Lieblingsfeind Islam - Petra Wild - E-Book

Lieblingsfeind Islam E-Book

Petra Wild

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Beschreibung

Seit Samuel Huntington 1993 den "Kampf der Kulturen" ausrief, hat sich der antimuslimische Rassismus in Europa rasant ausgebreitet. Hier betrachtet man Muslime als Antithese zu den westlichen Werten, als schwer oder nicht integrierbar. Den Sicherheitsapparaten gelten sie als Risikogruppe. Die Gewalt gegen Musliminnen und Muslime hat weltweit eine Dimension erreicht, die es rechtfertigt, von der größten rassistischen Massenmobilisierung seit dem Faschismus zu sprechen. Diese war nur möglich, weil der Islam neben dem Judentum eines der ältesten und wirkungsmächtigsten Feindbilder Europas ist. Seit jeher haben die Europäer ihre Identität in Abgrenzung gegen den Islam bestimmt. Europäer sein hieß schon im Mittelalter vor allem, kein Muslim zu sein. In der Rhetorik vom "christlich-jüdischen Abendland" scheint diese alte Frontstellung wieder auf. Die politischen und sozialpsychologischen Funktionen dieser spezifischen Form des kulturellen Rassismus sind vielfältig. Sie reichen von der ideologischen Absicherung der NATO-Kriegspolitik gegen die muslimische Welt über die Legitimierung der fortschreitenden autoritären Formierung der westlichen Staatsapparate bis hin zur Kanalisierung sozialer Unzufriedenheit durch die Feindbildkonstruktion. Rechtsradikalen dienen sie überdies zur Verstärkung ihres Einflusses und sich links gebenden Antideutschen zur Beförderung ihrer proisraelischen Agenda. Für viele verunsicherte Bürger im krisengeplagten Europa bildet der antimuslimische Rassismus ein Ventil, um ihrer diffusen Wut Luft zu machen. Die Islamwissenschaftlerin Petra Wild untersucht, angelehnt an die Arbeiten von Edward Said und Theodor W. Adorno, die historischen, politischen und sozialpsychologischen Aspekte des antimuslimischen Rassismus.

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Seitenzahl: 449

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Petra WildLieblingsfeind Islam

© 2018 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-867-4 

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-444-7)

Fordern Sie unsere Kataloge an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected] Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über die Autorin

Petra Wild, geboren 1963 in Aarbergen/Hessen, studierte arabische Sprache und Islamwissenschaften in Jerusalem, Leipzig, Damaskus und Berlin. Sie arbeitet als freiberufliche Publizistin vor allem zur Palästina-Frage und zur Arabischen Revolution. Im Promedia Verlag sind von ihr bislang erschienen: »Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina« (5. Auflage 2018) sowie »Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung« (2. Auflage 2018).

Inhalt
Über die Autorin
1. Einleitung
2. Zum Begriff des antimuslimischen Rassismus
3. Die lange Geschichte des Feindbildes Islam in Europa
Die Erfindung des rückständigen und irrationalen Orients während der Aufklärung
Orientalismus: Der koloniale Blick auf den Orient
Die antimuslimische Unterströmung in der europäischen Kultur
4. Zivilisationsrassismus: Der Westen und seine Werte
Europas blutige Geschichte
Europa als »Nabel der Welt«
Die Dialektik der Aufklärung
Das Nachwirken des Kolonialismus
Das Vereinigte Königreich (UK)
Frankreich
Das Fortleben des Kolonialismus
5. Die Instrumentalisierung der Frauen-Frage
Die Vielfalt der Lebenswelten muslimischer Frauen
Kolonialer Feminismus
Das Kopftuch
Die Konstruktion des Kopftuchs als Ausdruck des Extremismus
Das Kopftuchverbot
Muslimische Frauen als größtes Hassobjekt der Rassisten
Orient und Islam als Projektionsfläche westlicher Gesellschaften
Von Köln bis Kandel: Der Muslim als Bedrohung der deutschen Frauen
Frauenfeindlichkeit und Gewalt gegen Frauen in der deutschen Gesellschaft
6. Der Antisemitismus im antimuslimischen Rassismus
Der gemeinsame Ursprung von Antisemitismus und Orientalismus
Von der drohenden »Verjudung« Deutschlands zur drohenden »Islamisierung« des Abendlandes
Das Streben nach Weltherrschaft
Täuschung
Gewalt
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus als Krisenerscheinungen
Der Missbrauch des Antisemitismus-Begriffs zur Unterdrückung von Kritik an Israel
Antizionismus ist das Gegenteil von Antisemitismus
Die Projektion des Antisemitismus auf Muslime und arabische Flüchtlinge
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein Mythos
7. Der »Kampf der Kulturen«
Die Produktion des Feindbildes Islam
»Der Kampf der Kulturen«
Die antimuslimische Mobilisierung in den USA nach dem 11. September 2001
8. Die Erzeugung des antimuslimischen Rassismus durch Kulturindustrie und Politik
Die Kulturindustrie
Scharia und Dschihad
Islamfeindliche Autoren, Intellektuelle und Politiker
Antimuslimische Ausrichtung in staatlichen Institutionen
9. Institutioneller und staatlicher Rassismus
Institutioneller Rassismus
Rassismus in der Polizei
Religionsgemeinschaft der Muslime staatlich nicht anerkannt
In Gesetze gegossene antimuslimische Vorurteile als staatliche Politik
Der staatliche Umgang mit den Flüchtlingen aus der muslimischen Welt
Die »Anker-Zentren« sind Lager
10. Antimuslimischer Rassismus als Deckmantel der autoritären Formierung nach innen
Der Umbau des demokratischen Sozialstaats in einen autoritären neoliberalen Sicherheitsstaat
Der autoritäre Kern des Neoliberalismus
Die Terror-Manipulation
Der Staat der präventiven Aufstandsbekämpfung
Frankreich
Dänemark
11. Sozialdarwinismus und Rassismus: die zwei Seiten der neoliberalen Medaille
Das Lob der sozialen Ungleichheit und das neoliberale Prinzip der Auslese
Sozialdarwinismus als Rechtfertigungs­ideologie für wachsende soziale Ungleichheit
Die Kulturalisierung der sozialen Frage
»Marktförmiger Extremismus«
Die Sarrazin-Debatte: Die Verknüpfung von Sozialdarwinismus und antimuslimischem Rassismus
12. Antimuslimischer Rassismus von rechts: Pegida, AfD und Co.
Problematische Erblasten der politischen Kultur
Die Rehabilitierung des Nationalismus
Antimuslimischer Rassismus als Vehikel des Aufstiegs der Rechtsradikalen
Der rechtsradikale Kern des Neoliberalismus
Die AfD: ein modernisierter Rechtsradikalismus
Das verunsicherte Kleinbürgertum
Der Rassismus der AfD
Die AfD als Ausdruck von Widersprüchen innerhalb des Blocks an der Macht
13. Antimuslimischer Rassismus von links: Die Antideutschen
Die Antideutschen: ein Produkt der Krise der autonomen Linken nach der Wiedervereinigung
Die Entsorgung des revolutionären Erbes der autonomen Linken
Die Aushöhlung des Antifaschismus-Begriffs
Die Antideutschen: Eine völkische »Linke«
Die Verklärung Israels zum antifaschistischen Bollwerk
Antipalästinensischer und antimuslimischer Rassismus als Funktion der Israelunterstützung
Die Pathologisierung von Palästinensern und Muslimen
Die Verklärung der USA zu einem Bollwerk von Demokratie und Liberalismus
Die Nazifizierung von Palästinensern und dem Islam
Die Antideutschen: eine anti-linke und pro-israelische Pressure Group
Eine antimuslimische Querfront?
14. Antimuslimischer Rassismus sozial­psychologisch: der alte autoritäre Charakter und der neue neoliberale Charakter
Der autoritäre Charakter
Ressentiments und Aggressionsverschiebung
Neurotische Angst
Nach oben buckeln und nach unten treten
Ich-Schwäche, narzisstische Kränkung und die Suche nach dem Halt im Kollektiv
Pathische Projektion
Rache- und Bestrafungsphantasien
15. Vom christlich-jüdisch-muslimischen Abendland
Die zivilisatorische Überlegenheit der arabisch-islamischen Welt im Mittelalter
Al-Andalus
Das muslimische Erbe Europas
Bibliographie

1. Einleitung

»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Dies ist die Zeit der Monster.« (Antonio Gramsci)

Für eine Islamwissenschaftlerin, die in arabischen Ländern gelebt und mit den unterschiedlichsten Menschen aus der muslimischen Welt zu tun hatte, ist es nicht leicht, ein Buch über antimuslimischen Rassismus zu schreiben. So grotesk ist das, was hierzulande von links bis rechts unter dem Etikett »der Islam« gehandelt wird, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen, wie man es anpacken soll. Denn an dem vorherrschenden, zum Mainstream gewordenen negativen Islambild ist alles falsch. Es ist das zur Monsterfratze verzerrte Bild einer Weltreligion, das da aufgerichtet wird, um bestimmte politische und gesellschaftliche Zwecke zu erreichen.

