Liebeslos - Max Ford - E-Book

Liebeslos E-Book

Max Ford

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Beschreibung

Das erste Date von John und Caro ist ein Fiasko. Er – der IT-Leiter einer Versicherung, Streber und immer noch Jungfrau, und sie – die selbstbewusste Coole aus Hamburg, die ihre berufliche Versetzung nach Hannover als persönliche Beleidigung empfindet. Dieses Fiasko jedoch ändert Johns Leben fundamental: Er beginnt eine neue Existenz in Venezuela. Dort verliebt er sich in Carmen, die ältere Tochter seiner Gastfamilie, und er gerät in die Wirtschaftskrise Venezuelas. Caros neue Liebe, Markus, ist bisexuell, was er ihr verheimlicht und Caro nicht erträgt, als es herauskommt. Aber Markus ist der Einzige, der für sie da ist, als ihr Vater stirbt. Sie muss sich mit diesem Dilemma auseinandersetzen und lernt, sich selbst kritisch zu betrachten. Erstmals in seinem Leben ergreift John währenddessen die Initiative und ist erfolgreich beim Kampf gegen die venezolanische Wirtschaftskrise. Da trennt sich Carmen überraschend von ihm, weshalb John nach Deutschland zurückkehrt. Doch er bleibt nicht allein.

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Martin Creutzig

Liebeslos

Roman

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Ein Kartenspiel

Hannover – ein Abstieg

John, die Rakete

Mit John am Maschsee

Das Infinity-Desaster

Ein Leben als Lückenbüßer

Den Hebel umlegen

Dennis

Andrea

Ankunft in Caracas

Familie Molina

Torre de David

John Paul Dylan

Neue Erfahrungen

Neue Hoffnung in Caruao

Das erste Mal

Im Park Los Caobos

Wie ein Weltuntergang

Schöne neue Welt

Die Vorstandssitzung

Chance auf mehr?

Bei der Weltbank

Ein dunkler Schatten

Die Entscheidung der Weltbank

Was soll ich tun?

Caracas Showdown

Markus

Maduro

Erwachsen werden

Gewinnen, verlieren, gewinnen

Der Autor

Impressum

Ein Kartenspiel

John saß am Küchentisch in seiner Wohnung, eine halb geleerte Flasche feinsten schottischen Whiskys neben sich. Er griff nach dem Glas und trank es in einem Zug aus. Ihm wurde ordentlich schwummrig, denn er trank nur selten Whisky – doch vielleicht wollte er auch gar nicht ganz klar sein bei der Entscheidung, die er nun treffen würde.

Er beschriftete Spielkarten, die neben ihm lagen, mit einem Edding. Das Ass bekam ein großes B, der Herzbube ein großes C, weitere Karten ein P, ein E, ein A und ein V. Er mischte die Karten sorgfältig, schenkte sich ein weiteres Glas Whisky ein, legte die Karten auf einen Stapel, sah ihn an, neigte seinen Kopf, denn er war sich nicht sicher. Er mischte die Karten erneut, legte sie wieder ordentlich übereinander und zog die oberste mit leicht zittrigen Fingern. Es war das V.

Sein Weg führte ihn zum Gepäckcheck am Flughafen Langenhagen in Hannover. Mit einiger Mühe hievte er seinen Koffer auf das Band. Dann knallte er die Reisetasche hinterher und bewegte sich zum Bodycheck. Im Gehen prüfte er nochmal das Visum, das auf John Paulus ausgestellt war, und die Gültigkeit seines Reisepasses. Er war es gewohnt, genau zu sein.

Er hatte seinen Job gekündigt, seine Wohnung nicht, und er hatte ein Rückflugticket. Dennoch war er sich nicht sicher, ob er zurückkommen würde. Er spürte seit Monaten eine unbestimmbare Last – schwerer als sein Koffer. Eine Last, die ihm niemand aufgebürdet hatte. Er selbst war die Last, das wusste er.

Er setzte sich in die Abflughalle. Er hatte noch Zeit. Seine Maschine nach Caracas ging erst in einer Stunde. Es lief alles wie geplant.

Hannover – ein Abstieg

Sie stand mit einem Latte Macchiato an einem Stehtisch am Fenster des Café Lino in der Markthalle Hannover. Mitte Januar hätte es wenigstens in Hannover schneien können. Das Frühjahr kam ja sowieso immer viel später, wenn jeder auch darauf hoffte, dass es bald da sein würde. Doch kein Schnee und kein Frühjahr, hier goss es nur Eiswasser aus fetten Kübeln.

Ganz kurz fiel ihr John ein, und sie wollte wissen, was er gerade machte. Es war ein One-Night-Stand gewesen mit einem Langweiler aus dem Bilderbuch für Schlafgestörte, aber er war immerhin gutaussehend. Er war der Auserwählte für ihren Hormonhaushalt gewesen, der ihre Lust antrieb. Ein natürliches Medikament: Homöopathie in Bananenform, aber schlechte Medikation, wie sich herausstellte. Keine Granate für den Blutdruck, eher ein Betablocker. Ein Reinfall. Sie war total unzufrieden. Er war ein Nerd, wie sie noch nie einen erlebt hatte.

Obwohl er etwas mit ihr gemacht hatte, das sie in Erstaunen versetzt hatte. Er hatte sie berührt, aber bestimmt nicht körperlich, nicht beim Sex. Sondern irgendwie anders, in der kurzen Zeit, während der sie sich kannten.

Sie verdrängte ihren Gedanken an John. Sie war eine andere Liga. Nicht gesellschaftlich, aber in Bezug auf das Spiel. In diesem Spiel war sie Bundesliga und er Kreismannschaft in der Schulsporthalle.

Der Weg vom Architekturbüro bis zur Markthalle war kurz. Und so verbrachte sie ihre Mittagspause oft hier. Die Salate an den verschiedenen Ständen sahen an diesem Tag allerdings schon etwas mitgenommen aus. Vielleicht lag es daran, dass Freitag war. Die Blätter wirkten welk auf sie, aber sie konnte nicht einschätzen, ob das wirklich so war oder ob sie sich das nur einbildete. Auch die Hähnchen- und Putenstreifen wirkten grau. Echt eklig war das Ganze hier. Deshalb musste der Latte reichen.

Sie arbeitete für ein großes Architekturbüro als Sekretärin und Dolmetscherin. Die Aufträge kamen oft aus dem Ausland, sodass ihr Sprachenstudium sich schon ausgezahlt hatte. Das wirklich Dumme war nur, dass man sie versetzt hatte. Von Hamburg nach Hannover. Und sie spürte sehr wohl die doppelte Bedeutung des Wortes ›versetzt‹. Man hatte sie gezwungen, Hamburg zu verlassen, weil das Büro alle Auslandsaufträge ab dem neuen Jahr von Hannover aus bearbeitete. Und das, obwohl sie die Hansestadt so geliebt hatte mit ihrer Binnen- und Außenalster, mit den tollen Leuten und dem tollen Nachtleben. Im Tausch gegen das dröge Hannover. Selbst der Regen war in Hamburg schöner.

Sie war im Oktober umgezogen. Hannover war ein sonnenloser Ort. Die Leute waren doof und stur, alle, ausnahmslos. Da konnte auch die eindrucksvolle Gehaltserhöhung ihr Herz nicht erwärmen, mit der man sie aus Hamburg hinauskomplimentiert hatte.

In Hannover würde nie die Sonne erstrahlen. Sie würde in Hamburg aufgehen, einen großen Bogen machen um dieses eklige Niedersachsen – ebenso um Sachsen, wer wollte schon was von Sachsen? –, noch einen Bogen machen um die Hessen, die Hesse ebbe, und nach einem Schwenk über Köln erst in Bayern wieder scheinen und im restlichen Europa südlich davon.

Und das freundliche Hamburger Wasser fehlte ihr. Dieser hannoversche Maschsee war bloß eine grünliche stinkende Pampe mit bissigen Schwänen, und das sogenannte Steinhuder Meer eine einzige Fangopackung mit aus Polen importierten, vermutlich schon gammelnden Aalen in Verkaufsständen am Ufer, widerlich das Ganze.

