In Sachen Amor gegen Justitia - Christine Eisel - E-Book

In Sachen Amor gegen Justitia E-Book

Christine Eisel

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Beschreibung

Scheidungsanwältin Silvia Förster weiß ein Lied zu singen von Amors Irrtümern und deren Folgen. Engagiert und einfühlsam begleitet sie ihre Mandantinnen und Mandanten nach der Trennung. Zu ihren Alltagsfällen gehören Gerangel um die Kinder, erbitterter Streit über Aussteuergegenstände, Flucht vor Gewalt in der Ehe, Probleme mit den Schwiegereltern und ähnliche Trennungskatastrophen. Frisch verheiratete Paare oder alte Ehehasen, Männer oder Frauen, Beamte oder Hartz-4-Empfänger - so verschieden wie Silvias Mandanten sind auch deren Scheidungsgeschichten. Die neun Fallgeschichten dieses Buchs stellen Scheidungsfälle aus der Sicht einer Insiderin des Rechtsbetriebs so dar, wie sie sich im „wirklichen Leben“ abspielen. Dabei stellt sich heraus, dass manchmal die Lösungen am besten sind, die nicht im Gesetz stehen.

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Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2014

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In Sachen

Amor gegen Justitia

Scheidungsanwältin Silvia Förster und ihre Fälle

 

von

Christine Eisel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-277-4

MOBI ISBN 978-3-95865-278-1

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

 

 

Montagmorgen in der Kanzlei Förster und Keller

Schon so spät! Die Anwältin Silvia Förster ärgerte sich darüber, dass sie heute im Bad eine Viertelstunde länger gebraucht hatte als sonst. Ihr Tagesablauf war stets straff durchorganisiert. Sie war es nicht gewohnt, sich morgens ausgiebig fertigzumachen. Jetzt musste sie sich beeilen, um rechtzeitig in die Kanzlei zu kommen.

Sie hastete die Treppe hinunter zum Frühstückstisch, den ihr Ehemann, der Diplompsychologe Michael Förster, schon gedeckt hatte.

„Mensch Mama, wie siehst du denn aus?“ Silvias halbwüchsige Tochter Katja warf ihre lange, brandrote Mähne nach hinten und sah ihre Mutter kritisch von oben bis unten an. „Willst du an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen? Ich weiß wirklich nicht, ob du in deinem Alter noch Chancen hast!“

Silvia drohte spielerisch mit der Faust.

„Katja! Hüte deine spitze Zunge.“

Doch selbst Katjas Zwillingsbruder Benjamin, der viel vorsichtiger und diplomatischer war als seine Schwester, sah seine Mutter skeptisch an. „Ist heute irgendwas Besonderes? Wenn du schon mal ein Kostüm trägst ...“ Als er sah, dass sie die kastanienbraunen Locken hochgesteckt hatte und sich sorgfältig geschminkt hatte, fügte er hinzu: „Du siehst ja richtig aufgebrezelt aus.“

„Heute Morgen kommt doch der Fotograf ins Büro, der die Bilder für die Erstellung der Homepage macht, da muss ich mich doch ein bisschen herrichten. Was tut man nicht alles für die Werbung!“

Katja verdrehte die Augen und sah ihre Mutter mitleidig an. „Wenn du glaubst, dass dir diese Aufmachung hilft ...“

Pubertierende Kinder sind eine Strafe!, dachte Silvia und tauschte einen Blick mit ihrem Mann. Wenigstens einer in der Familie, der sie durchaus wohlwollend ansah ...

Nachdem Silvia Förster und ihre Kollegin Antje Keller erst vor kurzem das zehnjährige Bestehen ihrer Anwältinnenkanzlei gefeiert hatten, hatten sie sich entschlossen, endlich ihre Internetpräsenz vorzubereiten. Für viele junge Anwaltskollegen war es selbstverständlich, gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit mit einer eigenen Homepage an die Öffentlichkeit zu treten. Die mittleren Jahrgänge wie Silvia und Antje, die noch die Zeiten kannten, in denen Werbung für Anwälte durch das Standesrecht strikt reglementiert war, taten sich schwer mit Kanzleibroschüren, Websites im Internet und ähnlichen Selbstdarstellungen.