Der Islam ist eine Religion, die vielfältiger nicht sein könnte. Diese Religion ist mit etwa zwei Milliarden AnhängerInnen die zweitgrößte der Welt. Sie existiert auf allen Kontinenten und da sie sich stets mit den vorgefundenen lokalen Kulturen verbunden hat, nimmt sie die unterschiedlichsten Ausprägungen an. Zum Islam bekennen sich sowohl patriarchale wie auch matriarchale Gesellschaften. Zu ihm gehören die Mystik mit ihrer berückend schönen Poesie ebenso wie die fünf Rechtsschulen mit ihren unterschiedlichen Islaminterpretationen.

Der Islam hat eine lange, reiche und wechselvolle Geschichte von nunmehr über 1300 Jahren, in denen er, ebenso wie die Gesellschaften, in denen er heimisch ist, viele Veränderungen durchlaufen hat. Da es im Islam keine zentrale hierarchische Instanz wie den Vatikan für den Katholizismus gibt, die verbindlich festlegt, was der Islam sei, wird das unter den Gläubigen selbst stets neu verhandelt. Diese Diskussion dauert an.

Muslimische Gesellschaften können ebenso wenig auf den Islam reduziert werden wie christliche Gesellschaften auf das Christentum. Es hat in der muslimischen Welt starke antikoloniale Befreiungsbewegungen und progressive politische Strömungen gegeben. Der algerische Befreiungskampf 1954–1962 inspirierte nicht nur die drei Kontinente, sondern stieß auch in der westlichen Welt auf Solidarität. Die säkular-nationalistische palästinensische Revolution wurde besonders in ihrer ersten Phase zu Beginn der 1970er-Jahre zum Magnet für progressive Kräfte weltweit. Nicht nur aus der arabischen Welt kamen Hunderte von jungen Menschen, um sich ihr anzuschließen, sondern auch aus Lateinamerika und Asien. Dass der Glanz ihrer Anfänge auch Progressive in der westlichen Welt anzog, lässt sich in Jean Genets Ein verliebter Gefangener nachlesen. Vor dem von den USA unterstützten Militärputsch vom September 1965 gab es im muslimischen Indonesien die stärkste kommunistische Partei außerhalb des realsozialistischen Lagers, der mit 20 Millionen IndonesierInnen ein Viertel der Bevölkerung angehörte.

All das wird weggewischt, indem muslimische Länder, Gesellschaften und Menschen rein auf »den Islam« reduziert werden, der wiederum auf ein geschichtsloses, unveränderliches Abstraktum mit einer Handvoll negativer Eigenschaften verkürzt wird. Die Islamhasser konstruieren sich »den Islam« so, wie sie ihn brauchen, damit er als Feindbild taugt. Sie benutzen ihn als Sündenbock, auf den sie nach Herzenslust einschlagen können. So wurden im sächsischen Sebnitz syrische Kinder im Alter von fünf, acht und elf Jahren in aller Öffentlichkeit von deutschen Jugendlichen rassistisch beleidigt, geschlagen und mit dem Messer bedroht.1 Muslimischen Frauen wird auf offener Straße das Kopftuch heruntergerissen, Schweinsköpfe auf die Gelände von Moscheen geworfen. Beinahe jeden Tag werden Flüchtlingsheime angegriffen, regelmäßig muslimische Frauen und Männer ermordet. Antimuslimische Gewalt gehört längst zum bundesdeutschen Alltag. Und sie nimmt Jahr für Jahr zu. 2017 gab es 908 Angriffe auf deutsche MuslimInnen, 1906 Angriffe auf Flüchtlinge, die größtenteils ebenfalls Muslime sind, 286 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, 132 Angriffe auf Flüchtlingshelfer und rund 100 Angriffe auf Moscheen.2

Die Zeiten, in denen soziale Ächtung dafür sorgte, dass rassistisches Gedankengut nicht offen geäußert wurde, sind lange vorbei. Aber auch als Rassismus in der Öffentlichkeit noch tabuisiert war, existierte er. Bereits 2011 zeigte eine Studie des Bielefelder Konfliktforschers Andreas Zick, dass Rassismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit in allen Schichten und Altersklassen in Europa weit verbreitet sind. Damals gaben rund 80% der befragten Deutschen an, der Islam passe nicht in die hiesige Kultur. Ein Drittel der Befragten war der Meinung, es gebe eine natürliche Hierarchie zwischen »hellen« und »dunklen Rassen« und jeder dritte Deutsche wünschte sich einen »starken Mann« an der Spitze des Staates.3

Heute sind alle Dämme gebrochen. Der gegen Muslime gerichtete Rassismus ist in den westlichen Ländern mittlerweile so stark geworden, dass es gerechtfertigt ist, von der größten rassistischen Mobilisierung seit dem Faschismus zu sprechen.

Nach wie vor wird auf den Meinungsseiten von Tageszeitungen, in Talk-Show-Runden und in sozialen Medien darüber spekuliert, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, warum er so gewalttätig sei und ob er überhaupt nach Deutschland gehöre. Meist sind diese Debatten von keinerlei Fachkenntnis getrübt. Aber wozu auch? Dass der Islam frauenfeindlich sei und Muslime zu Gewalt und Fanatismus neigen, weiß schließlich jeder.

Der Durchschnittsbürger verfügt über kein wirkliches Wissen über die zweitgrößte Weltreligion, hat aber dafür eine umso dezidiertere Meinung dazu. Diese Meinung ist ein Amalgam aus Voreingenommenheiten und Vorurteilen, kleinbürgerlichen Ressentiments, Eurozentrismus, kolonialem Blick und antimuslimisch gewendetem Antisemitismus. Antimuslimische Stereotype fallen als solche kaum auf, weil sie so weit verbreitet, gleichsam Allgemeingut der öffentlichen Meinung sind. Keine Spielart des Rassismus wird so verharmlost und heruntergespielt wie der antimuslimische Rassismus, keine ist so gewalttätig und salonfähig zugleich.

Der Sprachlos-Blog hat sich einmal die Mühe gemacht, in der antimuslimischen Stellungnahme einer antideutschen Gruppe, die mit »Let‘s talk about Islam« beginnt, das Wort »Islam« gegen das Wort »Judentum« auszutauschen. Der dadurch eintretende Verfremdungseffekt ist durchaus erhellend: »Doch anders als vom Plenum suggeriert, war das Problem (…) keine beliebige migrantische Männergruppe und nur bedingt das Patriarchat, sondern vor allem das Judentum. So ist es ein offenes Geheimnis, dass diejenigen, die das Conne Island [linkes Zentrum in Leipzig, d.A.] zeitweise in einen Ausnahmezustand versetzten, gerade nicht aus Kumasi oder Nowosibirsk kamen, sondern aus jüdisch geprägten Ländern, in denen das Judentum selbst einige derer entscheidend prägt, die sich nicht direkt zur Religion bekennen. Auch das gilt selbstverständlich nicht für alle, aber dass das Judentum viel tiefgreifender in die Sozialisation, Erziehung und Alltagskultur seiner Angehörigen eingreift als viele andere Vereine, dürfte unbestritten sein.«4

Dass ein solches Statement antisemitisch ist, würden die meisten Menschen erkennen. Doch wenn in derselben Weise über den Islam gesprochen wird, wird der darin enthaltene Rassismus nicht wahrgenommen. Prominente Politiker schüren in der Öffentlichkeit antimuslimische Ressentiments und geben rassistische Stellungnahmen ab. Würde ein Politiker in ähnlicher Weise über Juden und das Judentum sprechen wie über den Islam und Muslime, so müsste er zurücktreten und für lange Jahre von der politischen Bildfläche verschwinden. Aber in Bezug auf Musliminnen und Muslime ist alles erlaubt. Gewalt im Zusammenhang mit Muslimen wird nur thematisiert, wenn sie von diesen ausgeht, kaum je, wenn sie ihr Opfer werden. Politiker, Journalisten und staatstragende Wissenschaftler stricken unablässig an einem Islambild, das den Rassismus fördert.

Der antimuslimische Rassismus wurde aus innenpolitischen und außenpolitischen Gründen systematisch aufgebaut. Meist wird er als Islamophobie oder Islamfeindlichkeit bezeichnet, aber dieser Begriff trifft die Sache nur ungenügend. Der Begriff Islamophobie rückt das Phänomen auf die Ebene der subjektiven und pathologischen Meinungen und verharmlost es dadurch. Richtiger ist es von Rassismus zu sprechen, da dieser Begriff die Machtverhältnisse und die herrschaftsstabilisierende Funktion dieses Phänomens beinhaltet und zudem einen geschichtlichen Zusammenhang herstellt.

Der antimuslimische Rassismus hat eine lange Geschichte in Europa. Der Islam ist neben dem Judentum das älteste Feindbild. Seitdem Europa im Mittelalter begann, eine eigene Identität auszubilden, hieß Europäer sein in erster Linie, kein Muslim zu sein. Europa und der Orient haben eine lange gemeinsame und wechselvolle Geschichte. Die muslimische Welt war für Europa immer eine Herausforderung. Gewaltsame Auseinandersetzungen, kulturelle Bereicherung und Orte der religiösen und ethnischen Koexistenz existierten gleichzeitig. Die Begegnung mit der arabischen Welt und dessen dominierender Religion – dem Islam – hat Europa nachhaltig geprägt. Bis heute arbeitet es sich daran ab. Besonders in Zeiten der Krise wird gerne auf das Feindbild Islam zurückgegriffen. Auch heute heißt Europäer sein wieder vor allem kein Muslim zu sein.

