich sehr schlau, weil er ihr die Frage zurückgespielt hatte.

„Jungen haben Penisse und Mädchen haben Vaginas”, sagte Hanna. Ken atmete erleichtert aus. „Mädchen bekommen auch Busen, aber manche Männer auch. Papa, wirst du einen Busen bekommen?”

Ken lachte. „Nicht, wenn ich es vermeiden kann.”

„Werde ich einen Busen bekommen?”, fragte Hanna.

„Ja”, antwortete Ken und lachte noch mehr. Wenn Hanna noch eine weitere Frage über Busen, Penisse oder Vaginas stellen würde, würde er schreiend aus dem Auto springen. „Was hältst du davon, wenn wir wetten, wer am längsten den Mund halten kann? Ich wette um ein Eis, dass ich das länger kann als du.”

Hanna öffnete den Mund, um mit ihm zu diskutieren, aber dann schlug sie die Hände vor ihren Mund. Ken sah, wie sie grinste. Der Rest der Fahrt verlief ruhig. Zehn Minuten später parkte Ken vor ihrem Haus. „Du hast gewonnen. Nach dem Abendessen darfst du ein Eis haben”, verkündete Ken. Hanna lachte. Er schaltete den Motor ab und stieg aus. Ken öffnete Hannas Tür. Sie schnallte sich ab und kletterte aus dem Auto.

Ken machte den Kofferraum auf, nahm ihre Taschen heraus und ging hinter ihr her. Hanna war seit Monaten nicht mehr zu Hause gewesen. Ken nahm an, dass sie sich gar nicht mehr richtig an alles erinnern konnte.

Hanna war auf dem Weg zum Haus, als eine kalte Windböe, die direkt vom See zu kommen schien, über sie hinweg blies. Hanna zitterte vor Kälte und lief zur Haustür. Sie hatte gerade die Stufen erreicht, als ein weiterer Windstoß ihr die Mütze vom Kopf riss. Diese wurde vom Wind für einige Sekunden hoch in die Luft getragen, bis sie anschließend über den Rasen geweht wurde. „Papa”, rief Hanna. Ken eilte zu ihr. Er setzte die Taschen ab und lief hinter der Mütze her, aber er erreichte sie nicht rechtzeitig, da der Wind sie wieder hochschleuderte und über die Straße wehte, wo Hannas rosafarbene Lieblingsmütze schließlich in einer Pfütze landete. Hanna fing an zu weinen. Ken ging zu ihr und nahm sie in seine Arme.

„Ich hole sie. Wenn sie einmal gewaschen ist, wird sie wieder wie neu sein, versprochen”, sagte Ken und trug Hanna vom Wind weg ins Haus. Er setzte sie aufs Sofa und konnte hören, wie Mark durch das Haus wanderte. Hanna war immer noch traurig, als Mark ins Zimmer kam. „Bleibst du bitte einen Moment bei ihr?”, fragte Ken und eilte wieder nach draußen.

Als er die Treppen hinunter ging, sah Ken, wie sein Nachbar auf ihn zukam. Er hielt die durchtränkte Mütze mit einem fast schon kummervollen Gesichtsausdruck. Er sagte nichts, als er ihm die einst rosafarbene Mütze überreichte. Jetzt war sie braun und mit Zweigen durchstochert. Anscheinend hatte er sie ausgewrungen, sagte allerdings kein Wort dazu.

„Danke sehr”, sagte Ken. „Meine Tochter ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden und das ist ihre Lieblingsmütze.” Ken wartete darauf, dass der Mann etwas sagte, doch er blieb stumm. Stattdessen war sein Mitgefühl für Hanna deutlich in seinen Augen zu sehen. „Sie trägt immer eine Mütze, weil ihr die Haare ausgefallen sind.” Ken wusste nicht, warum er dem Mann das erzählte, aber er sah aus, als würde er jedes Wort aufsaugen.

„Papa”, rief Hanna von der Tür aus.

„Ich muss los”, erklärte Ken. „Nochmals vielen Dank” Der Mann lächelte und winkte, bevor er sich umdrehte und den Weg wieder zurückging. Ken sah ihm ein paar Sekunden lang hinterher und beobachtete, wie er sich bewegte. Dann wurde ihm bewusst, was er machte. Ken ging schnell zurück ins Haus und hoffte, dass Mark nicht gesehen hatte, wie er jemand anderen hinterhergesehen hatte.

„Ist die Mütze in Ordnung?”, fragte Hanna, als Ken näher kam.

„Das wird sie, Schätzchen. Geh rein. Ich bringe alles nach drinnen und werde sie dann sofort waschen”, erklärte Ken. Er blieb stehen, um die Taschen hochzuheben. Hanna verschwand im Haus. Ken musste einfach wieder nachsehen, wo sein Nachbar hingegangen war. Dieser stand einige Häuser weiter und beobachtete ihn. Er winkte. Ken winkte kurz zurück, dann ging er ins Haus.

„Wir müssen reden”, sagte Mark sofort zu ihm, als er die Tür schloss.

„In Ordnung”, sagte Ken. „Ich muss mich allerdings erst mal um Hanna kümmern und danach muss ich die Wäsche waschen.” Er hielt die nasse Mütze hoch. „Wir können reden, wenn sie eingeschlafen ist.” Ken ging los und machte sich an die Arbeit. Das Wichtigste war jetzt, dass seine Tochter sich wohl fühlte.