Silvias Mann Michael hatte sich neulich von einem Computerfachmann, der zugleich gute Digitalfotografien machen konnte, eine sehr schöne, professionelle Homepage für seine psychologische Praxis erstellen lassen. Dieser Herr Winkler wollte heute auch in Silvias Kanzlei kommen, um ihr und ihrer Kollegin bei der Website-Erstellung behilflich zu sein.

Nach dem Frühstück trieb Silvia die Zwillinge zur Eile an. „Kinder, beeilt euch; sind eure Taschen schon gepackt? Ihr schreibt ja heute die Englischarbeit, habt ihr gut genug geübt? Vor allem du, Benjamin, konzentriere dich gut und verwechsle nicht some und any. Katja, du solltest etwas zum Trinken einpacken, ihr habt heute Sportunterricht und du verausgabst dich immer so stark.“

Silvias Mann Michael – groß und blond und der ruhende Pol der Familie - machte in der Zwischenzeit schon den Kindern ihre Schulbrote fertig und räumte dann den Tisch ab.

„Ihr werdet eure Englischarbeit schon schaffen, auch du, Benjamin.“ Er strich dem kleineren Zwilling über die hellbraunen Haare.

„Und dir: Viel Spaß bei eurer Homepage und bestell Herrn Winkler schöne Grüße von mir!“

Im Büro lachten Silvia und ihre Mitarbeiterinnen sich an. Alle hatten sich feingemacht, sogar die Auszubildende Julia trug heute keine Jeans.

Frau Mischke, die gute Seele des Büros, las die Kalendereinträge für den heutigen Tag vor. Silvias Kollegin Antje Keller – Fachanwältin für Arbeitsrecht - hatte noch einen Termin beim Arbeitsgericht, würde aber wohl in einer halben Stunde zurückkommen. Die nächsten zwei Stunden waren heute für die Fotos und den Text der Homepage reserviert. Anschließend hatte Silvia selbst noch einen Termin beim Familiengericht, eine einfache, unstreitige Scheidung, die sie nicht lange in Anspruch nehmen würde. Am Nachmittag waren sechs Besprechungstermine eingetragen.

„Hilfe, wie sieht es denn hier wieder aus!“ Die Halbtagskraft Frau Schultze zeigte auf die herumliegenden Akten. „Das kann doch wohl alles nicht liegen bleiben, wie macht sich das denn auf den Fotos?“

Silvia und ihre Mitarbeiterinnen sausten noch schnell durch die Räume, um Ordnung zu schaffen, bevor der Fotograf kam. Vor allem die Schreibtische mussten aufgeräumt werden. Die Aktenberge wurden in Schränken verstaut, alle herumliegenden Telefonzettel in den Eingangskorb gelegt und die Ablageflächen noch schnell etwas dekoriert. Im Empfang lagen jetzt wie zufällig drei Zeitschriften einladend auf dem Tisch.

Die Eingangstür öffnete sich und Silvias Kollegin Antje Keller kam herein. Wie so oft, wenn Antje den Raum betrat, hatte Silvia das Gefühl, ein frischer Wind fege plötzlich durch das Zimmer. Zu der großen, schlanken und sportlichen Antje mit den kurzen blonden Haaren passten Jogginghosen, Turnschuhe und Stirnband besser als Anzug und Robe.

„Hier geht es ja zu wie im Bienenkorb“, lachte sie. „So ordentlich habe ich die Räume noch nie gesehen.“

Antje war die einzige, die in ihrem Zimmer nicht viel aufzuräumen brauchte. Sie war ein Organisationsgenie und hatte ohnehin immer nur die eine Akte auf dem Schreibtisch liegen, an der sie gerade arbeitete. Alle fliegenden Zettel wurden von ihr immer gleich in passende Order oder Ablageschalen gelegt oder weggeworfen. Silvia beneidete sie um die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem sofort trennen zu können und ihr Leben gut sortiert zu halten. Allerdings war dieser Arbeitsstil für Antje als Single auch leichter durchzuhalten als für Silvia als berufstätige Mutter.

Es klingelte an der Tür. Der Fotograf war da.

„Schöne Kanzleiräume haben Sie“, meinte er anerkennend. „Nicht so wuchtig und gediegen, sondern alles hell und freundlich und mit vielen Blumen. Daran merkt man den weiblichen Einfluss.“

Silvia lächelte in sich hinein. Wenn er gewusst hätte, wie es hier noch vor 10 Minuten ausgesehen hatte ...

