Liebling wollen wir uns nicht scheiden lassen - Christine Eisel - E-Book

Liebling wollen wir uns nicht scheiden lassen E-Book

Christine Eisel

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Beschreibung

Kopfschüttelnd müssen Andrea und Thomas mit ansehen, dass sich in ihrem Bekanntenkreis ein Paar nach dem anderen trennt, sobald die Kinder flügge werden. So etwas kann ihnen nicht passieren! Doch dann zieht sogar Andreas beste Freundin zu Hause aus, und ein Mädelsabend, bei dem reichlich Prosecco fließt, öffnet Andrea die Augen: Hat sie nicht immer zugunsten der Familie zurückgesteckt? Als sie Thomas eröffnet, dass sie ihre Kreativität in eine Werbeagentur einbringen will und nicht mehr ständig für alle zur Verfügung stehen wird, hängt der Haussegen schief, und Andrea sucht sich eine eigene Wohnung. Bei ihrem Chef Rolf findet sie hingegen viel Wertschätzung. Wird die Trennung Andrea endlich zum Glück verhelfen?

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kurzbeschreibung

Kopfschüttelnd müssen Andrea und Thomas mit ansehen, dass sich in ihrem Bekanntenkreis ein Paar nach dem anderen trennt, sobald die Kinder flügge werden. So etwas kann ihnen nicht passieren! Doch dann zieht sogar Andreas beste Freundin zu Hause aus, und ein Mädelsabend, bei dem reichlich Prosecco fließt, öffnet Andrea die Augen: Hat sie nicht immer zugunsten der Familie zurückgesteckt? Als sie Thomas eröffnet, dass sie ihre Kreativität in eine Werbeagentur einbringen will und nicht mehr ständig für alle zur Verfügung stehen wird, hängt der Haussegen schief, und Andrea sucht sich eine eigene Wohnung. Bei ihrem Chef Rolf findet sie hingegen viel Wertschätzung. Wird die Trennung Andrea endlich zum Glück verhelfen?

Christine Eisel

Liebling, wollen wir uns nicht scheiden lassen?

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2023 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

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Copyright © 2023 by Christine Eisel

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-457-8

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Kapitel 1

„Mama, kannst du mir mal den Reißverschluss zu machen?“ Lisa raffte den Rock ihres langen Kleides zusammen, während sie aus dem Badezimmer stöckelte. Mit einem großkrempigen Hut würde sie aussehen wie die junge Audrey Hepburn.

„Mein Gott, Kind, du siehst hinreißend aus!“ Wunschgemäß half Andrea ihrer Tochter, den Reißverschluss zu schließen. „Auf diesem Abiball werden sich alle Jungen aus deiner Stufe in dich verlieben – wenn sie es nicht sowieso längst getan haben.“

„Ach, Mama!“ Unwillig runzelte Lisa die Stirn. „Immer musst du so übertreiben. Du hast keine Ahnung. Ich sehe weder besser aus als die anderen aus meiner Klasse noch interessiert das die Jungs aus unserer Stufe überhaupt.“

Thomas betrat das Wohnzimmer, blieb auf der Schwelle stehen und strahlte seine Tochter an.

„Ein Engel hat unser Haus betreten.“ Er breitete die Arme aus und zog Lisa vorsichtig zu sich heran, ohne ihr schönes Kleid zu zerdrücken. „Auf jeden Fall wird es am ganzen Abend keinen Vater geben, der stolzer auf seine Tochter sein könnte als ich.“

Lisa strahlte.

Andrea schüttelte den Kopf. Väter und Töchter!

Von allen Seiten strömten die Abiturienten mit ihren Familien zur Stadthalle, der Eventlocation, die die Schüler für den Abiball gemietet hatten. Der Festsaal füllte sich mit hochaufgeschossenen jungen Männern, die sich in ihren Anzügen noch sichtlich ungewohnt bewegten, und mit erstaunlichen Elfchen, Engelchen, Mini-Vamps und Modepüppchen. Ein Tuscheln und Kichern erfüllte den Raum, und Andrea lächelte bei der Vorstellung, dass diese süßen jungen Dinger schon ihre Reifeprüfung abgelegt hatten.

Sie hakte sich bei Thomas ein und seufzte. „Tja, und plötzlich ist unser Küken groß und wir entlassen es ins Leben...“

Erst letztes Jahr hatte Lisas Bruder Thilo in diesem Saal seinen Abiball gefeiert; inzwischen studierte er Elektrotechnik an der TU Darmstadt, also in der Innenstadt. Er war aber ins Studentenwohnheim gezogen und kam meist nur am Wochenende nach Hause, und nicht einmal jede Woche. Er war aber ins Studentenwohnheim gezogen und kam meist nur am Wochenende nach Hause, und nicht einmal jede Wochen. Doch dieses Wochenende war er da, denn Thilo hatte es sich nicht nehmen lassen, an der Abifeier seiner Schwester teilzunehmen, um seine alten Lehrer und die Schüler und Schülerinnen aus der Klasse unter ihm wiederzusehen. Seine Eltern sahen ihn im regen Gespräch mit der Englischlehrerin Frau Rothkamp und dem Biolehrer Herrn Leise. Wie viel erwachsener und selbstverständlicher sein Umgang mit den Lehrern jetzt, ein Jahr nach dem Abitur, schon war! Er war nicht mehr Schüler, sondern ein junger Mann, und Andrea fragte sich, wie Lisa sich wohl in einem Jahr verhalten würde. Wann wird ein Mädchen zur Frau? Und woran macht man das fest? Und wenn die eigene Tochter schon eine Frau war, was war Andrea dann?

„Was lächelst du so versonnen in dich hinein?“, fragte Thomas sie.

„Ach, mir wird nur gerade klar, wie alt wir selbst schon sind, jetzt, wo unsere Kinder erwachsen sind. Dabei fühle ich mich selbst innerlich eigentlich nicht richtig ausgewachsen, so als hätte mein Leben noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht.“

Thomas legte ihr den Arm um die Schultern.

