Liebe, Stolz und andere Vorurteile - Becky Dean - E-Book

Liebe, Stolz und andere Vorurteile E-Book

Becky Dean

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Beschreibung

Die literarische Schnitzeljagd für alle Bookies! Britt Hanson hat es schon immer vorgezogen, auf dem Fußballplatz Tore zu schießen, statt verstaubte alte Bücher zu analysieren. Als ihr Sport-Stipendium wegen einer Knieverletzung platzt, bricht ihre ganze Welt zusammen. Doch da erhält sie die Chance, an einer literarischen Schnitzeljagd durch Großbritannien teilzunehmen – und obwohl Bücher so gar nicht Britts Ding sind, will sie unbedingt gewinnen. In England angekommen, trifft sie auf den klugen und sehr, sehr britischen Buchnerd Luke Jackson. Eine süße Opposites-attract-Romance voll von trockenem Humor und literarischen Anspielungen.

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Seitenzahl: 507

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Becky Dean

Liebe, Stolz und andere Vorurteile

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Just

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Love & Other Great Expectations bei Random House Children’s Books

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Love & Other Great Expectations © 2022 by Becky Dean

Übersetzung: Susanne Just

Coverdesign: © 2022 by Libby VanderPloeg

Covergestaltung: Niklas Schütte unter der Verwendung

des Coverdesigns von Libby VanderPloeg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-089-7

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

Für Mom und Dad, die mir beigebracht haben, Geschichten und Abenteuer zu lieben,

und für Russ, mit dem ich am liebsten welche erlebe.

 

 

Kapitel 1

Träume sind wie Knie – man weiß gar nicht, wie zerbrechlich sie sind, bis sie auf einmal zertrümmert werden.

Ich ließ mich auf meinen Platz in der ersten Reihe der Zuschauertribüne mit Blick über das Spielfeld der Fairview Highschool sinken. Mit der einen Hand rieb ich über die riesige Schiene, in der mein Bein steckte und die sich ganz eng anfühlte, nachdem ich einmal quer über das Schulgelände gelaufen war. Mit der anderen umklammerte ich den seltsamen Umschlag, den ich in meinem Schließfach gefunden, aber noch nicht geöffnet hatte, weil ich unbedingt pünktlich hier ankommen wollte.

Ankommen, damit ich gleich wieder gehen konnte, noch bevor das Spiel überhaupt anfing.

Mädchen in königsblauen Trikots und blau-weiß-gestreiften Socken saßen auf dem Rasen und dehnten sich. Ich hatte es noch rechtzeitig geschafft. Aufwärmübungen konnte ich gerade noch so verkraften. Die Spiele hingegen quälten mich noch mehr als die Physiotherapie. Eine Taktik, mit der man auch Terrorverdächtige geknackt hätte.

Wenn ich es die letzten zwei Wochen schon geschafft hatte, die Physiotherapiestunden auf dieselbe Zeit wie die drei Entscheidungsspiele zu legen, dann … na ja, war das reiner Zufall gewesen.

Mehrere Mannschaftskolleginnen winkten mir vom Feld aus zu. Eine rief: »Wir vermissen dich, Britt! Können’s kaum erwarten, bis du endlich wiederkommst!«

Beim Zurückwinken legte mein Herz einen Stolperschritt hin. Da würden sie noch lange, lange warten müssen. Aber sie wussten ja auch bloß von dem Knie und nichts von dem ganzen Rest.

Als schließlich der Fußball auftauchte, durchzuckte ein scharfer Schmerz meine Mitte.

Mit aller Kraft lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf den cremefarbenen Umschlag. Auf die Vorderseite hatte jemand handschriftlich meinen Namen geschrieben: Brittany J. Hanson. Ein rundes Siegel mit Relief auf der Lasche zeigte das Monogramm PCM, wobei das C in der Mitte am größten war. Auf der Karte darin stand:

 

Ihre geschätzte Anwesenheit wird verlangt.

Heute, am 20. Mai, nachmittags um 15:15 Uhr,

im Kursraum A-6.

Eine einmalige Gelegenheit erwartet Sie.

 

Sie ähnelte den Ankündigungen, die wir zu den Collegeabschlüssen meiner Geschwister bekommen hatten, doch im Gegensatz zu denen stand auf dieser Karte nichts davon, wer sie geschickt hatte oder was der Zweck des Treffens war.

15:15 Uhr war … ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr bei der Spielstandanzeige … vor vier Minuten.

Wäre das den Marsch wert? Schnell laufen konnte ich nicht, ich würde also definitiv zu spät kommen. Doch meine Neugier siegte.

Ich rief »Tschüss« und eilte so schnell es die Schiene an meinem Knie zuließ über das Schulgelände.

Einmalige Gelegenheit. Diese Formulierung brachte meinen Puls zum Rasen. So eine könnte ich gut gebrauchen. Sie müsste nicht mal einmalig sein – ich würde mich mit jeder x-beliebigen Gelegenheit zufriedengeben. Dieses Jahr hatte sie nämlich schon einmal angeklopft, aber nachdem ich sie hereingebeten hatte, war sie ohne ein anständiges Auf Wiedersehen gleich wieder hinausgestürzt.

Klar, einmalige Gelegenheiten waren selten. Ich sollte mir lieber nicht allzu große Hoffnungen machen. Aber das war immer noch besser als das Elend eines neunzigminütigen Fußballspiels, in dem ich nicht mitspielen konnte und deshalb Schmerzen litt – so, als würde man mir einen Fingernagel oder Zahn ziehen.

Außerdem … Jemand, der in verschnörkelter Handschrift schrieb, servierte vielleicht auch kleine Snacks wie Mini-Sandwiches oder irgendetwas, das in Speck eingewickelt war. Und Speck verschmähte ich nie.

A-6 war mein Englischkursraum – aber warum sollte mich unsere Lehrerin, Ms Carmichael, zu etwas einladen? Ihre Kommentare zu meinen Essays enthielten oft Wörter wie inspirationslos, nicht gut durchdacht und enttäuschend. War sie die mysteriöse PCM, die Zugang zu meinem Schließfach hatte?

Als ich den Raum betrat, saß Amberlyn Hartsfield in der ersten Reihe. Spence Lopez, ein Junge aus dem Footballteam, hatte es sich ein paar Plätze weiter weg von ihr bequem gemacht, und ein anderer Junge saß zusammengesunken mit einem Buch in der letzten Reihe, sein Gesicht hinter langen Haaren verborgen. Sonst war niemand da. Und Snacks mit Speck gab es auch keine.

Schicke Einladungen für vier Leute? Seltsam.

Amberlyn schnaubte, womit sie mir zeigte, dass ihr meine Unpünktlichkeit nicht entgangen war. »Manche Dinge ändern sich einfach nie.«

Obwohl sie gemurmelt hatte, konnte ich ihre Worte deutlich hören, was sie sicherlich beabsichtigt hatte.

»Wie deine chronische Verklemmtheit?« Ich ließ mich auf den Platz neben Spence fallen und unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung, nicht mehr stehen zu müssen. »Was auch immer das hier ist … Es hat noch nicht angefangen. Also, wo ist dann das Problem?«

Sie schob einen bunten Notizblock mit der Einladung darauf exakt in die Mitte ihrer Bank. In ihren manikürten Händen sahen die Schreibwaren ganz natürlich aus. Wahrscheinlich bekam sie immer solche Post – Partyeinladungen, Kreditkartenangebote und politische Flyer auf schwerem Briefpapier in Umschlägen mit Prägung.

Ihr Blick zuckte zu meinem Bein und ich sah, wie die Herablassung aus ihrem Gesicht verschwand. Eine Sekunde lang hatte sie wieder Ähnlichkeit mit dem Mädchen, mit dem ich früher immer meine Geheimnisse und roten Skittles geteilt hatte.

Freundlichkeit aus Mitleid, basierend auf einer gescheiterten Freundschaft. Ganz toll.

Ich schluckte ein Knurren hinunter. »Gar kein Frühlingstraining heute?«, fragte ich Spence. »Musst du denn nicht den untersten Jahrgang quälen?«

Er schüttelte den Kopf, wobei die längeren Haare über seinem Undercut ebenfalls wippten. »Irgendwelche Mädchen haben unser Spielfeld für einen seltsamen Sport namens Fußball übernommen.«

Ich knuffte ihn in die Schulter.

Er grinste. »Die andern Jungs schauen beim Spiel zu. Sie haben darüber geredet, wie sehr dich dein Team vermisst. Wirst du denn in der Summer League spielen können?«

Jedes Mal, wenn mir so eine Frage gestellt wurde, fühlte es sich an, als hätte ich aus nächster Nähe einen Ball in den Magen bekommen, der mir die Luft aus den Lungen presste. »Weiß nicht genau. Vielleicht bin ich auch auf meiner Yacht und segle die Riviera entlang.«

Er schnaubte. In unserer Stadt südlich von Santa Barbara in Kalifornien gab es zwei Arten von Leuten – solche, die Yachten besaßen, und solche, die sie putzten. Spence und ich besaßen keine Yacht.

Eigentlich kannte ich die Antwort auf diese Frage. Die Diagnose des Arztes hallte mir immer noch im Kopf wider. Satzfetzen sprangen darin herum wie außer Kontrolle geratene Fußbälle: Blutgerinnungsstörung, Blutverdünner, keine Kontaktsportarten, deine Ernährung umstellen, nimm dich in Acht vor spitzen Gegenständen. Sei vorsichtig, sei vorsichtig, sei vorsichtig.

Aber solange ich die Einzige war, die davon wusste – solange ich diese Dinge nie laut aussprach –, bildete ich mir ein, alles in Schach halten zu können. Es ungeschehen machen zu können.