„Haben Sie schon einen Textentwurf gemacht? Dann kann ich sehen, was für Fotos am besten dazu passen und an welcher Stelle sie eingesetzt werden.“

Den Text hatte Frau Mischke schon in den Computer eingetippt; sie machte schnell noch einen Ausdruck. Herr Winkler überflog den Entwurf, in dem auf verschiedenen Seiten die Kanzlei, die Anwältinnen, die Fachgebiete und die Mitarbeiterinnen vorgestellt wurden. Daneben gab es noch eine allgemeine Seite mit allgemeinen Infos wie Anfahrtsweg, Kontakt und Links zu anderen juristischen Seiten.

Er schlug vor, ein Gruppenfoto von allen an der Empfangstheke zu machen, von den Mitarbeiterinnen Porträts zu erstellen und die Anwältinnen fürs Foto an ihre Schreibtische zu setzen.

Beim Gruppenbild kratzte er sich am Kopf, als er sich zwei Anwältinnen und drei Generationen von Mitarbeiterinnen gegenübersah.

„Ganz schön viel Frauenpower auf einmal“, bemerkte er grinsend. „Bekommt man hier als Mann überhaupt eine Schnitte?“

„Aber sicher“, Antje sah ihn belustigt an. „Ich vertrete viele Männer in Arbeitsrechtsverfahren.“

„Nun gut, bei Arbeitsrechtssachen kann ich mir das ja vorstellen. Aber kann eine Frau im Familienrecht überhaupt einen Mann vertreten?" Er wandte sich skeptisch an Silvia. „Muss man als Mann nicht immer denken, dass Sie heimlich zur anderen Seite halten?“

„Der Einwand ist nicht ganz unberechtigt“, antwortete Silvia, „es gibt einige Familienrechtlerinnen, die ausschließlich Frauen vertreten, aber eher, weil sie die übliche Benachteiligung der Frau nicht auch noch dadurch unterstützen wollen, dass sie Männer vertreten.“

Herr Winkler sah sie verständnislos an. „Benachteiligung in der Ehe?“

Jetzt bloß keine Grundsatzdiskussionen!, dachte Silvia. Das haben wir alles schon hinter uns. Laut sagte sie:

„Aber ich habe mich entschieden, auch Männer zu vertreten. Gerade in Familiensachen ist es oft von Vorteil, wenn man auch Verständnis für die Sicht der anderen Seite hat. Es ist ohnehin oft klüger, wenn die Parteien nicht blind durch Austricksen versuchen, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Oft müssen die Eheleute erkennen, dass es manchmal auch wichtig ist, zusammenzuarbeiten, zum Beispiel zum Wohl der Kinder.“

Herr Winkler nickte. Das konnte er besser nachvollziehen. „Ich fände es auch gut, wenn ich meiner Frau nach einer Scheidung noch in die Augen sehen könnte und nicht einen weiten Bogen machen müsste, wenn ich sie sehe. Aber zum Glück lasse ich mich ja nicht scheiden.“

Nach den Fotos gingen alle zusammen noch einmal den Textentwurf durch. Silvia las vor:

„Die Rechtsanwältinnen Silvia Förster und Antje Keller gründeten die Kanzlei Förster und Keller nach Beendigung ihres Studiums im Jahr 2002. Zunächst als Allgemeinkanzlei geführt, haben sie sich seit dem Jahr 2008 auf das Familien- und Arbeitsrecht spezialisiert.

Rechtsanwältin Silvia Förster ist Fachanwältin für Familienrecht, Rechtsanwältin Antje Keller Fachanwältin für Arbeitsrecht.“

„Es macht sich ganz gut auf einer Homepage, wenn auch noch Mitgliedschaften aufgeführt sind“, fiel Herrn Winkler noch ein. „Was könnte man da noch ergänzen?“

„Auf jeden Fall sollten wir die üblichen anwaltlichen Mitgliedschaften aufführen wie die im deutschen Anwaltsverein und im lokalen Anwaltsverein, außerdem ist Frau Förster noch Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht und Frau Keller noch in der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht."