„Und du siehst auch gar nicht alt aus. Immer noch mein hübsches, sportliches Mädchen.“ Er strich ihr sanft über den kurzen, blonden Schopf. „Aber es ist schon merkwürdig, wenn die Kinder flügge sind. Weißt du was? Jetzt beginnt unsere schönste Zeit, du wirst sehen! Wenn wir uns nicht mehr so viel um die Kinder kümmern müssen, haben wir auch wieder mehr Zeit füreinander.“

Es wurde Zeit, die Plätze einzunehmen. Der große Saal war in zwei Ebenen aufgeteilt. Die große Tanzfläche in der Mitte des Saals lag auf der unteren Ebene, an dem Mischpult daneben waren die Mikros für die Reden aufgebaut, und eine Ebene höher gruppierten sich um die Tanzfläche die zahlreichen Tische, so dass man von oben einen guten Blick auf den Hauptort des Geschehens hatte. Das Festkomitee hatte alles so opulent wie möglich organisiert. Die Schüler hatten sich mit möglichst festlicher Kleidung in Schale geworfen. Auch der Saal war überaus prachtvoll geschmückt. Die weiß eingedeckten Tische, die mit weißen Hussen überzogenen Stühle und die strahlenden Lichter im üppig mit Blumen und Luftballons geschmückten Raum blendeten die Besucher geradezu; sie gaben dem Fest den Anstrich einer Gala. Wie anders die Abiturfeiern noch zu Andreas Zeit gewesen waren! Viel schlichter, ohne großes Brimborium und nach der Zeugnisverleihung nur eine wilde Fete in Jeans und ohne Eltern.

Lisa, die sich schon in den Pulk der jungen Leute gestürzt hatte, kam noch einmal zurück zu ihren Eltern.

„Ich habe gedacht, dass ihr am besten neben den Eltern von Janosch sitzen könnt, die kennt ihr ja gut.“ Sie führte Andrea und Thomas zu einem Tisch auf der rechten Seite in der Nähe des Mischpultes.

„Hallo Elke, hallo Julius! Schön, dass wir an einem Tisch sitzen!“

Andrea freute sich über die vertrauten Gesichter; sie kannten Elke und Julius schon seit vielen Jahren aus der Nachbarschaft. Die Männer fingen sofort ein Gespräch über Fußball an, und Andrea nahm neben Elke Platz.

Lisa und Janosch, die schon von Kindheit an gut befreundet waren, verschwanden wieder im Getümmel, nachdem sie die Tischvergabe arrangiert hatten.

„Guck mal da drüben!“, sagte Elke. „Hast du gesehen, dass die Mutter von Annika allein an einem Tisch sitzt? Ihr Mann ist wohl nicht mitgekommen. Sollen wir sie nicht zu uns herüberholen, die Kids sind ja später doch nur unterwegs, und dann hat sie niemanden, mit dem sie sich unterhalten kann.“

„Aber sicher, wir haben genug Platz für die beiden, und Lisa und Janosch freuen sich bestimmt, wenn auch Annika mit uns am Tisch sitzt.“

Sie winkten Monika, die Mutter von Annika, zu sich herüber.

„Was ist los, warum ist dein Mann nicht mitgekommen?“, fragte Andrea.

„Er ist schon anwesend, aber er sitzt da hinten auf der anderen Seite.“ Monika zeigte auf die Tische jenseits der Tanzfläche. Auf die fragenden Blicke der beiden anderen antwortete sie mit gesenkter Stimme:

„Wir haben uns getrennt.“

„WAS?“ rutschte es Andrea heraus. „Warum das denn, ihr wirktet doch immer so harmonisch und ...“ sie zögerte. „Irgendwie ganz normal.“

Monika grinste leicht verlegen. „Tja, harmonisch und normal, das dachte ich auch, aber was ist schon normal? Ernsthaft, definier das mal für dich. Ich sag dir, das ist nicht so einfach. Wir haben uns – wie soll ich sagen – einfach auseinander gelebt. Als die Kinder aus dem Haus waren, war es plötzlich ganz still im Haus, und wir mussten plötzlich erst wieder herausfinden, was uns als Paar noch verbindet, wenn wir keine Eltern mehr sind. Und ja haben wir gemerkt, dass wir doch ganz unterschiedliche Lebensvorstellungen haben. Ich bin eher daran interessiert, mich spirituell weiterzuentwickeln, während Leon sehr leistungsorientiert ist und meine Ideen als spinnert abtut. Er hat sich darüber lustig gemacht, dass ich mich einer Chanting-Gruppe angeschlossen habe und ist selbst immer mehr in seinem Leistungssport aufgegangen. Er läuft jetzt Marathons, und ich habe für mich Kundalini-Yoga entdeckt und mache gerade eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin. Wir haben viel darüber geredet, aber es endete immer damit, dass er mich und meinen Weg abgewertet hat. Dann haben wir uns entschieden, dass jeder seinen eigenen Weg geht. Wenn die Sorge um die Kinder nicht mehr das Verbindende ist, bleibt manchmal nicht mehr viel Gemeinsames.“

„Und wie geht es dir damit?“, fragte Elke.

„Ehrlich gesagt gut! Ich fühle mich sehr wohl in meiner Yogagruppe, wir machen viele Workshops außerhalb, letztens sind wir sogar nach Italien gefahren, an den Comer See, traumhaft! Es fühlt sich so frei an, wie ein kleines Abenteuer. Nur so eine Situation wie heute ist natürlich ein bisschen unangenehm. Am Schluss war es mit Leon nicht mehr so friedlich, weil ich seine ständigen Abwertungen nicht mehr ertragen konnte. Im Moment reden wir nicht mal mehr miteinander. Deshalb sitzt er auch woanders. Hoffentlich ändert sich das noch mal.“

„Aber ist das nicht sehr schlimm für Annika?“, fragte Andrea. „Gerade heute an ihrem Abiball, einem für sie so wichtigen Tag.“

Monika seufzte. „Ja, ich glaube, schön ist das nicht für sie. Aber leider lässt sich die Situation jetzt nicht mehr so kurzfristig ändern.“

Andrea sah zu Elke hinüber, die hinter Monikas Rücken die Stirn runzelte und mit dem Kopf schüttelte. Offenbar dachte sie dasselbe wie Andrea: Hätten die beiden sich nicht wenigstens heute für ihre Tochter zusammenreißen können?