»Irgendeine Ahnung, worum es hier geht?« Er hob das Kinn und deutete damit nach vorne in den Kursraum.

»Nö. Ich hatte auf Snacks gehofft.« Ich sah mich um, doch es war immer noch kein Speck auf magische Weise aufgetaucht.

Der Typ ganz hinten streckte sich auf seinem Platz, dabei fiel mir auf, dass er ein Captain-America-Shirt trug und ein abgegriffenes Taschenbuch mit einem Raumschiff auf dem Cover las. Jetzt erkannte ich ihn auch: Peter Finch, ein mürrischer Typ, mit dem ich schon seit Jahren in mehreren Kursen war. Er schaute auf und erwischte mich dabei, wie ich ihn musterte. Sein ausdrucksloser Blick veränderte sich zwar nicht, doch er kräuselte die Lippen.

Ich hatte immer gedacht, dieser Gesichtsausdruck wäre bloß Superschurken vorbehalten, aber anscheinend war dem nicht so. Dreckig grinste er abwechselnd Amberlyn und mich an. Was war sein Problem? Captain America hätte eigentlich netter sein sollen.

Mit einem Seufzer drehte ich mich wieder nach vorne. Egal, um was es sich bei dieser Gelegenheit handelte … Es war hoffentlich etwas Gutes.

»Meinst du, das ist ein psychologisches Experiment?« Mit dem anderen Knie, das nicht in einer Schiene steckte, klopfte ich von unten gegen die Bank. »Um herauszufinden, wie lange wir hier rumsitzen?«

»Nein, Ms Hanson«, antwortete eine echt britische Stimme von der Tür aus. »Das ist es nicht.«

Beim Klang des vertrauten Akzents setzte ich mich sofort aufrecht hin.

Unsere Englischlehrerin, Ms Carmichael, schwebte durch den Raum und nahm an ihrem Pult Platz.

Wie immer führte sie in ihrem Kursraum den Vorsitz. Man konnte es einfach nicht anders sagen. In ihrem ersten Jahr als Lehrerin herrschte sie bereits über die Schule. Ihre ordentlich frisierten, kurzen Haare waren platinblond – vermutlich hieß diese Haarfarbe Champagnerbläschen oder Altes Geld. Eine Brille baumelte von einer Perlenkette um ihren Hals, stets begleitet von Perlohrringen und einem makellosen Make-up, das sie jünger aussehen ließ.

»Danke für Ihr Kommen.« Sie betrachtete jeden von uns. »Wie Ihre Einladungen schon ankündigen, habe ich eine einmalige Gelegenheit für Sie.«

Ihr Gesicht verriet nicht das Geringste. Ihre vornehme Stimme erfüllte den Raum, und sie sprach jedes Wort mit einem knackigen, britischen Akzent aus.

»Ich habe beschlossen, etwas ziemlich Aufregendes auszuprobieren. Ich habe Sie hierherbestellt, weil ich allen von Ihnen die Chance biete, um ein Preisgeld von einhunderttausend Dollar zu konkurrieren.«

Ein wildes Lachen entkam meiner Kehle.

Spence gab einen erstickten Laut von sich.

Amberlyn keuchte auf und setzte sich kerzengerade hin.

Unsere Fragen purzelten alle wild durcheinander: »Ist das Ihr Ernst?«, »Wie kann das denn sein?«, »Sie machen doch Witze, oder?«

Sie wartete, bis wir wieder verstummt waren. »Ja, das ist mein Ernst. Und nein, das ist kein Witz.«

Hundert Riesen waren … sehr viel Geld. So viel, dass ich es gar nicht begreifen konnte. Und wohl kaum eine Information, die man so beiläufig einfach ausplapperte. In meinem Gehirn tauchten Bilder von aufeinandergestapelten Geldscheinbündeln auf, von Onkel Dagobert, der in einem Schwimmbecken voller Goldmünzen schwamm.

Dann wurden sie von einem anderen Bild ersetzt: dem Brief vom University College Los Angeles, in dem stand, dass ich ihnen bis zum 1. September zehntausend Dollar für die Immatrikulation, das Studentenwohnheim und hundert andere Gebühren schuldete, von denen sie, wie ich vermutete, eine Vielzahl erfunden hatten, wenn ich immer noch vorhatte, mich im Herbst einzuschreiben.

Und das war bloß für dieses Jahr, um gar nicht erst von den drei darauffolgenden zu sprechen, in denen ich nicht die geringste Hilfe bekommen würde. Selbst wenn sie mich das Geld für dieses Jahr behalten ließen, würde es keinen Nachschub mehr geben. Die Leute bezahlen einen nicht für Arbeit, die man nicht machen kann.

Da mein ursprünglicher Lebensplan zwangsläufig in den vorgezogenen Ruhestand versetzt worden war, brauchte ich nun einen neuen. Wie meine Mom und meine Geschwister gerne anmerkten, brauchte es für die meisten Lebenspläne allerdings eine Ausbildung an einem College. Eine, für die ich nicht mehr länger bezahlen konnte.

Bis jetzt.

Dieses Preisgeld würde all diese erfundenen Gebühren und noch mehr abdecken.

Neben mir lehnte sich Spence nach vorne, wobei er sich seitlich an seiner Bank festkrallte.

Amberlyn ließ die Kappe ihres Stifts immer wieder schnell auf- und zuschnappen.

Träumten die anderen auch gerade von all den Dingen, die sie mit dem Geld anstellen könnten? College, ein neues Auto, die Welt bereisen? Es schien zu schön, um wahr zu sein.

»Woher kommt denn das Geld?«, fragte ich. »Wird das von der Schule gesponsert?«

»Die Schule hat diese Reise abgesegnet«, erklärte Ms C. »Doch sie ist eher ein persönliches Unterfangen. Ich wurde mit entsprechenden Mitteln gesegnet und möchte anderen gerne damit helfen.«

»Ich wusste gar nicht, dass man als Lehrerin so gut verdient«, murmelte ich Spence zu.

»Wer hat denn gesagt, dass das Geld von meinem Beruf als Lehrerin stammt?« Ms Carmichael sah mich an.

»Ist doch egal, wo es herkommt«, meinte Spence. »Was müssen wir tun, um es zu gewinnen?«

Gute Frage.

»Gibt es ein Bewerbungsverfahren?«, erkundigte sich Amberlyn. »Müssen wir etwas schreiben?«

»So was wie eine Buchvorstellung oder ein Essay?«, fügte ich hinzu.

Oder etwas Ähnliches, das mich wahrscheinlich sofort eliminieren würde? Ich hatte meine Gelegenheit zum Geldverdienen gehabt, doch die hatte sicher nichts mit akademischen Leistungen zu tun. Meine Chancen, irgendetwas von einer Englischlehrerin zu gewinnen, deren Diskussionen im Unterricht ich mied und deren Bücher ich ermüdend fand … Da konnte ich auch genauso gut gleich aufstehen und gehen.

Ms Carmichael faltete die Hände und legte sie auf dem Pult ab. »Ah ja. Nun kommen wir zu dem spaßigen Teil.«

Mein hoffnungsvolles Herz schlug höher und dröhnte mir in den Ohren. Währenddessen wiederholte mein Gehirn immer wieder, dass das doch gar nicht wahr sein konnte. Der Rest meines Körpers ignorierte allerdings alle Logik. Freu dich nicht zu sehr. Du kannst sowieso nicht gewinnen.

»Der Wettbewerb ist eine Schnitzeljagd«, sagte sie.

Das klang vielversprechend. Actionorientiert, körperlich, konkret. Vielleicht hatte ich ja doch eine Chance.

»Inspiriert von klassischer britischer Literatur.«

Nicht so vielversprechend. Ich hielt den Atem an.

»Die in England stattfinden wird.« Sie grinste spitzbübisch, als wüsste sie genau, dass sie sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben hatte.

Cool. Endlich konnte ich weiteratmen. Das Lachen blubberte erneut aus mir hervor.

Amberlyn kreischte. Spence begegnete meinem Blick, mit weit aufgerissenen und leuchtenden Augen. Sogar Peter hinter mir grunzte.

Aber …

»Das ist nicht gerade billig«, merkte ich an. »Angenommen, wir sind auf das Preisgeld angewiesen … Wie sollen wir uns denn einen Trip über den großen Teich leisten können?« Bei den letzten Wörtern versuchte ich, ihren Akzent nachzuahmen.

»Dafür wird gesorgt sein.«

»Sie zahlen also dafür, dass wir nach England fliegen können, und schenken einem von uns einhunderttausend Dollar?« Mit den Fingern trommelte ich auf meine Bank. »Wo ist der Haken an der Sache? Müssen wir das Geld fürs College oder für Bücher ausgeben oder so was?«

Obwohl wir nur zu viert waren, hob Amberlyn die Hand. »Ist das wie damals, als der Französisch-Club eine Reise nach Paris oder der Schülerrat eine nach Washington DC gemacht hat?«

»Da haben sie aber kein Preisgeld gewonnen«, erwiderte ich.

»Nicht, dass du wüsstest«, gab Amberlyn zurück.

»Es gibt keinen Haken.« Ms Cs Gesicht blieb ruhig. »Sie können das Geld verwenden, wofür Sie möchten. Sehen Sie es als eine Investition in Ihre Zukunft an.«

Ich klopfte leicht auf den Tisch. »Und wie soll das genau funktionieren?«

»Ich werde mich um die ganzen Vorbereitungen kümmern, mit Ihren Eltern sprechen und für eine adäquate Aufsicht sorgen, solange Sie in Europa sind. Sie müssen einzig und allein entscheiden, ob Sie gewillt sind, Herausforderungen anzunehmen und dabei vermutlich etwas über sich selbst zu lernen. Reisen haben für gewöhnlich diesen Effekt.«

Etwas über mich selbst zu lernen klang zwar nicht so lustig, aber zu einer Herausforderung sagte ich nie Nein. Meinen Sommer bei einer Schnitzeljagd in England zu verbringen war ein besserer Plan, als meinem Team von der Seitenlinie aus dabei zuzusehen, wie es ohne mich spielte. Oder als Hühnchen verkleidet an der Hauptstraße herumzustehen und ein Schild für das Restaurant Lord of the Wings hochzuhalten, so wie meine Geschwister.

