Lies Of Blood And Flames - Die Bluthexerin - Jenny Brandes - E-Book
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Lies Of Blood And Flames - Die Bluthexerin E-Book

Jenny Brandes

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Beschreibung

Wir sind mehr als unser Blut. Jede Nacht hört Sanja in der Schenke Geschichten über die Schreckenstaten der Bluthexer. So auch in der Nacht, die alles verändert. Zauberer greifen Sanja aus dem Hinterhalt an und sie kann nur entkommen, weil in ihren Adern eben jenes totgeglaubte Hexerblut erwacht - Blut, das sie zu einer Gejagten macht. Im Kampf um ihr verlorenes Leben muss Sanja beweisen, dass die Hexer nicht sind, wie die Geschichte sie schreibt, doch ihre Gegner sind Lügen und Hass so alt wie die Zeit selbst und längst steht mehr auf dem Spiel als nur ihr eigenes Leben: Sanjas Wut ist die Klinge, die die Hexer befreien kann. Oder sie verdammen. Eine Welt voller Magie, die von unterschiedlichsten Magiergruppen beherrscht wird, und in ihrem Zentrum eine starke (Anti-)Heldin im Kampf gegen uralte Vorurteile - »Lies Of Blood And Flames« bietet fesselnde Fantasy mit einem Hauch von Romance und »The Witcher«-Vibes, die die Grenzen zwischen richtig und falsch verschwimmen lässt!

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Jenny schreibt Geschichten, seit sie schreiben kann und verbrachte ihre Kindheit zu größten Teilen mit der Nase tief in einem Buch. Die Macht von Worten, ganze Welten zu erschaffen, fasziniert sie seit jeher.

Für Oma.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

EPILOG

Sanja rannte schneller, um ihren Schatten abzuhängen. Nicht die dunklen Flecken, die das schummrige Kerzenlicht aus den anliegenden Häusern auf das Pflaster warf, nein. Ihr zweiter Schatten beobachtete und begleitete sie, seit sie sich erinnern konnte. Sie hatte ihn nie gesehen, nie gehört, aber sie wusste, dass er bei ihr war.

Sanja lachte leise, schlug einen weiteren Haken und sprang über eine Pfütze auf dem Weg, bevor sie abrupt stoppte. Sie zwang ihren Atem zur Ruhe, schüttelte ihre Röcke aus und ordnete ihr Haar notdürftig mit den Fingern. Dann stieß sie die Tür auf.

Die Luft im Inneren der Schenke raubte ihr den Atem, Rauch und Schweiß machten sie so dick, dass man sie hätte schneiden können. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht der Kerzen gewöhnt hatten. Die Trunkenbolde am ersten Tisch grölten und hoben ihre Humpen zum Gruß. Sanja verdrehte die Augen, winkte dennoch fröhlich und schob sich durch die Menge zum Tresen. So ausgelassen wurden die Männer üblicherweise erst nach dem dritten Krug Met – sie war spät dran.

Sanja reckte den Kopf und tänzelte auf den Zehenspitzen, bis sie ihren besten Freund in einer Ecke entdeckte. Noda grinste zum Gruß, verzog dann leidend das Gesicht und nickte zu der Bank neben sich. Sanja reckte sich stärker. Der alte Wil kauerte neben ihm, fast von der Bank gerutscht, und lallte tapfer vor sich hin. Zu dieser Uhrzeit war er bereits von Met auf Stärkeres umgestiegen und das bedeutete, dass er Noda ein Ohr abkaute. Sanja presste die Lippen zusammen und verkniff sich ein Grinsen. Noda legte den Kopf schräg, damit ihm seine Haarsträhnen nicht in die Augen fielen und hob sein Glas. Dann drehte er es in der Luft, um ihr zu zeigen, dass sie Nachschub bringen sollte. Sie verdrehte die Augen.

»Euer Gnaden«, grüßte der grobschlächtige Wirt mit einem Augenzwinkern, als Sanja sich auf den Hocker vor der Theke schob.

»Es ist immer noch falsch, Backe«, lachte sie und prostete ihm mit einem der beiden Humpen zu, den er ihr befüllt hatte.

Der Wirt lachte nur tief gurgelnd auf, schwang sich einen speckigen, verdreckten Lappen über die Schulter und wandte sich zum nächsten Gast. Sanja glitt vom Hocker und schob sich durch die Menge. Wenn die Männer sie entdeckten, machten sie ihr Platz, doch die meisten konnten zu dieser Uhrzeit kaum noch selbst stehen. Einer von ihnen rammte ihr im Vorbeigehen einen Arm in die Seite und pöbelte sie schielend an, bevor er sie erkannte. Sanja hob ihren Ellenbogen, um ihn daran zu hindern sich vor ihr zu verbeugen, was bei seinem Zustand mit Sicherheit in einem Sturz geendet wäre. Met schwappte über ihre Hände, als er gegen sie stieß. Sie verzog das Gesicht und schob sich an ihm vorbei.

»Was habe ich verpasst?«, fragte sie leise neckend, als sie die Gläser auf den Tisch stellte und sich neben Noda auf die Bank in der Nische fallen ließ.

Sie umschlang seinen Arm, drückte ihn an sich und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Dabei wischte sie ihre feuchten Hände unauffällig an seinem Hemd ab. Noda lehnte seine Wange an ihren Scheitel.

»Worüber sprechen wir heute Abend?« Sanja nickte mit dem Kinn zu Wil hinüber.

Noda verdrehte zur Antwort die Augen. Wil selbst schien sie gar nicht zu bemerken.

»Unsere Nachbarin erzählt auch immer wieder, dass es bei ihrer Schwester so war«, beschwor er Noda und schielte dabei an ihm vorbei. »Sie murksen die Frauen ab, lassen sie verbluten und nehmen ihnen die Kinder weg!«

Er rammte sein Glas so aufgebracht auf den Tisch, dass erneut Met über Sanjas Finger schwappte. Ergeben wischte sie sie an ihrem Rock ab. Ihre Hände würden den Rest des Abends klebrig bleiben. Sie nickte verständnisvoll und warf Noda einen Blick zu, als Wil nicht hinsah. Anscheinend hatte er sich heute Nacht wieder sein Lieblingsthema herausgesucht. Hexer. Noda seufzte stumm.

»Sie nehmen sie den Frauen weg, direkt nach der Geburt«, sagte Wil wieder.

»Ich hab gehört, sie essen sie dann«, mischte sich Ber vom Nachbartisch aus ein.

Sanja reckte überrascht den Hals. Sie hatte angenommen, dass er bereits schlief, aber vielleicht war er auch in diesem Moment erst wieder aufgewacht.

»Blödsinn«, widersprach Wil inbrünstig. »Sie baden in dem Blut von …«

Er zog die Augenbrauen zusammen. Ihm war das Wort entfallen.

»Kindern?«, schlug Noda vor und seufzte.

»Was tust du?«, zischte Sanja, doch er zuckte nur die Achseln.

»Das geht seit Ewigkeiten so.«

Wil nickte eifrig. »Um jung zu bleiben und wunderschön und um die Männer zu verführen.«

»Das heißt, jede Frau ist in deinen Augen eine Hexe«, lachte der Mann, der mit Ber am Tisch saß.

Seine Glatze glänzte im Licht. Sanja hatte ihn schon einige Male gesehen, aber sie kannte seinen Namen nicht. Er drehte sich zu ihnen herum und hieb Wil auf die Schultern. Der entrüstete sich mit aller Würde, die ihm in seinem hicksenden Zustand verblieben war.

»Du hältst das vielleicht für einen Scherz, aber ich schwöre bei dem Leben meiner Frau, ich habe eine gesehen. Hat mich all meine Kraft gekostet, ihr zu widerstehen. Ich hab‘s geschafft, aber jemand wie du hätt‘ alt ausgesehen.«

Ber lachte so stark, dass sich seine Stirnfalten bis hoch zu seiner schwindenden Haarlinie kräuselten und der Mann mit der glänzenden Glatze stimmte mit ein. »Beim Leben deiner Frau, ja? Du bist doch froh, wenn du sie los bist!«

Sanja seufzte und verdrehte die Augen. Wil rutschte beinahe vollkommen zu Boden, als er sich auf der Bank herumdrehte. Er widersprach den Männern am Nebentisch lautstark und sie kosteten es mit all ihrer verbliebenen Wortgewandtheit aus, ihn zu reizen. Der hitzige Schlagabtausch verschwamm zu einem Hintergrundrauschen.