Die Welt ist aus den Fugen. Spätestens die Finanzkrise von 2008, die seither weiter schwelt, hat deutlich gemacht, dass das kapitalistische System an seine Grenzen gestoßen ist. Dem Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein zufolge befinden wir uns bereits in einer Übergangsphase. Der Kapitalismus sei so erfolgreich gewesen, dass er sich totgesiegt habe. Überleben kann er nur noch durch die staatliche Abfederung seiner Überproduktions- und Überakkumulationskrisen und durch das Erzeugen stets neuer Finanzblasen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 wurde »gelöst« durch die Erzeugung einer neuen, noch größeren Finanzblase, deren Platzen umso heftigere Folgen haben wird. Die Verwüstungen, die der neoliberale Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten auf den drei Kontinenten hinterlassen hat, haben zu Hunger, Kriegen und anderen Katastrophen geführt, mit der Folge, dass heute mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind – eine in dieser Höhe historisch beispiellose Zahl. Die Krisenhaftigkeit des Systems und die Erschütterungen, die es erzeugt, haben vielerorts zu Instabilität und Chaos geführt. Das wiederum ist Wallerstein zufolge Ausdruck der Umbruchsphase.

Der Kapitalismus könne, so Wallerstein, nicht so weiter wie bisher, und derzeit kristallisiere sich eine neue Ordnung heraus. »Damit wären wir wieder bei der Übergangsphase, der Periode der ›Hölle auf Erden‹. Wir werden keine einfache, entspannte politische Debatte erleben, keine freundliche Diskussion unter Chorknaben. Es wird einen Kampf auf Leben und Tod geben. Denn es geht darum, die Grundlagen für das historische System der nächsten 500 Jahre zu legen. Und zur Diskussion steht, ob wir einfach ein neuerliches historisches System haben wollen, in dem Privilegien dominieren und Demokratie und Gleichheit auf minimaler Ebene existieren, oder ob wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegen wollen – zum ersten Mal in der bekannten Menschheitsgeschichte.«5

Wohin die Entwicklung gehen wird, ist noch offen. Entweder wird es einen autoritären Umbau des Systems geben oder aber progressive Kräfte weltweit vermögen, die Entwicklung in eine Richtung zu schieben, in der die Menschheit mündig werden und ihren »ältesten Traum« (Ernst Bloch) von Freiheit endlich erfüllen kann.

Kein Buch wird allein von der Autorin geschrieben. In jedes Buch fließen Debatten mit und Anregungen von anderen ein. Deswegen möchte ich an dieser Stelle meinem langjährigen Weggefährten Jürgen Schneider ganz herzlich danken, ohne den dieses Buch niemals entstanden wäre.

Petra WildBerlin, im August 2018

1Die Welt, Jugendliche schlagen und bedrohen Flüchtlingskinder, 7.10.2016

2 Younes, Anna-Esther, Islamophobia in Germany. National Report 2017 in, Bayrakali, Enes; Hafez, Farid (Hg.), European Islamophobia Report, 2017, SETA, Ankara, 2018, S. 270f.

3 Schmidt, Daniela, »Soziale Probleme werden ethnifiziert«, Mephisto 97.6, 15.3.2011

4 Sprachlos-Blog, No Ears for Krauts, 16.2.2017, unter: www.sprachlos-blog.de

5 Wallerstein, Immanuel, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, Wien 2008 (2.Auflage), S. 95

2. Zum Begriff des antimuslimischen Rassismus

»Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« (Bertolt Brecht)6

»Vorurteil und Parteilichkeit verdunkeln die kritische Fähigkeit und schließen eine kritische Untersuchung aus.« (Ibn Khaldoun, The Muqaddimah, 1377)7

Die Feindseligkeit gegenüber Muslimen wird hierzulande oft als Islamophobie bezeichnet, auch wenn sich der Begriff des antimuslimischen Rassismus langsam durchsetzt. Dieser Begriff wurde in den 1990er-Jahren vom antirassistischen britischen Thinktank Runnymede-Trust eingeführt, um die vor allem seit dem US-NATO-Krieg gegen den Irak 1991 immer stärker werdende Feindseligkeit gegen Musliminnen und Muslimen zu bezeichnen. Islamophobie wurde definiert als »unbegründete Feindlichkeit gegenüber Muslimen und deswegen Furcht vor oder Abneigung gegen alle oder die meisten Muslime.«

Islamophobie drückt sich dem Runnymede-Trust zufolge in folgenden Glaubenssätzen aus:

Der Islam ist monolithisch und kann sich nicht an neue Realitäten anpassen.Der Islam hat keine gemeinsamen Werte mit den anderen Weltreligionen.Der Islam ist als Religion im Vergleich mit dem Westen minderwertig. Er ist archaisch, barbarisch und irrational.Der Islam ist eine Religion der Gewalt und unterstützt Terrorismus.Der Islam ist eine gewalttätige politische Ideologie.8

Es hat viel Kritik am Begriff der Islamophobie gegeben, da er das Phänomen zu sehr auf der mentalen und psychologischen Ebene behandelt, ohne politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse zu beachten. Der alternativ dazu gebrauchte Begriff Islamfeindlichkeit ist noch vager und unbestimmter.

Bei einem Teil der RassismusforscherInnen und in einem Teil der Linken hat sich der Begriff des antimuslimischen Rassismus mittlerweile durchgesetzt. Das irritiert viele Menschen, da es ihnen unangebracht erscheint, im Zusammenhang mit einer Religion von Rassismus zu sprechen.

Es ist wahr, dass der Begriff des Rassismus auf die Rasse-Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Damals wurde die Menschheit in verschiedene Rassen aufgeteilt, denen jeweils ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wurde. Der Rassismus war der Wegbegleiter des europäischen Kolonialismus, der die Ausplünderung, Versklavung und Ausrottung unzähliger Menschen und ganzer Bevölkerungen und die Zerstörung ihrer Zivilisationen und Kulturen legitimieren sollte.

Obwohl von Rassismus im strengen Sinne erst gesprochen wird, seitdem die behauptete Minderwertigkeit von Menschengruppen biologisch-naturwissenschaftlich begründet wurde, gingen ihm proto-rassistische Strömungen in Europa voraus, die sich im Wesentlichen auf die Religion stützten.9 Obwohl der Rassismus vor allem nicht-weiße, nicht-europäische Menschen betraf, zeigt doch das Beispiel Irlands, das im 16. Jahrhundert von Großbritannien siedlerkolonialisiert wurde, dass eine rassistische Hierarchisierung auch für Weiße konstruiert werden kann, wenn sie kolonisiert werden. Die Kolonisierung der irischen Bevölkerung wurde zunächst mit deren kultureller Minderwertigkeit und später mit einer religiös-rassistischen Rhetorik gerechtfertigt. Das zeigt, dass das Wichtigste am Rassismus seine politische Funktion ist und dass bei Bedarf jedwede Art von Unterschied zwischen einer Bevölkerung(sgruppe) und einer anderen zur Dämonisierung genutzt werden kann.

Nach dem Holocaust war der Rassebegriff so diskreditiert, dass die rassistische Klassifizierung von Menschen geächtet wurde. Die UNESCO legte eine Studie vor, die die wissenschaftliche Unhaltbarkeit und die politische und moralische Verwerflichkeit des Rassismus aufzeigte. Vordergründig wurden die Ächtung des Rassismus und der Antirassismus – Rassismus primär verstanden als Antisemitismus – zum gesellschaftlichen Konsens im Westeuropa der Nachkriegszeit.10

Doch die dem Rassismus zugrunde liegende Struktur ist damit nicht verschwunden.

Es gibt nach wie vor die Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen, denen wesenhafte Eigenschaften und ein ungleicher Wert zugeschrieben werden. An die Stelle der Kategorie der Rasse ist heute die Kategorie der Kultur getreten. All das, was früher Rassen zugeschrieben wurden, wird heute auf Kulturen projiziert. Die Verlagerung von Rasse auf Kultur war deswegen so einfach, weil der biologische Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts niemals nur ein rein biologischer war, sondern zugleich kulturelle Elemente enthielt. Die postulierte Minderwertigkeit einer Kultur wurde auf die Rasse zurückgeführt. Heute wird die Minderwertigkeit einer Kultur aus dieser selber erklärt. »Tatsächlich stützt sich die rassistische Anklage bald auf einen biologischen und bald auf einen kulturellen Unterschied«, erklärt der Rassismusforscher Albert Memmi. »Einmal geht sie von der Biologie, dann wieder von der Kultur aus, um daran anschließend allgemeine Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Persönlichkeit, des Lebens und der Gruppe der Beschuldigten zu ziehen. Manchmal ist das biologische Merkmal nur undeutlich ausgeprägt oder es fehlt ganz. Kurz, wir stehen einem Mechanismus gegenüber, der unendlich mannigfaltiger, komplexer und unglücklicherweise auch wesentlich stärker verbreitet ist, als der Begriff Rassismus im engen Wortsinn vermuten ließe.«11

Die politische Rechte benutzte den Begriff »Kultur« schon frühzeitig zur Ersetzung des Rassebegriffs. Bereits in den 1950er-Jahren untersuchte Theodor W. Adorno im Rahmen einer Studie im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt anhand der Aussagen von Versuchsteilnehmern die »Überbleibsel der Rassentheorie« und gelangte zu der Erkenntnis: »Anstelle der Arier und der Herrenrasse geht es hier nun um die weiße Rasse, welche die abendländische Kultur verteidigen soll. (…) Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus, so wie etwa der Titel der Zeitschrift von Hans Grimm – Nation Europa – verrät. Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.«12

In den 1980er-Jahren entwickelten Rechtsradikale, für die die Einteilung von Menschen in ungleichartige und ungleichwertige Gruppen ein unverzichtbares Element ihrer Ideologie ist, das Konzept des »Ethnopluralismus«, der ein »differenzialistischer Rassismus« ist. Dieser besagt im Kern, dass Kulturen sich wesenhaft voneinander unterschieden, nichts gemeinsam hätten, nicht zusammenleben könnten und auch nicht gleichwertig seien.