»Warum wir?«, fragte Spence.

Peter hatte immer noch nichts gesagt, doch seine Haltung war jetzt aufrechter, und er hatte den Worten von Ms C mit weit aufgerissenen Augen gelauscht.

»Ich habe alle von Ihnen aus einem bestimmten Grund ausgewählt, der zu gegebener Zeit klar werden wird.« Ein Funkeln in ihren Augen und der Anflug eines Schmunzelns verrieten, dass Ms C gerade einen Riesenspaß hatte.

Was könnte bloß ihr Grund für mich sein? Englisch war bei Weitem nicht mein bestes Fach.

Doch diesen Wettbewerb konnte ich gewinnen, und zwar mit weniger Grübeln und mehr Action. In mir baute sich die vertraute Energie wie vor einem Spiel auf – ein Gefühl, das ich die letzten Wochen über vermisst hatte –, bei der sich meine Muskeln anspannten und meine Sinne schärften.

Tief durch die Nase einatmen, bis zehn zählen, langsam ausatmen. Ich sollte mir lieber nicht vorstellen, wie der Sieg mein Leben verändern könnte. Es ging selten gut aus, wenn man etwas wollte – vor allem etwas, worüber man keine Kontrolle hatte. Sogar Dinge, von denen ich dachte, sie unter Kontrolle zu haben, gingen in letzter Zeit schlecht aus.

Gleichgültigkeit war ein bewährtes Mittel zum Schutz.

»Wann geht unser Flug?« Amberlyn nahm erneut die Kappe von ihrem Stift ab und verharrte mit der gesenkten Spitze über ihrem Notizblock. »Wie lange wird der Aufenthalt dauern? Was können wir tun, um uns darauf vorzubereiten?«

»Falls Sie sich bereit erklären, werden Sie und Ihre Eltern eine Geheimhaltungserklärung unterschreiben, und ich werde Ihnen Ihr Flugticket stellen. Sie werden Ende Juni abreisen und zehn Tage lang weg sein. Obwohl sie in London starten werden, wo ich mich anfangs auch mit Ihnen treffen werde, wird Sie die Reise durch das ganze Vereinigte Königreich führen. Weitere Einzelheiten – inklusive Details zu ihren Aufgaben – werden Sie bei Ihrer Ankunft dort erwarten.«

Amberlyns Griff um ihren Stift wurde noch fester, und ich konnte sie praktisch mit den Zähnen knirschen hören. Ich für meinen Teil fand, dass es mir entgegenkam, mich nicht darauf vorbereiten zu können.

Außerdem: London. Ich war noch nie weiter aus Südkalifornien herausgekommen, als bis zum Grand Canyon. Wenn ich schon nicht gewann, würde ich wenigstens eine Gratis-Reise nach England mitnehmen. Bilder von Männern in roten Uniformen – mit hohen, schwarzen Mützen – marschierten durch meinen Kopf. Ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen.

»Warum die Geheimniskrämerei?«, fragte ich.

»Sobald es einmal um Ihr eigenes Geld geht, können Sie damit ja so geheimniskrämerisch umgehen, wie Sie möchten.« Diesmal lächelte sie breit, womit sie mir zeigte, dass ihr meine Nachfragen nichts ausmachten.

Gedanklich arbeitete ich einen Fragenkatalog ab: Würde Mom mich mitmachen lassen? Wäre es nicht vielleicht besser, sich einen Job zu suchen, bei dem ich garantiert Geld verdiente? Hätte ich gegen Amberlyn, Peter und Spence überhaupt eine Chance?

Mit Grübeln erreichte man jedoch nie etwas. Taten waren besser. Trotz meiner Bemühungen, mich nicht zu sehr zu freuen, loderte ein starkes Verlangen in mir auf. Ich musste den Glauben daran wiedererlangen, dass auch mir immer noch Gutes passieren konnte.

Ich nickte einmal. »Wo muss ich unterschreiben?«

Kapitel 2

Einen Monat später überquerte ich den winzigen Spalt zwischen Flugzeug und Landesteg – der erste Schritt in ein neues Land. Mein Herz machte einen Hüpfer, und meine Füße wollten es ihm gleichtun. Begeisterung und Vorfreude unterdrückten die Tatsache, dass ich mich eigentlich fühlte, als wäre ich von einem Bus überfahren worden.

Amberlyn – mit ihren Schlaftabletten, ihrem Donut-förmigen Kissen und ihrem Schminkköfferchen in Reisegröße – sah aus, als wäre sie fit für ein Fotoshooting. Sie warf mir einen tadelnden Blick zu, als ich mich mit einem Winken von meinem Sitznachbarn, einem Geschäftsmann, verabschiedete. »Ich wette, er hatte noch nie so einen schlimmen Flug. Du bist so unhöflich.«

Der Arzt hatte mich angewiesen, jede Stunde einmal aufzustehen, damit mein verkorkstes Blut in Bewegung blieb, und außerdem ein paar Knieübungen zu machen, weshalb ich kaum geschlafen und den Kerl neben mir so oft zum Aufstehen gezwungen hatte, dass er mir schließlich den Sitz am Gang anbot.

»Wenn dir mal das Knie aufgeschnitten wird und sie dir Metallschrauben in die Knochen drehen«, sagte ich zu Amberlyn, »dann kannst du einen Kommentar abgeben.«

Sie drehte sich weg.

Egal. Ich war in England! Hier sprach man mit anderem Akzent. Die Lautsprecherdurchsagen klangen vornehm. Und mal vom Abflug in LA abgesehen: Um hierherzukommen, war dies mein erstes Mal in einem Flughafen, weshalb sogar die Schilder, die uns die Richtung zum Zoll wiesen, meine Schritte federn ließen.

Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich Mom überredet hatte, mich mitkommen zu lassen. Da sie mit dieser überbehütenden Eltern-Sache irgendwie spät dran war – und mit spät dran meinte ich den Zeitpunkt vor zwei Monaten, als sie beschloss, dass die stümperhafte Grätsche einer Gegnerin irgendwie ihre Schuld war –, schien Mom entschlossen, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Doch traurige Gesichter, viel Hausarbeit und ein Anruf von Ms Carmichael hatten sie dann doch nachgeben lassen. Mir ihren Wunsch zunutze zu machen, dass ich »etwas aus mir machen sollte«, so wie meine Geschwister, hatte auch nicht geschadet. Wobei ich bezweifelte, dass mich eine Woche in England in die Poly Grad School in Kalifornien wie Drew reinbringen würde – oder in die Jurafakultät von Stanford wie Maya.

Nachdem wir den Bereich zur Einreisekontrolle hinter uns gelassen hatten, marschierten wir zur Gepäckausgabe. Das Fließband war schrecklich bunt. Zwischen all den Koffern lag der Inhalt einer Tasche verstreut – T-Shirts, Unterwäsche, Hygieneartikel. Mehrere Leute schmunzelten oder glucksten, während sie ihre Koffer von der Wäscheflut befreiten.

Da wich mir das Blut aus dem Gesicht.

Nein.

Diese bunte Unterhose da war meine.

Ich machte mir nicht viel aus Mode, aber wenn ich in einem von diesen Bankraub-Filmen wäre und die Gangster alle zwingen würden, sich auszuziehen – um sicherzugehen, dass niemand eine Waffe oder ein Handy dabei hat –, wäre ich vielleicht auf der sicheren Seite. Denn wenn sie dann auf meine kreative Unterwäsche stoßen würden, brächte sie das bestimmt zum Lachen.

Da kam gerade meine Snoopy-Unterhose. Und die mit Comic-Fröschen im Bikinistil. Punkte in Regenbogenfarben, Harry Potter und Superman.

Puh. Und war das da meine Zahnbürste auf dem Metallförderband? So viel zum Thema, den Mundgeruch nach dem Flug loszuwerden.

Da erblickte ich meine königsblaue Sporttasche mit dem Namen unserer Schule in weiß darauf. Komplett offen und größtenteils leer. Außerdem – was mich zusätzlich davon abhielt so zu tun, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, wem dieses Zeug gehörte, bis alle weg waren – stand in gestickten Buchstaben Hanson auf der Seite.

»Hey, Britt, ist das nicht deine?« Spence versuchte nicht mal, sich das Lachen zu verkneifen. Oder leise zu reden.

Amberlyn hob ihren riesigen, perfekt mit Reißverschlüssen gesicherten, pink-karierten Koffer vom Förderband, wobei sie einen meiner Sport-BHs zur Seite schob.

Meine Anziehsachen legten einen Vergnügungsritt auf dem Gepäck anderer Leute hin. Ich hatte keine andere Wahl, als alles einzeln einzusammeln. Mit hoch erhobenem Kopf – und gegen die Röte in meinem Gesicht ankämpfend – bahnte ich mir mithilfe meiner Ellbogen einen Weg nach vorne, verpasste Spence im Vorbeigehen einen Schulterstoß, schnappte mir die leere Sporttasche und fing an, Kleidungsstücke hineinzustopfen. Die Tasche roch nach frisch gemähtem Gras und verschwitzten Schienbeinschonern, aber ich hatte keine andere.