Die Geschichten über die Hexer unterschieden sich stark, je nachdem, wie viel Phantasie ihr Erzähler einbrachte, doch in einem Punkt waren sie alle gleich: Hexer brauchten Blut, um ihre Magie zu wirken. Sie waren die grauenvollste Art der Magier, abgesehen vielleicht von Beschwörern, die tatsächlich Dämonen erwecken konnten. Der Großteil der anderen Magiergruppen lebte friedlich unter ihnen, wenn auch ein wenig abgeschottet. Sanja war bereits Zauberern, Paladinen und Sehern begegnet, sogar schon einer Druidin, aber sie kannte keine Magier näher. Falls welche in der Baronie ihres Vaters lebten, hielten sie sich bedeckt.

Noda stieß sie mit seinem Ellenbogen an.

»Du hast dir reichlich Zeit gelassen«, brüllte er über die Stimmen in ihr Ohr, so laut, dass sie zusammenzuckte.

Sanja durchsuchte den Raum, bis sie den kleinen, untersetzten Mann fand, der bereits halb unter den Tisch gerutscht war und mit dem Kopf auf seinen Händen lag. Sie nickte mit dem Kinn in seine Richtung.

»Herr Mies ist hier.«

Sanja hatte den Diener ihres Vaters so getauft, weil grundsätzlich er die Aufgabe hatte, ihr die Laune zu vermiesen. Wie zum Beispiel, sie aus dieser Schenke zu schleifen, in die sie als junge Dame ganz gewiss nicht gehörte. Deshalb ließ sie ihm immer ausreichend Vorsprung, damit er zu betrunken war, um überhaupt zu bemerken, wenn sie den Raum betrat. Herr Mies hob die Hand und wedelte nach einem weiteren Humpen Met. Er rülpste und fiel dabei fast von seinem Stuhl. Noda hatte ihn ebenfalls beobachtet und als er verstohlen in sein Glas prustete, konnte auch Sanja ihr Lachen nicht unterdrücken.

Sie zog ihren Ärmel hoch und reckte ihm ihren Unterarm vor die Nase. Ein langer Kratzer hob sich hellrot von ihrer Haut ab und zeigte an einigen Stellen sogar kleine, verschorfte Blutperlen.

»Siehst du, so sehr habe ich mich beeilt«, sagte sie wichtigtuerisch.

Dabei war sie bloß zu eifrig gewesen ihren Schatten abzuhängen, die letzten Stufen des Spaliers vor ihrem Fenster heruntergesprungen und hatte sich am Holz gekratzt.

Noda legte beide Hände um Sanjas Arm und inspizierte den Kratzer fachmännisch. Er machte ein herrlich albernes Gesicht und tat so, als würde er sich ein Monokel vors Auge klemmen. Sie lachte, entzog ihm ihren Arm und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

»Sie hat gejubelt damals, unsere Nachbarin, als die Hexerstadt in Flammen stand«, sagte Wil gerade.

Die Männer hatten ihren Disput beigelegt und saßen wieder ruhig an ihren angestammten Plätzen.

»Der Mann meiner Schwester war dabei.« Ber hielt seinen Humpen mit beiden Händen fest umklammert und starrte hinein, als läge seine Zukunft auf dem Grund.

»Bist du sicher? Sagst du nicht immer, der Mann deiner Schwester erzählt nur Stuss?«, warf Noda feixend ein, hob sein Glas und prostete Sanja unauffällig zu.

Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht zu grinsen, und wandte hastig ihren Blick ab.

»Vielleicht«, räumte Ber ein und rülpste laut. Er klagte häufig und laut sein Leid über seinen unsäglichen Schwager. »Aber er hat‘s gesehen. Ist da vorbeigekommen, als die Stadt gebrannt hat. Meine Schwester sagt, er hat immer noch Alpträume davon. Von den Schreien.«

»Meine Frau sagt, auf dem Markt erzählen sie, dass die Schreie nachts immer noch über den Ruinen zu hören sind«, warf der Mann neben Ber ein und hob die Hand, um vom Wirt noch eine Runde zu bestellen.

»Pff«, schnaubte Wil. »Was Besseres hätt' uns nicht passieren können. Diese Brut hat's nicht besser verdient.«

»Die vielleicht«, warf der Mann neben Ber wieder ein und drehte sich auf seiner Bank, sodass er Wil ins Gesicht sehen konnte. »Aber frag mal die, die von den Hundert verreckt sind.«

Einvernehmliches Schaudern. Sanja schüttelte gutmütig den Kopf.

Die Hexerstadt Daersk sollte eine ganze Nacht lichterloh gebrannt und jeden in ihren Mauern in den Flammen vernichtet haben, bis im Morgengrauen einhundert Männer aus der Asche aufgestiegen waren. An dieser Stelle brach gewöhnlich ein lauter Streit aus, ob es sich um Hexer handelte, die das Feuer überlebt hatten, ob sie wiederauferstanden waren oder ob es sich gar nicht um Hexer handelte, sondern um ganz andere, schrecklichere Wesen der Magie. Wenigstens diesen Teil hatten sie heute Nacht anscheinend übersprungen.

»Wir sind zu alt für dieses Märchen«, sagte Noda grinsend und Sanja stimmte ihm zu. Früher hatte sie sich gegruselt, aber inzwischen …

»Märchen?« Der Mann neben Ber schnaubte. »Frag mal die, die sie abgemurkst haben, ob das ein Märchen war.«

Sanja wollte erwidern, dass das wohl schwierig werden könnte, doch sie stockte bei dem Ausdruck in den Augen der Männer. Drei große, schwere Männer, die mitten in der Nacht in Furcht vergingen. Sie glaubten es wirklich. Der Mann neben Ber schauderte wieder.

»Wenn die Soldaten der Königin und die Zauberer sie nicht aufgehalten hätten, läge sicher schon das ganze Land in Schutt und Asche. Ich halte ja nichts von diesen feinen Herrschaften in ihren warmen Sesseln, aber dafür sollten wir sie feiern!« Er riss den Kopf hoch und warf Sanja einen hastigen Blick zu. »Von den Zauberern, meine ich.«

Sanja rang sich ein Lächeln ab. Noda lachte mit den Männern und fügte sich ein, als gehöre er zu ihnen. Er gehörte zu ihnen. Sie selbst wurde in der Schenke geduldet und einige der Männer freuten sich vielleicht sogar, sie zu sehen, aber niemand von ihnen vergaß, dass ihrem Vater das Land gehörte, das sie bestellten und auf dem sie ihre Betriebe hatten. Sie vergaßen nicht, an wen sie ihre Steuern zahlten und an wen sie sie in Zukunft zahlen würden. Sanja konnte sich nie so nahtlos einfügen, wie Noda es tat. Wehmütig starrte sie auf den Flaum auf seinen Wangen, der mal ein Bartschatten werden wollte. Plötzlich fühlte sie sich einsam.

Sie drehte den Kopf und suchte nach ihm, obwohl ihr klar war, dass sie ihn nicht entdecken würde. Sie hatte es jahrelang versucht, aber er verschmolz mit den Schatten, als existiere er nicht in ihrer Welt. Seit sie die Schenke betreten hatte, spürte sie auch seinen Blick nicht mehr, aber sie verließ sich lächelnd darauf, dass er zurückkehren würde, sobald sie wieder hinaus in die Nacht trat. Er war immer zurückgekehrt.

»Den Hundert war egal, ob sie Greise, Frauen oder Kinder abgeschlachtet haben, solange am Ende alle tot waren. Sie haben nicht einmal Leichen dagelassen … Nur Asche und … Blut.«

Wieder schauderten die Männer kollektiv und die Stille zog sich in die Länge. Eigentlich war Sanja dankbar dafür, aber es begleitete sie ein seltsam klammes Gefühl.

Der Wirt stellte ihnen stumm eine weitere Runde Schnaps auf den Tisch, was bedeutete, dass die Stimmung nur noch düsterer werden würde. Sanja warf Noda einen schnellen Blick zu und er legte zur Antwort sein Knie an ihr Bein. Sie sollten gehen. Sanja rutschte auf der Bank zur Seite und drückte sich an der Tischplatte hoch, als es in der Schenke plötzlich so still wurde, dass man eine Feder hätte fallen hören können. Die Eingangstür schlug quietschend gegen die Wand.

