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Sieben Jahre ist es her, dass Irina nach einem heftigen Streit in einer regnerischen Novembernacht verschwunden ist. Verschwunden im Moor, das in der Nähe von Felix‘ Reetdachhaus beginnt. Düstere Phantastik-Novelle von Christine Eisel, die für Gänsehaut sorgt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Titel
Impressum
Novemberregen
Die Autorin
Christine Eisel
Phantastische Novelle
Ashera Verlag
Impressum
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Erste Auflage im November 2024
Copyright © 2024 dieser Ausgabe by
Ashera Verlag
Hochwaldstr. 38
51580 Reichshof
ashera.verlag@gmail.com
www.ashera-verlag.net
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.
Covergrafik: pixabay
Innengrafik: pixabay
Szenentrenner: pixabay
Coverlayout: Atelier Bonzai
Redaktion: Alisha Bionda
Lektorat & Satz: TTT
Vermittelt über die Agentur Ashera
(www.agentur-ashera.net)
Felix trat auf den Hof des Reetdachhauses und zog den Kragen seiner Daunenjacke hoch. Er steckte die Hände tief in die Taschen, um sich vor der Kälte zu schützen, die durch die Kleidung kroch und sich bis in sein Innerstes ausbreitete.
Schon wieder November. Heute ist es sieben Jahre her. Sieben lange Jahre, dass Irina verschwunden ist. Bestimmt kommt er wieder und hört nicht auf, mich anzustarren. Ja, starre mich an, du Monster! Sieh dir an, was aus mir geworden ist! Ich bin nur ein Schatten meiner selbst. Das ist doch das, was du gewollt hast – was Irina gewollt hat.
So ein hässlicher, destruktiver Streit. Sein ganzes Leben zerstörte Irina mit ihren Worten, alles, was ihm wichtig war, wertete sie ab. Es war, als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet, ihm all ihre Verachtung ins Gesicht zu schleudern, ihm zu zeigen, dass die vergangenen Jahre mit ihm für sie nur eine Qual gewesen waren. Dann rannte sie nach draußen, in den unablässig herabfließenden Regen, mit kaum mehr bekleidet als der dünnen Leggings, die sie trug, dem leichten Regenmantel, den sie darüber geworfen hatte und ein Paar Gummistiefeln, in die sie hastig geschlüpft war. Wie Fremdkörper nahmen sich bei diesem Outfit ihre schwarze Spitzenbluse und ihre eleganten Ohrringe aus, die sie kurz vor dem Streit vor dem Spiegel anprobiert hatte. Genau das war der Kern ihrer Auseinandersetzung: dass sie sich in dieser bäuerlichen Umgebung wie ein Fremdkörper fühlte. Sie warf einen letzten Blick zurück ins Wohnzimmer. Die Haustür fiel mit einem endgültigen Knall ins Schloss.
Viel zu spät lief er hinterher, um zu sehen, wo sie blieb. Sie hatte den Wagen stehenlassen und war zu Fuß losgestürmt. Viel zu spät suchte er mit einer Taschenlampe in der Dunkelheit ihre Spuren im Schlamm und erkannte, dass sie geradeaus gerannt war, direkt ins Moor hinein. In derselben Nacht versuchte er noch, sie zu finden, schaltete alle Lichter am Haus an und leuchtete mit den Autoscheinwerfern vom Rande aus ins Moor hinein. Doch das Moor blieb schwarz, nur die riesigen Regentropfen brachen das Licht der Scheinwerfer und bildeten einen undurchdringlichen Vorhang, der den Blick in das dunkle Sumpfland versperrte.