Sie wusste schon, dass die Markthalle auch ein Kontakthof war, vor allem rund um das Café Lino. Und da tat es ihr gut, auf jedes Essen zu verzichten und nur den Latte zu nehmen, um nicht ein durchs Kauen verunstaltetes Gesicht zu präsentieren. Denn Männer, die vorbeigingen, ließen ihren Blick einen kleinen Moment länger auf ihr haften, als für eine allgemeine Orientierung nötig gewesen wäre. Sie wollte nicht riskieren, diese Männer abzustoßen.

Obwohl sie nicht groß war mit ihrem einen Meter fünfundsechzig, war sie nicht zu übersehen, denn sie strahlte immer Präsenz aus. Eine Präsenz, die wahrgenommen wurde. Sie brauchte keine wilde Mähne, ihre nackenlangen braunen Haare, die ihr schönes Gesicht umspielten, waren völlig ausreichend. Denn sie konnte mit ihren blau-grauen Augen strahlen, und damit begehrliche Blicke sammeln, oder ihre Willenskraft zeigen, um sich vor Unverschämtheiten zu bewahren, je nach dem, welchen Blick sie aussandte.

Schon mit sechzehn hatten ihre Freundinnen sie wegen ihrer Figur beneidet. Und Caro hatte es damals angewidert, dass die doofen Jungs sie anglotzten – und sie glotzten viele an. Im vertrauten Gespräch mit ihren Freundinnen erhielt Caro immer wieder Komplimente für ihr Aussehen. Der Trick war, ihnen diese zurückzugeben, auch wenn der Inhalt der Komplimente in dem einen oder anderen Fall von hinten bis vorne nicht stimmte. Was Caro dann auch regelmäßig verunsicherte. Denn sie hätte ja auch genauso von ihren Freundinnen belogen worden sein können. Doch die Reaktion der Jungen von damals bestärkte sie darin, dass sie attraktiv war. Obwohl sich dennoch auch heute immer wieder Zweifel einschlichen, weil sie wusste, wie sehr sie immer wieder die Bestätigung ihrer Attraktivität brauchte.

Ihr Name half ihr jedoch über Unsicherheiten hinweg. Sie hieß Caroline von Waldeck. Wer sie gerade kennengelernt hatte, mutmaßte hinter ihrem Adelsnamen vielleicht ein Schloss oder ein Gut oder den Landadel. Leider war das weit gefehlt. Ihr Vater war Lateinlehrer in einem Bildungsschuppen in Hamburg und ihre Mutter Referatsleiterin beim Hamburger Senat, also in einer Politgrotte. Höchst bürgerliche Existenzen mit Reihenmittelhaus in Eimsbüttel, die Mutter in der Hierarchie höher angesiedelt als der Vater, was den nicht störte, weil es hipp war. Gleichberechtigung als Untergeordneter. Es war einfach so. Mit dem dunkelblauen Saab-Cabrio unter dem Carport und einem kleinen Ferienhaus in der Toskana.

Das alles war Caro nicht wichtig. Aber ihr Name zog immer irgendwie bei den Kerlen, auch wenn sie selbst nur Max Mustermann hießen, aber sich darstellen konnten wie die Elbphilharmonie, allerdings genauso unfertig oder überschuldet. Hauptsache, sie konnten gut reden, das erwartete sie, nicht umsonst war sie mit Sprachen so gut drauf. Und Caros Selbstdarstellung war immer filmreif, wie sie für sich zufrieden feststellte, jedenfalls meistens.

Sie stand auf Waschbrettbauch und das Wissen, wie man sie schmachten ließ: Die Selbstbewussten, die mit ihr spielten, die wollte sie. Die Jungen, die sie anhimmelten, die fand sie gotterbärmlich langweilig. Denn sie spürte, dass diese nur so eine Art Selbstbewusstsein hatten, kein tatsächlich erarbeitetes. Außerdem war irgendwann jeder von denen pleite. Finanziell pleite oder mental pleite. Von denen hatte sie viele kennen gelernt: Reedersöhne, Anwaltssöhne oder Unternehmersöhne. Später kamen ein Hells-Angels-Boss oder ein führender Sozialarbeiter dazu. Die waren auf ihre Art wirklich stark und nicht pleite. Caro hatte sie dennoch alle durch und hatte ihren Spaß mit ihnen gehabt. Dass die Reedersöhne nur Söhne waren, hatte sie wenig interessiert. Denn die Show, die sie lieferten, war gut. Und die Anwaltssöhne wussten immer von den neuesten Strafverfahren gegen Prominente zu berichten.

Der Hells-Angels-Boss aber hatte sie mit Respekt behandelt, den sie sich erkämpft hatte. Schließlich war sie nicht eine seiner Straßenschwalben. Und das merkte er. Und einige Monate lang hatte sie so ein Verhältnis mit zweien gleichzeitig: mit Gerry, dem Hells-Angels-Boss, und mit Dennis, der als Street-Worker sehr erfolgreich war, weil er die Straßenschwalben von Gerry betreute. Das fand Caro spannend. Sie hatte beide Kerle nicht von dem parallelen Verhältnis unterrichtet. Sie wusste auch zu differenzieren: An den Hells-Angels-Partys nahm sie teil, weil es prickelte, dort im Lederminirock aufzutauchen. Und wenn der Alkoholspiegel hoch war, wagte sich schon mal ein Member an sie ran, bis Gerry das Spiel mit einem Faustschlag beendete. Das fand sie toll. Keine Beziehungsgespräche – allein die zwanzig Zentimeter Umfang der Oberarme konnten das regeln. Die Kirchenfeste der Gemeinde Altona, die Dennis organisierte, verschlief sie dann doch lieber. Aber Dennis war lieb. Ohne das Spannungsverhältnis zu Gerry und der Hells-Angels-Szene wäre es mit Dennis jedoch bei einer Nacht geblieben.

Sie fädelte sich in die gesellschaftlichen Kreise ein, wie sie wollte, und fädelte sich wieder aus. Es war wie auf einer Autobahn mit ganz vielen Spuren. Sie hatte dieses Leben geliebt, dieses Leben im Hanseatischen, gern auch mal leicht arrogant, dieses Leben als Hochglanzfassade, von dem jeder Hanseat wusste, dass es dahinter keineswegs immer glänzte. Man musste das eben nur wissen. Dann machte es nichts mehr aus. Denn man stellte sich ja wieder vor die Hochglanzfassade mit den anderen. Und da war man eine Marke, wie Hamburg auch eine Marke war, und betrachtete sich gegenseitig anerkennend als solche. Mit dieser Marke waren sie eins. Und kaum etwas war für sie und ihre Hamburger Freunde wichtiger, als sich mit Leuten und Dingen zu umgeben, die ihre eigene Marke stärkten. Als Caro achtzehn wurde, schenkten ihr ihre Eltern einen Mini. Das passte zu ihr und zu Hamburg.

Wenn Karl Lagerfeld auch meinte, Hamburg sei das Tor zur Welt, aber eben nur das Tor, dann war Caro damit vollends zufrieden. Mochte der Hafen achthundert Jahre alt sein, ihr Leben spielte sich dahinter ab.

Auch heute war sie noch attraktiv. Und sie war mit ihrem körperlichen Zustand außerordentlich glücklich. Mit ihrem intellektuellen sowieso. Denn sie hatte studiert, Fremdsprachen und Lehramt. Lehramt war verdammt anstrengend, und sie hatte abgebrochen. Ihr wurde auch klar, dass sie sich mit den Blagen anderer Leute nicht würde abgeben wollen. Allein schon wegen dieses elenden Mobbings. Aber für Sprachen hatte sie ein Talent, die Sprachen flogen ihr nur so zu. Sie war froh darüber, sich dabei nicht anstrengen zu müssen, weil sie Anstrengung hasste. Sie fand Anstrengung einfach zu stressig. Das Leben funktionierte ja auch ohne Stress. Sie fühlte sich eher wie ein Schmetterling im lauen Wind. Der würde sie mal da und mal dort hintragen, und wo es geil war, würde sie bleiben, solange es geil war. Kam der Wind zu sehr von vorn oder von hinten, mochte sie nicht mehr Schmetterling sein. Kam gar kein Wind, stürzte sie ab. In Hamburg kam immer Wind, aber der war lau genug, damit sie oben blieb. In Hannover war es windstill.