Sanja sank zurück neben Noda, reckte sich aber dennoch, um sehen zu können, wer die Schenke betrat. Schwere Schritte drangen durch die Menge. Auch Wil und die beiden Männer am Nebentisch drehten sich auf ihren Bänken herum. Sie alle hatten reichlich getrunken und Sanja hätte noch Wimpernschläge zuvor keinem von ihnen zugetraut, heute Nacht ihr eigenes Haus zu finden, aber hier waren sie, vereint und nüchtern von dem seltsamen Gefühl, das ihre Rücken hinaufkroch. Sanja schluckte und zog die Stirn in Falten.

»Lass uns gehen«, murmelte sie und neigte ihren Kopf zu Noda, ohne den Blick von den Männern zu wenden.

Sie konnte durch die vielen Schultern nicht mehr sehen als zwei dunkle Kapuzen, aber das brauchte sie auch nicht. Wer auch immer diese Männer waren, sie bedeuteten mit Sicherheit Ärger. Es war das eine, sich als Mädchen nachts in eine Schenke zu schleichen, um zu trinken, aber in eine Kneipenschlägerei verwickelt zu werden … Ihr Vater würde sie nie wieder aus dem Haus lassen. Und die Fenster versiegeln.

Noda nickte an ihrer Schläfe.

»Ich gehe schnell zahlen«, flüsterte er. »Warte hinten auf mich.«

Sanja hielt ihn am Arm zurück, als er aufstehen wollte. »Wir können doch anschreiben lassen.«

»Schon wieder?« Sie hörte in seiner Stimme, wie er die Augenbrauen hochzog.

Sanja seufzte, kramte ein Silberstück aus dem Beutelchen an ihrer Hüfte und drückte es ihm in die Hand. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch sie winkte ab und zog ungeduldig die Augenbrauen zusammen.

»Nicht jetzt«, zischte sie.

Mit leisem Schnauben stapfte Noda zur Bar. Sanja schluckte schwer und glitt ebenfalls von der Bank.

Es war höchste Zeit zu verschwinden.

Sanja tigerte in der kleinen Seitengasse auf und ab und seufzte erleichtert, als die Hintertür der Schenke quietschte. Sie ging auf die Biegung zu, erstarrte und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz übersprang einen Schlag. Eine Gestalt in dunkler Kapuze stand vor dem Gebäude und spähte suchend in die Dunkelheit.

Sanja drehte sich herum und schlich im Schatten der Hauswand vorsichtig und langsam in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollte nicht herausfinden, ob der Mann sie gesehen hatte. Mit jedem Schritt, den sie sich weiter entfernte, ging sie schneller, bis sie beinahe lief. Sie fluchte innerlich. Noda war entweder noch mit einem von ihnen in der Schenke oder folgte ihr bereits nach draußen. Beide Optionen zogen ihren Bauch unangenehm zusammen.

Sie bog in eine weitere Seitengasse ab und lauschte, ob die Gestalt mit der Kapuze ihr folgte, aber ihr Herzschlag pochte so laut in ihren Ohren, dass alle anderen Geräusche zu einem dumpfen Rauschen verschwammen. Ihre Muskeln brannten und Anspannung kribbelte in ihrem Rücken. Sie riskierte einen schnellen Blick über ihre Schulter, doch hinter ihr war nichts außer Dunkelheit. Die Nacht hatte sie noch nie verfolgt und trotzdem klang plötzlich selbst ihr Atem zu laut und ihre Schritte hallten überdeutlich von den Wänden der Gasse wider.

Sanja bog in einen weiteren, schmaleren Seitenarm ab, der sie zur Hauptstraße zurückführte. Hier konnte sie die Arme nicht mehr ausstrecken, ohne Wände zu berühren. Sie hielt für einen Moment inne. Das Gässchen hinter ihr lag völlig verlassen in der Nacht und dennoch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass in der Dunkelheit etwas auf sie lauerte. Sie schalt sich selbst einen Dummkopf, ihre Nervosität spielte ihr Streiche.

Als Sanja sich wieder umdrehen wollte, blieb sie mit ihrer Schuhspitze an einer Erhabenheit im Kopfsteinpflaster hängen, stolperte und musste sich an der Hauswand zu ihrer Linken abfangen, um nicht zu fallen. Sie kannte das Gefühl verfolgt zu werden, es begleitete sie, seit sie sich erinnern konnte, aber sie hatte nie die klamme Panik gespürt, die in diesem Moment ihr Rückgrat hinaufkroch und sich in ihre Brust setzte. Das hier war anders. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Schritte näherten sich und dieses Mal bildete sie sie sich nicht ein. Sie stieß sich von der Wand ab und rannte los.

Sanja wagte es nicht, über ihre Schulter zu blicken, aber sie hörte, dass sie die Schritte hinter sich nicht abschütteln konnte. Sie hatte die Hauptstraße beinahe erreicht, als etwas hart in ihre Seite traf und sie gegen die Wand schleuderte. Schmerz zuckte durch ihre Schulter, ihr Kopf schlug dumpf gegen den Stein und Sterne explodierten vor ihren Augen. Sie schrie auf und sank zu Boden.

Benommen versuchte Sanja auf die Beine zu kommen, doch ihre Hände rutschten über das feuchte Pflaster, der Boden schwankte unter ihr und Schmerz nahm ihr die Sicht. Ihre Arme knickten ein, als sie sich aufrichten wollte. Stattdessen kroch sie vorwärts, fort von dem, was sie getroffen hatte. Ihr Rock wickelte sich um ihre Beine und sie erreichte kaum die gegenüberliegende Hauswand, bevor ihre Arme die Kraft verloren und ihre Schulter schwer gegen den rauen Backstein fiel. Sie wimmerte.

Die Schritte näherten sich schnell. Sanja konnte sich nicht verstecken und sie konnte nicht fliehen. Ihre Hände krallten sich in den feuchten Schlamm zwischen Pflaster und Wand, in Matsch und Steinchen, bis ihre Finger sich um ein schmales Stück Holz schlossen, nicht dicker als ein Stock und kaum so lang wie ihr Unterarm. Keuchend krallte sie sich in die Mauersteine und zog sich daran nach oben. Der Boden unter ihren Füßen wankte wieder und die Wände der Gasse neigten sich zu ihr.

»Was willst du?«, schrie Sanja in die Dunkelheit. Ihre Stimme zitterte. »Willst du Gold?«

Mit bebenden Fingern nestelte sie an dem Beutel an ihrer Hüfte und warf ihn von sich. Er landete mit einem Klirren auf dem Pflaster. Sie lauschte, doch sie hörte weder Schritte noch, dass jemand ihr Gold an sich nahm. Sanja atmete zittrig aus und umklammerte den Stock in ihrer Hand fester.

Ein Schemen schoss aus der Dunkelheit auf sie zu. Sie schrie auf und riss ihre Arme nach oben. Das Holz splitterte, drang unter die Kapuze ihres Angreifers und bohrte sich voran, bis ihr Handballen gegen Haut stieß. Ihr Schrei erstickte in einem Keuchen, als ihr warme Flüssigkeit ins Gesicht spritzte. Die Kapuze rutschte vom Kopf des Mannes und sie starrte in schreckgeweitete Augen. Helle Strähnen hatten sich aus seinem Haarknoten gelöst und klebten auf seinen Wangen. Sanja wimmerte entsetzt. Ihre ausgestreckte Faust drückte gegen seinen Hals, während das Holz darin verschwand und aus seinem Nacken wieder herausragte. Der Stock hatte die Haut durchdrungen, als wäre sie aus Papier.

Der Mann röchelte, streckte die Arme aus und drückte in Sanjas Schultern. Manische Worte bebten auf seinen Lippen, Druck schoss aus seinen Händen und schmetterte sie zurück gegen die Wand. Sie brüllte auf, als ihr Kopf ein zweites Mal gegen den Stein schlug. Warme, zähe Flüssigkeit spritzte ihr ins Gesicht und schwappte über ihre Hände. Ihre Beine knickten ein und sie rutschte an der Wand hinab, den Stock in ihrer Hand noch immer fest umklammert.