Viele Reden, Sketche, ein paar Tänze und ein hervorragendes Essen später schlenderten Thomas und Andrea durch den Saal, um die anderen Eltern zu begrüßen. Annika war nur kurz zum Essen an ihrem Tisch aufgetaucht und danach mit Lisa und Janosch wieder verschwunden. Sie sahen die drei mit anderen Schülern an der Theke herumalbern, wobei Annika aber einen eher unglücklichen und schon stark angetrunkenen Eindruck machte. Auf den Weg durch den Saal kam ihnen Annikas Vaters Leon entgegen. Er grüßte sie kurz, ließ drei Worte über das schöne Fest fallen und verschwand dann wieder in Richtung seines Tisches. Das kurze Gespräch mit ihm wirkte etwas gezwungen, und Andrea war froh, als sie wieder andere Eltern traf, mit denen sie reden konnte.

Gegen elf verließen alle Eltern die Location und ließen die Schüler mit den Lehrern noch bis in die frühen Morgenstunden weiterfeiern.

Als Andrea und Thomas ins Taxi stiegen, legte Thomas Andrea den Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran.

„Die arme Annika tat mir leid“, meinte Thomas. „Ich hatte den Eindruck, dass sie die Tische von Vater und Mutter bewusst gemieden hat. Die Situation muss für sie nicht schön gewesen sein. Wie gut, mein Liebes, dass wir beide noch so eine schöne Beziehung haben und unsere Kinder sich bei uns zu Hause wohl fühlen können.“

Andrea nickte, kuschelte sich an ihn und schnupperte den vertrauten Duft seines Aftershaves.

„Wie schön, dass wir nach so vielen Jahren noch eine so harmonische Ehe führen“, murmelte sie.

„Ja, meine Liebe. Und wir werden uns schon eine gute Zeit machen, auch wenn die Kinder irgendwann ganz aus dem Haus sind.“

Beim Frühstückstisch am nächsten Morgen sprach die Familie gemeinsam über das gelungene Fest, aber auch über die Trennung von Annikas Eltern. Lisa regte sich über Annikas Eltern auf.

„So eine Schweinerei, die beiden haben Annika richtig ihre Abiturfeier verdorben! Die Arme stand total neben sich und wusste überhaupt nicht, zu wem von beiden sie sich jetzt eigentlich an den Tisch setzen sollte. Sie hat es dann vermieden, den beiden überhaupt zu begegnen. Das ließ sich ja leider beim Essen nicht ganz umgehen. Aber am liebsten wäre sie geflüchtet.“

„Ich fand es ein wenig schade, dass sie nicht wenigstens an diesem einen Abend als Familie an einem Tisch sitzen konnten. Ich verstehe gar nicht warum, ich dachte¸ sie wären nicht im Streit auseinandergegangen“, fragte Andrea.

„Ha, da hat euch Annikas Mutter nicht die ganze Wahrheit erzählt! Annika musste während der Trennung viel Streit aushalten. Und gerade deshalb hätten sie sich doch zusammenreißen können, wenigstens für ihre Tochter. Es ging ja ausnahmsweise mal nicht um sie selbst als Eltern. Die sind so egoistisch, die Alten. Annika ging es ziemlich schlecht, aber das haben ihre Eltern wohl gar nicht gemerkt. Anstatt alles zu tun, damit ihre Tochter einen schönen Abend hat, haben sie nur an sich gedacht und sich so richtig demonstrativ in zwei verschiedene Ecken des Raums gesetzt, damit es bloß jeder mitbekommt, dass sie getrennt sind. Wie es Annika dabei geht, ist ihnen doch völlig egal gewesen. Deshalb hat sie sich total betrunken. Hinterher hat sie noch heulend in der Ecke gelegen, und wir mussten sie trösten.“

„Ja, das war echt nur peinlich, wie sich ihre Eltern verhalten haben“, pflichtete ihr Bruder Thilo bei. „So was sollte man den Kindern nicht zumuten, schon gar nicht bei so einer wichtigen Feier. Na, ich hoffe, dass euch so etwas nie passiert. Wehe, ihr trennt euch!“, fügte er grinsend hinzu und zeigte mit dem Finger auf seine Eltern.

Andrea und Thomas sahen sich an und lächelten.

„Niemals!“ sagten sie wie aus einem Mund.

Kapitel 2

„Kommt ihr zum Essen?“ Andrea steckte den Kopf in den Büroraum von Thomas, in dem ihr Mann und Lisa einträchtig gegenüber am Schreibtisch saßen. Auf dem ganzen Tisch waren Zeichnungen und Textausdrucke verteilt, und beide sortierten die Unterlagen, während Thomas seiner Tochter erklärte, anhand welcher Kriterien man den Marktwert eines Grundstücks bestimmt.

Lisa hatte während der Wartezeit auf ihr Architekturstudium angefangen, im Büro von Thomas mitzuhelfen, der das große Privileg besaß, als Bausachverständiger seine Gutachten von zu Hause aus schreiben zu können, wenn er nicht gerade bei einem Außentermin vor Ort eine Besichtigung vornahm.

Andrea betrachtete die beiden stolz. Nie hätte sie gedacht, dass Lisa einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten würde und sich so sehr für Häuser und für das Bauen interessieren würde. Mit ihren großen, dunklen Augen, den feinen Gesichtszügen und der Figur wie ein junges Reh wirkte sie eher wie eine Tänzerin oder Künstlerin und nicht wie eine Frau, die einen bodenständigen, praktischen Beruf wählen würde. Aber dasselbe galt auch für Thomas, von dem Lisa das hochgewachsene, dunkelhaarige Äußere geerbt hatte. Na gut, er hatte inzwischen einen massiven Bauch angesetzt, aber hatten den nicht alle Männer in seinem Alter? Und außerdem kam das von Andreas gutem Essen. Selbst schuld, oder?