Was ihr aber mittlerweile fehlte, war ein Kerl für immer. Sie war sich schon klar darüber, dass sie keinen Kerl hatte halten können. Alle waren irgendwann abgesprungen. Es war eben nicht der Richtige dabei, war ihre fortwährende Ausrede. Sie merkte, dass irgendwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Warum bekam Caroline von Waldeck den Sohn des größten Reeders Hamburgs, Matthias Adams, nicht an den Haken? Sie, die manche mit Martina Ebm aus den Vorstadtweibern verwechselten, kriegte das nicht hin?! Er hatte sich nie ernsthaft für sie interessiert. Für das Spiel schon. Das Spiel mit ihr war spannend. Aber sie wollte mehr. Und er nicht. So war es immer.

Und in Hannover würde alles noch beschissener sein: In ihrer Vorstellung sah sie einen Skispringer, der die Schanze hinabschoss und elegant im Schnee ausfuhr. Es musste nicht Bestmarke sein. Das war Hamburg. Dann sah sie einen Skispringer auf der Schanze, der hinabschoss, plötzlich wie ein Stein nach unten fiel und auf grünem matschigen Rasen mit Genickbruch noch ein wenig weiterschlitterte, abtransportiert wurde und tot war. Das war Hannover.

Und das war nicht aus der Luft gegriffen, das hatte sich schon gezeigt. Denn im letzten Jahr im Oktober, gerade, als Caro in Hannover angekommen war, hatte ihre neue Kollegin Sabrina sie zu ihrer Silvesterparty eingeladen. Die Alternativen waren ja nicht berauschend. Nach Hamburg hatte Caro bei weitem nicht mehr so viele Kontakte. Sie musste feststellen, dass ein Umzug ›aus den Augen aus dem Sinn‹ bedeutete für die meisten ihrer Kollegen und so einige der Menschen, die sie mal für Freunde gehalten hatte. Man musste eben dabei sein. Sie wollte es ihren Freunden in Hamburg auch nicht übel nehmen. Wer Hamburg verließ, war wohl ein Verräter an der Sache oder an der Marke. Da war die Einladung von Sabrina schon wirklich ein Rettungsanker gewesen.

Sie hätte ja auch zu ihren Eltern fahren können nach Hamburg-Eimsbüttel. Ihre Eltern luden seit Jahren die gleichen zwei Paare ein. Sie sahen sich Acht-Millimeter-Filme aus der Toskana an, die vor zehn oder zwanzig Jahren aufgenommen worden waren, sie aßen Raclette und zündeten kurz vor Mitternacht Raketen. Caro würde lieber in ihrer Wohnung im Zooviertel bleiben als daran teilzunehmen.

Sabrina wohnte in Hemmingen, im ersten Stock einer Villa. Hemmingen war zwar nicht hässlich, aber Hemmingen war nicht Hamburg. Caro war bewusst spät dran gewesen, denn spät dran zu sein war die Ikone der Prominenten. Das hatte sie in Hamburg gelernt. Sie quälte sich damit, nicht früher loszufahren, denn eigentlich hatte sie sich den ganzen Tag gelangweilt. An diesem Tag hatte sie der Gedanke gequält, dass sie vielleicht so ähnlich oberflächlich war wie diese Naddel, oder Nadja abd el Farrag. Aber so war sie nicht, fand sie. Sie hatte ja einen richtigen Job, und sie war nicht populär und eigentlich wollte sie das auch nicht sein, jedenfalls nicht so. Und dennoch hing sie den Gedanken an Naddels unglückliches Leben stundenlang nach, als ob das doch etwas mit ihr zu tun hatte. Und sie fragte sich, ob sie etwa genauso blöd war, wie diese Naddel. Und sie fand die Antwort: Sie war es nicht.

Als sie losfuhr, war sie gestylt bis zum Abwinken, was man ihr jedoch nicht ansah. Das war ja die hohe Kunst. Erst auf den zweiten Blick sollte man ihre Eleganz oder ihren Glamour erkennen, je nach dem, was sie betonen wollte. Sie hatte viele Outfits ausprobiert. In die engere Wahl war schließlich das kleine Schwarze gekommen. Für den Anlass erschien es ihr angebracht, aber nicht für Hannover. Die würden sowieso alle in Jeans rumlaufen.

Danach versuchte sie es mit einer knallengen Jeans in hellblau mit Boots in Grau. Doch das fand sie zu fahl. Sie musste schon Akzente setzen!

Also hatte sie es mit einer Stretchjeans in Schwarz probiert. Zu ihrem Erschrecken kam sie in die Hose gar nicht erst rein! Tränen stiegen in ihre Augen. Was für eine Scheiße! Im Fernsehen liefen gerade die Nachrichten. Aleppo in Syrien war zerbombt worden. Doch das hörte sie nicht. Noch vor einem halben Jahr in Hamburg hatte diese Jeans wie angegossen gesessen! Doch glücklicherweise hatte sie sie auch noch eine Nummer größer – und damit jetzt passend. Beim Oberteil war sie weniger wählerisch. Denn sie hatte keine Lust mehr. Die zu enge Jeans hatte ihr die Laune gründlich vermasselt. Sie probierte ein weißes T-Shirt.

Sie stand in ihrer Jeans vor dem Spiegel – ihrer, wie sie meinte, viel zu großen Jeans, die aber tatsächlich immer noch hauteng war. Dieses Hannover verführte zum Fressen. Frustfressen eben. Sie sah sich oben ohne in der Jeans und fand sich fürchterlich fett. Sie sah genau hin: Ihr Hintern war zu fett geworden und ihre Oberschenkel auch, aber ihre Oberweite war so, wie sie immer war. Ein bisschen mehr als Handvoll. Wobei sie ihre Brüste immer mehr so als Intro für die Männer angesehen hatte: Sie selbst spürte da nicht so viel. Die Musik spielte für sie im Souterrain.

Sie lachte hämisch, denn welchen Kerl wollte sie schon an ihre süße Handvoll am heutigen Silvester ranlassen? Da gab es keinen in diesem Hannover. Weshalb es völlig egal war, wie sie auf der Party auflief. Aber so ganz egal war es ihr eben nicht, denn es ging ihr um sich, wie sie sich fühlte und nicht, wie irgendwelche Nerds oder Vollpfosten aus Hannover sie wahrnahmen. Und genau aus diesem Grund zog sie einfach ein weißes Shirt drüber und veredelte ihre Füße mit schwarzen High-Heels. Da sollten sie doch mal sehen, wie so was in Hamburg ging, diese Niedersachsen, Sachsen oder was auch immer.

John, die Rakete

Sie kam in Hemmingen an und traf auf eine Party, die in vollem Gang war. Die Feier fand in einem großen ausgeräumten Wohnzimmer mit Balkon im ersten Stock statt. Sabrina freute sich, Caro zu sehen. Der Schampus, den Caro zum Vorglühen getrunken hatte, war ihr nicht sehr gut bekommen, denn sie hatte zuvor nichts gegessen. Also musste sie jetzt eine Grundlage schaffen und sie vergriff sich am Nudelsalat, der echt gut schmeckte. Natürlich waren Shrimps und Gambas in Hamburg eine eigene Nummer. Aber für den Moment war Nudelsalat gut genug.

Als sie satt war und wieder ziemlich nüchtern, betrachtete Caro die Szenerie. Sie schätzte, dass ungefähr dreißig Leute da waren, wodurch das Wohnzimmer ganz schön voll wirkte. Alle kannten sich irgendwie und unterhielten sich. Klüngel in Hannover – wie ätzend! Und alle uniformiert in den ungefähr gleichen Jeans. Wie gut, dass sie das kleine Schwarze wieder in den Schrank gehängt hatte.

Caro kannte keinen. Doch dann kam Sabrina auf sie zu. »Hey, soll ich dich mal jemandem vorstellen?«, fragte sie freundlich.

Das war wirklich nett von Sabrina. Doch Caro war das nicht gewohnt. Sie kannte es, dass Menschen auf sie zukamen. So wie Männer zu ihr kamen, die was von ihr wollten. Aber hier kam niemand auf sie zu. Hier musste offenbar sie vorgestellt werden und auf die anderen zugehen.

Dröges Hannover mit seinem Volkswagen-Nutzfahrzeuge-Werk. Wer wollte schon einen Volkswagen? Der Unglanz steckte doch schon in der Marke. ›Volk‹, wer war das bitte? Und dann noch Nutzfahrzeuge. Klang nach Nutztiere. Aufpäppeln, abschlachten, essen. Ja, so was waren die hier in Hannover.