Der Mann sackte zusammen, fiel nach vorn und begrub Sanja unter sich. Sein Gewicht drückte auf ihre Brust, quetschte ihre Lungen zusammen und nahm ihr den Atem. Sie schnappte nach Luft. Warmes Blut sickerte durch ihr Hemd auf ihre Haut. Sie presste ihre Hände gegen die Schulter des Mannes, versuchte, ihn von sich zu schieben, aber sie konnte ihn nicht bewegen. Weiche Nässe rann über ihre Finger und sie starrte voller Entsetzen auf ihre dunkel gefärbten Hände, auf die Menge an klebrigem Blut, die ihre Haut überzog.

Sanja drehte ihren Kopf zur Seite, wandte sich so weit wie möglich ab und würgte. Schmerz rollte in Wellen über sie hinweg und ihr Blut jagte so schnell durch ihre Adern, dass die Gasse in einem schummrigen Nebel verschwamm.

Das Gewicht verschwand von ihrem Körper. Eine weitere Gestalt mit Kapuze hatte den Mann von ihr gewälzt und streckte nun die Arme nach ihr aus. Sanja schrie und kroch mit strampelnden Beinen rückwärts, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß. Die Gestalt folgte ihr, ging in die Knie und hob die Hände.

»Shhh«, zischte er. »Sanja.«

Er.

Sanja ließ sich widerstandslos auf die Beine ziehen. Sie wusste, wer er war, auch wenn sie seine Stimme noch nie gehört hatte. Ihr Schatten legte seine Arme um ihren Körper und hielt sie aufrecht, während er sie vorwärtsdrängte. Sie taumelte gegen seine Seite, krallte sich in den Stoff seines Umhangs und versuchte das Gesicht des Mannes zu erkennen, der all die Jahre im Verborgenen bei ihr gewesen war, aber der Schmerz in ihrem Kopf flammte mit jedem mühsamen Schritt auf und raubte ihr die Sicht.

Ihr Schatten lehnte sie vorsichtig gegen eine Hauswand und ohne seinen Halt rutschte sie zu Boden. Er entfernte sich, doch sie spürte ihn weiterhin. Sie spürte ihn, wie sie ihn immer gespürt hatte, die sichere Gewissheit in ihrer Brust, dass er da war. Keuchend ließ sie ihren Kopf gegen die Wand sinken. Ihre Augen fielen zu und sie bemerkte kaum noch, wie ihr Schatten zu ihr zurückkam.

Wiehern, Hufklappern und seine Stimme verschwammen in Sanjas Ohren. Sie versuchte sich zu konzentrieren, versuchte die Augen zu öffnen und ihn anzusehen, aber sie sank nur tiefer in die Dunkelheit, die in ihrem Kopf pochte. Ein brennendes Kribbeln zog sich von ihren Schultern durch ihre Seite und die ersten Blutergüsse breiteten sich auf ihren Knien und Armen aus. Ihr Schatten legte seine Arme um sie und zog sie in den Stand. Dann fasste er um ihre Beine, hob sie hoch und schob sie auf ein Pferd. Sanja wehrte sich nicht.

Das Fell des Tieres schmiegte sich warm und weich an ihre Haut. Blind tastete sie nach der Mähne und klammerte sich daran, als das Pferd unter ihr lossetzte und sie gegen die Brust ihres Schattens warf.

»Wo reiten wir hin?« Die Worte rollten nur mit Mühe von ihrer Zunge.

»Vertrau mir«, flüsterte die Stimme in ihrem Ohr.

Sie vertraute ihm.

Sanjas Blut rauschte durch ihre Adern und in ihren Ohren und eine dunkle Leere breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie schlief nicht, aber die Erinnerung an die Dörfer, die sie durchritten, verschwand im selben Moment, in dem sie sie verließen. Die Nacht verschwamm zwischen dem Beben des Pferdes, den Armen um sie und dem Atem an ihrem Ohr. Sie lehnte sich gegen die Brust ihres Schattens und irgendwann verwusch auch die Nacht in Dunkelheit.

Licht färbte Sanjas geschlossene Augenlider rot und mit ihrem Bewusstsein kam auch der Schmerz zurück. Als sie sich aufrichtete, rollte er in einer langen, kraftvollen Welle von ihrem Kopf durch ihren Körper. Sie fasste nach der Stelle, von der er ausging, und ihre Fingerkuppen streiften rauen Schorf.

»Du bist wach.«

Sanja zuckte zusammen und ein scharfes Stechen fuhr durch ihre Seite.

Ihr Schatten saß auf dem Boden am anderen Ende des Raumes, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Das Licht einer Kerze warf dunkle Flecken auf sein Gesicht.

Sie kannte ihn. Sie hatte ihn nie gesehen, nie gehört, doch sie wusste, wer er war. Kurze Bartstoppeln überzogen seine Wangen und einige dunkle Haarsträhnen lösten sich aus dem kleinen Knoten in seinem Nacken und fielen vor seine Augen.

Sanja öffnete ihren Mund, um nach seinem Namen zu fragen, doch stattdessen krächzte sie: »Wo sind wir?«

Sie drehte sich auf ihrer Pritsche zur Wand, streckte eine Hand aus und legte sie auf den rauen Stein. Ihr Schatten war nach Norden geritten, bis zur Waldgrenze und dann noch ein ganzes Stück weiter in die Berge.

Die Wälder trennten die Niemandslande vom Rest des Königreichs Athea. Auf dem Papier unterstanden die vier nördlichen Herzogtümer der Krone, doch die Herrscher Atheas hatten diesen Anspruch seit Jahrzehnten nicht durchgesetzt. Nicht mehr seit dem blutigen Unabhängigkeitskrieg, den die Wache des letzten Königs gegen die Soldaten der Niemandslande in dem Waldgürtel ausgetragen hatte. Aus diesen Tagen stammte auch das Wispern über Monster, die dort lauerten, wo die Bäume so dicht standen, dass selbst am Tag Dunkelheit herrschte. Sanja glaubte nicht daran, aber auch ohne die Schauergeschichten gab es Grund genug, die Wälder zu meiden. Immer wieder stießen kleinere Banditentrupps nach Süden vor, auch in die Baronie ihres Vaters, doch bisher wurden sie jedes Mal zurückgedrängt.

Sanjas Schatten war in der vergangenen Nacht unbehelligt durch den Wald geritten und weder Monster noch Banditen hatten sich in ihre Nähe gewagt. Sanja konnte nicht sagen, wie viel Zeit in ihrer Erinnerung fehlte. Ihr Schatten hatte ihr beruhigende Worte ins Ohr geflüstert, bis die Sonne aufgegangen war. Im Morgengrauen hatte er sie dann in einen der Berge hineingeführt wie in eine vergessene Stadt. Sie hatte die labyrinthartigen Gänge für einen Traum gehalten, für ein Trugbild ihres Dämmerzustands, aber der karge, raue Stein um sie herum zeugte von etwas anderem.

»Das hier ist seit langer Zeit ein Rückzugsort.«

Erinnerungen an die vergangene Nacht stürzten auf Sanja ein, einzelne, unzusammenhängende Bilder. An jedem von ihnen klebte panische Angst, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie schnappte nach Luft.

»Der Junge, der dort war, geht es ihm gut?«

Sanja versuchte aufzustehen, doch der Raum bebte mit jeder Bewegung und ihr Kopf pochte, als wollte er platzen. Sie drückte gegen ihre Schläfe, als könnte sie ihn damit zusammenhalten.

»Ich weiß nicht, ob es Noda gut geht«, entgegnete ihr Schatten leise. Noda. Natürlich kannte er seinen Namen, er kannte ihr gesamtes Leben. »Wir mussten so schnell wie möglich fort …«

Sanja zog die Augenbrauen zusammen und schluckte. Für einen Moment gab sie dem Druck auf ihren Augenlidern nach und schloss die Augen.

»Aber ich habe Noda nicht gesehen, ich denke nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist …« Ihr Schatten verstummte.

Es musste ihm gut gehen. Er war Noda. Sanja schlug ihre Augen wieder auf.

»Wie heißt du?«, fragte sie und zuckte vor dem Kratzen ihrer Stimme zurück.

Ihr Schatten stand in einer fließenden Bewegung auf und goss Wasser aus einem Krug in ein Glas. Er wandte ihr den Rücken zu, aber sie hörte an seinem Tonfall, dass er lächelte. »Mir gefällt der Name, den du mir gegeben hast.«

Er wandte sich mit einem Grinsen um und reichte Sanja den Becher. Sie streckte ihren Arm danach aus, doch sie stockte in der Bewegung, ihre Hand noch in der Luft.