Die neuere Rassismusforschung, die in den 1980er-Jahren vor allem von den französischen Theoretikern Pierre-André Taguieff und Étienne Balibar sowie einer Gruppe von Neomarxisten im Vereinigten Königreich (UK) um Stuart Hall entwickelt wurde, versuchte diese Veränderungen theoretisch zu erfassen, indem sie von einem »neuen kulturellen Rassismus« sprach, der an die Stelle des alten biologischen Rassismus getreten ist. Die Funktion des Rassismus als Herrschaftsideologie ist sich dabei gleichgeblieben. Manchmal wird dieser Kulturrassismus auch als »Rassismus ohne Rassen« bezeichnet.13

Die Erziehungswissenschaftlerin Annita Kapalka betrachtete den BegriffKultur in Anlehnung an Balibar als »Platzhalter für ›Rasse‹«: »Der Begriff Kultur ersetzt (…) den Begriff ›Rasse‹. Die ›anderen‹ werden entlang dem Kriterium ›kulturelle Identität‹ erkennbar, ebenso an Haar- und Hautfarbe wie an Sprache, Kleidung und Auftreten in verschiedene Kategorien unterteilt, denen eine scheinbar neutral bestimmbare Differenz zur ›deutschen Kultur‹ zugeschrieben wird. Gemessen an dieser ›kulturellen Differenz‹ werden die ›Angehörigen fremder Kulturen‹ bis heute als integrationsfähige Belastung klassifiziert, die den inneren Frieden des Gemeinwesens gefährden. Zu schützen gilt nicht mehr die ›rassische Reinheit‹. Sondern eine authentische ›kulturelle Identität‹.«14

Ebenso wie die Gesellschaften, denen er entspringt, verändert sich auch der Rassismus. »Es hängt von den historischen Bedingungen ab, wie sich Rassismus artikuliert«, erklärt der Rassismusforscher Robert Miles. »(So) ist die dominante Form des Rassismus im späten 20. Jahrhundert diejenige, die sich auf angeblich naturgegebene kulturelle Unterschiede bezieht. Letztlich aber zielt jede rassistische Ideologie auf die Hierarchisierung von Menschen ab, indem ihnen mehr oder weniger Fähigkeiten zugeschrieben werden, bestimmte kulturelle, politische oder soziale Standards zu erreichen.«15

Kultur kann zu einem Homolog für Rasse werden, weil die Bedeutungskon­struktion und Verwendung des Begriffs derselben inneren Logik folgt. Kultur wird dabei enthistorisiert, essenzialisiert und verdinglicht.

»Kultur wird nicht mehr als Produkt menschlicher Beziehungen angesehen, das sich fortwährend verändert, sondern als starre und statische Struktur, durch die alle Menschen, die ihr angehören, unveränderbar und wesenhaft geprägt werden. Indem Menschen als Einzelne und als ganze Gesellschaften durch ihre Kultur erklärt und auf sie festgelegt werden, wird Kultur zu einem unentrinnbaren Schicksal. Nicht mehr die Menschen machen in einem dialektischen Prozess die Kultur, sondern die Kultur macht die Menschen. Die kulturelle Differenz wird zum Hauptunterschied zwischen Menschengruppen konstruiert und diese kulturelle Differenz wird als unüberwindbar vorgestellt. Wie im biologischen Rassismus wird dadurch das, was Menschen voneinander unterscheidet, größer als das, was sie miteinander verbindet. Früher wurden biologische Merkmale herangezogen, um soziale Praktiken einer Gruppe zu erklären, heute dienen kulturalistische Zuschreibungen ›als zentrale Bezugspunkte für die Deutung sozialer Praktiken‹, es wird daraus eine ›unabänderliche Natur‹ konstruiert, die in ihrer statischen Abgeschlossenheit und Determiniertheit wie das Konzept der ›Rasse‹ (funktioniert). Ein ›essentialistisch gedachtes Kulturkonzept‹ avanciert hier zu einem ›funktionalen Äquivalent des biologistischen Rassebegriffs‹.«16 Was Menschen tun und wie sie sich verhalten, wird auf ihre Kultur zurückgeführt; jeder, der einer bestimmten Kultur angehört, wird tendenziell nicht mehr als Individuum, sondern als bloßes Exemplar dieser Kultur angesehen.

Es gibt unterschiedliche Rassismustheorien, aber weitgehend einig sind sich die Forscher darin, dass es im Wesentlichen vier Kriterien für Rassismus gibt:

dass bei einer Gruppe von Menschen ein bestimmter Unterschied, der biologischer oder kultureller Natur sein kann, hervorgehoben wird,dass dieser Unterschied negativ bewertet wird,dass dies aus einem Machtverhältnis heraus geschieht unddass Individuen durch kollektive Zuschreibungen definiert werden.

Das Entscheidende am Rassismus ist, dass er bestehende Herrschaftsverhältnisse legitimieren soll.

»Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden des Opfers, mit der dessen Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen«, erklärt der Rassismus-Forscher Albert Memmi. 17

»Rasse ist keine anthropologische oder biologische, sondern eine soziale Kategorie«, erklärt Karin Priester, Autorin des Buches Rassismus. Eine Sozialgeschichte. Sie fährt fort: »Diese Erkenntnis ist so alt wie der Rassismus selbst. Schon im 17. Jahrhundert urteilte der französische Schriftsteller (und Verfasser der berühmten Fabeln) Jean de la Fontaine: Je nachdem, ob du mächtig oder elend bist, werden die Urteile des Hofes dich weiß oder schwarz machen.«18

Birgit Rommelspacher ist eine der Forscherinnen, die sich mit der Frage beschäftigte, inwieweit der Islam als Basis einer Rasse-Konstruktion herhalten kann. Sie erklärt: »Beim Antiislamismus steht vor allem die Frage zur Debatte, ob religiöse und kulturelle Unterschiede als Basis von ›Rasse‹-Konstruktionen dienen können. Das Beispiel der Entwicklung des Antisemitismus aus dem Antijudaismus macht m.E. deutlich, dass dies durchaus der Fall sein kann. Allerdings gibt es hier fließende Übergänge. Das heißt, der Antiislamismus kann umso mehr als ein Rassismus bezeichnet werden, je mehr er ›den‹ Islam zu einem Differenzierungsmerkmal macht, das das ›Wesen‹ aller Moslems zu durchdringen scheint und sich wie eine biologische Eigenschaft von einer Generation auf die andere weiter vererbt. Zur Differenzierung gegenüber dem kolonialen Rassismus wird er in der Literatur auch häufig als ›Kulturrassismus‹ oder als ›Neorassismus‹ bezeichnet. Die Bezeichnung Rassismus ist vor allem auch dann angemessen, wenn die entsprechenden Konstruktionen der Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen dienen.«19

Da »der« Islam, heute als Religion oder/und Kultur verstanden, die Hauptrolle bei der »Rasse«-Konstruktion spielt, müssen Rassismus-Definitionen dahingehend aktualisiert werden.

Der Runnymede-Trust wies darauf hin, dass auch die physische Erscheinung, der Phänotyp, im antimuslimischen Rassismus eine Rolle spielt: »Der entscheidende Punkt, der zu betonen ist, ist dass über die Jahrhunderte alle Rassismen zwei separate aber miteinander verflochtene Stränge hatten – und weiterhin haben. Einer benutzt physisch oder biologisch abgeleitete Zeichen als ein Mittel, um Differenz zu erkennen – Hautfarbe, Haar, Körpertyp und so weiter. Der andere benutzt kulturelle Merkmale wie Lebensweisen, Bräuche, Sprache, Religion und Kleidung. (…) Die meisten Muslime werden an physischen Merkmalen ebenso wie an ihrer Kultur und Religion erkannt; und die biologischen und kulturellen Stränge im antimuslimischen Rassismus sind oft unmöglich zu entflechten.«20

Auch eine Forschungsgruppe um Margarete und Siegfried Jäger vom Duisburger Institut für Sozialforschung bezog in ihre Definition des »Antiislamismus« als einer Form des Rassismus sowohl die Zuschreibung kultureller als auch körperlicher Eigenschaften ein wie »etwa fanatisch, fundamentalistisch, hysterisch, atavistisch, heuchlerisch, kindlich, militant, gewalttätig, schmutzig, dunkel, schwarzhaarig, vermummt, unheimlich.«21

Rassismus sagt nichts über die als dessen Objekte konstruierten Menschengruppen aus. Wie der französische Philosoph Jean-Paul Sarte einmal über den Antisemitismus sagte: »Würde der Jude nicht existieren, der Antisemit hätte ihn erfunden«. Dies lässt sich auch auf den antimuslimischen Rassismus übertragen: Antimuslimischer Rassismus ist das Gerücht über die Muslime. »Es geht bei ihm nicht um den realen Islam oder reale Muslime, sondern um ein imaginiertes Bild davon. Dies knüpft natürlich an die Realität an, aber – wieder mit Sartre gesprochen – das Vorurteil verfälscht die Erfahrung. Der Islam, über den Islamfeinde sprechen, hat jedenfalls wenig mit dem realen Islam zu tun. (…) Die Islamophoben also nehmen irgendein Problem wahr und islamisieren es. Sie sehen irgendwelche Menschen, für deren Identität der Islam häufig gar nicht so wichtig ist, und definieren sie als Muslime. Man könnte zugespitzt sagen: Nach dem 11. September sind Massen von Muslimen neu erschaffen worden – seitdem werden Türken, Araber, viele Migranten in Deutschland zuallererst als Muslime gesehen.«22

Die Art wie eine Bevölkerungsgruppe mittels rassistischer Stereotype dämonisiert wird, sagt mehr über die Bedürfnisse der dämonisierenden Gruppe als über die Dämonisierten aus.