Sie war selbst verblüfft von ihrer neuen Erkenntnis. Ihr Bild über Hannover hatte sich immer mehr verdichtet und traf sogar zu. Sabrina schien das zu merken und winkte erst mal ab, als ob sie Caros Gedanken hatte lesen können, und entschwand. Caro sah sich unschlüssig um, vielleicht gab es ja doch jemanden, der den Kontakt zu ihr suchte.

Bis sie diesen einsamen Mann wahrnahm, der gelangweilt an einem Bier nuckelte und sich scheinbar an dem Buffet festhalten wollte. Nun war sie nicht die Krankenschwester für Gestrauchelte oder Geradeso-noch-Eingeladene, aber der Mann interessierte sie, wenigstens aus Langeweile. Zudem war er optisch ziemlich attraktiv. Er trug eine enge Jeans und einen furchtbar altmodischen braunen Blouson. Wobei sie der Blouson total abtörnte, aber seine Figur ein Gespräch wert zu sein schien. Sie schlenderte hinüber.

»Hi«, sagte sie, »ich bin Caro.«

»John«, sagte er. John war ja schon besser als Andreas, Dieter oder die Neunziger-Version davon – Dennis, oder etwas Ähnliches. Er lächelte sie an. Sein Lächeln war sehr sympathisch. Sie wunderte sich, warum keiner mit ihm sprach. Er stellte sich förmlich vor: »Ich bin John Paulus, CIO bei VGH-IT.«

Aha, der Herr über Bits und Bytes bei Hannovers wichtigster Versicherung. Wobei sein Beruf ja bei einer Silvesterparty keine Sau interessierte, und niemand stellte sich normalerweise so vor außer bei einem Kongress gleichgesinnter Berufskollegen. Caro rollte innerlich die Augen.

Und dann hatte sie es binnen weniger Minuten begriffen: Als er ihr erklärte, warum Lebensversicherungen nicht mehr funktionierten und warum die Geldschwemme der EZB den Markt kaputt machen würde – in dem Moment wurde ihr klar, warum er hier so einsam rumstand. Immerhin war er so gesellschaftsfähig, dass er ihr anbot, ihr einen Drink zu besorgen.

Als er unterwegs war, dachte sie: ›Ups, was war das denn?‹ Denn der Kerl sah gar nicht nach Bits und Bytes aus. Er war trainiert, hatte ein offenes und leicht gebräuntes Gesicht und entsprach überhaupt nicht dem Typ, der nächtelang vor irgendwelchen Computern saß, um irgendwas zu programmieren, das die Welt verbessern würde. Bis auf diesen Blouson, den er anhatte. Der war aus den Achtzigern, völlig out.

Er kam zurück mit einem Caipirinha für Caro, den Sabrina gemixt hatte. Er selbst trank ein weiteres Bier.

Sie standen schweigend nebeneinander. Und er unternahm nichts, aber auch gar nichts, um ein Gespräch anzufangen. Darüber ärgerte sie sich. Denn das passierte ihr selten. Ein Mann, so ein richtiger Mann, hatte die Pflicht, ein Gespräch zu beginnen. Mit irgendeinem Thema, war ja nun so schwierig nicht. Und um sie herum standen Leute und die unterhielten sich alle. Computer-Nerd! Doch der Typ stand echt lässig da. Der war zufrieden mit sich selbst und – das ärgerte sie noch mehr – unternahm nichts. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ihr Betriebssystem zusammenbrach und er irgendeinen Virenscanner auf ihren makellosen Body loslassen konnte. Doch ihr Betriebssystem würde nicht zusammenbrechen, nicht nach einem Caipi und nicht nach zwei.

So standen sie nutzlos nebeneinander, bis es ihr zu blöd wurde. Ihn hatte scheinbar an der Situation nichts gestört. »Für was neben IT interessierst du dich denn so?«, fragte sie belanglos und betont gelangweilt, aber ihren Körper drehte sie so zu ihm, dass er ihre Konturen instinktiv wahrnehmen musste.

»Ich interessiere mich für Märchen«, sagte er.

Sie verschluckte sich an ihrem Caipirinha und musste husten. Sie sah ihn an, um zu prüfen, ob er sie hochnahm. Doch das tat er offensichtlich nicht. Er reagierte auf ihren fragenden Blick mit einem freundlichen Lächeln, als seien Märchen das Normalste der Welt. Was sie ja auch waren, aber für Kinder, dachte Caro, nicht für einen CIO.

Und dann erzählte er in sehr präzisen Sätzen, worum es bei seinem Interesse ging. Worin der Kern von Märchen bestand, warum die Grausamkeit in Märchen gleichzeitig gut und schlecht war, zum Beispiel in ihrer klaren Darstellung des Guten und des Bösen in Figuren, die man einfach begreifen konnte, dass Märchen archetypisches Erleben wiedergeben würden und welche Nachfolger die alten Märchen in der Online-Welt hatten. Er erzählte von langen Nächten und stundenlangen Fehlerbeseitigungen in Rechenzentren, wobei er fasziniert Märchen gelesen hatte. Die Präzision seiner Analysen und Beschreibungen fesselten Caro. Das Thema nicht. Doch genauso überraschend, wie er begonnen hatte, beendete er das Ganze und trank ein weiteres Bier. Das war gut so, denn Caro hatte schon angefangen, sich zu langweilen und sie hatte keine Fragen dazu, denn sie kannte sich mit Märchen nun gar nicht aus. Sie war einfach verblüfft. Sie fand den Typen interessant, weil merkwürdig, also des Merkens würdig.

Da der Abend sowieso für sie gelaufen war, zog sie ihn auf die Tanzfläche in der Wohnung und sie tanzten. Denn mittlerweile tanzten alle. Und die Musik war so laut aufgedreht, dass an ein weiteres Gespräch ohnehin nicht zu denken war. Sabrina hatte Frank Sinatra aufgelegt. Auch nichts zum Abfiedeln.

John war nicht mal untalentiert. Er war nur ein wenig unkonzentriert. Eigentlich war er ein geiler Typ, fand Caro. Dann wurde er mutiger. Seine Hände überflogen mal hier und da ihren Hintern, kaum spürbar, aber eben doch merklich, er streifte rein zufällig dann und wann ihre Brust; er signalisierte ihr ziemlich genau, was er wollte. Aber sehr diskret, fast nicht wahrnehmbar. Er konnte den Takt halten und sie gleichzeitig fast unsichtbar touchieren.

Als sie mal auf die Toilette musste, erkundigte sie sich bei Sabrina über John. Sabrina konnte nur berichten, dass John bei seiner Versicherung, der VGH, ein Shooting-Star auf seinem Gebiet sei, aber eben ein wenig komisch.

In dieser Nacht hatte Caro sich vorstellen können, ihn in irgendeine Besenkammer zu ziehen, da gab es ja prominente Beispiele, oder in einen dunklen Kellerraum, den sie schon finden würde. Doch sie konnte keine Initiative ergreifen, denn das war sie nicht gewohnt. Sie wusste nicht, wie das ging. In Hamburg gab der Mann den Takt vor. Und wieder fand sie Hannover total daneben.

Und dann knallten die unausweichlichen Raketen. Alle standen auf Sabrinas Balkon dicht an dicht gedrängt. Paare, die sich knutschten und sich ein fulminantes neues Jahr wünschten, während es da draußen schüttete ohne Ende. Und Caro mit einem Caipirinha mitten drin, aber allein. Und da kam dieser Kerl, schlich sich von hinten an, presste sich an sie und drückte ihr einen Kuss auf ihre Lippen und sagte: »Ich wünsche dir, dass in diesem Jahr dein Märchen wahr wird. Dein eigenes persönliches Märchen, was immer es ist.« Und das sagte er so respektvoll, dass ihr schwindelig wurde. Wegen ihres vierten Caipirinhas und wegen seines Kusses, der ihre Lippen öffnete, wegen seiner Formulierung, die so wunderschön war, aber auch so gestelzt. Das alles war so widersprüchlich. Und weil das, was er sagte, so respektvoll war und so schön klang, aber total abgehoben und ihr der Sinn nach so etwas Abgefahrenem gar nicht stand, platzte sie heraus: »Ich wünsche dir ein krass geiles neues Jahr, Alter!«

Dann rannte sie in das Wohnzimmer, setzte sich auf ein Sofa und fing an zu weinen. Es war einfach alles zu überwältigend für sie: dieses blöde Hannover, ihre Einsamkeit und diese seltsame Situation auf dieser Party.