Ihr Schatten trug ein hochgeschlossenes, robustes Hemd, aber sein Hals und seine Hände lagen frei. Das spärliche Licht der Kerze sprenkelte unzählige kleine Schatten über seine Haut und brach sich an jeder Narbe. Sie begannen an seinen Fingerspitzen, verschwanden in seinem Ärmel, flossen an seinem Hals wieder heraus und hoch bis zu seinem Kinn, doch sie stoppten, bevor sie sein Gesicht erreichen konnten. Er beobachtete ihre Reaktion, ballte seine freie Hand zur Faust und schob sie hinter seinen Rücken, doch er streckte ihr weiterhin den Becher entgegen. Mit zittrigen Händen nahm Sanja ihn und trank. Alkohol rann durch ihre Kehle und brannte sich seinen Weg hinunter in ihre Eingeweide. Sie zuckte zusammen.

»Es betäubt die Schmerzen.« Ihr Schatten lehnte sich wieder an die gegenüberliegende Wand, einen Arm auf seinem aufgestellten Knie abgestützt und sah sie nicht an.

»Wer bist du?«, fragte Sanja erneut.

Er lächelte, doch er hob den Blick nicht von seinen Händen.

»Du weißt, wer ich bin.« Dunkle Strähnen fielen vor sein Gesicht und verdeckten seine Augen. Er hob den Kopf und sah sie an. »Und ich weiß, wer du bist.«

Sanjas Wangen brannten. Er wusste alles von ihr, aber sie nichts über ihn. Sie hatte mit ihm gesprochen, manchmal sogar für ihn gesungen, doch sie hatte nie geglaubt, dass er ihr jemals antworten würde.

Sanja drehte sich, um den Becher abzustellen und ein scharfer Schmerz schoss durch ihre Seite. Sie zuckte zusammen, keuchte auf und der Becher glitt aus ihren Händen. Mit einem Schritt war ihr Schatten bei ihr. Sie presste ihre Hände auf den stechenden Schmerz und rang nach Atem. Sie erinnerte sich an den Druck, an die Dunkelheit und sie erinnerte sich an die Panik, die auch jetzt wieder in ihr hochkochte und ihre Kehle zuschnürte.

»Was ist passiert?«, fragte sie schwach. Vielleicht irrte sie sich, vielleicht betrog ihre Erinnerung sie.

Ihr Schatten hob eine Hand und streckte seine Finger aus, als wollte er sie berühren, doch seine Hand schwebte nur vor ihr in der Luft.

»Ich weiß nicht, was das für ein Zauber war, aber er hat dich nur gestreift, also sollte die Wunde –«

Sanja unterbrach ihn.

»Zauber?«, fragte sie ungläubig. Es war ein Zauberer dort gewesen?

Ihr Schatten hob ruckartig den Kopf und musterte sie. Seine Augen huschten zwischen ihren hin und her, aber er sagte nichts.

Die meisten Zauberer, vielleicht sogar alle, gehörten zum Hochadel und lebten entweder auf ihren Gütern, hatten sich bei Hofe niedergelassen oder blieben an der Akademie unter Gleichgesinnten. Sie trieben sich nicht mitten in der Nacht durch dunkle Gassen in verschlafenen Städtchen. Als Kind hatte Sanja davon geträumt, auch eine Zauberin zu werden, aber sie hätte sich nie lange genug von Noda trennen können, um an der Akademie von Arsarca zu studieren.

»Das waren Zauberer? Die fremden Männer?«

Die Augenbrauen ihres Schattens zogen sich zusammen und sein Blick ging durch Sanja hindurch, als er nickte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Warum?«, fragte sie schlicht.

Ihr Schatten rieb sich über das Gesicht und seine Hände schabten leise über die Ansätze seines Bartes.

»Was ist mit Noda?«, fragte Sanja noch einmal. Ihre Stimme überschlug sich.

Ihr Schatten legte hastig eine Hand auf ihr Schienbein. »Ich bin mir sicher, es geht ihm gut.«

Wärme sickerte von seinem Handrücken durch den groben Stoff ihrer Hose in Sanjas Haut.

»Die Zauberer wollten nicht ihn«, fügte er hinzu und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

Sie schluckte. Ihr Herz schlug schneller, immer schneller, bis es wieder so raste wie in der dunklen Gasse, und das Echo der Schritte hallte in ihren Ohren. Der Mann, der sie verfolgt hatte, blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Sanja schlug sich eine Hand vor den Mund.

»Ich habe …«, brachte sie erstickt hervor und schauerte. »Was ist mit ihm?«

»Mit dem Zauberer?« Ihr Schatten zog die Augenbrauen in die Höhe, bevor seine Miene schlagartig ernst wurde.

»Ich weiß es nicht …«, gab er zu und senkte den Blick auf seine Hände.

Sanja schluckte. Er musste es nicht aussprechen, damit sie es wusste, sie erinnerte sich daran. Sie erinnerte sich an das Holz und an das Blut. Sie erinnerte sich an das widerwärtige Gefühl, als der Stock in die Haut des Zauberers drang. Sanja würgte.

»Deine Magie ist stark.«

Sie erstarrte in ihrem Würgereiz und brachte nur ein ersticktes Geräusch hervor. »Was?«

Ihr Schatten hockte sich vor das Bett, die Arme auf der Bettkante aufgestützt.

»Spürst du es?«, fragte er mit rauer Stimme.

Er musste nicht erklären, was er meinte. Es ging nicht um den Schmerz in ihrer Seite, das Stechen in ihrem Kopf und auch nicht um ihre brennende Kehle. Das alles hatte sie noch nie gefühlt, doch es gab noch etwas viel Bedeutenderes, das sie noch nie gespürt hatte. Es pulsierte in ihren Adern und rauschte in ihren Ohren. Jede Zelle ihres Körpers summte. Ihr Herzschlag bebte in ihrer Brust, stark und kräftig und aufgeregt. Er schlug immer schneller, je länger sie ihm zuhörte und ihr Blut rauschte ungeduldig durch ihre Adern.

Sanjas Schatten lächelte. Dann zog er ein Messer von seinem Bein, drehte es in seiner Hand und hielt ihr den Griff entgegen. »Du spürst es.«

Sie schüttelte den Kopf, doch ihr Blut hatte seine Worte gehört, es pulsierte, pochte in ihren Adern und bäumte sich in Wellen auf. Die Klinge des Dolches schimmerte rötlich im Licht der Kerze. Sanja fuhr mit den Fingerspitzen über die Schnitzereien am Griff und dann weiter, über die raue Haut ihres Schattens, bis sie die erste Narbe erreichte und unwillkürlich zurückzuckte. Sie zögerte, doch sie konnte den Blick nicht vom Schimmer der Klinge abwenden. Langsam, Finger für Finger, schloss sich ihre Hand um den Griff des Dolches.

Ihr Schatten bewegte sich. Er zog ein weiteres Messer von seinem anderen Bein, streckte den Arm aus und fuhr, ohne zu zögern, mit der Klinge über sein Handgelenk. Kleine dunkle Tropfen quollen hervor und flossen ineinander. Sanja wandte den Blick nicht von seiner Haut, als sie die Klinge kalt auf ihre legte. Die Tropfen lösten sich, rannen seine Handfläche hinab und hinterließen schmale, gezackte Spuren.

Sanja zuckte zusammen. Es brannte dort, wo sie ihre Klinge in ihre eigene Haut gepresst hatte. Unzählige winzige Tropfen quollen aus dem Schnitt und flossen zu einem größeren zusammen. Sie fing ihn auf ihrer Fingerkuppe, bevor er auf die Bettdecke tropfen konnte.

»Sieh her.«

Sanja hob gehorsam den Blick. Ihr Schatten hatte seine Handfläche zur Decke gewandt und in ihr eine kleine Pfütze seines Blutes gesammelt. Still und dunkel schwappte es in seiner Hand. Eine Flamme loderte auf, spiegelte sich in seinen Augen und nährte sich von seinem Blut.

Sanja schob sich strampelnd zurück, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß. Das war nicht möglich. Nicht möglich. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatten sie verbrannt, schon vor Jahrzehnten. Von Bluthexern waren nur noch Schauergeschichten geblieben, nicht mehr als Gerüchte, ein Wispern in den Schenken zu später Stunde.