„Und private Aktivitäten, die sich auf einer Anwaltsseite auch gut machen?“

Silvia schüttelte den Kopf. „Mit dem Rotary Club oder dem Lions Club kann ich leider nicht dienen. Allenfalls mit der Schulpflegschaft für die Kinder oder der Mitarbeit bei Amnesty International.“

„Auch meine Mitgliedschaft im Reitverein lassen wir besser weg.“ ergänzte Antje. „Aber wie wäre es mit der Mitgliedschaft bei Greenpeace?“

„Seltsame Kombination!“ Herr Winkler runzelte die Stirn und sah Antje interessiert an.

Man einigte sich noch auf eine entsprechende Ergänzung der Website.

Auch der Punkt „Unsere Mitarbeiterinnen“ konnte nicht ohne Diskussion akzeptiert werden. Silvia las ihren Vorschlag vor:

„Bei allen organisatorischen Fragen helfen Ihnen gern unsere drei Mitarbeiterinnen:

Marlies Mischke, Jahrgang 1958, Bürovorsteherin

Helga Schultze, Jahrgang 1977, Reno-Gehilfin,

Julia Flink, Jahrgang 1996, Auszubildende.“

„Prima, dazu passen die Porträts von Ihnen dreien.“ Herr Winkler war zufrieden.

Julia meldete sich zu Wort. „Sollen wir Mitarbeiterinnen wirklich einzeln und mit Bild aufgeführt werden? Ich habe noch nie eine Anwaltskanzlei im Internet gesehen, in der auch alle ReNo-Gehilfinnen einzeln beschrieben sind.“

„Aber warum denn nicht?“ Herr Winkler schaltete sich ein. „Wenn die Leute in die Kanzlei kommen, erkennen sie gleich, mit wem sie es zu tun haben. Ich finde das sehr persönlich und ansprechend. Und außerdem“ – hier strahlte er Julia an – „ist so ein süßes Mädel auf der Homepage doch ein guter Blickfang.“

Julia grinste geschmeichelt, die anderen lachten.

Frau Schultze setzte sich an den Computer und tippte noch kurz die besprochenen Änderungen ein. Dann zog sich Herr Winkler ins Nebenzimmer zurück, um die Digitalfotos in den Computer einzuspeichern und die Homepage ins Internet hochzuladen.

Silvia musste los zum Termin. Vor dem großen Standbild der Justitia in der Eingangshalle des Gerichts traf sie auf die Eheleute Neumann, die auf der Suche nach dem Gerichtssaal auf die Wegweisertafel schauten. Beide Eheleute hatten bereits ihre neuen Partner mitgebracht. Da die Parteien schon seit zwei Jahren getrennt waren, hatten alle sich gut auf die veränderte Situation eingestellt und konnten ganz normal miteinander reden. Silvia sah sich die neue Freundin ihres Mandanten an und fragte sich, wo hier eigentlich die Veränderung lag. Herr Neumann hatte sich immer darüber beschwert, dass seine Frau zu viel redete. Seine neue Freundin war zwar etwas jünger als seine Frau, sprach aber fast ununterbrochen im Plauderton. Der neue Freund seiner Frau neigte genauso wie Herr Neumann selbst zu einem leichten Rettungsring um die Taille und zu einem etwas grobschlächtigen Äußeren.

Silvia lächelte zu Justitia hinauf. Ich habe mich immer schon gefragt, warum nur Justitia mit einer Augenbinde dargestellt wird!, dachte sie. „Amor ist doch mindestens genauso blind. Wenn die Leute etwas sorgfältiger bei ihrer Partnerwahl wären, gäbe es vielleicht nicht so viele Scheidungen ...“

Der zuständige Richter Herr Renner stutzte, als er Silvia sah. „Sie sehen heute so“ – er suchte das richtige Wort – „gediegen aus, ganz ungewohnt. Für mich müssen Sie sich wirklich nicht fein machen.“

Er selbst trug, wie meistens, zwar das vorgeschriebene weiße Hemd, dazu aber eine Jeans unter der Robe.

Silvia murmelte etwas von Fotoaufnahmen und setzte sich neben ihren Mandanten.

Sie mochte Herrn Renner sehr gern. Er war er ein guter Familienrichter mit raschem Blick für das Wesentliche. Auch bei den verfahrensten Streitigkeiten behielt er den Überblick und schaffte es, fast jedes streitige Verfahren mit einer Einigung zu beenden, mit der beide Parteien gut leben konnten. Er hatte ein starkes praktisches Gespür und zeigte den Eheleuten immer sehr deutlich, an welcher Stelle ein Streit sich nicht lohnte. Sein einziger Nachteil war, dass er manchmal etwas zu schnell für die Parteien war, vor allem bei völlig einfachen und unstreitigen Scheidungsverfahren.