John folgte ihr, nahm sie in seine Arme und ließ sie schluchzen. Er hielt sie nur, er verlangte nichts, er war einfach da. Und das kannte sie nicht. Draußen knallten die Raketen und niemand hatte bemerkt, dass die beiden allein hier drinnen saßen.

»Ich möchte nach Hause«, sagte sie irgendwann.

»Möchtest du ein Taxi?«, fragte er.

Sie hauchte: »Ja.«

Er wählte den Taxiruf. Doch um ein halb ein Uhr morgens an Neujahr war keines zu bekommen.

Er bot an, sie zu fahren, und sie nahm das Angebot an, obwohl sie wusste, dass er zwei oder drei Bier getrunken hatte und vielleicht auch einen Caipirinha. Es war ihr egal, denn sie fühlte sich hundsmiserabel. Sie hatte von ihren Eltern gelernt: Das eigene Bedürfnis musste erfüllt sein, sonst war man nicht in der Lage, anderen zu helfen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, setzte voraus, dass man sich selbst liebte. Und wenn man feststellte, dass man sich selbst genug liebte, dann konnte man auch andere lieben. Quid pro quo, hätte ihr Vater, der Lateinlehrer, noch etwas sinnentstellend ergänzt. Wahrscheinlich hätte er es sogar ernst gemeint.

John fragte nach ihrer Adresse, und er fuhr über lauter Nebenstraßen. Das dauerte, und sie war eingeschlafen. Er weckte sie, als sie im Zooviertel angekommen waren. Er stand in der zweiten Spur und sein Blick war auf die Straße gerichtet. Sie stieg aus, hauchte ein mürrisches ›Danke‹ und schlurfte allein zum Haus ihrer Wohnung.

Am nächsten Mittag ziemlich spät auf dem Weg zum Bäcker stellte sie fest, dass er eine Parklücke nicht weit von ihrer Wohnung gefunden hatte. Dort parkte sein Golf. Er war also nicht angehalten worden. War er zu Fuß nach Hause gegangen?

Als sie am späten Nachmittag nachsah, war sein Auto weg. Er hatte es geholt, ohne bei ihr vorbeizuschauen. Sie fühlte sich ziemlich mies. Nicht mal eine Karte hatte er dagelassen, der Blödmann mit den Märchen. Sie sah in die Parklücke. Das war ihr noch nie passiert. Bisher hatten alle, wirklich alle Kerle irgendwie einen Kontakt zu ihr herstellen wollen. Sie musterte den Asphalt. Vielleicht hatte er ja einen Link darauf gesprüht. Bei den IT-Freaks konnte man sich nie sicher sein, was denen so einfiel. Oder vielleicht schwebte eine Drohne darüber, die ihr seine Mail-Adresse auf den Asphalt projizierte. Sie sah tatsächlich kurz nach oben, aber da war nichts. Vielleicht wäre es besser, einen Biologen kennengelernt zu haben: Der hätte dann statt einer Drohne einen Papagei aus dem naheliegenden Zoo geschickt, um eine Telefonnummer rauszukrächzen. Sie bekam Kopfschmerzen. Oder einen Taubenzüchter, der hätte dann eine Brieftaube … Aber bei der Vorstellung des typischen Taubenzüchters wurde ihr auch noch kotzübel.

Der Tag eins des neuen Jahres entsprach dem, was man in Hannover erwarten konnte: Kopfschmerzen bestenfalls und Erbrechen, sonst nichts außer Regen.

Caro rief am Abend Sabrina an. Man bedankte sich, wenn man eingeladen worden war. »Ich hatte so einen kleinen Absturz«, meinte sie entschuldigend.

»Na ja, das hatten so einige«, sagte Sabrina verständnisvoll.

»John hat mich heimgefahren«, sagte Caro.

»Und …?«, fragte Sabrina neugierig nach.

»Er hat mich nur heimgefahren und mehr nicht«, erwiderte Caro.

Ein »Oh« erklang auf der anderen Seite.

»Ich würde mich gern bei ihm bedanken«, sagte Caro, »aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen kann!«

»Kein Problem«, meinte Sabrina, die in ihrem Smartphone suchte und eine Mobilnummer hervorzauberte. »Und noch viel Glück«, sagte sie, »im Neuen Jahr und überhaupt so.«

Caro war versucht, John anzurufen. Aber ihr war schlecht, sie hatte Kopfschmerzen und diesen dunkelbraunen Blouson vor Augen. Da rief sie lieber Matthias Adams an. Doch es meldete sich nur seine Mailbox. Er sei nicht erreichbar, weil gerade auf den Malediven. Sie klickte ihn weg, packte sich auf ihr Sofa, schniefte ein wenig und war frustriert. Dann raffte sie sich auf und wünschte Mama und Papa ein schönes neues Jahr.

Sie hatte ein paar Tage Urlaub und sie beschloss, sie auch zu nutzen. Was war da naheliegender als nach Hamburg zu fahren? Ihre Eltern freuten sich, als sie bei ihnen übernachtete. Caro fiel auf, dass ihr Vater nun langsam ein gebrechlicher Mann wurde und die meiste Zeit zu Hause verbrachte, während ihr ihre Mutter mit ihrem ständigen Gerede vom Zustand ihrer zweiten Karriere gehörig auf die Nerven ging.

Hamburg erschien Caro wie ausgestorben. Nicht nur Matthias war ausgeflogen, eigentlich ihr gesamter Freundeskreis war im Urlaub, in der Sonne oder im Schnee. Und in Hamburg regnete es genauso Bindfäden wie in Hannover, wenn nicht schlimmer.

Einzig ihre alte Freundin aus Kindertagen, Viola, war da, um sich mit ihr zu verabreden. Viola berichtete von einem geradezu phänomenalen Heiratsboom, der in ihrem Freundeskreis ausgebrochen war. Einige waren bis Geesthacht gezogen, weil man dort noch erschwinglich bauen konnte. Eine halbe Ewigkeit von Hamburg entfernt. Scheinbar war Familienplanung angesagt.

Am Anfang des Treffens in der ›Alsterperle‹ mit Blick auf die Binnenalster war Caro noch aufgekratzt und haute ihre coolen Sprüche raus. Doch im Verlauf des Gesprächs wurde sie immer wortkarger. Als Viola dann noch berichtete, dass Matthias Adams auf den Malediven seine Flitterwochen verbrachte, fing Caro an zu weinen.

Viola begriff sofort und sagte: »Sorry, meine Kleine, das wusste ich nicht!«, und nahm sie in ihre Arme.

Hatte Caro die nahende Gebrechlichkeit ihres Vaters zuerst doch nur am Rand wahrgenommen – sie war ja zu sehr mit sich selbst beschäftigt –, wurde ihr nun auch noch klar, dass die Hochglanzpartys zu Ende waren, die Kinderwagen angesagt, die Scheidungen auch und das merkliche Altern ihres Papas obendrauf. Sie fühlte sich, als sei sie das letzte verbliebene Partygirl ihrer Generation in Hamburg.

Caro hing ihren Gedanken nach: Sie sah sich vor ihrem geistigen Auge auf einem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofs am frühen Morgen um sechs nach einer durchfeierten Nacht an der Bar des Elysee-Hotels in ihrem kleinen Schwarzen, und der gerade abfahrende Zug war voll ihrer Freunde, die lachende Kinder an der Hand oder auf dem Arm hielten. Sie winkte dem Zug hinterher und verließ den Bahnhof. Vor dem Bahnhof stieg Matthias in einen Porsche und rief ihr zu: »Natalie ist im Krankenhaus, unser zweites Kind!«, winkte er ihr zu und rauschte von dannen.

Viola bemerkte die Schwermut ihrer Freundin. »Also Alexander und ich wollen nicht heiraten, und wir wollen auch keine Kinder!« Caro sah auf. »Unsere Wohnung in der Rothenbaumchaussee geben wir nicht auf. Das ist alles so schön! Außerdem schlafen wir kaum noch mit einander. Ist ja auch nicht nötig, da hat Alexander schon recht. Der Sex bei Paaren, die lange zusammenleben, wird doch total überbewertet! Wir vertrauen uns und kuscheln ganz lieb miteinander, ist das nicht toll?«, und dann lachte Viola etwas komisch. »Hamburg ist super«, fügte sie noch an.

Caro sagte gar nichts mehr.