In der neueren Rassismusforschung wird der Prozess der rassistischen Konstruktion einer Gruppe als »Othering« – Andersmachung – oder als »Rassifizierung« bezeichnet. Dieser Otheringprozess besteht Iman Attia zufolge darin, »Menschen entlang von Merkmalen zu Gruppen zusammen(zufügen) und von anderen Gruppen (zu) unterscheiden.« Kategorien wie »Religion, Kultur und Ethnie werden amalgamiert, zu einer übermächtigen Bezugsgröße und zu einem zentralen Unterscheidungsmerkmal konstruiert. Ethnie, Kultur und Religion bzw. das, was aufgrund der äußeren Erscheinung und der sozialen Praxis dafür gehalten wird, ersetzen das Soziale, Gesellschaftliche und Politische.«23

Sozialwissenschaftliche Studien und die fortlaufende Zunahme von Gewalt gegen Musliminnen und Muslime oder solche Menschen, die dafür gehalten werden, belegen, dass in den letzten 20 Jahren der antimuslimische Rassismus kontinuierlich zunimmt.

Rassismus ist nicht harmlos. Für die als »Fremde« oder »Feinde« konstruierte Bevölkerungsgruppe hat der Rassismus gravierende Folgen. Es beginnt mit feindseligen oder abfälligen Bemerkungen und Blicken, reicht über die Diskriminierung beim Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnungen und Ressourcen, Schikanen von Seiten der Polizei (zum Beispiel »racial profiling«) und Behörden bis hin zu tätlichen Angriffen. Rassismus ist gleichbedeutend mit Gewalt. Nicht nur maßt sich die privilegierte Mehrheit an, die Identität der rassistisch konstruierten Minderheit festzulegen, sie auszugrenzen und in ihren Lebensmöglichkeiten einzuschränken, sondern letztendlich wird sie zu einer Gefahr für deren körperliche Unversehrtheit und Leben. Der Rassismusforscher Albert Memmi hat das Wesen des Rassismus auf den Punkt gebracht, als er erklärte, dass der Rassismus in letzter Konsequenz auf dem Friedhof endet.

Es gibt von verschiedenen Seiten immer wieder Versuche, zwischen dem Islam und den Muslimen zu unterscheiden, etwa wenn gesagt wird, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, aber die hier lebenden Muslime schon. Hin und wieder versucht auch der eine oder die andere seine antimuslimischen Voreingenommenheiten zu retten, ohne sich des Verdachts des Rassismus auszusetzen, indem er darauf besteht, dass man ja gegen die Religion sein könne, ohne gleichzeitig gegen deren Anhänger zu sein. Auch im antirassistischen Lager besteht Uneinigkeit darüber, ob es antimuslimischer oder antiislamischer Rassismus heißen muss. Aber eine Religion lässt sich nicht von ihren Gläubigen trennen und der Rassismus trifft die Menschen, die diese verkörpern und nicht ein abstraktes Gebilde. In der Praxis zeigt sich, dass die Vorurteile und Aggressionen, die sich gegen die Religion richten, sich in Wirklichkeit gegen die Menschen richten, die sich zu ihr bekennen.24

6 Brecht, Bertolt, Flüchtlingsgespräche, Leipzig 1973, S. 87

7 Zitiert nach Childers, Erskine B, Amnesia and Antagonism in: Noor, Farish A., Terrorising the Truth. The Shaping of Contemporary Images of Islam and Muslims in Media, Politics and Culture, Penang 1997, S. 125

8 University of California, Berkeley, Center for Race and Gender, Islamophobia Research and Documentation Project, Defining Islamophobia, unter: www.crg.berkeley.edu/research-project/islamophobia-research-documentation-project/

9 Geiss, Immanuel, Geschichte des Rassimus, Frankfurt/Main 1989 (2. Auflage)

10 Malik, Kenan, The Meaning of Race, Basingstoke/London 1996, S. 14ff.

11 Memmi, Albert, Rassismus, Frankfurt/Main 1992, S. 165f.

12 Adorno zitiert nach; Takeda, Arata, Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Plädoyer für transkulturelle Erziehung, Münster/New York/München/Berlin 2012, S. 33

13 Taguieff, Pierre-André, Die Metamorphose des Rassismus und die Krise des Antirassismus,in: Bielefeld, Uli (Hg.), Das Eigene und das Fremde: Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg, 1992; Balibar, Étienne, Is there a Neo-Racism? In: Balibar, Étienne; Wallerstein, Immanuel, Race, Nation, Class, London/New York, 1992; Miles, Robert, Rassismus. Einführung in die Theorie und Geschichte eines Begriffs, Berlin/Hamburg 1992

14 Zitiert nach Takeda, Arata, Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung, Münster/New York/München/Berlin 2012, S. 32f.

15 Miles, Robert, Die Geschichte des Rassismus, in: Burgmer, Christoph (Hg.), Rassismus in der Diskussion, Berlin 1999, S. 10f.

16 Kalicha, Sebastian, Antimuslimischer Rassismus, Graswurzelrevolution 399, Mai 2015

17 Memmi, Albert, Rassismus, Frankfurt/Main, 1992, S. 164

18 Priester, Karin, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003

19 Rommelspacher, Birgit, Was ist eigentlich Rassismus? In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) (Hg.), »Rassismus – eine Jugendsünde?«, 25,./26. November 2005, CJD Bonn, S.15

20 Richardson, John E., (Mis)Representing Islam. The Racism and Rhetoric of British Broadsheet Newspapers, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 3

21 Jäger, Siegfried; Jäger, Margarete, Medienbild Israel, Münster 2003, S. 21

22 Bundeszentrale für Politische Bildung, Wo endet Islamkritik und beginnt Islamfeindlichkeit? Interview mit Farid Hafez, 17.3.2014

23 Kalicha, Sebastian, Antimuslimischer Rassismus, Graswurzelrevolution 399, Mai 2015

24 Vgl. Richardson, John, (Mis)Representing Islam, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 21ff.

3. Die lange Geschichte des Feindbildes Islam in Europa

»Die Zukunft des Islams kann nur in einer Anpassung an das europäische Geistesleben bestehen, sonst sind seine Tage gezählt.« (Carl-Heinrich Becker, Islamwissenschaftler und später preußischer Kultusminister, 1924)25

»Die Beziehung von Okzident und Orient ist eine Beziehung von Macht, Herrschaft und verschiedenen Graden einer komplexen Hegemonie.« (Edward Said)26

Die Stärke und Wucht, mit der der antimuslimische Rassismus sich durchsetzte, wäre ohne die lange Geschichte des Feindbildes Islam in Europa nicht denkbar gewesen. Der Islam ist neben dem Judentum das älteste und wirkungsmächtigste Feindbild auf dem Kontinent. Die geographische Nähe zwischen Europa und der islamischen Welt, die gemeinsame wechselvolle und oftmals konfliktreiche Geschichte sowie die Tatsache, dass die islamische Welt Europa über Jahrhunderte überlegen war, haben dem Islam einen besonderen Stellenwert in der europäischen Imagination verliehen.27 Als sich Europa im Mittelalter als Kontinent mit einer eigenen Identität zu konstituieren begann, tat es das unter Ausschluss aller orientalischen Einflüsse und in Abgrenzung gegen den Islam. Europäer sein hieß vor allem kein Muslim zu sein.

Viele der heute gängigen antimuslimischen Stereotype wurden bereits im Mittelalter ausgebildet und in der Folgezeit erweitert. Sie schlummerten im europäischen kollektiven Gedächtnis und es war ein Leichtes, sie zu gegebener Zeit wiederzubeleben.

Der Islam war seit seiner Entstehung im 7. Jahrhundert für Europa nicht nur eine religiöse, sondern auch eine geographische, machtpolitische und zivilisatorische Herausforderung. Bereits im 7. Jahrhundert fielen christliche Gebiete des byzantinischen Reiches wie Ägypten, Syrien und Palästina unter muslimische Kontrolle. Im Jahre 711 setzten arabische Truppen nach Europa über und gründeten in Andalusien eine blühende Zivilisation, die 800 Jahre Bestand hatte und den europäischen Kontinent maßgeblich beeinflussen sollte. Im 9. Jahrhundert erreichte die arabische Eroberungswelle auch Sizilien und Süditalien. Arabische Schiffe brachten Händler und Räuber an die italienischen und französischen Mittelmeerküsten, wo sie Stützpunkte errichteten. Im 10. Jahrhundert stießen Muslime ins mittlere Rhonetal vor, griffen Piemont an und gelangten in das Gebiet der heutigen Ostschweiz. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand ein islamisches Weltreich, dessen Ausdehnung nur noch mit der des chinesischen Reiches zu vergleichen war. Die arabisch-islamische Welt wurde zu einer internationalen Handelsmacht mit einer hochentwickelten Zivilisation. Zwischen dem 8. und dem 16. Jahrhundert war der muslimische Osten dem christlichen Westen in jeder Hinsicht überlegen.