So beendete er auch heute das Scheidungsverfahren innerhalb von fünf Minuten; er ließ die Scheidung auch gleich rechtskräftig werden.

Nach dem Blitztermin stand Silvia noch kurz mit ihrem Mandanten, dessen geschiedener Ehefrau und dem Gegenanwalt zusammen. Der Mandant Herr Neumann fragte Silvia verwirrt: „Nun ist ja wohl alles geklärt, aber wann findet denn jetzt die Scheidung statt?“

„Aber Herr Neumann, Sie sind bereits seit drei Minuten rechtskräftig geschieden!“

„Ach so“, schaltete sich jetzt auch Frau Neumann ein, „war das tatsächlich schon die Scheidung? Das ist mir gar nicht klar geworden.“

Silvia schmunzelte. Herr Renner hatte mal wieder so ein Eiltempo angeschlagen, dass die Parteien nicht mitgekommen waren. Bei unstreitigen Scheidungen passierte es ihm nicht selten, dass die Eheleute gar nicht realisierten, dass sie bereits geschieden waren.

„Tja, eine Scheidung geht heutzutage meist viel schneller vonstatten als die Eheschließung“, seufzte Silvia. „Dass es hier weder Blumen noch Musik gibt, ist ja bekannt. Aber darüber, dass keine Reden gehalten werden, man nicht aufstehen muss und nicht einmal etwas unterschreiben muss, sind viele Leute doch etwas erstaunt. Eine Scheidung ist so wenig feierlich wie ein Gang zum Metzger.“

Nach der Rückkehr vom Termin war der Empfangsraum leer; alle Mitarbeiterinnen und Antje hatten sich im Nebenraum versammelt, um die inzwischen fertiggestellte Homepage zu begutachten, die von Herrn Winkler vorgeführt wurde. Alle waren stolz auf ihren gelungenen Internetauftritt.

„Nur die Darstellung deines Tätigkeitsbereichs hätte etwas griffiger formuliert werden können.“ Antje stupste Silvia an. “Wie wär’s mit: In Sachen Amor gegen Justitia ist Frau Rechtsanwältin Förster unsere Spezialistin?“

Von der Maus zur Tigerin

Als die Tür zu Silvia Försters Besprechungszimmer sich öffnete, trat ein älterer, stattlicher Herr ein, gefolgt von einer ungefähr dreißigjährigen, eher noch jünger wirkenden, mädchenhaften Frau. Beide stellten sich als die Mandantin Frau Jungblut und ihr Vater Herr Hiltmann vor.

Frau Jungblut war schmal und hatte mittelbraune Haare. Eigentlich hatte sie ein recht hübsches Gesicht, aber dieser Eindruck verschwand völlig hinter ihrer Aufmachung. Sie trug einen dunkelblauen Faltenrock, eine weiße, hochgeschlossene Bluse und flache schwarze Schuhe mit weißen Söckchen. Die Haare hatte sie ordentlich zu einem Mozartzopf zusammengebunden; in ihrem Gesicht war nicht die Spur von Schminke zu erkennen. Silvia konnte sich den Gedanken „mein Gott, wie brav“ nicht verkneifen. Frau Jungblut hatte so gar nichts gemein mit dem in Frauenzeitschriften propagierten Klischee des selbstbewussten und modischen Frauentyps.

Herr Hiltmann ergriff sogleich das Wort. „Frau Anwältin, Sie müssen uns helfen. Meine Tochter hat sich von ihrem Mann getrennt; er hat ihr gegenüber seelische Grausamkeit an den Tag gelegt. Meine Frau und ich haben unsere Erika gestern aus der Wohnung herausgeholt und erst mal zu uns genommen. Aber dieser Mensch gibt ja keine Ruhe. Er spioniert ihr nach, wo er nur kann. Als er am Nachmittag nach Hause kam und den Brief fand, den wir ihm hingelegt haben, ist er sofort vorbeigekommen, um Theater zu machen.“

„Was stand in dem Brief?“, fragte Silvia.