Spence lachte einfach weiter und machte keine Anstalten mir zu helfen – nicht, dass es mir gefallen hätte, wenn ein Typ meine Unterwäsche anfasste.

Schweigend ging Amberlyn neben mir in die Hocke. Sie reichte mir T-Shirts und einen Hoodie, wobei ihre Aufmerksamkeit eher auf dem Gepäck ruhte als auf mir. Ich angelte mir mein Deo, meine Laufshorts, meine Jeans und meine Socken und stopfte alles hastig in die Tasche.

Amberlyn räusperte sich. Von einem ihrer Finger baumelte meine Ninja-Turtle-Unterhose. »Echt jetzt, Britt?«

Ihr Ton war eher belustigt als höhnisch, was mich kurzzeitig in eine Zeitschleife katapultierte – nämlich in die vor sechs Jahren, als wir noch Freundinnen waren. Sie ließ sie in meine Tasche fallen und stand auf, wobei die Zeitschleife so schnell wieder in sich zusammenfiel, dass ich ihre bloße Existenz anzweifelte und bloß Schutt und Asche davon übrig blieben.

Ich glaubte zwar, alles gefunden zu haben, doch ich wartete noch eine weitere Runde des Förderbandes ab, um ganz sicher zu sein. Als ich den Reißverschluss der Tasche zumachte und gerade weggehen wollte, spürte ich Blicke auf mir.

Ich schaute mich um, doch die meisten Leute sahen woanders hin, noch bevor sich unsere Blicke treffen konnten.

»Ich vermisse noch die TARDIS-Unterhose«, verkündete ich laut. »Ich weiß, dass die irgendjemand haben muss. Wenn Sie jetzt vortreten, werde ich von einer Anzeige absehen.«

Leises Gekicher ertönte.

Ich habe nämlich schon vor langer Zeit gelernt, dass die Leute einen nicht auslachen können, wenn man einen Witz macht und als erstes lacht.

»Los, Britt.« Wenn Amberlyns Stimme Augen gehabt hätte, hätte sie sie verdreht.

Ich warf mir die Sporttasche über die Schulter und ging erhobenen Hauptes auf die anderen zu. Dieser Zwischenfall würde meine Stimmung jedenfalls nicht trüben.

Peter und Spence trugen schicke Rucksäcke im Backpacker-Stil. Amberlyn zog ein Set aus zusammenpassenden pinken Koffern hinter sich her.

Als wäre der Flug nicht schon schlimm genug gewesen: Amberlyn hatte stundenlang über den Englisch-Notizen aus dem letzten Jahr gebrütet, die jedes Buch und Gedicht abdeckten, das wir je gelesen hatten. Peter kritzelte in ein Heft, womit er andeutete, dass er rein aus Vergnügen schrieb, was Ms Carmichael wahrscheinlich liebend gerne sah. Und Spence zog einen England-Reiseführer heraus, was mich dazu gezwungen hatte, ihn abzulenken, indem ich über die Sitze hinweg mitlas und ihn auf witzige Ortsnamen wie Catbrian, Felldownhead und Great Snoring aufmerksam machte.

Da Ms C nur vage Andeutungen zu den Einzelheiten des Wettbewerbs gemacht hatte, hatte ich mir gedacht, dass man zur Vorbereitung nicht viel tun konnte, außer, mir einen Pass zuzulegen. England hatte zu viel Literatur zu bieten, um jedes einzelne Buch zu lesen, selbst wenn ich gewollt hätte. Was ich nicht tat.

Die Konkurrenz hatte also schon vor der Landung einen Vorsprung. Jetzt, bevor wir den Flughafen überhaupt verlassen hatten, kam ich rüber wie eine Anfängerin, die nicht mal einen Reißverschluss richtig zumachen konnte.

Achtung an alle Flugreisenden: Britt Hanson wächst das alles über den Kopf.

Egal. Gepäck war egal. Dass Leute meine Unterwäsche gesehen hatten auch. Alles, was zählte, war gewinnen.

Konzentrier dich darauf.

Im Vorbeigehen feixte Peter: »Coole Strümpfe.« Er nickte zu meinem Bein hinunter. »Soll wohl ein Modestatement sein?«

Beim Hinknien waren zwei Druckknöpfe meiner Trainingshose aufgegangen, weswegen jetzt die Kompressionsstrümpfe darunter hervorlugten, die ich zu verstecken versucht hatte. Die engen, weißen Strümpfe gingen mir genau bis unters Knie und verbargen die unteren paar Zentimeter meiner Narbe.

Mein Herz setzte aus. Schnell drückte ich die Knöpfe wieder zu. »Die helfen dem Blut beim Zirkulieren. Ich hab schließlich Schrauben in meinem Knie.«

Schnellen Schrittes lief ich auf den Zoll zu, bevor sonst noch jemand die Strümpfe erwähnen konnte. Dass die anderen mir Fragen stellten, fehlte gerade noch.

Draußen empfing uns ein Mann in einem dunklen Anzug, der ein Schild mit CARMICHAEL hochhielt. Eine Stadtlimousine wie die, in der der Präsident fuhr, wartete am Bordsteinrand. War die etwa für uns? Niemals. Wobei … Wenn Ms C das Geld hatte, uns hundert Riesen zu schenken, war eine Limo wahrscheinlich bloß Kleingeld für sie.

»Könnten wir vielleicht kurz bei einem Drogeriemarkt anhalten?«, bat ich. »Ich brauche eine neue Zahnbürste.«

Peter schnaubte, und Spence bekam einen Lachanfall.

»Natürlich, Miss«, erwiderte der Chauffeur, während er unsere Taschen in den Kofferraum lud und die Hintertür aufmachte.

Die Ledersitze im Inneren waren einander zugewandt, und eine Glasscheibe trennte uns vom Fahrer. Spence streckte sich aus, während sich Amberlyn vernünftig hinsetzte und wütend seine Turnschuhe auf dem Ledersitz anstarrte. Peter hatte sich in der Ecke zusammengekauert, als ob das Auto für ihn und uns drei zusammen zu klein wäre, wobei der Blick in seinen Augen sagte, dass er mich, die Welt, Hundewelpen und Regenbögen hasste.

In der neuen App, die wir heruntergeladen hatten, schickte ich meiner Mom eine Textnachricht, um ihr Bescheid zu sagen, dass unser Flugzeug nicht über dem Atlantik abgestürzt war. Dann saugte ich alles in mich auf.

Die Straßen in der Stadt waren überfüllt. Altmodisch aussehende schwarze Taxis stellten einen enormen Kontrast zu den riesigen roten Bussen dar, die aussahen, als wären sie direkt aus einer Zeichentricksendung für Kinder herausgefahren. Fußgänger bevölkerten die Gehwege, und ein paar wahnsinnig mutige Radfahrer teilten sich die Straße mit winzigen Autos, die von unserem Monsterfahrzeug in den Schatten gestellt wurden.

Ich wollte mein Gesicht an die Fensterscheibe pressen, damit mich die Welt da draußen aufsaugen, mich in einem Stück in ihren Trubel herunterschlucken könnte; aus der Blase im Auto ausbrechen, mich in die Menschenmenge stürzen, Teil des Vergnügens sein.

Der Fahrer schlug eine malerische Route ein – vorbei am Buckingham Palace, dem Big Ben, einer gewaltigen Kirche und einer reich verzierten Zugbrücke. Meine Augen hüpften von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten – einer faszinierenden Mischung aus neu und alt, breit und schmal, altmodisch und modern. Mein Herz klopfte im Takt der Stadt.

Das konnte doch alles unmöglich wahr sein! Ich blinzelte mehrmals, aber London war immer noch da. Ein Lachen blubberte aus meiner Brust.

Ununterbrochen versorgte uns Amberlyn wie eine Stadtführerin mit Kommentaren zu den Sehenswürdigkeiten, bis sie Peters zorniger Blick verstummen ließ. Fast – aber nur fast – tat sie mir deswegen leid, wenn sie mir durch ihr Wissen nicht wieder einen Schritt voraus gewesen wäre.

Wir kamen in einem schicken Viertel an, in dem die Straßen von Bäumen gesäumt und weiße Häuser von Säulen gestützt wurden. Blumenkästen und ordentliche Topfpflanzen schmückten jeden Balkon. Der Fahrer parkte vor einigen Reihenhauswohnungen.

Während er uns die Autotüren öffnete, kam ein anderer Mann aus dem Gebäude. Er führte uns den Gehweg hoch und in eine Lobby mit poliertem Marmorboden. Meine Turnschuhe quietschten, und ich spürte, wie die Kristallkronleuchter und glänzenden Holzvertäfelungen angesichts dessen, wie amerikanisch ich war, ihre Nasen rümpften.

Ein schmucker Messingaufzug, der von einem Mann in einer dunklen Uniform bedient wurde, brachte uns ins oberste Stockwerk. Die Penthouse-Wohnung hatte cremefarbene Wände mit goldenem Stuck, bodentiefe Fenster und dunkle Parkettböden mit Plüschteppichen darauf.

Als wir hereinstapften, saß Ms Carmichael bereits auf der Kante eines Sessels und wartete. Ihr korallenfarbiges Kostüm und die Perlen hätten direkt aus dem Kleiderschrank der Queen stammen können.

Amberlyn war in ihren Leggings, dem süßen Pullover und den Stiefeletten die Einzige, die schick genug für diese Wohnung aussah. Ich war nicht nur underdressed, sondern müffelte nach der eintägigen Reise auch –, und ich musste mir dringend die Zähne putzen.