Die europäische Auseinandersetzung mit dem Islam begann direkt nach dessen Entstehung im 7. Jahrhundert und war größtenteils von Feindseligkeit geprägt. So schreibt der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said: »Es war mir nicht möglich, in der europäischen oder amerikanischen Geschichte seit dem Mittelalter eine Periode zu entdecken, in der außerhalb eines von Leidenschaft, Vorurteil und politischem Interesse geschaffenen Rahmens über den Islam im Allgemeinen diskutiert oder nachgedacht wurde.«28

Die ersten, die sich über den Islam ereiferten, waren die Kirchenväter. Der Islam hatte Elemente der ihm vorausgehenden monotheistischen Religionen in sich aufgenommen. Er erkannte das Judentum und das Christentum als »Schriftreligionen« an, erhob aber den Anspruch, diese zu transzendieren. Das Christentum seinerseits sah sich als allein seligmachender, letztgültiger Glaube und erkannte keine anderen Religionen an. Die Kirchenväter betrachteten den Islam zunächst als Heidentum und Götzenreligion und ab dem 12. Jahrhundert als Häresie. Die christlichen Traktate über den Islam waren von Polemik und Spott gekennzeichnet. Muhammad, der Prophet des Islams, wurde nach Kräften diffamiert, etwa als »Betrüger« und »Anti-Christ«. So hieß es beispielsweise, er sei Epileptiker – also nach damaligem Verständnis ein Geisteskranker – gewesen und somit die von ihm verkündeten Offenbarungen Ausdruck einer Geisteskrankheit. Andere behaupteten, der Prophet habe seine Inspiration von einer Taube bekommen, die ihm gewohnheitsmäßig Erbsen aus den Ohren pickte. Sehr beliebt war auch die Geschichte, dass ein abtrünniger christlicher Mönch dem Propheten seine Offenbarungen diktiert habe.

Einige wenige, zumeist von Geistlichen verfasste Schriften prägten das Islambild des frühen Mittelalters. Zu den wichtigsten gehörten die Schriften des Bischofs Isidor von Sevilla (gestorben 636). Dieser schrieb zwar nicht über den Islam, sondern über das biblische Volk der Ismailiten – die Nachkommen von Ismail, Abrahams Sohn mit der Magd Hagar –, was er aber den Ismailiten zuschrieb, wurde auf die Anhänger der neuen Religion Islam übertragen. So hieß es bei Isidor, Ismail habe die Anbetung von Götzen in Gestalt von Statuen oder Bildern eingeführt, in denen die Heiden Dämonen und den Teufel selbst anbeteten. Ein weiterer zentraler Text war der fiktive Briefwechsel zwischen einem Muslim und einem Christen am Kalifenhof, der von einem anonymen Autor verfasst wurde. Darin wurde auch auf das ausschweifende Sexualleben des Propheten – einer der gängigen Topoi der mittelalterlichen Islampolemik – eingegangen und am Ende der Schluss gezogen, dass der Koran nichts anderes als das Gesetz des Teufels sein konnte. Der englische Mönch Beda Venerabilis (gestorben 735) verfasste ein ähnlich umfangreiches Werk wie Isidor von Sevilla, dem ebenfalls große Autorität zukam. Er beschäftigte sich mit dem Begriff der Sarazenen, der sich mehr und mehr als Bezeichnung für die Muslime durchsetzte. Das sei unlogisch, erklärte er, da diejenigen, die Sara(h)zenen genannt wurden, gerade nicht von Sarah (Abrahams Ehefrau) sondern von der Magd Hagar abstammten. Daher nannte er sie Agarenen, ein Wort, das sich von Hagar ableitet und in den Augen Bedas umso treffender war, da es sich von Hebräisch ger (»Feind«) ableite. Mit der Zeit vermischte sich das Bild der heidnischen Sarazenen mit dem der heidnischen Römer, von denen die frühen Christen verfolgt worden waren.

Die Äbtissin Hrotsvit von Gandersheim (gestorben 975) war die erste lateinische Autorin, die Sarazenen mit den klassischen römischen Götzenanbetern gleichsetzte und damit eine neue literarische Tradition schuf. Hrotsvit schilderte einen Sarazenen, der von den Dämonen besessen ist, die er anbetet. »In seiner verwerflichen sexuellen Gier verlangt er nach christlichen Jungs, die er köpfen lässt, als sie ihm nicht zu Willen sind, bevor er mit seinem Flammenschwert in die Schlacht gegen die Christen zieht.«29 Aber trotz der Polemik und Dämonisierung war die neue »Götzenreligion« zunächst nur einer von vielen Feinden und bei weitem nicht der wichtigste.

Eine neue Qualität der Auseinandersetzung kristallisierte sich im neuen Jahrtausend heraus, als am 27. November 1095 Papst Urban II. auf dem Konzil in Clermont zum ersten von sieben »Heiligen Kriegen« der lateinischen Christenheit gegen den Islam aufrief. Dabei spielte die Idee des »christlichen Friedens« eine zentrale Rolle. Die zahllosen innerchristlichen Kriege und Fehden sollten beendet und an ihre Stelle eine innerchristliche Allianz für den Krieg gegen die Muslime gesetzt werden. Die Idee, »das Heilige Land« zu befreien, ergriff die Massen und machte die Kreuzzugsbewegung zu einer breiten Bewegung des Hochmittelalters. Es wurde propagiert, dass es die Verpflichtung aller Christen, ja gleichsam für das Seelenheil notwendig sei, in den Krieg gegen die »Heiden« zu ziehen. Bernhard von Clairvaux, der der Nachwelt als namhafter Theologe gilt und von der Kirche heiliggesprochen wurde, steht beispielhaft für dieses neue militante Christentum. In einer seiner Predigten, mit der er zum Kreuzzug mobilisierte, erklärte er: »Ein Soldat Christi tötet sicher, stirbt aber noch sicherer. Für ihn nämlich ist es gut, wenn er stirbt. Für Christus aber, wenn er tötet. Nicht ohne Grund trägt er sein Schwert: als Diener Gottes ist seine Bestimmung das Böse zu rächen, das Gute aber zu verherrlichen.«30

Das im 11. Jahrhundert in diesem Zusammenhang entstandene »Rolandslied« kann als Beispiel herausragender psychologischer Kriegsführung betrachtet werden. Raimund Rütten schrieb darüber: »Der Missionierungsdrang der Christen steigert sich in diesen Versen des Rolandsliedes zu Fanatismus, der nicht mehr nur Bekehrung will, sondern Ausrottung der Unbekehrbaren fordert. Diese Alternative ist eines der Wesensmerkmale der Kreuzzüge, sei es der Normannenzüge gegen die Muslime in Sizilien, der ›Reconquista‹ in Spanien oder des ersten großen Kreuzzuges von 1096. Besonders jedoch die Kreuzzugsunternehmungen der französischen Ritter gegen die iberischen Muslime am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts prägt diese Atmosphäre der Intoleranz.«31

Bei der Eroberung Jerusalems durch die europäischen Kreuzritter 1099 wurde die multireligiöse und multiethnische Bevölkerung der Stadt massakriert. Danach wurde dort ein früher europäischer Siedlerkolonialismus errichtet, der 1187 unter der Führung von Salah al-Din al-Ayoubi beendet wurde. Die letzte Kreuzfahrerfestung in Akkon fiel 1291. Damit war der Traum der Wiedereroberung des Heiligen Landes für lange Zeit ausgeträumt.

Im Bewusstsein der arabischen Welt spielen die Kreuzzüge als historische Vorläufer der bis heute andauernden westlichen Aggression und Gewalt eine große Rolle.32

Während der Kreuzzüge wirkten die Stereotype weiter, die sich bereits im frühen Mittelalter herausgebildet hatten, von denen einige bis heute im Umlauf sind. Die Chronisten des ersten Kreuzzugs schilderten den Islam noch immer als Götzenreligion, obwohl sie durch die Konfrontation mit der Realität eines Besseren hätten belehrt werden können. So schrieben sie, dass die muslimischen »Heiden« im Felsendom, den sie Salomons Tempel nannten, ein silbernes Idol Muhammads anbeteten. Erst während des Zweiten Kreuzzuges wurde das Bild, dass die Sarazenen Götzenanbeter seien, korrigiert. Bei der Dämonisierung der Muslime standen schon damals die Themen Gewalt und Grausamkeit einerseits und Sexualität und Frauen andererseits im Mittelpunkt. Das waren die Haupttopoi, mit denen Heiden und Häretiker allgemein verunglimpft wurden. Gräuelpropaganda wurde in Umlauf gebracht, wonach Muslime christlichen Kreuzfahrern bei lebendigem Leibe die Gliedmaßen abgehackt und mit einer Winde die Gedärme aus dem Leib gezogen hätten.33

Parallel dazu begann bereits im 10. Jahrhundert die christliche Eroberung der muslimisch kontrollierten Gebiete der iberischen Halbinsel. Das wurde als »Reconquista« – Wiedereroberung – bezeichnet, obwohl es eine Conquista – eine Eroberung – war. Das heutige Spanien entstand erst im Kampf gehen das arabische Kalifat und die sie ablösenden Kleinkönigtümer.