»Also war echt schön, dich getroffen zu haben«, meinte Viola nun, »aber ich muss zurück in mein Lektorat, das ist total der Stress Anfang des Jahres. Deshalb hab ich auch kaum Urlaub gehabt. Du glaubst gar nicht, was Autoren so an Mist abliefern. Gerade prüfe ich einen Roman, der ›Liebeslos‹ heißt. Als ob der Autor die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Die Story ist schon interessant, aber ob das für unseren Verlag reicht? Ich weiß es nicht. Mach es gut, meine Liebe!« Und dann warf Viola Caro ein Bussi rechts und einen links auf die Wange und war entschwunden ins Reich ihrer Bücher.

Wie konnte das sein? Wie konnte sich Hamburg so verändert haben, seit sie weg war? Es waren doch nur ein paar Monate gewesen!

Als Caro in ihr Elternhaus kam, war ihr Pa gerade bei seinem Hausarzt ein paar Straßen weiter. Herzrhythmusstörungen. Ihre Mama war cool wie immer, als Caro verkündete, nach Hannover zurückzufahren. Sie bot ihre Hilfe beim Packen der Sachen an und verabschiedete die Tochter herzlich. Allein, als ihre Mutter fragte: »Soll ich deinen Vater von dir grüßen?«, bekam Caro ein schlechtes Gewissen.

Mit John am Maschsee

Zwei Stunden später war Caro zu Hause und fühlte sich heimatlos in ihrer Wohnung in Hannover. Sie fühlte sich, als ob jemand ihr den Boden unter den Füßen weggezogen habe. Das, was jetzt passiert war, konnte doch nicht die Realität sein. Sie könnte in die USA ausreisen, sich ein Wohnmobil kaufen und durch die Staaten reisen wie Uschi Obermeier. Aber sie war nicht Uschi Obermeier. Sie hatte keinen Langhans, sondern mal für zwei oder drei Nächte Matthias Adams und den Hells-Angels-Chef der Sektion Hamburg, bis ihr nach ein paar richtigen Ohrfeigen die Lust vergangen war. Blieb John Paulus. Der würde sie ins Landesmuseum einladen, na Glückwunsch. Aber ein Versuch war es ja wert. Es goss immer noch Silberfäden, nur jetzt in Hannover.

Sie rief John an. Er freute sich sehr über ihren Anruf. Geschlagene drei Mal berichtete er davon, wie er die Fahrt unter Alkoholeinfluss mitten durch Hannover zu ihrer Wohnung, diese ›Käßmann-Fahrt‹, überstanden hatte. Und nach jedem Mal lachte er etwas kindisch. Es sei das größte Abenteuer, das er wirklich erlebt habe. Er sei ja quasi ein Krimineller gewesen. So was Spannendes würde er sonst nur in seinen Märchen lesen. Caros Geduld war fast am Ende, als er seinen Monolog unterbrach und einen Vorschlag machte: »Im Landesmuseum gibt es übrigens eine Ausstellung über die Römer. Wie sie gelebt haben, ihre Städte und Straßen gebaut haben, ihre sagenhaften Brücken und über ihre Kultur. Hast du nicht Lust, dir das mal mit mir anzusehen?«

Caro stockte der Atem. Nicht, weil die Einladung Aufregung versprach, sondern wegen der Erkenntnis, wie tief sie in ihren eigenen Augen gesunken war. Aber John Paulus war ein CIO. An dem Mann musste was dran sein. »Mein Papa ist Lateinlehrer, den würde das sicher interessieren«, sagte Caro.

»Dann nimm ihn doch einfach mit!«, forderte John Caro fröhlich auf.

»Er ist gerade unpässlich«, erwiderte sie unwirsch.

»Oh, wie schade!«, meinte der IT-Leiter.

»Also gut«, hörte sich Caro sagen, »dann morgen um vier beim Landesmuseum?«

»Ich freue mich!«, sagte John.

Vielleicht hätten sie sich unterm Schwanz treffen und vorher einen Kaffee trinken sollen. Caro konnte eine gewisse und erneut auftretende Übelkeit nicht verhindern. Danach ging sie sofort schlafen. Sie war heimatlos geworden. Von heute auf morgen. Fast alle ihre Freundinnen in Hamburg hatten gecheckt, was abging, hatten sich Ehemänner und Kinder angeschafft, nur sie nicht.

John Paulus wartete fünf Minuten vor vier auf seine Verabredung, die um halb fünf völlig abgehetzt eintraf. Sie zog ein Gesicht, das zum Wetter passte. Es hatte nicht aufgehört zu regnen. Den Oberprogrammierer der VGH ließ das alles völlig unbeeindruckt. Er freute sich ehrlich auf die Ausstellung. Er las fast jede Erläuterungstafel akribisch, während Caro sich die Exponate anschaute und gelangweilt auf den Lesenden wartete. John wusste viel über die Römer und erklärte Caro das halbe Römische Reich.

Doch irgendwann sah er in ihr Gesicht und fragte: »Interessiert dich das Ganze hier eigentlich?«

Und sie schüttelte ihren Kopf. Caro wusste auch mehr nicht zu sagen, denn es war ihr irgendwie peinlich.

»Ist doch kein Problem«, sagte John, »dann sehe ich mir die Ausstellung später allein an oder mit deinem Pa und wir gehen einen Kaffee trinken oder ins Sprengelmuseum, ist nebenan!«

»Kaffee trinken wäre schön«, meinte Caro erleichtert.

»Wir können auch in die Kantine der VGH gehen«, er sah auf seine Uhr, »die haben noch zehn Minuten auf und ist nur fünf Minuten um die Ecke, oder ins Pier 51.«

»Ins Pier, bitte«, flehte Caro ihn an.

Sie gingen nebeneinander her wie zwei Fremde, als sie das Landesmuseum verlassen hatten. Doch sobald sie den Maschsee erreicht hatten, legte Caro ihren Arm um John. Er war der Einzige, der sich um sie in den letzten Tagen wirklich gekümmert hatte. Und sie spürte, dass er ein Freund sein könnte.

John ließ sich die Umarmung gefallen, doch sein Gang wurde hölzerner, steifer. Daraufhin ließ sie ihn los. Er sagte nichts, in der ganzen halben Stunde auf dem Weg vom Sprengelmuseum bis zum Pier. Ihm schien das nichts auszumachen, aber Caro war genervt ohne Ende.

Als sie im Pier angekommen waren, fragte eine freundliche junge Dame, ob sie essen oder nur was trinken wollten. Sie sahen sich an und er sagte: »Also nur was trinken.«

Und das reichte Caro jetzt. »Klar wollen wir was essen!«

Er sah erstaunt zu ihr herunter, zuckte mit den Schultern und die beiden ließen sich zu einem freien Tisch mit Blick auf den See führen.

Nun saßen sie an dem Tisch vis à vis. Und schwiegen sich an. John schaute nach draußen auf den See und kümmerte sich gar nicht um sie. Ihm gefiel es scheinbar.

»Was macht denn nun so ein CIO bei der VGH?«, wollte Caro schließlich wissen. Er lächelte sie an und wollte gerade ansetzen. Caro stoppte ihn. »Lass uns vorher in die Karte schauen«, meinte sie.

Eine Kellnerin kam vorbei, um die Wünsche aufzunehmen. Caro nahm ein Pangasius-Filet und John – ein Wasser mit Kohlensäure.

Caro verdrehte innerlich die Augen. Bis das Essen kam, wollte John richtig ausholen, um ihr die Aufgaben eines CIO bei der VGH zu erklären. Doch nach den ersten Sätzen stoppte sie ihn. »Die Kurzform«, meinte sie, »die Brevitas, wie mein Vater es formulieren würde, würde schon reichen.«

Und das machte er dann auch. In fünfzehn Minuten erklärte er ihr seinen Job bei der VGH so, dass sie ihn sogar verstand. Diese Fähigkeit fand sie bewundernswert. Er hatte nicht ausgeholt.

Sie sah ihn das erste Mal bewusst an und erkannte, dass er eher weniger deutsche Ursprünge hatte. Dafür waren sein Kinn zu markant, seine Statur zu athletisch und gleichzeitig fast dünn. Seine Augen waren braun und schmal und seine Haut braun, selbst im Winter in Deutschland. Seine Haare waren so schwarz, wie das bei Deutschen eher selten der Fall war.