„Irina! Wo bist du? Komm zurück!“ Seine Rufe, seine Schreie reichten kaum einige Meter weit. Sie wurden vom prasselnden Regen übertönt, verebbten auf dem Boden, und die Finsternis saugte sie auf und verschluckte sie. Die halbe Nacht irrte er durch die Gegend, durch den strömenden Regen, sank mit seinen Gummistiefeln im Schlamm ein und konnte sich nur mühsam durch Festhalten an einer Weide wieder herausziehen. Schließlich gab er vor Panik, Übermüdung und Hoffnungslosigkeit auf und beruhigte sich damit, dass sie sicherlich zu einem Nachbargehöft hinübergelaufen war und dort die Nacht verbrachte. Er brach seine Suche zunächst ab und nahm sich vor, sie am kommenden Tag im Hellen fortzusetzen. Am nächsten Tag kehrte sie immer noch nicht zurück, und die Panik erfasste ihn wieder. Er suchte das ganze Haus und die angrenzende Scheune ab, für den Fall, dass sie sich dorthin zurückgezogen hatte, doch dort war sie nicht. Wie ein Wahnsinniger durchstöberte Felix an diesem Tag nach Irinas Verschwinden und in den folgenden Tagen das umliegende Hochmoor, in dem sie im Novemberregen verloren gegangen war, um irgendein Zeichen von ihr zu finden. Nichts, keine Spuren, keine Teile ihrer Kleidung, keine Leiche, nur tiefe Pfützen, Schlamm, finstere Einöde. Durchnässt bis auf die Knochen, bibbernd vor Kälte, mehr tot als lebendig durchkämmte er die ganze Gegend, völlig umsonst. Er fuhr herum, befragte alle Bewohner der umliegenden Gehöfte. Niemand hatte sie gesehen, niemand wusste von ihr, niemandem war bei oder nach diesem schauderhaften Regen irgendetwas aufgefallen. Das änderte sich auch in den folgenden Wochen und Monaten nicht. Keine Spur von ihr, monatelang.
Er gab eine Vermisstenanzeige auf. Die aus der Stadt herbeigerufene Bereitschaftspolizei durchkämmte mit einer Hundertschaft und langen Stöcken das Moor, stocherte im Schlamm, in Pfützen, Prielen und Tümpeln und entdeckte doch nichts von ihr. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
War sie tot? Oder konnte sie sich retten, war zu einem entfernten Gehöft gelangt und hatte dort Unterschlupf gefunden? Hatte jemand sie mit dem Auto auf der Straße aufgelesen und weggebracht? War sie weggezogen, hatte ein neues Leben angefangen und ihn zurückgelassen mit all seinem Schmerz, seinem Grauen, seinen Schuldgefühlen? Er rief bei ihren entfernt lebenden Verwandten und alten Freunden an, durchsuchte das Internet danach, ob sie wieder auftauchte. Kein Ergebnis, keine Hinweise. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Nach Monaten der Suche gab er auf. Nach all den erfolglosen Versuchen hielt er es nicht mehr aus, kehrte zurück in sein kaltes, leeres Zuhause, starrte wochenlang die Wände an, fuhr bei jedem Knacken im Gebälk auf, wurde von nächtlichen Albträumen heimgesucht. Irina mit wutverzerrtem Gesicht, Irina im Dunkeln im Moor, Irinas langgezogener Schrei, Irinas höhnisches Lachen, Irina … immer nur sie.
Dann versuchte er zu vergessen, ertränkte seinen Kummer im Alkohol. Doch die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Er sah Irina vor sich, wie sie ihn anklagend ansah mit ihren braunen Augen, wie sie sich auf der Stelle umdrehte, ihren Regenmantel überwarf und das Haus verließ, mit geradem Rücken, ein einziger lebender Vorwurf. Ja, ihr Verschwinden sollte ihn treffen, sollteihre Rache sein, sollte ihm zeigen, dass er im Unrecht war, wie er immer im Unrecht gewesen war in ihrer Vorstellung, sie, die Unnahbare, die Vollkommene, die niemals Fehler machte. Und er, der ihr nie das Wasser hatte reichen können, der sich neben ihr immer wie ein unbeholfener Landjunker vorgekommen war, der nichts verstand und nicht die Feinfühligkeit besaß, um ihr hochentwickeltes Wesen zu erfassen.
Seine Freunde Enno und Fiete kamen eines Abends bei ihm vorbei und trafen ihn an, wie er angetrunken und auf die Flammen im Kamin starrend im Wohnzimmer saß. „Wir wissen alle, wie schrecklich das für dich ist. Aber so kann es nicht weitergehen“, sagte Enno. „Sie ist verschwunden, sie wird wahrscheinlich nie mehr auftauchen. Du kannst dein Leben deshalb nicht wegwerfen. Du musst wieder unter Leute gehen, wieder anfangen zu leben.
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