Im 13. Jahrhundert begann die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam. Diese hatte freilich das Ziel, den Feind zu kennen, um ihn bekehren, oder besser: bekämpfen zu können.

Der Abt von Cluny, Petrus Venerabilis (gestorben 1156), veranlasste die erste Übersetzung des Korans ins Lateinische, versehen mit vielen Randbemerkungen über den abergläubischen und teuflischen Inhalt des Textes, »damit bekannt werde, welch unflätige Häresie hier vorliegt«.34

Die Expansion des sich seit dem 14. Jahrhundert herausbildenden Osmanischen Reiches führte zu einer Wiederbelebung des Kreuzzugsgedankens.

Die Osmanen expandierten in einem ähnlich rasanten Tempo wie der frühe Islam. Im 14. Jahrhundert breitete sich das Osmanische Reich gleichzeitig in Kleinasien und Europa aus. Bis Ende des 14. Jahrhundert hatte es große Teile Südosteuropas unter seine Kontrolle gebracht und dort Vasallen eingesetzt. In den folgenden drei Jahrhunderten kam es kontinuierlich zu Kriegen, in denen christliche Herrscher versuchten, diese Gebiete zurückzuerobern, meist ohne Erfolg.

Die Eroberung von Konstantinopel, dem Zentrum des christlichen Byzanz, im Jahr 1453 durch die Osmanen war ein Schock für die europäische Christenheit. Obwohl Byzanz keine bedeutende Macht mehr war, wirkte das Prestige und die Bedeutung von Byzanz als »zweites Rom« nach. Sofort wurden Anklagen über Grausamkeiten bei der Eroberung der Stadt durch die Türken in Umlauf gebracht – die sogenannten »türkischen Grausamkeiten«. Kardinal Enea Silvio Piccolomini, der nur wenige Jahre später zu Papst Pius II. wurde, rief bereits 1454 zu einem Kreuzzug gegen die Türken auf. Auch sein Nachfolger Pius III. (1439–1503) war ein wortgewaltiger Propagandist des Heiligen Krieges.35

Nur wenig später trafen das Habsburgerreich, das sich zu einer der stärksten Mächte Europas entwickelt hatte, und das Osmanische Reich aufeinander. 1529 belagerten osmanische Truppen die Stadt Wien. »Türkengefahr« und »Türkenfurcht« prägten über Jahrzehnte das Klima in Europa. 1530 ließ Papst Clemens VII. den Koran zum Zeichen seiner Abscheu öffentlich verbrennen. Martin Luther, der sonst kaum je mit dem katholischen Papst übereinstimmte, bezeichnete im selben Jahr den Koran als ein »verfluchtes, schändliches Buch voller Lügen«. In Türkenmessen, Türkenpredigten und Türkenglocken verbreitete die Kirche die »Türkengefahr«. Hinzu kamen Türkenlieder und illustrierte Druckblätter. Das erste Erzeugnis der Druckerpresse, die Johann Gutenberg nur ein Jahr nach dem Fall von Konstantinopel erfunden hatte, war eine Kampfschrift gegen die Türken gewesen.36

Durch die illustrierten Druckblätter verbreitete sich das Feindbild Türke/Muslim über große Teile Europas, sodass sich in Frankreich das »Türkenbild« nicht wesentlich von dem im Habsburgerreich unterschied. In der antitürkischen Propaganda wurden vor allem Grausamkeiten, Zerstörung der Familie, Vielweiberei und Homosexualität in den Vordergrund gestellt. Diese Propagandaanstrengungen waren auch deswegen nötig, weil das Osmanische Reich auf die bäuerliche Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Nicht nur gab es dort in Bezug auf die Religion eine größere Toleranz, die sich darin zeigte, dass Protestanten ihren Glauben in den von den Osmanen eroberten Gebieten frei von jeder Verfolgung ausüben konnten. Hinzu kamen Berichte über die sehr viel größere soziale Mobilität, die im Gegensatz zur europäischen Ständegesellschaft eine Würdigung von Verdiensten erlaube. So gab es innerhalb des Habsburger Reiches auf protestantischer Seite eine starke Gruppe von Befürwortern eines Zusammengehens mit den Osmanen. 1683 vor Wien kämpften auf Seiten der Osmanen auch ungarische Protestanten, die lieber von einem osmanischen Muslim regiert werden wollten als von den katholischen Habsburgern, von denen sie als »Ketzer« verfolgt wurden. Diese protestantischen Ungarn wurden von ihren katholischen Gegnern verächtlich »Kuruzzen« genannt. Daher kommt der bis heute im süddeutschen Sprachraum verbreitete Fluch »Kruzitürken.«37

1683 kam es im unter dem Großwesir Kara Mustafa zur zweiten Belagerung Wiens. Bei einem Sieg der Muslime würden alle Kirchen Wiens in Moscheen umgewandelt und der christliche Glaube rigoros unterdrückt werden, so hieß es. Das Ereignis wurde auf christlicher Seite als epochaler Entscheidungskampf zwischen Christentum und Islam dargestellt. »Der Kampf gegen die Moslems erzeugt Europa als Einheit, die Muslime selbst sind dabei zu oft nicht nur ›Feind‹, sondern auch Gegenstand mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Apokalyptik, einer Naherwartung des Endes der Welt«, erklärt Stefan Hirsch. »Das Osmanische Reich ist keine Bedrohung wie andere auch, im Spätmittelalter und früher Neuzeit kündet der ›Türkensturm‹ die nahe Apokalypse an.«38

Die apokalyptische Stimmung schlug sich auch in der im 16. Jahrhundert aufkommenden Vorstellung von der Rückkehr der Juden nach Palästina nieder, wo sie gegen Sarazenen und Türken kämpfen, zum Christentum konvertieren und das protestantisch-englische Königreich Christi ausrufen würden. Zunächst wurde das als Ketzerei abgelehnt, konnte aber im 17. Jahrhundert Akzeptanz erlangen und prägt bis heute die Vorstellungswelt sehr vieler US-amerikanischer, evangelikaler Christen.

Zur Zeit der Türkenkriege begann die Verlagerung des religiös begründeten Feindbildes Islam auf das ethnisch begründete Feindbild »Türke«. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurde es üblich, Muslime und Türken gleichzusetzen. Das lag einerseits am schwindenden Einfluss der katholischen Kirchen und den innerchristlichen Kämpfen sowie andererseits an der beginnenden »Entklerikalisierung und Entsakralisierung des Weltlichen« im Rahmen der frühkapitalistischen Entwicklung.39 Diese tendenzielle Verlagerung des Feindbildes Islam zum Feindbild »Türke« ging einher mit der Neudefinition der Christen als Europäer. Die ersten Ansätze dazu machten italienische Humanisten nach dem Fall von Konstantinopel im Jahr 1453. Flavio Biondo (1392–1463) entwarf Europa als ein Gebilde, mit dem man sich identifizieren konnte. Er deutete den ersten Kreuzzug, der in den mittelalterlichen Chroniken als Unternehmung der Franken galt, als paneuropäisches Projekt neu. Die lateinische Christenheit definierte er als europäische Christenheit und verglich die Kreuzzüge mit dem Kampf gegen die Türken: Dadurch machte er aus den aggressiven, offensiven Kreuzzügen eine defensive Aktion, mit der Europa in der gleichen Weise vor einer Bedrohung von außen hätte geschützt werden müssen wie während der Auseinandersetzung mit den Türken. Diese Neudeutung des Kreuzzuges durch Biondi spielte eine wichtige Rolle »für die Wahrnehmung und Einordnung der osmanischen Expansion, für ihre Apperzeption40 als eine die gesamte lateinische Christenheit bedrängende Türkengefahr und für die Ausbildung des Deutungsmusters ›Europa‹ und die ›Türken‹.«41 Auch Piccolomini verwob Europa und das Christentum. Er wurde nicht müde zu betonen, dass das Christentum nun nach Europa zurückgedrängt worden sei.