Dann kamen das Essen und das Wasser mit der Kohlensäure. Caro fand es unmöglich, dass nur sie aß. Aber es war sein freier Wille gewesen, ihr bloß dabei zuzuschauen und an seinem Wasser zu nippen.

Er fragte nichts, sah nach draußen auf den See, trank dann und wann mal ein Schlückchen und wirkte zufrieden. Ein seltsamer Mann, wie Caro empfand. Er fragte auch nicht nach ihr, was sie machte, wo sie herkam, was sie wollte, was sie vom Leben erwartete. John war einfach nur da mit seiner freundlichen Zugewandtheit ihr gegenüber. Das hatte sie noch nie erlebt. Das kannte sie nicht. Aber langweilig war es trotzdem. Deshalb fragte sie ihn nach dem Essen nach seiner Familie. Er wirkte ja so offen, dass sie hoffte, er würde antworten. Wenn man schon mal ein solch komisches Gewächs am Tisch hatte, musste man auch etwas darüber erfahren, fand sie.

Er freute sich über die Frage und berichtete, dass beide Elternteile Arbeiter bei VW in Wolfsburg seien. Er habe seine Kindheit in einem schönen Haus auf dem Land in der Nähe von Wolfsburg verbracht. Allein die Schichtarbeit bei VW sei unschön gewesen, weil immer nur ein Elternteil zu Hause gewesen sei. Und manchmal, bei Umlegung der Schichten, waren auch beide Elternteile fort gewesen. Da habe er sich einsam gefühlt. Aber er habe ja seinen Computer gehabt. Er sei ein sehr guter Schüler gewesen. Er lächelte. Seine Eltern waren aus Rumänien eingereist, Siebenbürgen-Sachsen aus Braşov. Caro schaute interessiert, denn Braşov hatte sie noch nie gehört. John übersetzte: »Kronstadt«. Aber das hatte Caro auch noch nie gehört. Er brachte sie weiter auf die Spur: »Karparten«. Davon hatte sie gehört. »Transsilvanien und Drakula«, davon hatte sie noch mehr gehört. Aber wo genau das war, wusste sie trotzdem nicht.

Seine Eltern seien ja was geworden mit dem Haus in der Nähe von Wolfsburg, und er hatte auch was werden wollen. Daher interessierte er sich weniger für Computerspiele, sondern für IT, die jedem nutzte.

Caro war verblüfft. Sie saß einem Musterschüler, einem etwa vierzigjährigen Lehrerhaustier gegenüber. Und sie fragte sich, ob dieser erfolgreiche Streber schon jemals etwas mit Frauen zu gehabt tun hatte. Das weckte ihre Neugier. Und die Lust auf eine Jungfrau. Denn das hatte sie noch nie gehabt!

John lächelte schüchtern.

Caro lachte ihn offen an. »Ich habe da eine Idee.« Sie war ihr spontan eingefallen. »Wir waren im Landesmuseum und haben Römer geguckt und heute Abend können wir doch etwas zusammen unternehmen, das mir Spaß macht«, schlug sie vor. »Lass uns in den Infinity-Club gehen und abtanzen! Der Club ist in der Marktstraße.«

John freute sich sichtlich. »Wann soll ich dich abholen, so gegen acht?«

Caro lachte laut los: »Die machen erst um elf Uhr abends auf, warst du noch nie in so einem Laden?«

»Nein«, meinte er und nichts wies in seinem Gesichtsausdruck darauf hin, dass ihm das peinlich sein könnte.

»Warst du überhaupt schon mal in einem Club oder in einer Diskothek?«, fragte Caro, ihren Kopf etwas ungläubig zur Seite geneigt.

»Nein, noch nie«, sagte er gelassen. »Aber ich freue mich auf einen schönen Abend!«

Diese auch in Spaßdingen offenbar völlig unerfahrene männliche Jungfrau fand Caro echt klasse. Das hatte sie seit ihren Jugendtagen nicht mehr gehabt. Sie hatte nur die Sorge, ob John durchhalten würde, bei dem, was sie vorhatte. Sie hatte nicht richtig geplant, aber sie hatte eine Idee und ungefähre Vorstellungen für die Nacht. Und sie hatte Bedenken, ob er das gut wegstecken würde, die Lautstärke, die Musik, die anderen Leute. Caro fiel das Lied Disko von Jan Delay ein, sie bekam es nicht mehr so genau hin und münzte den Text auf John um:

»Ist er eher der Regungslose, Sofa, Fernseher und tote Hose

Oder ist er genau das Gegenteil

so auf Karriere geil und Lehrerhaustier-Style

Das sind zwei Extreme

die kann man auf Dauer nicht empfehlen

denn wenn er noch nie auf Party war

kann’s in ihm kälter werden als in Stalingrad.«

John brachte Caro nach Hause. Sie verabschiedeten sich mit Küsschen auf die Wange. Das Date war daneben gewesen. Aber der Mann war es nicht und ihre Idee war es schon gar nicht.

Sie vergewisserte sich dennoch: »Holst du mich um zehn ab?« Sie wusste, dass der Club wie immer völlig überfüllt sein würde, da war es gut, früh genug vor Einlass dort zu sein.

John nickte und verabschiedete sich.

Das Infinity-Desaster

John bewohnte eine kleine Wohnung in Vahrenwald im Norden Hannovers. Das war nicht die Wunschgegend für viele Wohnungssuchende. Ihm war es egal. Die zwei Zimmer reichten ihm, und die Wohnung war billig. Als CIO verdiente er sehr gut, und er hatte auch aufgrund seiner sparsamen Lebensführung ein kleines Vermögen angehäuft.

Er freute sich auf die Nacht in dem Club mit geradezu kindlicher Neugier, denn in so einem Laden war er noch nie gewesen. Ein Club war für ihn wie ein neues Programm. Die Bestandteile kennenlernen, die Stärken sehen, die ein Programmierer implementiert hatte, und auch seine Schwächen, die zu fehlerhaften Ergebnissen bis zum Absturz führen konnten. John freute sich darauf, mit Caro zusammen zu sein. Mit ihr war es einfach angenehm. Er hatte in ihrer Nähe das Gefühl des Begehrens kennengelernt. Doch es war für ihn so fremd, dass er es beiseiteschob.

Er dachte nicht darüber nach, ob der Nachmittag gelungen gewesen war. Für ihn war er schön gewesen und Caro hatte ja ihren Vorschlag eingebracht. Das war also in Ordnung. Eine ausgeglichene Bilanz.

Er googelte das Infinity und telefonierte kurz. Dann arbeitete er noch ein paar Minuten an seinem Computer und legte sich hin.

Er konnte sozusagen auf Befehl schlafen. Er war kein Soldat, der gelernt hatte, dass man schlief, wenn es dazu die Gelegenheit gab, weil man gerade mal sicher war. Er konnte schlafen, weil er vollkommen im Gleichgewicht mit sich und seinem Leben war. Er trank noch ein Wasser, stellte den Wecker, kuschelte sich unter seine Decke und war eingeschlafen.

Gegen einundzwanzig Uhr klingelte der Wecker. Er duschte, zog sich an und aß noch etwas. Dann fuhr er mit der Straßenbahn in Richtung Zoo.

Caro wollte sich auch ausruhen, aber sie konnte nicht einschlafen. Wie immer rasten zu viele Gedanken durch ihren Kopf. Der IT-Maniac war das lebende Beispiel der Bits und Bytes auf zwei Beinen. War der so ein Typ, den sie sich erhoffte? Eher nein. Aber vielleicht hatte sie bloß vorschnell seinen Job und seine Zurückhaltung zusammenfasst und war dadurch zu dem vernichtenden Urteil der in ihm hausenden drögen Langeweile gekommen. Sie wusste es nicht. Wenigstens sah er gut aus mit seiner braunen Haut, dem pechschwarzen kurzen Haar und seiner Figur.

Trotzdem stellte Caro sich Grundsatzfragen. War sie in Hannover richtig aufgehoben? Wollte sie nicht eher nach Hamburg zurück? Sie müsste dafür kündigen und einen neuen Job finden! Doch was würde sie vorfinden in Hamburg? Lauter Leute, die nun geheiratet und Kinder hatten. Und Leute, die schon wieder geschieden waren. Darin bestand ja eine Chance. Wenn Matthias sich scheiden ließ, dann könnte sie ihn heiraten. Doch wie würde sie mit Kindern klarkommen? Sie hatte keine Erfahrung mit Kindern und eigentlich wollte sie auch keine.