Die Flamme sank langsam in sich zusammen, bis sie in dem feuchten Film von Blut auf der Hand ihres Schattens zusammenschmolz. Er musterte Sanja und beobachtete ihre Reaktion. Sie schluckte schwer.

»Die Hexer wurden verbrannt«, hauchte sie schwach und schüttelte den Kopf. Vor ihr saß der eindeutige Beweis, dass sie Unrecht hatte.

Ihr Schatten legte den Kopf schief.

»Nicht alle«, sagte er leise und senkte die Hand. Blut rann seine Finger hinab und tropfte dann in kleinen, zähen Kugeln zu Boden. »Schließ die Augen und spür es.«

Sanja schüttelte panisch den Kopf. Das konnte nicht sein. Durfte nicht sein.

Ihr Blut kribbelte und wogte in ihren Adern, es flüsterte unter ihrer Haut und wisperte leise, unverständliche Worte. Sanja schüttelte ihren Kopf schneller, doch das Kribbeln schwoll an, türmte sich auf und brach dann an ihrer Fingerkuppe hervor. Eine Flamme schoss in die Höhe, als wäre ihr Finger ein Zündholz. Sie schnappte nach Luft. Die Flamme stillte ihren Durst an ihrem Blut und leckte daran wie ein Kätzchen an Milch.

Kein einziger Laut durchbrach die Stille im Raum. Sanja hielt den Atem an. Wie konnte es so still sein, wenn ihre Welt zerbarst? Das Splittern sollte ohrenbetäubend sein, aber der Raum war völlig still.

»Sanja …« Sie hörte ihren Schatten nur weit entfernt, seine Stimme klang beinahe flehend. »Was sie dir erzählt haben … alles, was du gehört hast … es ist nicht wahr.«

Sah er das Entsetzen auf ihrem Gesicht? War da Entsetzen auf ihrem Gesicht? Sanja hatte keinen Namen für das Gefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte und sie erstickte. Es war, als hätte die Flamme mit einem Schlag alle Luft im Raum verbrannt.

»Warum haben sie mich angegriffen?«, fragte sie heiser. Sie wollte die Antwort nicht hören.

Die Flamme tanzte auf ihrer Haut, streichelte sie und wand sich in dem stummen Beben ihres Blutes. Sie konnte ihren Blick nicht von ihrer Fingerkuppe abwenden.

Blut und Flammen. Flammen und Blut.

Sanja taumelte und stützte sich mit einer Hand an dem rauen Stein der Wand ab. Blut schoss an die Stellen, an denen sich die kleinen Erhabenheiten in ihre Haut bohrten und pulsierte dort. Es strömte durch ihren gesamten Körper und sie war sich dessen so bewusst wie jedem ihrer zittrigen Atemzüge. Sie wollte glauben, dass sie es sich einbildete, sie musste es sich einbilden, aber das Kribbeln verstärkte sich. Sie konnte es nicht ignorieren, egal, wie sehr sie es zu verdrängen versuchte. Magie flimmerte über ihre Haut und sie schauerte. Blut. Hexer. Ihr Hals war so trocken, dass das Schlucken schmerzte. Eine Bluthexerin.

Sanja schüttelte den Kopf und stieß sich von der Wand ab. Ihre Beine zitterten, aber sie setzte einen Fuß vor den anderen, während sie ihrem Schatten durch die fensterlosen Gänge folgte.

»Sind wir unter der Erde?«, fragte sie mit hohler Stimme.

Sie streckte den Arm aus und ihre Fingerspitzen strichen über die rauen Wände. Ihr Schatten drehte den Kopf und verzog die Lippen zu der Andeutung eines Lächelns, aber er antwortete nicht. Sie konnte nicht einmal sagen, ob Tag oder Nacht war. Das Feuer der Fackeln an den Wänden schaffte eine seltsam zeitlose Sphäre, so als würde sie zwischen dem Stein nicht existieren.

Mit jedem Schritt wich die klamme Kälte aus der Luft und machte einer angenehmen Wärme Platz. Der Geruch nach Essen schlug ihnen entgegen. Übelkeit wallte durch Sanjas Magen und kroch ihren Hals hinauf. Der brennende Hunger, den sie noch vor wenigen Augenblicken verspürt hatte, verschwand schlagartig. Ihr Gang verbreiterte sich in einen Raum und das Rauschen unzähliger Stimmen hallte von den Wänden wider, sodass die folgende Stille umso lauter klang. Ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder am Eingang des Raumes wandten sich zu ihnen um und starrten sie stumm an. Falls es Sanjas Schatten einschüchterte, ließ er es sich nicht anmerken. Er straffte seine Schultern, während sein Blick durch den Raum wanderte. Sanja beobachtete ihn angespannt, halb hinter seiner Schulter verborgen.

Er schien gefunden zu haben, was er suchte, und schob sich durch die Menge. Immer wieder drehte er seinen Kopf zu ihr herum, um zu prüfen, dass sie dicht hinter ihm blieb. Sanja nutzte die Lücken, die er schob, und heftete sich an seine Fersen, bevor ein Ellenbogen ihren Weg versperren konnte. Warme Körper pressten sich an ihren und mit jedem Schritt stieg die Temperatur auf ihrer Haut. Die Menschen, an denen sie sich vorbeischoben, beobachteten sie aufmerksam. Ihre Haut war seltsam durchscheinend und sie alle trugen den gleichen verwaschenen Rotton, ein Rot, das Sanja noch nie gesehen hatte. Rote Farbe und roter Stoff waren immer schon teuer gewesen und diese Massen mussten ein Vermögen gekostet haben. Bevor sie unzählige Male gewaschen worden waren. Jetzt blieben sie nur noch ein Zeichen der Verarmung, genau wie die spärlichen Überbleibsel von goldenen Ketten, die hier und da um einen Hals hingen.

Ein zischelndes Flüstern begleitete Sanja und ihren Schatten durch den Raum. Es folgte ihnen wie eine unbequeme Schleppe, aber wenn sie sich umblickte, wandten sie ihre Blicke schnell ab. Sanja keuchte auf und blieb abrupt stehen. Ihr Schatten drehte sich im selben Wimpernschlag zu ihr herum, war mit einem Schritt bei ihr und fasste sie am Arm.

Nicht alle Hexer waren tot, hatte er gesagt. Nicht alle Hexer waren tot und hier war sie, in einer Festung aus Stein, tief unter der Erde, umgeben von Menschen, die seit Ewigkeiten kein Tageslicht gesehen hatten, und ihr Schatten bewegte sich mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit unter ihnen. Der Boden schwankte. Sanja war sich der stechenden Blicke überall auf ihrem Körper nur zu deutlich bewusst. Möglichst unauffällig huschten ihre Augen durch den Raum. Sie wusste nicht, wonach sie suchte, vielleicht nach getrockneten, roten Striemen auf ihrer Haut, vielleicht erwartete sie, dass einer von ihnen die Zähne bleckte und ihm Blut aus den Mundwinkeln lief. Sie sah nichts dergleichen.

Sanja legte ihre Hand auf den Unterarm ihres Schattens, schloss ihre Finger um den rauen Stoff seines Hemdes und krallte sich hinein. Sie lehnte sich an ihn, bis ihre Lippen beinahe seine Schulter berührten und drehte den Kopf zu seinem Hals, für den Fall, dass die Menschen um sie herum sogar ihre Lippen beobachteten. »Sind das alles …«

Sie unterdrückte einen nervösen Blick zur Seite.

»Sind das alles … Hexer?«, flüsterte sie ihrem Schatten ins Ohr.

Seine Wange verzog sich an ihrer Schläfe zu einem Lächeln. Er löste sich von ihr, trat einen Schritt zurück und nickte. Sanja schluckte. Die trockene Luft brannte plötzlich in ihrer Kehle. Sie traute sich nicht, sich zu rühren, sie stand stocksteif zwischen den Menschen, deren Anwesenheit sie sich plötzlich überdeutlich bewusst war. Die ganze Welt dachte sie seien tot und hier stand sie, in einem Raum voller Hexer, sehr viel lebendiger als Mythen.