Andrea war immer wieder verblüfft darüber, wie ähnlich sich Vater und Tochter waren, und wie unterschiedlich im Gegensatz zu Andrea selbst. Nicht nur vom Äußeren, sondern auch vom Wesen unterschieden beide sich sehr von Andrea. Beide waren eher technisch und praktisch interessiert und konnten sich sehr stark in ihre Arbeit vertiefen und dabei alles um sie herum vergessen. Andrea selbst entwickelte gern kreative Ideen und hatte viel Freude an schönen Dingen. Zugleich war es ihr immer wichtiger gewesen, sich um ihre Familie zu kümmern als um ihr eigenes berufliches Fortkommen. Hoffentlich geht meine zielstrebige Tochter später so sehr in ihrem Beruf auf, dass sie ihn nicht aufgibt, wenn sie erst verheiratet ist und selbst Kinder hat. So wie ich, dachte sie wehmütig.

„Ach, Spaghetti Bolognese“¸ Lisa schob ihren Teller zur Seite, nachdem sie gerade mal drei Gabeln zu sich genommen hatte. „Das ist viel zu mächtig, und ich habe keinen Hunger. Das kannst du machen, wenn Thilo zu Besuch kommt, es ist sein Lieblingsessen, nicht meins.“

„Ich hatte heute nur Zeit für ein schnelles Mittagessen. Ich musste doch noch die Küche putzen, Wäsche waschen und den Klempner anrufen, weil der Abfluss im Gästebad kaputt ist.“

„Das ist doch keine richtige Arbeit!“ Lisa verdrehte die Augen und sah ihren Vater an. „Wenn ich das sagen würde, wäre das etwas anderes, ich habe heute schließlich schon vier Stunden studiert. Und dabei ganz viel von Papa lernen können.“ Sie strahlte ihren Vater an.

„Ja, und du bist mir wirklich eine große Hilfe! Ich glaube, das ist dein Ding, nicht wahr, Lisa? Du stellst dich sehr gut dabei an, ich glaube, du hast eine große Zukunft in dem Bereich. Und du bist mein fleißiges Bienchen.“ Thomas zwinkerte seiner Tochter zu.

Einen kleinen Stich gab es Andrea doch, deshalb sagte sie: „Und was würde es nützen, wenn man Häuser nur planen, bauen und bewerten würde, wenn es niemand gäbe, der diese Häuser so pflegt, dass man sie bewohnen kann?“

„Ach, Mama...“ Lisa vollendete ihren Satz nicht, sondern erhob sich und meinte: „Komm, Papa, wir müssen jetzt weiterarbeiten.“

Als Andrea schwer beladen vom Einkauf zurückkam, sah sie schon von weitem, wie ihre ältere Nachbarin Frau Hutmacher den Weg fegte, der zu ihrem Haus führte. O weh, Frau Hutmacher würde sie bestimmt in ein Gespräch verwickeln, sie war immer sehr begierig darauf, Dinge aus der Nachbarschaft zu erfahren und weiterzugeben. Aber es bestand keine Möglichkeit, ihr auf die andere Straßenseite auszuweichen, ohne unhöflich zu wirken. Und prompt sprach sie Andrea an.

„Haben Sie schon gehört? In der Ehe der Feldmanns von gegenüber knistert es.“

„Es knistert? Was meinen Sie damit?“

„Frau Feldmann soll ein Verhältnis mit dem Reitlehrer ihrer Tochter haben. Die Freundin der Tochter, die auch an dem Reitstall ist, hat die beiden wohl hinter der Scheune in einer verfänglichen Situation erwischt und es gleich ihrer Mutter erzählt, und jetzt weiß es natürlich die ganze Siedlung! Mir hat sie es ebenfalls erzählt.“

Natürlich, dachte Andrea, weil du alte Klatschtante nichts Besseres zu tun hattest, als es überall weiterzuerzählen.

„Und ich habe mich immer darüber gewundert, dass sie schon genauso oft beim Stall ist wie ihre Tochter, und dass sie in ihrem Alter noch angefangen hat zu reiten. Na klar, da steckte ein Mann dahinter, was sonst! Auf jeden Fall ist Frau Feldmann jetzt ausgezogen und hat den Mann und die Kinder zurückgelassen. Stellen Sie sich das mal vor! Also, wenn ich der Mann wäre, ich würde die Frau auf keinen Fall wieder zurücknehmen, und wenn sie mich auf Knien darum bitten würde!“

„Ja, danke für die Info, aber ich muss jetzt wirklich ins Haus. Meine Tiefkühlsachen müssen ins Gefrierfach, sonst fangen sie an zu tauen.“ Andrea sah zu, dass sie Land gewann, bevor die Nachbarin ihr noch mehr aus den Ehegeschichten ihrer anderen Nachbarn erzählte.

Als sie die Einkäufe verstaute, erwischte sie sich dabei, wie sie über Frau Hutmachers Worte nachdachte. Elena Feldmann war etwa so alt wie Andrea selbst und eine nette Nachbarin. Was war denn nur los, dass sie schon von zwei kriselnden Ehen in ihrem Umkreis in einer Woche gehört hatte? Lag das am Alter, oder war das Zufall?

„Ach was“, sagte Thomas, als sie ihm von dem Gespräch erzählte. „Ich glaube, das sind jetzt nur zufällig zwei Einzelfälle in unserer Umgebung, das muss nichts heißen. Es gibt doch genügend Paare, die auch nach zwanzig Jahren noch zusammen sind.“

Am darauf folgenden Sonntag waren Andrea und Thomas bei Teresa und Benno eingeladen, der Cousine von Thomas und ihrem Mann.