Und dann erinnerte sie sich zu allem Überfluss an ihren Besuch bei ihren Eltern. Ihr Vater gebrechlich, ihre Mutter Frühlingsluft witternd und mit eiskalter Durchsetzungskraft auf der Karriereleiter unterwegs.

Über diesen ganzen Sorgen schlief sie dann doch ein, auch wenn sie sich nur kurze Ruhe gönnte, denn sie brauchte Zeit, um sich zu stylen. Das war wichtig, um ihre Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Sie bestand darin, John ein wenig zu reizen, ihn aus sich rauszulocken.

Um halb zehn war sie fertig. Der atemberaubende Mini zeigte ihre endlosen Beine, das Tanktop hatte Dekolleté, ihre Haare glänzten braun, ihre blauen Augen erstrahlten unter dem schwärzesten Lidschatten, den Hannover je gesehen hatte, und ihre Lippen betonten den dunklen Ton des Abends mit einem Lippenstift in Dunkelrot, das gut zu dem schwarzen Lidschatten passte.

Sie war zufrieden mit sich, bis auf die Tatsache, dass ihr Magen knurrte. Jetzt noch was zu essen, fand sie total unangebracht, nachdem sie sich zehn Minuten zuvor die Zähne gründlich geputzt hatte. Aber sie hatte Hunger. Und deshalb aß sie noch schnell eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank, als es klingelte.

Wie erwartet stand die leibhaftig gewordene Langeweile vor der Haustür. Caros Fernseher lief und der Jingle der Tagesthemen war zu hören. Also pünktlich – wirklich auf die Sekunde. Sie schauderte, aber sie fragte sich gleichzeitig, wie man so was hinkriegte. Sie schaffte das nie. Nachdem sie den Summer der Haustür betätigt hatte, befiel sie ein Schaudern in der Vorstellung, dass er gleich wieder mit seinem dunkelbraunen Lederblouson vor ihr stehen würde.

Als sie die Wohnungstür öffnete, war sie dagegen ein wenig überrascht. Er trug eine trendige schwarze Lederjacke zu einer engen schwarzen Jeans. Er hielt ihr die Hand hin, doch sie nahm ihn einfach in ihre Arme und küsste ihn auf die Wange.

Sie bat ihn reinzukommen und bot ihm etwas zu trinken an. Er meinte: »Ein Wasser vielleicht?«

»Du trinkst jetzt nicht den ganzen Abend Wasser, oder?« Sie hatte einen drohenden Unterton in ihrer Stimme und meinte dann: »Ach quatsch, wir fahren jetzt gleich los!«

Das Infinity lag in der Marktstraße im Zentrum Hannovers nicht weit von der Marktkirche entfernt. Um zehn Uhr abends war die Bahn schon ziemlich leer bis auf Nachtschwärmer wie sie.

Als sie ausstiegen, schien das Wasser aus Eiskübeln geschüttet zu werden, so viel und so kalt regnete es herab.

»Boah, was für eine Scheiße!«, keifte Caro. John zog einfach einen Arm aus seiner Lederjacke und hielt sie über ihre beiden Köpfe. Das nützte nicht viel, aber immerhin. Was das Ganze nun drastisch verschlimmerte, war die Schlange vor dem Club, die Caro ja eigentlich erwartet hatte. Missmutig stellte sich Caro ans Ende der Menschenmenge. Doch John zog sie mit sich an allen vorbei.

»John, das geht doch nicht …« Sie stemmte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen seinen Zug. »Lass die Scheiße!«, schrie sie ihn an. »Was meinst du, was die hier mit Vordränglern machen bei dem Wetter?!«

Doch John zog sie weiter. Schließlich musste sie aufgeben. Mit ihren hochhackigen Pumps konnte sie ihn nicht ausbremsen, ohne den Verlust eines Absatzes zu riskieren. Und außerdem hatte er natürlich sowieso mehr Kraft als sie. Und tatsächlich: Die ersten in der Schlange Wartenden murrten und motzten, als sie vorbeigingen. John rief denen fröhlich zu: »Eintrittscode!«

»Wie, Eintrittscode?«, fragten Einzelne erstaunt. Caro schaute nur noch verwirrt.

»Hier gibt’s keinen Eintrittscode, du hast ’ne Karte oder stehst in der Schlange, meinst, uns wohl verarschen zu können«, pöbelte einer.

John zog an allen vorbei, bis er am Eingang stand, dort, wo man auch hätte bezahlen können. Er zog einen Zettel aus der Gesäßtasche und las vor: »iU4A?yd2.«

»Hat der nicht alle Lichter am Lüster?«, fragte eine junge Frau mit blonder Mähne hinter ihm.

»Ah, du bist das!«, sagte der Mann an der Kasse. »Hat tatsächlich funktioniert. Das bieten wir auf jeden Fall jetzt auch an. Das geht ja ratzfatz.« Und sie waren im Club.

»Was war das? «, fragte Caro, als sie die Jacken an der Garderobe abgaben. »Wieso sind wir jetzt drin, ich meine, so schnell, und was hat das mit dir zu tun?«

Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern zog sie zur Bar. Noch konnten sie sich die Plätze aussuchen. Für die Verhältnisse des Nachtlebens waren sie früh dran. Schließlich standen die, die rein wollten, alle draußen unter der Druckbetankung von oben.

Caro ließ nicht locker. »Was hast du gemacht?«, fragte sie.

Doch er stellte eine Gegenfrage: »Was trinkst du?«

Da kam auch schon der Barmann, den Caro anerkennend musterte. Doch mit einem Barmann hatte sie schon mal etwas gehabt. Sie war eben ein weitgereistes Mädel, was das anging. Der Gedanke an den Barmann vergangener Zeiten verzögerte ihre Bestellung, doch fast reflexartig sagte sie: »Schampus, bitte!« Bei dem Gedanken an den verflossenen Barmann fiel ihr auch noch der Croupier ein, den sie mal kennengelernt hatte. Dabei war sie noch nie in einer Spielbank gewesen. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie die erste Panne mit ihrem Mini hatte. Bei diesen vielfältigen Reminiszenzen bekam sie gar nicht mit, dass John sich einen Caipi bestellte.

»Wieso sind wir vor allen anderen hier drin?«, fragte sie nun erneut.

John grinste selbstsicher. »Ich habe heute Nachmittag hier angerufen. Ich hätte Karten vorbestellen und dann auch noch abholen und bar bezahlen müssen. Das Wetter war ja vorhin fast so schlimm wie jetzt.« Caro stand staunend der Mund offen. Sie wusste nicht, was noch kam, aber das entsprach nicht dem Märchenonkel von Silvester. »Da habe ich denen erklärt, dass bei dem Wetter kaum Leute kommen würden, um Karten vorher zu kaufen. Es sei doch viel intelligenter, ein Bestellsystem zu installieren.«

Caro schaute ungläubig. »Wie jetzt?«, fragte sie.

»Es ist einfach: Ich habe denen über ihre IP-Adresse ein Bestellsystem installiert, das einen Eintrittscode vergibt, nachdem du bezahlt hast. Deshalb brauchten sie noch eine Bezahlfunktion. Also einen Warenkorb und die Kasse. Das hat gedauert, bis die ihre IBAN rausgefunden hatten. Und dann habe ich mich gleich mal als Testgast angeboten, die Kohle rübergeschoben und das System hat mir den Eintrittscode gemailt.«

»Genial«, sagte Caro fassungslos.

»Das ist nicht genial, das ist total einfach. Das Schwierigste daran war, denen zu verklickern, dass die Kassenkraft heute Abend informiert ist und den Eintrittscode vergleichen wird. Aber hat ja geklappt! Cheers!« Er hob sein Caipi-Glas und stieß mit ihrem Champagner an.

Caro kam ins Grübeln. Das war doch nicht der Märchenerzähler von Silvester und der Römerfreund aus dem Museum? Der hatte sie wie ein Cowboy in den Club gezogen, während sie sich wie ein bockiges Pferd gegen sein Lasso stemmte, der war mit der Pöbelei in der Schlange total easy umgegangen, der hatte die Führung übernommen gegen ihren Widerstand. Und dann hatte er sich zuvor noch dieses geniale Bezahlteil ausgedacht, um ohne Regendusche in den Club zu kommen.