Die Erfindung des rückständigen und irrationalen Orients während der Aufklärung

Nach der Zurückdrängung der osmanischen Angriffe auf Europa und der Eroberung vieler Gebiete, die unter osmanischer Kontrolle gestanden hatten, begann sich das Bild des Islams zu wandeln. Jetzt, da von Muslimen keine Gefahr mehr ausging, wurden sie und ihre Zivilisation verächtlich gemacht oder romantisch verklärt. In der Folgezeit setzte sich einerseits ein Bild vom minderwertigen Orient durch, und andererseits kam es in den besseren Kreisen der europäischen Gesellschaften zu einer regelrechten Orientschwärmerei. Im ausgehenden 17. Jahrhundert wurde der Orient zur Projektionsfläche für ausschweifende Erotik und Rauschträume. Am französischen Hof von Ludwig dem XIV. wurden »Turqueries« beliebt, galante Muslime bevölkerten die Theaterstücke. Antoine Gallands Übersetzung von Tausendundeine Nacht (1704–1717) lieferte den Hintergrund für die Vorstellungen vom exotischen Orient. Diese Orientschwärmerei hielt über Jahrzehnte an. Die Orientbilder französischer Maler wie Eugène Delacroix und Lamartine sowie die literarischen Werke britischer und französischer Schriftsteller wie Gustave Flaubert aus dem 19. Jahrhundert legen Zeugnis davon ab.42

Parallel dazu wurden muslimische Gesellschaften während der Aufklärung als negative Gegenfolie des neuen Europas konstruiert, das sich als rational und der Wissenschaft huldigend betrachtete. Die Aufklärer machten sich daran, das Wissen der Welt zu sammeln. Sie verfassten Enzyklopädien und trugen erstmals auch Wissen über den Islam und muslimische Gesellschaften zusammen. Die französischen Aufklärer drückten dabei ein widersprüchliches Verhältnis zu dem von ihnen behandelten Gegenstand aus. Einerseits betrachteten viele von ihnen den Islam als eine tolerantere Religion als das Christentum, andererseits benützten sie den Islam und seinen Propheten in Angriffen, die eigentlich gegen die katholische Kirche gerichtet waren, als Platzhalter und projizierten all das, was sie am Christentum verurteilten, auf den Islam. Ein Beispiel für die Betrachtung des Islams als Verkörperung von Toleranz ist Gottfried Ephraim Lessings Ringparabel. Auch Johann Wolfgang von Goethe stand dem Islam positiv gegenüber und würdigte den großen Einfluss des Orients auf die Entwicklung Europas, wie sein West-östlicher Divan zeigt. Voltaire hingegen porträtierte Muhammad in seiner allgemeinen Kritik der Religion als Hochstapler und Fanatiker, um damit der Kirche einen Spiegel vorzuhalten. Auch Denis Diderot und andere Aufklärer verbanden den Islam mit Fanatismus. Parallel dazu hielt das Motiv der Rückständigkeit Einzug. Viele Aufklärer hoben die wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der islamischen Zivilisation in der Vergangenheit hervor, betonten aber gleichzeitig, dass diese Blüte vorbei sei. Die islamische Zivilisation befände sich nach der Niederlage der Osmanen im Verfall. Sie führten das auf den Islam zurück, der die orientalischen Gesellschaften daran gehindert habe, am Fortschritt, wie er sich in ihren Augen in Europa Bahn brach, zu beteiligen. Das war eine typische Projektion. Da es in Europa die Kirche war, die sich gegen Wissenschaft und Fortschritt gestellt hatte, meinten sie nun, der Islam habe im Orient eine ähnliche Rolle gespielt. Die Aufklärung brachte ein Islambild hervor, in dem all das, wovon Europa sich abgrenzen wollte, auf den Orient übertragen wurde: Rückständigkeit, Fanatismus, Wissenschaftsfeindschaft und Despotismus. Der Islam und die muslimische Welt wurden immer als genau das Gegenteil dessen, wie die neuen europäischen Eliten sich selbst sahen, dargestellt. Wieder spielte der Islam die Rolle des »Alter Ego« Europas.43

Orientalismus: Der koloniale Blick auf den Orient

Mit dem Aufstieg Europas im 15./16.Jahrhundert veränderte sich das Verhältnis zwischen Orient und Okzident grundlegend. Nach der Vertreibung der Muslime und Juden schickten sich Spanien und Portugal an, Weltmächte zu werden. Sie expandierten nach Nordafrika und eroberten und versklavten große Teile Lateinamerikas. Im 16. Jahrhundert begann die Unterwerfung von Gebieten des heutigen Indonesiens, die den holländischen Kolonialismus einleitete. Später kamen andere europäische Kolonialmächte hinzu. Die meisten westeuropäischen Länder waren zu unterschiedlichen Zeiten Kolonialmächte. Europa wurde so stark, dass es bis zum 19. Jahrhundert 85% des Erdballes unterwerfen und kolonisieren konnte. Mit dem Kolonialismus kam der Rassismus. Die alte Feindschaft gegen den Islam bekam ein neues Gewand und eine neue Qualität. Die Vorwürfe des gegen Muslime gerichteten kolonialen Rassismus waren Rückständigkeit, Fanatismus und Frauenunterdrückung. Dieser koloniale Blick prägt die Wahrnehmung der westlichen Welt bis heute.

Aus dem kolonialen Machtverhältnis heraus bestimmte Europa, was der Orient sei und wie die Muslime und Araber seien. Als Orient galt damals mehr oder weniger alles östlich von Europa. Erst später verengte sich der Begriff auf die arabische und muslimische Welt. Aber in beiden Fällen gilt, dass »der Orient« erst durch die Definition des Okzidents geschaffen wurde. Edward Said bezeichnet das als »imaginierte Geographie«.44

Der Begriff Orientalismus bedeutet nicht nur das Studium und die Lehre vom Orient, sondern darüber hinaus einen umfassenden Diskurs über »den Orient«, an dem auch Kolonialbeamte, Künstler, Politiker und Intellektuelle beteiligt waren – und weiterhin sind. Edward Said, der 1978 sein bahnbrechendes Werk Orientalism vorlegte, benennt drei Ebenen des Orientalismus: die akademische, die allgemeine kulturelle und erkenntnistheoretische Ebene sowie die institutionelle und politische Ebene. Der Kern des Orientalismus ist, dass ein ontologischer und erkenntnistheoretischer Unterschied zwischen Orient und Okzident gemacht wird.

»Orientalismus ist ein Denkstil, der auf einer ontologischen und erkenntnis­theoretischen Unterscheidung zwischen ›dem Orient‹ und (meistens) ›dem Okzident‹ basiert. So hat eine sehr große Anzahl von Autoren, darunter Dichter, Romanciers, Philosophen, politische Theoretiker, Ökonomen und imperiale Verwaltungsbeamte die grundlegende Unterscheidung zwischen Osten und Westen als Ausgangspunkt für komplizierte Theorien, Epen, Romane, soziale Beschreibungen und politische Berichte in Bezug auf den Orient, seine Bevölkerung, Sitten, ›Geist‹ (mind), Schicksal und so weiter akzeptiert.«45

Die Hochzeit des klassischen Orientalismus in Europa setzt Edward Said ab dem Ende des 18. Jahrhunderts an. Der Orientalismus entwickelte sich parallel zur kolonialen Durchdringung der arabisch-islamischen Welt durch europäische Großmächte, allen voran Großbritannien und Frankreich. Ausgangspunkt war eine Position der Dominanz und Konfrontation sowie kulturelle Antipathie.46 Die Grundannahmen des Orientalismus sind, dass »der Orient« absolut anders als der Okzident und diesem unterlegen ist. Diese Vorstellung basiert auf der Dichotomie »westliche Zivilisation« – »Orient«, wobei letzterer als negatives Gegenstück und Gegensatz zur »westlichen Zivilisation«, die per definitionem der Inbegriff des Positiven ist, gezeichnet wurde. Als zentrale Dogmen des Orientalismus bezeichnet Edward Said: »Eines ist die absolute und systematische Differenz zwischen dem Westen, der rational, entwickelt, human überlegen ist, und dem Orient, der anormal, unterentwickelt, minderwertig ist. Ein weiteres Dogma ist, dass Abstraktionen über den Orient, insbesondere solche, die aufTexten basieren, die eine ›klassische‹ orientalische Zivilisation repräsentieren, immer direkter Evidenz aus modernen orientalischen Realitäten vorzuziehen sind. Ein drittes Dogma ist, dass der Orient ewig, uniform und unfähig ist, sich zu definieren (…) Ein viertes Dogma ist, dass er im Grunde genommen etwas ist, das entweder zu fürchten ist (die gelbe Gefahr, die mongolischen Horden, die braunen Dominions) oder zu kontrollieren (durch Pazifizierung, Forschung und Entwicklung, offene Besatzung, wann immer möglich).« 47

In den Orientalismus sind die Erfahrungen der Kolonialmächte mit den von ihnen kolonisierten Bevölkerungen eingeflossen und teilweise als rassistische Stereotype verarbeitet worden. So erklärt sich das Vorhandensein von widersprüchlichen Stereotypen wie dem des fatalistischen Orientalen einerseits und des blutrünstigen Fanatikers andererseits. Typisch für den von kolonialem Rassismus durchdrungenen Orientalismus ist die Essenzialisierung, die Ausblendung jedes historischen und politischen Zusammenhangs. Das ermöglichte die Konstruktion des unveränderlichen Wesens »des Orientalen/der Orientalin«.

Da der Orient dem Okzident als das ganz Andere entgegengesetzt wurde, rückte ins Zentrum dieser Entgegensetzung das, was den Orient am stärksten vom Okzident unterschied: der Islam.

»Insofern als der Islam immer als zum Orient gehörend betrachtet wurde, war es sein besonderes Schicksal, innerhalb der binären Struktur des Orientalismus als in erster Linie monolithisch und mit einer sehr speziellen Feindseligkeit und Furcht betrachtet zu werden. Es gibt natürlich viele religiöse, psychologische und politische Gründe dafür, aber alle diese Gründe rühren aus einer Wahrnehmung, dass der Islam für den Westen nicht nur ein gefürchteter (formidable) Konkurrent sondern auch eine späte Herausforderung des Christentums war.«48

Der Orient wurde in der europäischen Geschichte zwar immer als minderwertig dargestellt, aber gleichzeitig auch als das territorial größere Gebiet, das mit einem größeren Machtpotenzial ausgestattet ist, das meist als destruktiv vorgestellt wurde. Hinzu kommt, dass sich die islamische Welt niemals vollständig der westlichen Dominanz unterworfen hat, so dass sie auch deswegen etwas Unberechenbares und Bedrohliches hat.49