„Ach, ich freue mich“, Thomas war in aufgeräumter Stimmung. „Dann könnt ihr beiden Mädels euch mal wieder über Gott und die Welt unterhalten, und ich kann mit Benno eine schöne Partie Schach spielen. Wir haben uns so lange nicht gesehen.“

Doch es kam ganz anders, denn Benno war überhaupt nicht im Haus.

„Was ist los?“, frage Thomas enttäuscht. „Ich habe mich so auf Benno gefreut.“

„Ja, es ist – leider etwas anders gekommen“, antwortete seine Cousine Teresa. Sie zögerte, stieß einen langen Atemzug aus, als müsste sie Mut fassen und gestand schließlich: „Wir führen jetzt erst mal eine Trennung auf Probe durch. Wisst ihr, nachdem die Kinder ihr Studium aufgenommen haben, habe ich jetzt endlich wieder angefangen zu arbeiten. Wie durch ein Wunder habe ich eine Vollzeitstelle gefunden in der Altenpflege, stellt euch das mal vor, nachdem ich schon so viele Jahre raus bin! Natürlich muss ich jetzt einige Fortbildungen machen, weil sich die Pflegestandards inzwischen geändert haben. Das heißt außerdem, dass ich im Moment später nach Hause komme als Benno. Und siehe da, das kann er nicht akzeptieren! Also ist er jetzt erst mal ausgezogen.“

„Teresa, das tut mir leid. Aber musstet ihr euch deshalb denn gleich trennen?“, fragte Andrea entgeistert. „Darüber hätte man doch reden können.“

„Das haben wir auch. Wir haben viel geredet - aber glaub mal nicht, dass wir uns da einigen konnten! Benno ist so stur. Das heißt schließlich für ihn, dass er jetzt mal ran muss bei der Hausarbeit, und dass ich nicht ständig für ihn bereitstehe. Er meinte, er hätte mich lieber in der Hausfrauenrolle, er könnte das schließlich alles nicht. Und überhaupt, wir seien doch finanziell super aufgestellt, er verstünde gar nicht, warum ich arbeiten gehen wolle. Er wich einfach nicht von seiner Position ab. Tja, und nun haben wir uns getrennt. Wie gesagt, zunächst auf Probe. Soll er jetzt erst mal eine Weile allein leben. Vielleicht wird er dann vernünftig.“

Während Andrea und Teresa weiter die Beweggründe und mögliche Lösungen besprachen, merkte Andrea, dass Thomas bei dem Gespräch immer stiller wurde, und dass sein Gesicht sich immer mehr verschloss. Er drängte schnell zum Aufbruch, und der Abend endete viel früher als geplant.

„Dich hat es ja richtig aus der Bahn geworfen.“ Andrea sah ihren Mann mitleidig an.

„Ich kann das alles nicht verstehen. Jetzt sogar noch meine Cousine! Warum haben die beiden das nicht vorher besprochen, bevor sie angefangen hat zu arbeiten? Man hätte sich doch irgendwie einigen können. Ich finde ihr Verhalten außerdem sehr egoistisch. So direkt von Null auf Hundert, was hat sie sich nur dabei gedacht?“

„Na ja, manchmal trifft man halt berufliche Entscheidungen so, wie sich die Chancen zu dem Zeitpunkt eben bieten. Das kann man sich oft nicht aussuchen. Und du musst doch selbst zugeben, dass es eine Riesen-Chance für deine Cousine war, als sie nach so vielen Jahren direkt eine Vollzeitstelle in ihrem alten Bereich erhielt. Das war fast wie ein Sechser im Lotto.“

„Trotzdem¸ man muss doch auch auf den Ehepartner Rücksicht nehmen.“ Thomas schüttelte nur den Kopf. „Und außerdem vermisse ich Benno. Mit ihm konnte ich immer so gut Schach spielen. Also langsam reicht es mir mit den Trennungen, das ist mir zu viel Veränderung auf einmal.“

Doch damit endete es immer noch nicht. Die Trennungen im Bekanntenkreis häuften sich weiter. Die Rubensteins trennten sich, weil der Mann jetzt mit einer jüngeren Kollegin zusammen war. Und Thomas musste jetzt öfter als sonst Häuser bewerten, weil die Eheleute sich nicht über die Aufteilung des Eigentums einigen konnten und einer von beiden die Versteigerung des Familienheims beantragt hatte – dies zumindest zur Freude von Thomas als Sachverständigen, der sozusagen vom Elend der anderen lebte.

Andrea kam sich vor, als wäre sie im falschen Film oder in einer anderen Dimension, wo es Gesetz war, dass sich alle verheirateten Paare trennten.

„Was ist denn mit den ganzen Leuten los, warum trennen sich denn auf einmal alle?“, fragte Thomas empört. „Ich verstehe die Welt nicht mehr. Das sind doch alles völlig normale Paare gewesen.“

Normal. Andrea dachte an die Aussage von Annikas Mutter, dass es gar nicht so einfach war, „normal“ für sich zu definieren. Doch bevor sie dies weiter erörtern konnte, holte Thomas sie wieder in die Gegenwart zurück.

„Man kann doch nicht nur wegen eines Streits das Handtuch werfen! Und Kinder haben sie auch noch! Wie egoistisch sind denn eigentlich alle? Das ist ja geradezu eine Epidemie.“

„... von der wir uns aber nicht anstecken lassen“, beruhigte Andrea ihn und nahm ihn in den Arm. Nein, wir doch nicht, dachte siedabei. Wir sind doch ein Dream-Team, und das bleibt auch so.

„Lass dir bloß nicht einfallen, genauso einen Quatsch zu machen, versprichst du mir das?“, fragte Thomas.

„Ich will mich bemühen. Aber du auch!“ Andrea stupste ihn freundschaftlich an. „Wir haben doch uns, und wir sind der Fels in der Brandung. Da müsste schon eine Tsunami-Welle kommen, um uns auseinander zu reißen.“

Dass genau diese bereits im Anmarsch war, konnte Andrea nicht ahnen.