Sanjas Herz pulsierte und jagte Blut durch ihre Adern. Ihre Muskeln spannten sich zum Zerreißen. Die Blicke, die zuvor auf ihrer Haut gelegen hatten, bohrten sich plötzlich hinein, als wollten sie sie aufspießen. Sie schluckte wieder. Es waren nur Gruselgeschichten, Ammenmärchen, versuchte Sanja sich zu überzeugen. Sie hatte als Kind Nächte lang nicht geschlafen, nur an die Decke gestarrt und darauf gewartet, dass die Hexer kamen, um sie zu fressen, und selbst die Anwesenheit ihres Schattens hatte sie nicht beruhigen können. Doch das war nichts gegen das Grauen, das jetzt von ihr Besitz ergriffen hatte. Die Wände schienen näherzukommen, die Hexer konnten sich jeden Moment auf sie stürzen und sie sah sich in einem Zuber, in dem ihr Blut träge um ihre Knöchel schwappte. Nur Gruselgeschichten, sagte sie sich wieder und wieder. Die Luft im Raum wurde dünner.

Sanjas Schatten beobachtete sie mit ernstem Blick und streckte ihr seine Hand entgegen. Schweißtropfen rannen ihren Rücken hinab, aber ihre Glieder waren kalt und steif. Zögerlich hob sie ihre Hand und er zog sie an seine Seite. Er war hier. Er war bei ihr und er hätte sie nicht an diesen Ort gebracht, wenn sie hier nicht sicher wäre. Sanja brachte ein Nicken zu Stande. Ihr würde nichts geschehen.

»Komm«, sagte ihr Schatten leise.

Sanft, aber bestimmt, zog er sie hinter sich her, seinen Arm und damit auch sie dicht an seine Seite gedrückt. Sanja hielt den Kopf gesenkt, aber die Blicke legten sich wie Hände auf ihren Körper.

»Warum sehen sie uns an?«, flüsterte sie leise.

Ihr Schatten zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Sie kennen dich nicht. Und mich auch nicht mehr. Ich war lange nicht hier.«

Seine Schulter versperrte ihr die Sicht, bis er stehen blieb und sie ihren Kopf an ihm vorbeistrecken konnte. Ein kleiner Halbkreis hatte sich vor ihnen gebildet, nicht groß, aber groß genug, um der Frau in der Mitte Raum zu geben. Sie wippte in einem knarzenden Schaukelstuhl vor und zurück, in ihren Händen eine Flickarbeit, die sie dicht vor ihre Augen hielt. Es war ein Wunder, dass sie in ihrem Alter und bei dem dämmrigen Licht überhaupt etwas erkennen konnte, aber keine der Frauen in der Nähe ging ihr zur Hand.

Sie sprachen leise miteinander, aßen und scherzten. Eine von ihnen wiegte ein Baby in ihrem Arm. Sanja suchte nach etwas, das sie unterschied, sie suchte nach einem Zeichen der Grausamkeit. Vielleicht konnten sie sie gut verstecken, aber doch nicht völlig verbergen. Sie wusste nicht einmal, wonach sie suchte. Die Gruppe Hexerinnen zu ihrer Linken kicherte herzlich über einen Scherz und die unter ihnen, die Sanja erblickt hatten, musterten sie mit freundlicher Neugier. Ein Schauer rann über ihren Rücken und sie spannte ihre Kiefer an. Das musste bedeuten, dass sie es gut verbergen konnten.

Die alte Frau hob den Blick von ihrer Flickarbeit und ihre Augen weiteten sich. Sie warf das Stück Stoff zu Boden und erhob sich schwerfällig aus ihrem Stuhl. Zwei junge Frauen zu ihren Seiten griffen unter ihre Arme, um ihr aufzuhelfen, doch sie schüttelte sie ab. Mit kleinen Schritten humpelte sie auf Sanja und ihren Schatten zu. Ihr graues Haar lag in einem großen Knoten auf ihrem Kopf, Jahrzehnte hatten ihren Rücken gebeugt und Falten in ihre Haut gegraben und doch starrte sie sie so intensiv an, dass Sanja zurückweichen wollte. Sie war sich sicher, dass diese Frau sie in der Luft zerreißen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du!«, sagte sie anklagend und bohrte Sanjas Schatten einen spitzen Fingernagel in die Brust. Sie musste ihre Hand dafür über ihren Kopf strecken.

»Du!«, wiederholte sie und stach noch einmal zu.

Sanjas Schatten wich zurück.

»Du!«

Er hob abwehrend die Arme. Sanja war hin- und hergerissen, ihrem Schatten zu helfen oder möglichst viel Distanz zwischen sich und die Frau zu bringen. Bewegungsunfähig verharrte sie an Ort und Stelle.

»Du bist es wirklich!«

Das Gesicht der alten Frau wurde weich. Sie breitete ihre Arme aus und schlang sie um Sanjas Schatten. Er lachte heiser und legte seine um ihre Schultern.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe.«

Die alte Frau wandte sich Sanja zu, einen Arm noch immer fest um die Hüfte ihres Schattens geschlungen. Sie beide drückten sich aneinander.

»Und wer bist du?«, fragte sie neugierig und grinste mit ihren schmalen Lippen so breit, dass die Falten auf ihren Wangen und um ihre Augen das Licht schluckten.

Sanja blickte hilfesuchend zu ihrem Schatten.

»Das ist Sanja«, erklärte er und räusperte sich. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, aber seine Mundwinkel zuckten angespannt.

»Sie gehört zu uns«, fügte er mit einem schnellen Seitenblick hinzu.

Sanja wollte ihm widersprechen, doch in diesem Moment löste sich die alte Frau von ihm und drückte sie an sich. Sanja versteifte sich. Die alte Frau lachte heiser, während sie ihre runzlige Wange warm gegen Sanjas drückte. Der Geruch von Leder stieg ihr in die Nase.

»Asha«, stellte die alte Frau sich vor. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen.

Sie grinste breit und winkte zu ihrem Stuhl hinüber. »Willkommen, Sanja.«

Sanja drückte ihren schmerzenden Rücken durch. Ihr Schatten lehnte sich gelassen an ein Bein Ashas Stuhls, seinen Kopf am Holz und die Augen geschlossen. Ein Lächeln lag in seinen Mundwinkeln und ein einzelner Schweißtropfen rann über seine Schläfe bis zu seinem Ohr und blieb dort hängen.

Die Hitze des Feuers in der Mitte des Raumes strahlte von dem Stein um sie herum zurück. Sanja hatte die Löcher in den Wänden zunächst für Mäusehöhlen gehalten, doch dahinter musste sich ein Belüftungssystem befinden, das den Rauch aus dem Raum leitete. Trotz dessen biss die trockene Luft in ihrer Kehle und klebte ihre Kleidung an ihren Körper. Sie trug ein Hemd ihres Schattens und der dunkle, raue Stoff hing bis auf ihre Oberschenkel. Ihr war das egal. Alles war besser als der Anblick des Blutes auf ihrem Kleid und der Geruch … Sie schob die letzten Essensreste auf ihrem Teller von sich.

Ein Mädchen drängte sich mit ausgebreiteten Ellenbogen durch die Menge und hielt zielstrebig auf sie zu. Sie blieb so schwungvoll vor ihnen stehen, dass ihre vielen Zöpfe über ihre Schultern schwangen. Das dunkle Rot ihrer Haare biss sich mit der Farbe ihrer Kleidung.

»Hast du etwas für mich aufgehoben?«, fragte sie Asha. Ihre Stimme klang rau, als hätte sie geschrien, dabei sprach niemand hier unten lauter als ein Flüstern, weil die Steinwände jedes Geräusch zurückwarfen.

Asha drehte sich mühselig auf ihrem Stuhl zur Seite und griff nach einem Teller auf dem Boden. Sie hatte tatsächlich die Hälfte ihrer Mahlzeit übriggelassen. Das Mädchen griff danach, sank an Ort und Stelle auf den Boden und löffelte begierig. Asha grinste, als Sanjas Magen knurrte, doch sie wandte ihren Blick nicht von dem Mädchen zu ihren Füßen.

»An den Hunger wirst du dich gewöhnen müssen, Kindchen«, sagte sie zu Sanja.

Sanjas Kopf ruckte zu ihrem Schatten. Sie gingen davon aus, dass sie blieb? Die Hitze im Raum wurde unerträglich, genau wie das ständige Rauschen von Stimmen. Ihr Schatten blickte sie an. Wie konnte er davon ausgehen, dass sie blieb?