Herr Hiltmann zog ein Blatt Papier aus der Tasche. „Natürlich haben wir uns eine Kopie gemacht. Hier, lesen Sie selbst.“

Auf dem Zettel, den er Silvia reichte, stand:

„Lieber Markus, ich halte es nicht mehr aus. Unsere ganzen Streitigkeiten in der letzten Zeit waren zu viel für mich. Ich bin es leid, mich von dir beschimpfen und beleidigen zu lassen und gehe wieder zurück zu meinen Eltern. Ich will mich von dir trennen. Versuch bitte nicht, mich zurückzuholen, meine Entscheidung ist endgültig. Ich nehme erst mal aus der Wohnung nichts mit, weil ich die Möbel bei meinen Eltern nicht aufstellen kann. Ich will aber später noch Sachen heraushaben. Um die ganze Aufteilung können wir uns noch kümmern. Ich hoffe, wir können uns gütlich einigen. Deine Erika.“

Silvia fand die Zeilen ganz nett formuliert, freundlich, aber bestimmt. Ob der Urheber wohl Frau Jungblut oder ihr Vater war?

„Und was ist dann weiter geschehen?“, fragte sie.

„Er kam gleich nach der Arbeit bei uns vorbei und hat angeschellt. Natürlich haben wir ihm die Tür nicht aufgemacht. Dann hat er angefangen, Sturm zu klingeln, aber wir haben uns in der Wohnung nicht gerührt. Wir haben ja immer gehofft, er würde wieder verschwinden! Und wissen Sie, was er dann gemacht hat: Er hat einfach bei den Nachbarn geklingelt und sich so einen Zutritt in den Hausflur verschafft. Dann hat er oben im Flur vor die Tür gehämmert und gerufen ‚mach auf, ich weiß, dass du da drin bist!’ Wir haben uns richtig bedroht gefühlt. Als ich dann an die Tür gegangen bin und ihm gesagt habe, dass ich die Polizei rufe, ist er dann endlich verschwunden. Und jetzt sind wir hier, weil wir möchten, dass Sie ihn anschreiben. Das sind ja Übergriffe, die unsere Erika und auch wir uns nicht bieten lassen müssen.“

„Warum haben Sie ihn nicht einfach hereingelassen?“, fragte Silvia. „Schließlich war es für ihn ja offenbar völlig überraschend, dass ihre Tochter ihn verlassen hatte. Da hätte man ja mal miteinander reden können.“

„O, sie kennen unseren Schwiegersohn nicht!“ Herr Hiltmann hob wissend den Zeigefinger. „Meine Tochter hatte ja gute Gründe, ihn zu verlassen. Er hat unsere Erika so gequält, dass es nicht zu ertragen war. Wenn er in unsere Wohnung gekommen wäre, hätte er wieder so lange auf sie eingeredet, bis sie völlig verängstigt gewesen wäre. Nein, es ist schon besser, dass wir unsere Tochter jetzt vor ihm schützen. Wenn er etwas von ihr will, kann er es gern schriftlich machen.“

Silvia fiel auf, dass sie sich von Anfang an automatisch nur mit Herrn Hiltmann unterhalten hatte. Frau Jungblut saß stumm dabei, nickte aber von Zeit zu Zeit.

„Wie sehen Sie die ganze Sache?“, fragte Silvia nun Frau Jungblut.

„Mein Vater hat schon recht. Ich möchte im Moment gar nicht mit meinem Mann reden, weil mich das zu sehr aufregen würde. Ich bin jetzt erst mal froh, dass ich von ihm weg bin; er soll mir nicht immer nachspionieren. Mir wäre es ganz lieb, wenn Sie ihm das schreiben könnten. Außerdem brauche ich natürlich auch Geld.“ Sie sah Silvia fragend an.

„Sie werden doch dafür sorgen, dass er mir etwas zahlen muss, oder nicht? Ich habe ja keine eigenen Einkünfte.“

„Lassen Sie uns mal sehen. Was macht Ihr Mann beruflich und was Sie?“, fragte Silvia.