Ms Carmichael erhob sich. »Ich hoffe, ihr hattet einen angenehmen Flug. Sicherlich seid ihr müde, doch das beste Mittel gegen einen Jetlag ist Beschäftigung.«

Nach einer Mahlzeit, die auf echtem Porzellan in einem richtigen Speisezimmer serviert worden war, machten wir es uns auf den Ledersofas bequem, während unsere Lehrerin auf einem Stuhl Platz nahm. Die Situation erinnerte mich an ihren Unterricht. Mein Fuß wollte einfach nicht stillhalten. Die Stadt hatte mich kurzzeitig von der Herausforderung abgelenkt, die vor mir lag.

Vier mir unbekannte Leute standen jetzt an die Wand gelehnt vor uns. Zwei Frauen, eine davon in einem schwarz-weißen Kleid und die andere in einer Bluse und einem Rock. Und zwei Männer, beide in Anzügen. Alle schienen sie von Mitte zwanzig bis Mitte dreißig zu sein.

Die Männer waren zu jung für Ms Carmichael und zu alt für mich. Aber das bedeutete ja nicht, dass ich die Aussicht nicht genießen konnte.

Ich fing Amberlyns Blick auf und wackelte mit den Augenbrauen. In dem Versuch, ein Lächeln zu unterdrücken, presste sie die Lippen fest aufeinander, doch sie nickte tatsächlich, als wollte sie sagen: Ich weiß.

»Versuchen Sie doch bitte, mit dem Sabbern aufzuhören, Ms Hanson.« Ms Carmichael hob eine Hand und einer der beiden Zuckerstücke brachte ihr einen Stapel Umschläge.

Aufregung durchzuckte mich. Zeit herauszufinden, was ich tun musste, um zu gewinnen.

»Nun, zu den Einzelheiten: Sie werden eine Reihe von Hinweisen erhalten, die Ihnen verraten werden, wohin Sie reisen und welche Aufgaben Sie erfüllen müssen, um wiederum den nächsten Hinweis zu erhalten. Insgesamt sind es acht Hinweise. Die Aufgaben und Örtlichkeiten werden mit verschiedenen Werken der klassischen Literatur zu tun haben.«

Ungefähr jetzt wären Amberlyns Notizen vielleicht doch ganz nützlich.

»Sie werden außerdem ein Notizheft vorfinden. Dieser Wettkampf ist von den Canterbury Tales inspiriert, und daher hätte ich gerne, dass Sie Ihre Erfahrungen in einer Reihe von Erzählungen festhalten. Am Ende des Abenteuers werden Sie diese bei mir abgeben.«

Erzählungen schreiben. Notizhefte. Bücher, an die ich mich kaum erinnern konnte, oder die ich nicht gelesen hatte. Ich steckte in ernsthaften Schwierigkeiten.

Sie gab die Umschläge herum. Ich ließ den Inhalt auf meinen Schoß rutschen. Zusammen mit einigen Bögen Papier, dem Notizheft und dem Stift fand ich auch ein Klapphandy, das ich sicher nicht benutzen würde, da es kein Datenvolumen hatte, und einen kleineren Umschlag voller bunter Geldscheine, die aussahen wie Monopoly-Geld.

»Die Handys sind Prepaid-Handys für Notfälle«, erklärte Ms Carmichael. »Darin sind meine Nummer und die Nummer Ihrer Begleitperson eingespeichert.«

»Begleitperson?« Ich musterte die Leute an der Wand, und mein Blick blieb an einem der gut aussehenden Männer mit tiefbrauner Haut und vollen Lippen hängen. »Können wir uns wen aussuchen?«

»Sie wurden bereits jemandem zugeteilt, der Sie begleiten wird.« Ihre Lippen zuckten. »Ihre Begleitpersonen werden zusehen, auf Ihre Sicherheit zu achten und die einzelnen Herausforderungen zu überwachen, ohne Hilfestellung zu leisten. Sie werden hauptsächlich auf sich gestellt sein.«

»Wie Babysitter also«, fasste ich zusammen.

Die jüngste Dame am Ende der Reihe in Rock und flachen Schuhen zog einmal die Nase hoch.

Ich lächelte sie an, doch sie hob bloß eine Augenbraue.

Ms Carmichael atmete einmal tief durch. »Sollten Sie in Schwierigkeiten geraten, werden sie Ihnen als letzter Ausweg behilflich sein. Außerdem stehen Ihnen zweihundert Pfund für Verkehrsmittel, Verpflegung und Unterkünfte zur Verfügung. Falls Sie mehr benötigen, wird Ihr Babysitter Sie damit versorgen. Im Rahmen des Angemessenen. Ihnen allen habe ich in dieser Wohnung ein Zimmer zugeteilt, sollten Sie es brauchen, oder falls Sie etwas von Ihrem Gepäck hierlassen wollen.«

Skeptisch betrachtete sie Amberlyns riesige pinke Koffer, die vermutlich ihre gesamte Bibliothek, ihren kleinen Bruder und genug Kleidung beinhalteten, um einen Second-Hand-Shop auszustatten. Oder – in ihrem Fall – einen Designerladen.

»Sie haben neun Tage. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihr Notizheft am Morgen des 7. Juli abgeben.«

Ein festes Abgabedatum? Ich wippte mit dem Fuß und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Es ist also kein Wettrennen?«

»Nicht in dem Sinne, als dass der oder die Erste automatisch gewinnt«, stellte sie klar.

»Wo bleibt da der Spaß?« Zeit war messbar. Etwas Greifbares, das mich gewinnen lassen könnte.

»Sehe ich auch so«, meinte Spence.

»Hier geht es um die Erfahrung«, fuhr Ms Carmichael fort. »Sie sollten nicht so sehr darauf fokussiert sein, möglichst schnell an den nächsten Ort zu gelangen, sodass Sie die Gegenwart nicht mehr schätzen können.«

Ich lehnte mich zu ihr nach vorne und stützte mich mit den Ellbogen auf den Knien ab. »Also, wie gewinnt man?«

»Ich werde Ihre Erzählungen bewerten und mit jedem von Ihnen ein privates Gespräch führen. Mehr sage ich im Moment nicht dazu. Ich möchte, dass Sie – ohne vorgefertigte Ideen von mir – geistig frei und offen sind, um zu erleben und zu schreiben, was immer Sie möchten.«

Die Chancen, dass ich irgendetwas auch nur entfernt Inspirierendes schreiben würde, waren gering. Ich hätte gerne gewusst, was sie von mir wollte.

Ms C verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl leicht. »Irgendwelche Fragen?«

Zu viele, als dass ich gewusst hätte, wo ich anfangen sollte. Die wichtigste war allerdings: Warum war ich hier?

Die Babysitter traten nach vorne, und die junge Frau, die meinen Witz anerkannt hatte, kam auf mich zu. »Ich bin Alexis und werde dich begleiten.«

»Schon in Ordnung«, grummelte ich laut beim Aufstehen. »Du kannst ruhig babysitten sagen. Ich seh dir an, dass ihr ganz sicher dasselbe Wort dafür benutzt.«

»Ich glaube, ich habe den Ausdruck Nanny verwendet.« Sie lächelte zwar nicht, doch in ihren Augen funkelte es.

»Auch gut. Du kannst mich Britt nennen.«

Meine Nanny war Mitte zwanzig, kleiner als ich, mit einem schulterlangen, braunen, welligen Bob und großen, braunen Augen. Ihre blaue Bluse steckte in einem engen, schwarzen Rock, den sie mit praktischen, jedoch stylischen flachen Schuhen kombiniert hatte. Obwohl sie wie eine elegante Elfe aussah und auch so klang, spürte ich, dass sie mich wegen meiner legeren Kleidung und meiner lauten Stimme nicht verurteilte.

»Nenn mich Al«, sagte sie.

Unerwartet. »Wie witzig. Als mein Bruder Drew und ich noch klein waren, war er besessen von Batman. Er hat immer so getan, als hätten wir einen Butler namens Alfred und ihn dann immer gebeten, Sachen für ihn zu erledigen.« Ich verstummte. »Aber du fährst mich jetzt wahrscheinlich nicht mit einem Batmobil einmal quer durch England, oder? Das wäre richtig cool.«

»Ich glaube, dass Ms Carmichael von euch erwartet, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen«, entgegnete sie. »Außerdem habe ich gehört, dass das Batmobil eine ganz schlechte Treibstoffeffizienz hat.«

»So wie diese verrückten roten Busse? Cool.« Ich musterte die restlichen Begleitpersonen, die in anderen Ecken des Raums mit den Leuten aus meiner Klasse redeten. »Was machst du denn genau für Ms Carmichael?«

»Ich babysitte amerikanische Teenies.«

»Und ist das ein gut bezahlter Job?«

Sie hob eine Augenbraue. »Ich habe den furchtbaren Verdacht, dass es in ganz England nicht genug Geld gibt, um mich für deine Betreuung angemessen zu bezahlen.«

»Ich mag dich, Al.«

»Dann sind ja alle meine Träume in Erfüllung gegangen.«

Ich grinste. Wir würden gut miteinander auskommen. »Ich brauche einen Plan. Ach so, stimmt. Du sollst mir ja gar nicht helfen. Kannst du mir mein Zimmer zeigen? Oder muss ich erraten, welches meines ist?«

»Ich glaube, das liegt innerhalb der akzeptablen Hilfeparameter.«

»Akzeptable Hilfeparameter«, wiederholte ich in einem schrecklichen britischen Akzent. »Danke.«

Sie nahm meine Sporttasche, und ich folgte ihr den Flur hinunter zu einem Zimmer mit dunkler, moderner Einrichtung – einem Doppelbett, einer kleinen Kommode und einem Nachttischchen. Draußen war der Himmel trotz der späten Stunde noch hell. Unter uns erstreckten sich Baumwipfel und Gebäude.