Kapitel 3

Am Morgen stand Andrea mit einer Tasse Kaffee am Küchenfenster und sah in den Garten. Es war Juni, und es wurde höchste Zeit, die Tomatenpflanzen hochzubinden, damit sie nicht zu stark wucherten und die Ernte im August mager ausfiel. Auch das Unkraut musste mal wieder gejätet werden und der Rasen wuchs im Moment so schnellt, dass das Mähen alle zwei Wochen nicht mehr ausreichte. Sie würde wohl dieses Wochenende mal wieder einen Gartentag einlegen müssen.

Andrea seufzte. Eigentlich war Thomas ebenfalls für den Garten zuständig, aber im Moment hatte er wenig Zeit dafür, weil die Gutachten sich gerade häuften. Dieses Wochenende war er gemeinsam mit Lisa zu einer Fortbildung nach Düsseldorf gefahren zum Thema Bauschäden.

Eigentlich hatte Andrea sich darauf gefreut, mal ein Wochenende ganz allein im Haus zu verbringen, einfach mal ein bisschen abzuhängen, sich auf die Terrasse zu setzen und ein schönes Buch zu lesen. Aber beim Anblick aller Arbeiten, die auf sie warteten und sich natürlich nicht von selbst erledigten, würde sie wohl wenig Zeit haben, das Wochenende ganz allein im Haus richtig zu genießen. Vor allem musste sie mal wieder in Thomas‘ Arbeitszimmer saubermachen. Während der Woche kam sie kaum dazu, weil es ständig von ihm und inzwischen auch von Lisa belegt wurde.

Sie nahm ihre Tasse und ging nach oben, um den Umfang der Arbeit abzuchecken. Himmel, wie sah es hier aus! Der Schreibtisch war heute leidlich aufgeräumt, aber mehrere ungespülte Kaffeetassen und Gläser standen auf dem Tisch und den Regalen herum, überall lagen Papiere von Schokolade, Nüssen und Lakritz, auf den waagerechten Flächen sammelte sich der Staub, und der Fußboden klebte an einigen Stellen. Wenn Thomas und Lisa wenigstens ihr Geschirr in die Küche mitnehmen würden oder ihren Müll mal in den Abfalleimer werfen würden! Andrea fragte sich, ob sie ihre Familie zu sehr verwöhnt hatte. Sie nahmen es als völlig selbstverständlich hin, dass sie hinter allen herräumte. Wie war das eigentlich gekommen? Früher hatte sie mehr darauf geachtet, dass Thomas und die Kinder sich um ihre eigenen Belange kümmerten und wenigstens ihr Zimmer ordentlich hielten, ihre eigene schmutzige Wäsche nach unten in den Keller brachten und den Tisch deckten. Seit mindestens zwei Jahren hatte sich das schleichend verändert. Tatsächlich lag es wohl daran, dass Thilo und Lisa in die Abiturjahrgänge kamen und neben der Schule viel mehr Zeit für Vorbereitungen aufs Abi aufwandten. Während dieser Zeit hatte sie wohl etwas zu viel Nachsicht walten lassen. Und ehe man es sich versah, war bei den Kindern der Schlendrian eingetreten, und sie warteten selbstverständlich darauf, dass ihre Mutter um sie herum alles wegräumte, was der Konzentration auf ihre Schule im Weg stand. Und im Zuge dessen hatte Thomas sich gleich mit anstecken lassen und auch nicht mehr darauf geachtet, hinter sich selbst herzuräumen und sich um seine eigenen Sachen zu kümmern. Wenn sie ehrlich war, hatte sie es ihnen nur allzu leicht gemacht.

Das würde sich jetzt hoffentlich ändern. Thilo war schon aus dem Haus und kam nur noch an jedem zweiten Wochenende nach Hause. Und wenn Lisa wirklich ihren Studienplatz in Mannheim finden würde, würde sich das Blatt wohl wieder wenden. Wie hatte es Thomas beim Abiball formuliert? „Wenn die Kinder erst aus dem Haus sind, haben wir endlich wieder mehr Zeit füreinander.“

Ja, Zeit für Thomas – und auch für sich selbst. Was hieß das eigentlich? Sie malte es sich in den schillerndsten Farben aus. Endlich wieder mehr Freizeit, mehr lesen und Sport machen. Sich mit ihren Freundinnen treffen, dabei ein Glas Sekt trinken und Kuchen essen und mit Thomas vielleicht mal wieder ins Theater oder Kino gehen oder tanzen. Einfach mal wieder spüren, dass sie nicht nur eine Versorgerin für andere war, sondern auch für ihre eigenen Bedürfnisse einstand. Sie war in letzter Zeit oft so müde durch die viele Arbeit für die Familie, bei der es keinen Feierabend gab.

„Genug geträumt!“, rief sie sich selbst zur Ordnung. „Noch ist es nicht soweit. Um all das zu erleben, musst du erst mal dein jetziges Leben aufräumen. Also los, hol den Staubwedel, den Eimer und den Wischmopp und fang an, das Arbeitszimmer von Thomas zu säubern.“

Ihr Handy klingelte. Tanja, sah sie auf dem Display. Nanu, am Samstagmorgen? Tanja, ihre wunderbare, künstlerisch begabte und kreative Freundin, die sie schon seit der Schulzeit kannte. Schon damals hatte sie mit Begeisterung an allen freiwilligen Kunstprojekten teilgenommen, und ihre Arbeiten waren oft in der Schule ausgestellt worden. Bis heute trafen Andrea und Tanja sich mindestens zweimal im Monat, und versuchten sich sonst über WhatsApp oder Telefonate auf dem Laufenden zu halten.

Allerdings war Tanja in letzter Zeit immer in so schrecklich gedämpfter Stimmung, wie man es gar nicht vor ihr kannte. Vorsorglich ging Andrea ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel am Fenster. Wenn Tanja um diese Zeit anrief, ging es ihr wahrscheinlich nicht besonders gut. Ihr Mann war vermutlich aus dem Haus, und sie wollte bestimmt ihren Frust loswerden über ihr eintöniges Leben, die undankbaren Kinder und den anstrengenden Ehemann. Das konnte ein längeres Gespräch werden.