»Wer sind die?«, fragte das Mädchen mit der rauen Stimme harsch.

Sie hatte den letzten Löffel noch nicht heruntergeschluckt, als sie den nächsten nachschob. Asha legte den Kopf schief und dachte kurz nach, bevor sie antwortete.

»Freunde«, sagte sie schließlich schlicht.

Das Mädchen schnaubte unbeeindruckt.

»Tara –«, mahnte Asha, doch sie unterbrach sich und presste ihre Lippen zu einem schmalen, weißen Strich zusammen. Sie drehte sich zu Sanja und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Meine Enkelin Tara«, erklärte sie und von der anderen Seite ihres Stuhls erklang ein weiteres Schnauben.

Asha schloss die Augen einen Moment länger als ein übliches Blinzeln und hob dann ihre Hand wieder von Sanjas Schulter.

»Hier bist du!« Ein junger Mann hatte sich durch den Raum zu ihnen geschoben. Er sprach mit Tara, doch sein Blick blieb an Sanja hängen, bevor er kurz zu Asha glitt und wieder zu Sanja zurück.

»Neue Gesichter …?«, murmelte er.

»Sie sind Freunde«, sagte Asha mahnend. »Alte Freunde.«

Sanjas Augen huschten zwischen den beiden hin und her. Anscheinend verstand er, was Asha ihm damit sagen wollte, denn die Anspannung wich aus dem jungen Mann. Er streckte Sanja die Hand entgegen.

»Jian«, stellte er sich vor.

Sanja musste sich strecken, um seine Hand zu ergreifen und drückte sie kurz, bevor sie sich wieder zurücksinken ließ. Sie hatte einen Hexer berührt. Sein Händedruck war ungewöhnlich kühl, während alles andere im Raum Wärme abstrahlte, aber seine Hand fühlte sich an wie jede andere. Sie schluckte. Was hatte sie erwartet?

»Sanja«, entgegnete sie heiser.

Jian setzte sich neben Tara auf den Boden und kreuzte die Beine. Sanjas Schatten rührte sich nicht, er blinzelte nicht einmal, als wollte er mit dem Stuhlbein, gegen das er lehnte, verschmelzen. Das schien er überall zu tun.

»Wo kommt ihr her?«, fragte Jian und strich sich durch sein dunkles Haar.

Ein Stich durchzuckte Sanja, eine Erinnerung an Noda, der das Gleiche tat. Ohne Tara anzusehen, streckte er die Hände nach ihrem Teller aus. Sie teilte mit ihm, allerdings nicht, ohne die Nase zu rümpfen und ihre Lippen zu verziehen.

Sanja schluckte. Sie konnte einem Hexer nicht erzählen, wo sie lebte, wo ihr Vater lebte. Was würde er mit dieser Information anfangen? Sie warf einen Blick zu ihrem Schatten und versuchte die Gefahr abzuschätzen, in der sie sich befand, aber er starrte nur gedankenverloren auf seine Hände. Er schien keine Bedenken zu haben. Fast glaubte Sanja, dass er sich in diesem Berg wohlfühlte. Sie schluckte. Er war ein Hexer und er wusste, wo sie lebte. Er wusste es seit Jahren und noch hatte ihr Haus nicht in Flammen gestanden. Sie hob den Kopf.

»Mein Vater ist der Baron von Arlven.«

Jian schob sich einen weiteren Löffel in den Mund. Eintopf rann aus seinem Mundwinkel und er wischte sich hastig mit dem Ärmel übers Kinn. Sanja schauerte, als sie sich unwillkürlich fragte, ob bei anderer Gelegenheit Blut über seine Lippen floss. Hastig versuchte sie den Gedanken abzuschütteln.

»Wo liegt das?«, fragte Jian.

Nichts an ihm glich Noda, wenn Sanja genauer hinsah. Wo sein Gesicht kantig war, war Nodas weich. Während Jians Augen sie aufmerksam musterten, hatten Nodas immer gegrinst. Sanja schluckte. Außer, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.

»Einen Tagesritt nordwestlich von Arenja.«

Jian tauschte einen schnellen Blick mit Tara und Sanja zog die Augenbrauen zusammen. Vielleicht hatte er noch nichts von Arlven gehört, aber Arenja war eine der größten Städte des Königreichs.

»Südlich der Wälder und nördlich des Flusses?«, versuchte sie es noch einmal.

»Es gibt einen Fluss hinter den Wäldern?« Jian wandte sich zu Tara. »Hast du das gewusst?«

Sie schnaubte als Antwort und Sanja zog die Augenbrauen zusammen.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte sie.

Jians Augenbrauen wanderten in die Höhe und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen.

»Schon immer«, antwortete er und, wie um sicherzugehen, dass Sanja ihn verstand, fügte er hinzu: »Wir sind beinahe hier geboren.«

Ihr Blick huschte zu Asha, die leise auflachte.

»Nein, ich nicht. Ich bin hergekommen, als …« Sie stockte und spitzte die Lippen. »Als der Hass begann.«

Sanja zog die Augenbrauen zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Hexer nicht gefürchtet worden waren?

»War es da draußen nicht gefährlich für euch?« Jian musterte sie mit unverhohlener Neugier.

Sanja warf ihrem Schatten einen hilfesuchenden Blick zu, doch er schien vollkommen in seine Gedanken versunken. Wie viel durfte sie Jian erzählen? Sie schluckte und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste es nicht«, gab sie schließlich leise zu. »Dass ich …«

Sie stockte und presste die Lippen zusammen. Sie hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen, aber sie brachte die Worte nicht über ihre Lippen. Stattdessen wedelte sie mit den Händen durch die Luft und hoffte, dass sie auch so verstanden.

»Hast du keine Eltern?«, fragte Tara. Sie hob die Augenbrauen, aber ihr Blick war beinahe mitfühlend.

»Doch, natürlich«, entgegnete Sanja schnell und stockte dann im nächsten Atemzug, als sie verstand, warum Tara fragte. Sie lachte heiser auf und schüttelte vehement den Kopf.

»Oh, meine Eltern sind keine …« Sie presste ihre Lippen wieder zusammen und zwang sich dann, es doch auszusprechen. »… Hexer.«

Taras Gesicht verschloss sich im selben Wimpernschlag, in dem ihre Augenbrauen höher schossen. Sie glaubte Sanja nicht, aber das war lächerlich.

Sanja senkte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen.

»Wie …?«, fragte sie leise. Nur ihr Schatten musste sie hören.

»Wie?«, fragte Sanja wieder, diesmal lauter und hob den Kopf.

Ihr Schatten erwiderte ihren Blick. Er musste es wissen, er war bei ihr, seit sie denken konnte. Sein Kopf ruckte zur Seite, als wollte er sich zu Asha umdrehen und überlegte es sich im letzten Augenblick anders. Stattdessen räusperte er sich.

»Sanja …« Sein Blick flackerte, doch er wandte sich nicht ab. Sie wollte nicht mehr, dass er es aussprach, aber sie konnte ihn nicht aufhalten. »Was weißt du von deiner Mutter?«

Sanja schüttelte den Kopf. Das war nicht möglich.

»Nein«, sagte sie, aber das Wort erstickte in der Stille.

Ihr Schatten rieb sich mit einem kratzenden Geräusch über seinen Bart. Die Wahrheit war, dass sie nichts von ihrer Mutter wusste. Sie kannte das Porträt, das in der Galerie ihres Vaters hing, aber er sprach nicht von ihr und irgendwann hatte Sanja aufgehört zu fragen. Ein klammes Gefühl legte sich um ihr Herz und presste es zusammen.

»Weiß er es?«, fragte sie mit erstickter Stimme und rang nach Atem.

Ihr Schatten antwortete nur zögernd. »Ich denke nicht, nein.«

Sanja nickte. Hätte er es gewusst, hätte er es ihr gesagt.

»Kanntest du sie?«, fragte sie flüsternd.

Ihr Schatten schüttelte den Kopf.

»Ich hatte einen Freund, der … Er hat mich gebeten …« Er wedelte mit der Hand vage zwischen ihnen beiden hin und her.

»Wo ist er?«, fragte Sanja. »Dein Freund.«

Er hatte ihre Mutter gekannt und er war ihre Chance auf Antworten. Ihr Schatten presste seine Lippen zusammen und senkte den Kopf.

»Er ist tot«, antwortete er so leise, dass Sanja ihn kaum verstand.