»Ich bin draußen, wenn du mich brauchst.« Al schloss die Tür und positionierte sich, wie ich annahm, wie ein Bodyguard im Flur. Seltsam.

Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und krempelte sofort meine Hosenbeine hoch. Die engen, kratzigen Strümpfe mussten weg. Der Arzt hatte zwar empfohlen, sie bis zu drei Tage nach meiner Ankunft zu tragen, aber empfehlen war ja nicht dasselbe wie anweisen. Nimm das, Vokabeltest!

Ich rollte die Strümpfe hinunter, zog daran und wackelte mit den Zehen, nachdem ich sie endlich befreit hatte. Mit ausgestreckten Beinen fiel mir jetzt auf, dass meine Bräune langsam verschwand. Normalerweise waren meine Knie und Oberschenkel immer schön goldbraun und meine Unterschenkel – die für gewöhnlich von den Schienbeinschonern verdeckt wurden – blass. Auf diese spezielle Bräune war ich immer stolz gewesen. Sie war ein Erkennungsmerkmal, das eindeutig verriet, dass ich eine Fußballspielerin war.

Doch das war ich nicht. Nicht mehr.

Noch ein Grund mehr, eine Hose zu tragen. Die Narbe verstecken. Die nachlassende Bräune verstecken. Das Problem verstecken.

Ich rollte die Hosenbeine wieder nach unten.

Lieber nach vorne schauen als zurück. Ich holte den ersten Hinweis heraus.

Der Umschlag enthielt auch ein Blatt Papier mit der Überschrift Richtlinien, aber das klang langweilig. Ich konzentrierte mich lieber auf die coolen Sachen.

Ich musste bloß Hinweisen folgen, ein paar Geschichten schreiben und ein bisschen Geld gewinnen.

Gar kein Problem.

Kapitel 3

Während ich den ersten Hinweis las, kaute ich auf meinem Stift herum. Er stand auf dickem Tonpapier, ähnlich wie unsere Einladungen, und war ebenfalls in verschnörkelter Handschrift geschrieben. Unserem Schulleiter musste man unbedingt mitteilen, dass Ms C mit dem Benoten von Schulaufgaben noch nicht genug ausgelastet war.

 

Ein altes, gesellschaftliches Leid wird dich nach Lane’s End führen.

Dort kann man Pips, Davids und Olivers Geister immer noch spüren.

 

Tu etwas Gutes und bring jemanden zum Lachen.

Um einen Hinweis zu erhalten und dich auf den Weg zu machen.

 

Das konnte ich schaffen. Oliver, Oliver, Oliver … Oliver Twist? Das Buch hatten wir im Unterricht zwar nicht gelesen, aber den Filmen zufolge war Oliver ein Waisenkind. Vielleicht waren Pip und David ja auch welche? Waisen konnte man als »gesellschaftliches Leid« zählen. Bedeutete das, ich musste einen Ort mit Waisenkindern besuchen?

Ich kramte das billige Smartphone heraus, das Mom mir vor der Abreise gekauft hatte – mit einem Minimum an internationalem Guthaben darauf, das hauptsächlich dafür bestimmt war, meine Pflichtnachrichten an sie zu schicken. Die Knieoperation, ihre Eintrittskarte in den Club der besorgten Eltern und ein Flugticket nach England hatten sie endlich dazu gebracht, mein Prepaid-Klapphandy upzugraden.

»Hey, Al!«, rief ich Richtung Tür, da ich annahm, dass sie, auf meine Anweisungen wartend, im Flur stand.

Die Tür ging einen Spalt breit auf, und ihr Gesicht erschien.

»Gibt es hier WLAN?«

»England ist nicht im finsteren Mittelalter stecken geblieben, Ms Hanson.«

Ich wedelte mit meinem Handy herum. »Darfst du mir das Passwort verraten oder muss ich dafür erst ein Rätsel lösen?«

Sie zog einen Mundwinkel nach oben und ging einen Schritt ins Zimmer. »Es ist tatsächlich ein literarisches Zitat. Denk an Existenzkrise.«

Ich bewarf sie mit einem der Kopfkissen.

Sie fing es auf und legte es auf die Kommode. »Das Passwort lautet seinodernichtsein. Ohne Leerzeichen.«

Echt jetzt? »Danke. Dann vermutlich bis morgen.«

»Die Vorfreude wird mich die ganze Nacht lang wachhalten.« Sie ging wieder hinaus und machte die Tür hinter sich zu, bevor ich noch mein zweites Kopfkissen nach ihr werfen konnte.

Eine kurze Suche bestätigte mir, dass alle drei Namen in dem Hinweis sowohl Figuren von Charles Dickens als auch Waisenkinder waren. Zehn Punkte für mich. Bei einer weiteren Suche stieß ich auf viele Waisenhäuser und wohltätige Stiftungen, die Kindern in der ganzen Stadt halfen. Nützlich. Aber eines am äußersten, östlichen Stadtrand hieß Lane’s End Kinderheim. Eine gute Tat vollbringen klang recht einfach. Ich würde mir etwas einfallen lassen, wenn ich dort war.

Jetzt, da ich einen Plan hatte, wollte ich auch gleich loslegen. Aber es war schon zu spät, um bei einem Waisenhaus aufzuschlagen, in dem die Kinder jetzt vermutlich schliefen.

Hatten die anderen den Hinweis auch erraten? Hoffentlich konnte heute Nacht niemand mehr damit anfangen. Wir mussten schlafen. Und das hier war ja auch kein direktes Wettrennen. Eigentlich schade, weil meine Chancen besser stünden, bei einem Wettrennen zu gewinnen als dabei, ein Hunderttausend-Dollar-Tagebuch zu führen.

Ich seufzte. Das Community College, an dem ich bloß eine zweijährige, mittelmäßige Ausbildung würde absolvieren können, wurde immer wahrscheinlicher. Das war auch nichts allzu Schlechtes. Nur logisch. Doch die Bilder von der UCLA – mit ihren grünen Rasenflächen und dem großen, quadratischen Innenhof – weigerten sich, aus meinem Kopf zu verschwinden. Dort würde ich neue Leute kennenlernen und Sachen entdecken, und es lockte das Versprechen, zu Football- und Basketballspielen gehen zu können, auch wenn es mit dem Fußball vorbei war. Außerdem hatte ich zwei Geschwister, die in verschiedenen Masterstudiengängen studierten, was gewisse hochtrabende Erwartungen in meiner Familie mit sich brachte. Niemand erwartete zwar von mir, diesen Erwartungen gerecht zu werden, aber dadurch lösten sie sich auch nicht in Luft auf.

Ich musste gewinnen – so viel stand fest. Vielleicht wuchs mir das zwar alles über den Kopf, aber kampflos würde ich mich nicht ergeben.

*

Früh am nächsten Morgen schrillte mein Wecker. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte vollgestopft, und meine Augen, als hätte ich ein Kilo Sand darin. Aber es gab Geld zu gewinnen! Ich warf die Gegenstände von Ms Carmichael in meine Umhängetasche und ließ die Sporttasche zurück, da ich nicht wusste, wohin ich unterwegs war. Heute lieber keine Wiederholung des Unterwäsche-Unfalls riskieren.

Im Speisezimmer war der Tisch voller Teller mit Spiegeleiern, Toast, Speck, Bohnen und gegrillten Tomaten. Al saß alleine da, trank Tee und las einen Agatha-Christie-Krimi. Von Amberlyn, Peter und Spence fehlte jede Spur.

Ich stürzte einen starken, heißen Tee hinunter, schluckte die tägliche Tablette – meinen neuen, lebenslänglichen Begleiter, der verhinderte, dass mich der gestrige Flug umbrachte, – und schnappte mir zwei Scheiben Toast. »Bereit?«

Sie steckte das Buch in ihre Handtasche. Heute trug sie ein Business-Kostüm, bestehend aus Rock und Blazer.

»Steht in dem Hinweis irgendwas von einem Vorstandsmeeting?«

Sie hob eine Augenbraue. »Woher soll ich das wissen? Ich darf dir doch nicht helfen, weißt du noch?«

Ich deutete auf ihr Outfit. »Du siehst so … geschäftsmäßig aus.«

»Das ist eben mein Kleidungsstil.«

Ich sah an mir hinunter, auf meine Jeans, mein T-Shirt und meine blauen Turnschuhe. »Wenn dich das glücklich macht«, sagte ich. »Der Typ, der neben mir im Flieger saß, meinte, London hätte ein tolles U-Bahnnetz. Fällt es unter die akzeptablen Parameter, mir zu verraten, wo die nächste Haltestelle ist?«

»Ich denke, das wäre vertretbar.«

Ich ging auf die Tür zu und hoffte, dass ihr nicht auffiel, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich mich in der U-Bahnstation zurechtfinden sollte, wenn ich einmal dort war. Aber ich lernte Dinge besser, indem ich sie einfach tat, also würde ich mich damit befassen, sobald ich da war.

Al lotste mich zur Haltestelle, die von einem Schild mit einem roten Kreis und einem blauen Balken ausgewiesen wurde, auf dem UNDERGROUND stand. Danke, London, dass du die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln einfach gestaltest.

Doch als ich dann vor dem U-Bahnfahrplan stand, war ich schon weniger begeistert. Der Plan erinnerte mich an den Sommer, in dem meine Schwester versucht hatte, Stricken zu lernen, und sich der Faden zu einem regenbogenfarbenen Knäuel verheddert hatte. Zwölf geschwungene Linien, jede in einer anderen Farbe, mit Hunderten von winzigen Namen. Wer hatte das denn für eine gute Idee gehalten? Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was mein Sitznachbar im Flieger über die verschiedenen Linien und Haltestellen gesagt hatte.