Herr Hiltmann antwortete für seine Tochter: „Mein Schwiegersohn ist Buchhalter in einem großen Kaufhaus verdient ganz gut; meine Tochter hat früher als kaufmännische Angestellte gearbeitet; allerdings hat sie mit der Heirat aufgehört zu arbeiten; schließlich wollten die beiden ja Kinder haben. Allerdings ist es bis jetzt dazu noch nicht gekommen – zum Glück!“

Silvia fragte nach den ungefähren Einkünften des Mannes und war überrascht, dass Herr Hiltmann bereits Fotokopien sämtlicher Verdienstabrechnungen des Mannes seit dem letzten Jahr aus der Tasche zog. „Wir haben natürlich alles Wichtige fotokopiert!“, bemerkte Herr Hiltmann auf Silvias fragenden Blick. „Schließlich kann man ja nicht wissen, was mein Schwiegersohn alles verheimlichen will, wenn die beiden sich erst mal streiten.“

Silvia rechnete den Unterhalt aus, mit dem die Frau zunächst – zumal sie weiter bei den Eltern leben sollte – ganz gut auskommen würde.

„Das Geld ist aber nicht das eigentliche Problem“, meinte Herr Hiltmann. „Schließlich ist Erika ja im Moment ganz gut bei uns untergebracht und verhungern lassen wir sie sicherlich nicht.“ Er nickte seiner Tochter aufmunternd und jovial zu. „Am wichtigsten wäre es, dafür zu sorgen, dass unser Schwiegersohn Erika in Ruhe lässt und ihr auf keinen Fall nachstellt. Wir befürchten ja, dass er das arme Mädchen weiterhin drangsaliert und nicht aufhört, sie einsperren zu wollen.“

„Wie kann man sich das mit dem Einsperren vorstellen?“, fragte Silvia jetzt ‚das arme Mädchen’ neugierig.

„Ach“, antwortete Frau Jungblut mit einem fragenden Seitenblick zu ihrem Vater. „Er bestimmt immer alles, was bei uns abläuft und lässt mir gar keine Freiheiten. So muss ich jeden Nachmittag zu Hause sein, wenn er von der Arbeit kommt und das Essen für ihn fertig haben, sonst ist er wütend. Er möchte auch nicht, dass ich abends weggehe und eine Freundin besuche; er selbst interessiert sich aber überhaupt nicht dafür, einmal auszugehen. Wir sitzen fast jeden Abend vor dem Fernseher. Ich würde so gerne mal ins Kino gehen oder einfach mal ins Restaurant. Ich habe ihm sogar mal vorgeschlagen, wir sollten einen Tanzkurs machen. Da hat er ganz entrüstet reagiert, weil ihn so etwas nicht interessiert. Wir haben höchstens alle drei bis vier Wochen mal Freunde oder seinen Bruder zu Besuch, aber das ist auch schon unsere einzige Abwechslung. Mein Mann möchte einfach, dass ich immer für ihn allein da bin, auch wenn wir abends nicht einmal viel zusammen machen, sondern meistens nur die Flimmerkiste läuft.“

„Und was machen Sie am Wochenende?“, fragte Silvia.

„Nun, wir haben ja eine große Parterrewohnung mit Garten gemietet und arbeiten samstags sehr viel in der Wohnung und im Garten. Und Sonntag morgens gehen wir in die Kirche; dann essen wir mittags bei den Eltern meines Mannes und besuchen am Nachmittag meine Eltern.“

„So, wie Sie das erzählen, klingt Ihr Leben ja nicht gerade abenteuerlich; andererseits könnte es ja auch ganz häuslich und gemütlich sein. Worin liegt denn jetzt die seelische Grausamkeit Ihres Mannes?“

Herr Hiltmann konnte sich nicht mehr bremsen und schaltete sich jetzt wieder ein. „Wenn meine Tochter wirklich so leben wollte, würde ich ja nichts sagen. Aber sie ist ja noch recht jung und will doch auch mal etwas erleben. Die Grausamkeit liegt darin, dass Ihr Mann ihr das nicht erlaubt, sondern zusieht, dass sie immer nur zu Hause ist. Unsere kleine Erika versauert ja richtig!“

„Was heißt eigentlich, er erlaubt es Ihnen nicht?“, fragte Silvia nun wieder die ‚kleine Erika’. „Ich meine, Ihr Mann kann Ihnen doch nichts verbieten, Sie sind doch eine erwachsene Frau!“ (Und er ist nicht Ihr Vater, setzte Sie in Gedanken hinzu.)