„Tanja, schön von dir zu hören! Was gibt’s so früh am Morgen?“

„Andrea, ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“ Tanjas Stimme klang gar nicht leidend, sondern eher aufgeräumt und gut gelaunt wie schon lange nicht mehr.

„Es ist passiert. Jakob und ich hatten letztes Wochenende einen riesigen Streit. Er hatte schon den ganzen Samstagnachmittag herumgenörgelt, weil ich an einem Bild gemalt habe, anstatt ihm im Keller beim Ausräumen der alten Papierstapel zu helfen. Am Samstagabend habe ich ihm dann erzählt, dass ich das Angebot habe, bei einer Gemeinschaftsausstellung von Künstlern in der Stadtgalerie zwei Bilder auszustellen. Da ist er total ausgeflippt.“ Tanja äffte die Stimme ihres Mannes nach. „O, die große Malerin! Du solltest deine Talente mal lieber in unserem Haus anbringen und die Wände im Wohnzimmer neu streichen, die haben es bitter nötig! Aber nein, dafür wirst du ja sicher keinen Kunstpreis erhalten, wie du ihn dir wohl wünschst. Kriegst du jetzt Höhenflüge? Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Tanjas Stimme wurde lauter vor Wut.

„Spinnt der denn? Ich habe ihm dann an den Kopf geworfen, dass er überhaupt nicht bereit ist, in irgendeiner Weise auf mich einzugehen und mal irgendetwas zu akzeptieren, was meinen eigenen Wünschen entspricht. Ich habe mich wieder total abgewertet gefühlt und ihm das sogar gesagt. Aber er hat sich nur darüber aufgeregt, dass ich in letzter Zeit nur Flausen im Kopf habe, und dass das Leben nun mal kein Ponyhof sei. Dann hatten wir den ganzen Rest des Sonntags Funkstille und – jetzt halt dich fest – direkt am Montag habe ich im Internet eine kleine, möblierte Wohnung gefunden, habe meine nötigsten Sachen eingepackt und bin gestern, also am Freitag, umgezogen, während er auf der Arbeit war. Ich möchte nicht wissen, wie sehr er getobt hat, als er gemerkt hat, dass ich weg bin.“

„Waaas?“ Andrea war total überrascht. „Du bist einfach Hals über Kopf ausgezogen und hast alles dagelassen?“

„Meine persönlichen Gegenstände und meine Malsachen und Bilder habe ich natürlich mitgenommen. Aber ja, den Rest habe ich zurückgelassen. Soll er glücklich damit werden.“

„Aber Tanja, wollt ihr denn nicht noch einen Versuch machen, miteinander zu reden? Und was ist mit eurem Haus? Auch wenn die Kinder jetzt auswärts wohnen, sie wollen euch doch sicher am Wochenende mal zu Hause besuchen. Glaubst du, sie kommen dich in einer kleinen, möblierten Wohnung besuchen? Und willst du in deinem Alter wirklich noch einmal so eingeschränkt wohnen? Ihr habt doch so ein schönes Haus!“

„Ach Andrea, du weißt genau, dass mir all diese materiellen Dinge nicht so viel bedeuten. Ich finde es aufregend, in meinem Alter neu durchzustarten, selbst wenn es zunächst Einschränkungen gibt. Alles hat seinen Preis. Meine kleine, möblierte Wohnung hat den Vorteil, dass es auf der anderen Seite des Flurs ein großes, leeres Zimmer gibt, das ich als Kunstatelier nutzen kann. Hast du an diesem Wochenende vielleicht Zeit, mal vorbeizukommen und dir meine neue Bleibe anzusehen?“

„Ja, natürlich, ich komme gleich heute Nachmittag vorbei.“

Andrea war sprachlos. Sie hatte zwar gewusst, dass ihre Freundin kreativ und spontan und in der Lage war, sogar größere Entscheidungen schnell zu treffen. Aber immerhin war Tanja doch schon seit fast 25 Jahren verheiratet. Sicher hatte sie ihr in der letzten Zeit oft ihr Leid geklagt, dass ihr Mann einfach stehen geblieben war und gar nicht mitbekommen hatte, dass sie sich weiterentwickelt hatte. Er hatte ihr Interesse für Kunst immer als Spinnerei abgetan. Was natürlich nicht verwunderlich ist für einen Mann, der in einem technischen Beruf arbeitet und dem die praktische Lebensplanung wichtiger ist als künstlerische Ambitionen. Aber mit so einem schnellen und gründlichen Schritt innerhalb so kurzer Zeit hatte Andrea dann doch nicht gerechnet.

Aber natürlich würde sie ihre Freundin in der neuen Wohnung besuchen. Wie gut, dass sie heute einmal Zeit hatte, weil Thomas und Lisa am Wochenende unterwegs waren. Thomas‘ Arbeitszimmer würde warten müssen.

Tanjas neue Bleibe befand sich in einem anderen Stadtteil, aber näher an der Innenstadt und nur etwa drei Kilometer vom Haus von Andrea und Thomas entfernt. Mit dem Auto war Andrea schnell vor Ort. Die Wohngegend war absolut nicht vergleichbar mit der Einfamilienhaus-Siedlung, in der ihre Freundin zuvor gewohnt hatte. Tanjas Wohnung lag in einer Straße mit tristen, grauen Mehrfamilienhäusern fußläufig zur Innenstadt. Um den Eingang zu erreichen, musste Andrea durch einen Durchgang in den begrünten Innenhof gelangen, wo sich in einem eingeschossigen Anbau eine Wohnung mit einer Art Schaufenster befand.

Tanja kam ihr strahlend in einem verkleckerten Arbeitskittel entgegen und nahm sie stürmisch in die Arme. Um ihre halblangen, rotblonden Haare hatte sie ein buntes Tuch gewickelt, damit ihr Kopfhaar keine Farbkleckse abbekam.