Leute drängten sich an mir vorbei. Alle wussten, wohin sie mussten, ganz sicher und zielstrebig. Mit den Ellbogen bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, eindeutig entgegen der Gehrichtung, und ging auf das Schild zu, auf dem TICKETS stand.

In einer Stimme, die Wegbeschreibungen stilvoll klingen ließ, beantwortete der Mann hinter dem Fenster meine Frage, wie ich in den Osten der Stadt kam und mich dort zurechtfand. Er gab mir ein Tagesticket, mit dem ich so oft wie nötig durch ganz London fahren konnte, und erklärte mir, wie ich zum Bahnsteig kam.

Schließlich verabschiedete er sich mit: »Willkommen in London, Mum.«

Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er mit Mum Ma’am meinte, und noch einen, um zu entscheiden, dass mir seine Manieren gefielen.

Ich bezahlte, wobei ich wegen der Wechselrate gar nicht wusste, wie viel es wirklich kostete.

»Lass dir die Quittung geben«, sagte Al hinter mir.

Wir reihten uns in die Schlange ein, die nach unten zu den Bahnsteigen unterwegs war, und ich verrenkte mir den Hals, um alles sehen zu können. Al zog mich auf die rechte Seite der Rolltreppe, und ich verstand auch sofort, warum, als jemand links an uns vorbeistürzte.

»Das ist so cool.«

»Du magst also Menschenmengen, Schlangen und dunkle Tunnel?«, fragte Al zwei Stufen hinter mir, was anscheinend die offizielle, unausgesprochene Regel für einen anständigen Abstand zwischen zwei Personen war.

»Dort unten könnte eine magische Welt auf uns warten.«

»Dein Optimismus kennt ja gar keine Grenzen.«

»Ich habe da so ein Gefühl, dass ich genug für uns zwei brauchen werde. Diese Woche wird super. Wirst schon sehen.«

Alexis’ Outfit hatte ich schon für geschäftsmäßig gehalten, aber sobald wir am U-Bahnsteig waren, fiel mir auf, dass viele Leute sehr schick gekleidet waren. Schwarze Anzugschuhe waren wohl die inoffizielle Fußbekleidung für britische Männer über achtzehn. Perfekt geschneiderte Anzüge an durchtrainierten Typen, die das total bringen konnten. Andere trugen Lederjacken, Trenchcoats, Kleider und Jeans. Die meisten lasen Zeitung, starrten auf Handys oder hörten über Kopfhörer Musik.

Ein Querschnitt durch das Leben, – und alle fuhren mit demselben Zug. Da die öffentlichen Verkehrsmittel in Südkalifornien nicht so toll waren, trug diese Erfahrung hier noch zusätzlich zu der britischen Atmosphäre bei. So viele Leute, und sie waren so englisch. Hunderte von Fremden mit Geschichten und Akzenten. Am liebsten hätte ich mit allen geredet.

Der Zug war gerammelt voll. Ich schob mich hinein und wollte gerade nach einem Haltegurt greifen, da stand ein Mann auf, deutete auf seinen Platz und ließ mich hinsetzen.

Britische Manieren. Ich konnte mich gerade noch so davon abhalten, ihn nicht zu umarmen.

Das Mädchen neben mir war vermutlich nur ein paar Jahre älter als ich. Sie trug ein Seidenkleid und flache Glitzerschuhe.

»Die Menschen hier in London sind alle so schick.« Ich deutete auf sie und dann auf meine Turnschuhe. »Man sieht sofort, dass ich eine Touristin bin.«

»Schon in Ordnung«, sagte sie freundlich. »Hier gibt es so viele Touristen. Keinen interessiert es, was du trägst.«

»Bist du auf dem Weg zur Arbeit? Fährst du immer mit der U-Bahn?«

Wir unterhielten uns, bis der Zug seine erste Haltestelle erreichte.

»Please mind the gap between the train and the platform«, verkündete eine kühle, weibliche Stimme aus den Lautsprechern.

Mir entkam ein lautes Lachen. Dieses Lachen, das ich nicht kontrollieren konnte, das Bären aus dem Winterschlaf riss und alte Männer dazu zwang, die Lautstärke an ihren Hörgeräten herunterzudrehen. Ich schob es auf den Akzent, die seltsame Formulierung – fielen die Leute wirklich in diesen winzigen Zwischenraum? – und den Jetlag.

Mehrere Leute sahen zu mir herüber, ohne mir direkt in die Augen zu schauen. Wenn Engländer in ihre Anzüge schlüpften, setzten sie dazu anscheinend auch Gleichgültigkeit und eine ausdruckslose Miene auf.

Das Mädchen lächelte, ganz leicht nur, ohne Zähne zu zeigen. »Mind the gap ist so ein London-Ding. Es gibt T-Shirts und alles.«

So eines musste ich mir unbedingt kaufen.

Je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernten, desto leerer wurde der Zug. Ich wippte mit dem Fuß und zog an einer Haarsträhne. Al saß in der Nähe und starrte Löcher in die Luft. Sie war eindeutig nicht die Gesprächigste. Wie sollte ich bloß neun Tage überstehen, ohne mit jemandem zu reden?

Ich hörte der Stimme beim Ansagen der Haltestellen zu, bis zu der Station, die ich brauchte – eine der letzten am Stadtrand. Doch die Station war noch einige Häuserblocks von dem Kinderheim entfernt.

»Weißt du, wo wir hingehen?«, fragte ich Al.

»Ms Carmichael hat uns über die Hinweise informiert. Und ich war hier schon mal. Da lang.«

»Akzeptable Hilfeparameter. Die gefallen mir.«

Wir durchquerten Viertel aus Reihenhäusern, die aussahen wie Wohnanlagen in Amerika, und bogen auf eine Straße mit braun-roten Häusern aus Ziegelstein mit privaten Gärten ab. Die Straße kam mir normal vor, bis auf die Formen der Fenster, die Automarken und die Farben der Steinhäuser, die gerade fremd genug waren, um mich daran zu erinnern, dass ich in einem anderen Land war. Als ich die richtige Hausnummer fand, traten wir durch ein hüfthohes Gartentor und gingen eine Einfahrt aus Kopfsteinpflaster hoch.

»Die Kinder hier sind also Waisen?«, fragte ich.

»Ein paar. Andere haben vielleicht auch Eltern, die sich aber nicht um sie kümmern können.«

»Das ist echt scheiße.«

»In der Tat.«

Schlachtplan: etwas Nettes tun. Eine Geschichte schreiben.

Ob sie mich wohl erwarteten? Mehrmals betätigte ich den Türklopfer in Löwenkopfform. Niemand machte auf.

»Wahrscheinlich sind sie zu laut, um die Tür zu hören«, meinte Al.

»Wenn du was gegen Lautstärke hast, wird das aber eine lange Woche für dich.«

»In der Tat.«

Ich grinste. »Kommst du öfter hierher?«

»Ein Teil meiner Arbeit ist es, Ms Carmichael bei ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten zu unterstützen.«

Ich warf ihr einen Blick zu. »Sie hat also mehrere?«

»Eine beträchtliche Anzahl, ja.«

»Woher hat sie denn das Geld dafür? Hat sie eine Bank ausgeraubt?«

Als Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Wenn ja, wurde ich nicht darum gebeten, das Fluchtauto zu fahren.«

Na ja. Einen Versuch war’s wert.

Ich klopfte erneut, diesmal fester.

Da wurde die Tür geöffnet. Ein ungefähr zehnjähriges Mädchen mit großen blauen Augen und lauter Sommersprossen auf der Nase streckte den Kopf heraus.

Ich ging in die Hocke, damit ich mit ihr auf Augenhöhe war. »Hi. Ich bin Britt.«

»Du redest aber komisch.«

»Du redest komisch«, sagte ich, obwohl ein Kind mit britischem Akzent das Süßeste überhaupt war.

Ihre Hände flogen sofort zu ihren Hüften. »Wir reden alle gleich. Das heißt, du bist die Komische.«

»Stimmt auch wieder. Wie heißt du? Können wir reinkommen?«

»Ich bin Nadia.« Sie schnappte sich meinen Arm und zog mich hinein. »Komm mit, spielen!«

Sie zerrte mich an einer Frau im Alter meiner Mom vorbei, mit kurzen, grauen Haaren und einem freundlichen Lächeln, die gerade mit einem Jungen am Tisch saß, der jünger war als Nadia.

»Hallo. Schön dich zu sehen, Alexis. Willkommen. Ich heiße Harriet«, stellte sie sich mir vor. »Die Kinder sind im Garten.«

»Ich will spielen«, sagte der Junge.

Harriet wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu. »Wenn du mit deinen Mathehausaufgaben fertig bist.«

»Mathehausaufgaben im Plural?« Ich schnitt eine Grimasse in die Richtung des Jungen. »Und ich hätte gedacht, dass eine schon schlimm genug wäre.«

»Ich kann dir helfen.« Al nahm Harriets Platz am Mathetisch ein und sah dabei so glücklich aus, wie ich sie bisher überhaupt noch nicht gesehen hatte. Lieber sie, als ich.

Ich folgte Nadia zur Hintertür. Im Garten rannten zehn Kinder herum. Ein paar von ihnen waren im Grundschulalter wie meine neue Freundin, doch die meisten waren Jugendliche. Spence war bei ihnen. Sein Babysitter hatte sich gegen einen Zaun gelehnt.

»Magst du Fußball?«, fragte mich Nadia. »Ich liebe Fußball. Aber sie lassen mich nicht immer spielen. Aber du bist ein Mädchen, wenn du also mitspielst, müssen sie mich auch lassen.«

Ihr süßer Akzent lenkte mich so sehr ab, dass ich ganz vergaß, dass football in britischem Englisch ja Fußball, und nicht American Football bedeutete.