„Oh, Sie können sich nicht vorstellen, wie böse mein Mann werden kann. Er beschimpft mich zum Beispiel als vergnügungssüchtig, wenn ich mal den Wunsch äußere, tanzen zu gehen. Und wenn ich mit ihm essen gehen will, meint er, ich wollte wohl immer nur sein sauer verdientes Geld ausgeben, und wir sollten lieber für sinnvolle, größere Dinge sparen. Wenn er tagsüber auf der Arbeit ist, ruft er mindestens drei bis vier Mal am Tag an, um zu kontrollieren, ob ich auch zu Hause bin. Und wenn er mich dann einmal nicht erreicht, guckt er mich wieder abends so ganz knurrig an und fragt, wo ich denn jetzt schon wieder gewesen wäre. Außerdem legt er mir jeden Sonntag nur ein geringes Haushaltsgeld hin für die Einkäufe; am nächsten Sonntag muss ich ihm dann genau vorrechnen, wofür ich das Geld ausgegeben habe. Und wehe, es fehlt dann etwas! Dann schimpft er wieder, ich könnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Ach, es ist furchtbar!“

Frau Jungblut fing an zu weinen.

„Na, na, jetzt beruhige dich mal.“ Ihr Vater tätschelte ihr den Arm. „Jetzt hast du dich ja von ihm getrennt und bist erst mal bei uns wieder gut aufgehoben.“

Silvia fragte sich die ganze Zeit, warum Frau Jungblut nicht einfach allein ausgegangen war oder ihren Mann zurechtgewiesen hatte, weil er sich so stark in ihre Geldverwaltung einmischte. Ob da wohl Gewalt im Spiel war?

„Hat Ihr Mann Sie denn auch mal geschlagen?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein, so etwas würde mein Mann nicht tun, er ist ja kein Rohling“, schniefte Frau Jungblut. „Aber es reicht doch wohl aus, dass er so fürchterlich mit mir schimpft und so lange auf mich einredet, dass ich selbst schon glaube, dass ich etwas Schlimmes getan habe. Manchmal bin ich schon ganz durcheinander und weiß selbst nicht mehr, ob er nicht vielleicht Recht hat und ich einfach keine richtige Ehefrau bin, die sich gut um ihren Mann kümmert.“

Silvia spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte bei dem antiquierten Rollenbild, dass die Frau von einer Ehe hatte. Sie hoffte, dass Frau Jungblut – wie viele andere Frauen auch – sich im Laufe des Scheidungsverfahrens zu mehr Selbständigkeit entwickeln würde.

Zunächst wurde mit der Mandantin und ihrem Vater jedoch besprochen, dass Silvia den Mann anschreiben sollte und ihm die Endgültigkeit des Trennungsentschlusses mitteilen sollte. Vor allem sollte Herr Jungblut aufgefordert werden, sich zunächst einmal von seiner Frau fernzuhalten, bis sie die Trennung besser verarbeitet hatte. Natürlich sollten auch Unterhaltsansprüche geltend gemacht werden. Allerdings wies Silvia die Frau bereits jetzt darauf hin, dass sie so langsam wieder an eine eigene Berufstätigkeit denken sollte.

„Einerseits ist Ihr Mann nur für eine Übergangszeit zum Unterhalt verpflichtet, weil sie ja nicht alt oder krank sind oder Kinder betreuen und daher arbeiten können. Andererseits ist es für Sie selbst sicher auch besser, wieder zu arbeiten, dann kommen Sie auch mal wieder raus und bauen wieder ein selbständiges Leben auf.“

Als Frau Jungblut und ihr Vater gegangen waren, schob sich neckisch grinsend der kurzhaarige Blondschopf von Silvias Kollegin Antje Keller durch die Tür.

„Das war aber eine liebe kleine Maus, die da mit ihrem Vater aus deinem Zimmer gekommen ist. Was war denn das wieder für ein Fall?“

„Ich glaube, da habe ich noch ein Stückchen Arbeit vor mir“, seufzte Silvia. „Die Frau hat ihren Mann verlassen, der wie ein Vater zu ihr war, und ist jetzt erst mal zu ihren Eltern zurückgezogen.“

„Aha, und wo liegt die Veränderung?“, fragte Antje, „dann hätte sie doch gleich bei ihrem Mann bleiben können.“

„Na, mal abwarten“, meinte Silvia, „irgendwann wird sie vielleicht auch noch erwachsen.“

„Unsere Försterin hegt und pflegt mal wieder ihre Tiere“, feixte Antje. „Ich dachte, du hättest dich auf Rehlein und Platzhirsche spezialisiert, jetzt sind schon die Mäuse dran.“