„Komm rein in meine bescheidene Hütte!“

Sie wandten sich zunächst nach links in das Atelier mit dem Schaufenster. An den Wänden lehnten zusammengerollte Leinwände, auf einer Staffelei in der Ecke stand ein halbfertiges Gemälde, auf dem großen Ateliertisch standen verschiedene Farbtöpfe, Gläser mit Pinseln, und es roch intensiv nach Farbe und Terpentin.

„DAS ist es, was ich mir gewünscht habe!“ Tanja sah glücklich aus.

„Hier habe ich Platz und Ruhe für meine Malerei, muss meine Sachen nicht immer wegräumen, wenn mein Göttergatte den Raum für sein Werkzeug braucht, und vor allem muss ich mir nicht ständig anhören, wie nutzlos meine Malerei doch ist, und dass ich doch lieber mal wieder die Fenster putzen oder das Gewürzregal sortieren sollte. Hier steht meine Kunst, hier stehe ich im Mittelpunkt!“

„Hättest du dir nicht einfach nur ein Atelier anmieten können?“, fragte Andrea. „Dann hättest du doch zu Hause keinen Stress bekommen wegen der Malerei.“

„Hast du eine Ahnung! Glaubst du, ich hätte mir dann genug Zeit freimachen können, um das Atelier auch zu nutzen? Und außerdem: Für die unnütze Kunst einen zusätzlichen Raum anzumieten, das hätte Jakob niemals geduldet.“

Da magst du Recht haben, dachte Andrea. Allerdings kann Jakob manchmal ein furchtbarer Stoffel sein, der keinen Sinn für schöne Dinge hat. Wenn ich selbst malen könnte und dafür ein Atelier anmieten würde, hätte Thomas sicherlich nichts dagegen.

„Jetzt kann ich endlich nach meinen eigenen Vorstellungen leben“, fuhr Tanja fort. „Dafür ist es mir egal, wie gut meine Wohnung ist. Und mit der bin ich im Moment mehr als zufrieden. Komm, wir gehen rüber, und ich zeig dir meine Wohnung.“

Sie gingen zusammen in den rechten Teil des Anbaus, in dem sich ein kleines, möbliertes Appartement befand, zwei Zimmer mit Bad. Der Zustand war passabel, Schränke und Tisch waren massive Kieferholzmöbel, die Sitzmöbel aus Korb. Auf dem Tisch stand anstelle einer Vase mit Blumen ein altes, ausgeleertes Senfglas mit einigen selbst gepflückten, blühenden Gräsern. Zusammen mit der daneben stehenden Schale mit Obst sah es wie ein kleines Stillleben aus. Das war Tanja. Sie hatte immer schon ein Händchen dafür gehabt, ganz einfache Dinge so zusammenzustellen, dass es optisch ansprechend war. Die Wohnungseinrichtung wirkte insgesamt schon ziemlich alt und absolut nicht up to date, aber dafür sehr gemütlich. Andrea konnte ihre Zweifel trotzdem nicht verbergen.

„Das ist ja alles ganz nett, für eine Kunststudentin oder für eine junge Künstlerin, die sich erst mal auf dem Markt etablieren muss. Aber für eine gestandene Frau von 43 Jahren mit zwei erwachsenen Kindern, die bisher mit ihrem Mann in guten wirtschaftlichen Verhältnissen in einem wunderschönen Einfamilienhaus in der Vorstadt gelebt hat? Hmmm...“

„Ach Andrea, ich bin doch keine 80! Ich brauch keinen Luxus und keine Bequemlichkeit. Ich will einfach das pure Leben zurück.“

„Glaubst du wirklich, dass es für dich auf Dauer eine Alternative darstellt? Und wie willst du das alles eigentlich finanzieren? Du willst doch Jakob nicht aus dem Haus rauswerfen, oder?“ Andrea wusste nicht, ob sie Tanja für ihren Schritt bewundern sollte, oder ob sie wegen ihrer Sorglosigkeit Angst um sie haben musste.

Tanja schüttelte den Kopf und lachte. „Über was du dir Gedanken machst! Nein, zunächst soll sich mit dem Haus noch nichts ändern. Es gehört ja uns beiden, und irgendwann wird Jakob mich vielleicht auszahlen müssen. Aber so weit sind wir noch nicht. Da finden wir bestimmt eine Regelung. Erst mal zahlt er mir ein bisschen Unterhalt, den Rest verdiene ich mit Kunstkursen und Bilderverkäufen dazu. Weißt du übrigens, dass ich an der VHS inzwischen drei Kunstkurse gebe? Und notfalls verdiene ich geringfügig ein bisschen mit sonstigen Arbeiten dazu, aber erst mal will ich es so versuchen. Ich habe keine Angst. Die Miete ist hier sehr niedrig, weil es ein Hinterhofhaus ist. Ansonsten bin ich ja auch nicht anspruchsvoll. Du kennst mich. Ich komme schon über die Runden. Aber endlich, endlich kann ich meine Kreativität hier ausleben.“

Andrea schüttelte innerlich den Kopf. Tanja war ganz schön mutig und unbesorgt. Aber wahrscheinlich brauchte sie sich ihretwegen nicht zu beunruhigen. Wie sie ihre Freundin kannte, würde diese immer wieder auf ihre Füße fallen. Sie war ja so genügsam.

Tanja machte beiden einen Tee und stellte Kekse hin, und die beiden Freundinnen setzten sich in die Korbsessel. Sie sprachen über alte Zeiten und neue Pläne, und Tanja wirkte dabei so gelöst und fröhlich wie schon lange nicht mehr.

Andrea sank immer tiefer in ihren Sessel, wärmte sich die Hände an der Teetasse und stellte fest, dass sie es richtig kuschelig fand in Tanjas alter, aber sehr gemütlicher Wohnung. Vielleicht muss es ja wirklich kein schickes Einfamilienhaus sein, dachte Andrea. Wohlfühlen kann man sich auch in einer kleinen Hütte, wenn alles andere stimmt.