Die Kinder spielten sich gegenseitig einen Ball zu. Einen wunderschönen, perfekten Fußball.

Eine Welle der Sehnsucht überkam mich und zog mich hinunter in gefährliche Tiefen. Was konnte schon passieren? Die Erlaubnis zu joggen hatte ich ja, mein Knie war also kein Problem mehr, solange ich keine scharfen Haken schlug. Was die Sache mit dem Blut anging … Na ja, das hier war ja kein vollwertiger Kontaktsport, keine Partie unter Rivalen. Das würde schon gehen. Oder? Solang ich gut aufpasste?

Die Frage, die Mom mir gestellt hatte, als ich ihr von dieser Reise erzählt hatte, hallte in meinem Kopf wider: Seit wann hast du denn gelernt, vorsichtig zu sein?

Meine Füße trugen mich näher heran. Das federnde Gras hieß meine Schritte willkommen. Mit meinem Laserblick verfolgte ich die Bewegungen des Balls. Fast konnte ich ihn schon an meinen Füßen spüren.

Ich ging noch näher heran.

Ein Junge trat den Ball. Er segelte über die Köpfe seiner Spielkameraden hinweg.

Bewegte sich in Zeitlupe.

Und kam direkt auf mich zu.

Kapitel 4

Mein Instinkt steuerte mich. Mit dem Oberschenkel nahm ich den Ball an, sodass er vor meinen Füßen landete, und passte ihn dann zu dem Jungen zurück, der ihn herübergeflankt hatte. Der Ball flog über die anderen hinweg und landete genau vor ihm.

Er winkte.

Ich erstarrte. Erschauderte. Schluckte. Dieser eine Spielzug war wie einen lang verlorenen Freund zu umarmen, einen Ball in den Magen zu bekommen und ein Familienmitglied zu verlieren – und zwar alles in einem.

Die Kinder spielten weiter, und langsam wurde die Welt um mich herum wieder scharf. Ich hatte es getan. Zum ersten Mal nach Monaten wieder einen Ball getreten. Nichts Schlimmes war passiert, zumindest nicht körperlich. Allerdings sollte ich genau jetzt weggehen.

Ich versuchte, einfach am Spielfeldrand stehen zu bleiben, doch die Jungs spielten mir den Ball immer wieder zu. Ihn zurückzuspielen fühlte sich so gut an – so richtig –, dass ich nicht damit aufhören konnte. Meine Füße bewegten sich nach vorne, egal wie oft ich es ihnen verbot.

Gewöhn dich nicht dran. Das kann so nicht weitergehen. Das nimmt sonst kein gutes Ende.

Ein hoher Ball segelte auf mich zu, und ich passte ihn in einer perfekt gezielten Kopfballvorlage zu einem Jungen in einem Chelsea-Trikot.

Als ich das nächste Mal am Ball war, griff mich meine weibliche Gegenspielerin an. Jahre der Praxis kontrollierten meinen Körper. Ich täuschte rechts an, stupste den Ball aber nach links, zog ihn mit der Fußspitze nach hinten und drehte mich um sie herum. Einige Kinder johlten.

»Britt Hanson ist zurück, Leute«, sagte Spence in einer Kommentatoren-Stimme.

Bevor mir überhaupt klar wurde, wie es dazu kam, spielten wir eine Partie, in der auf der einen Seite Bäume und auf der anderen zwei Gartenstühle die Tore markierten.

Mein Knie zwickte bloß ein paar Mal. Ich wollte den Ball klauen, über das ganze Feld dribbeln, kräftige Schüsse auf das Tor abfeuern. Die Luft an mir vorbeirauschen spüren, während ich das Feld entlangraste. Jubeln und schreien und anfeuern.

Als ich an Spence vorbeilief, nickte der mit einem provokanten Funkeln in den Augen zu meinem Knie hin. »Sicher, dass du spielen solltest?«

Dieser kleine Kommentar begrub mich unter einem riesigen Haufen Realität. Dabei kannte er die Wahrheit ja gar nicht. Er zog mich bloß auf, sonst nichts. Aber seine Worte stoppten mich schneller als ein unzulässiges Foul.

Nein, da war ich mir ganz und gar nicht sicher. Unsicherheit auf dem Feld war ein neues Gefühl für mich. Das war eigentlich mein Gebiet. War es einmal gewesen. Jetzt nicht mehr.

Ich zwang mich dazu, den Jungs den Ball zuzupassen, Nadia zu decken und den anderen Vorlagen zu liefern.

Das war doch bestimmt sicher genug, oder? Denn so, stellte ich mir vor, mussten sich Abhängige fühlen. Nachdem ich wochenlang auf eisernem Entzug gewesen war, hatte ich eine kleine Kostprobe bekommen und konnte jetzt nicht mehr genug davon kriegen. Ich wollte mehr, mehr, mehr. Doch bald schon würde ich wieder zum Aufhören gezwungen werden, was diese eine Kostprobe sowohl wertvoll als auch gefährlich machte.

Spence, der nicht zufrieden damit war, dass ich in der Verteidigung spielte, dribbelte auf mich zu, den Kiefer entschlossen nach vorne gereckt.

Mein Gehirn berechnete den exakten Winkel für eine Grätsche. Ich konnte ihn erwischen. Ich verlagerte mein Gewicht. Und erinnerte mich dann daran, dass eine Grätsche genau die Aktion war, die mich erst in diese Situation gebracht hatte.

Hektisch suchte ich nach einer Alternative, mit der ich nicht als Feigling dastehen würde. »Nadia, schnell, schnapp ihn dir!«

Sie griff an.

»Was ist los?« Spence schaute lange genug auf, um mich mit zusammengekniffenen Augen anzusehen. »Angst, zu verlieren?«

Das Verlangen, ihm das Gegenteil zu beweisen, loderte in mir auf, angefeuert von meinem flammenden Stolz. Aber was, wenn ich hinfiel? Was, wenn mein Knie nachgab? Was, wenn er mich trat – woran ich gewöhnt war –, jedoch nicht, wenn sich ein einfacher blauer Fleck als tödlich erweisen konnte?

»Wollte dich vor den Kindern nicht blamieren«, sagte ich.

Ich dachte, Spence würde Nadia davonlaufen, doch er wurde langsamer und ließ sie den Ball stehlen. Ich feuerte sie an, als sie in die entgegengesetzte Richtung davonschoss.

Er schüttelte den Kopf, doch ich zuckte bloß mit den Schultern und grinste, um die Tatsache zu verbergen, dass ich eigentlich schreien wollte.

Beim Fußball konnte ich mich immer darauf verlassen, das Sagen zu haben. Ich liebte es, Leuten wie Spence schlagfertige Antworten zu geben und sie zum Schweigen zu bringen, indem ich gut spielte. Ich ballte meine Hand zur Faust und atmete tief ein, doch Luft konnte das gähnende Loch in meiner Brust nicht füllen.

Nach einer halben Stunde keuchte ich, meine Oberschenkelmuskeln brannten, und mein Knie schmerzte. Das Laufverbot über die letzten Wochen hinweg hatte meine Form ruiniert. Trotz des kühlen, bewölkten Wetters hatten sich Schweißperlen auf meiner Stirn gebildet.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, der den Kindern nichts ausmachte, doch ich verschwand mit einer Verbeugung vom Feld und stellte mich zum Anfeuern an den Rand.

Spence kam zu mir. »Packst du den Regen etwa nicht?«

Da ich wusste, dass er eine scherzhafte Antwort erwartete, zwang ich mich, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen. »Halte deinen Gestank nicht aus.«

Er lachte. »Ich dachte, du wärst hart im Nehmen.«

Warum interessierte ihn das? Hoffte er etwa darauf, dass ich mich verletzte und nach Hause fliegen musste?

»Niemand ist hart genug, um das auszuhalten, Kumpel.«

»Geht’s deinem Knie gut? Du wirst dich die Woche über aber nicht davon ausbremsen lassen, oder?«

»Das hättest du wohl gerne.«

Meinem Knie ging es gut. Der Arzt hatte mir schon vor Wochen die Erlaubnis gegeben, ohne Schiene herumzulaufen. Er wusste, dass ich hier sein würde, und hätte mich gewarnt, wenn es problematisch gewesen wäre, zu Fuß in England unterwegs zu sein. Warum musste Spence es trotzdem ansprechen? Idiot.

»Hey, Spence? Warum brauchst du eigentlich das Geld? Mit dem Sport und deinen Noten …?«

Er hob eine Schulter. »Ich hab zwar ein Angebot für ein Teilstipendium bekommen, aber ich will für das Bachelorstudium in Jura an die University of Southern California gehen, und dafür haben sie mir nichts gegeben. Die ist viel zu teuer, um sieben Jahre lang Studiengebühren zu zahlen. Meine Familie findet, ich sollte die ersten zwei Jahre zu Hause bleiben und aufs Community College gehen. Aber ich bin bereit für was Neues, verstehst du? Und dieser Preis ist so viel mehr, als ich je mit Kellnern oder Rasenmähen verdient habe.«

All das konnte ich gut verstehen. Den Wunsch, neue Erfahrungen zu machen. Die Mindestlohn-Jobs. Und die Zahlen der Studienkredite für das Jurastudium meiner Schwester und den Masterstudiengang meines Bruders, die sich in meinem Kopf auftürmten, obwohl sie akademische Stipendien bekommen hatten.

»Ich wusste gar nicht, dass du Jura studieren willst.« Ich konnte ihn mir gut als Anwalt vorstellen, wie er Kriminellen hinterherjagte, so wie seinen Gegenspielern. »Meine Schwester studiert in Stanford. Sogar mit einem Stipendium sind die Gebühren absurd.«