LIFE KILLS - Tons May - E-Book

LIFE KILLS E-Book

Tons May

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Finde den Tod, bevor er dich findet: Die Jagd nach einem Serienmörder führt die Ermittler Gray und Sophia nicht nur zur tot geglaubten Sekte Fiordia, sondern auch tief in ihre eigenen psychischen Verstrickungen. Dabei merken sie nach und nach, wie viel die Morde mit ihnen selbst zu tun haben. Und machen die schmerzhafte Erfahrung: Du kannst die Gegenwart so lange ignorieren, bis sie dich als Vergangenheit einholt.

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Seitenzahl: 410

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Tons May

LIFE KILLS

Bis dass der Tod dich scheidet

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

0: Der Traum

1: Tor und Teufel

2: Spuren

3: Kopflos

4: Der Sprung

5: Traumfrei

6: Narben

7: Zwölf

8: Der Unfall

9: Der Nachtmahr

10: Das Verhör

11: Verfolgt, verloren, vergessen

12: Die Unkunst

13: Haut & Knochen

14: Am Genfer See

15: Fluchtpunkt

16: Halbseidene Erinnerungen

17: Das geflügelte Auge

18: Nephthys’ Stimme aus dem legendären Off

19: Blutsbrüder

20: Noch mehr halbseidene Erinnerungen

21: Bain Marie

22: Das Geständnis

23: Durchschuss

24: Überlebt

25: Taxi zu Gott

26: Unheilbar

27: Tod und Mode

28: Heilige Hochzeit

29: Sophias Licht

30: Triptychon 1: Herrin des Hauses

31: Triptychon 2: Der Täufer

32: Triptychon 3: Der Schatten

33: Verkümmert

34: Apostel

35: Im Koma

36: Der König

37: Zur Geisterstunde

38: Schlangenkraft

39: Blutgeld

40: Die Einladung

41: Ausgefuchst

42: Dionysos Superstar

43: Schwere Herzen

44: Rosa

45: Der Befreier

46: Das Opfer

47: Himmelfahrt

Impressum neobooks

0: Der Traum

Gray kam zu mir, nicht umgekehrt, plötzlich stand er da, im Regen, mit hängenden Schultern, einem leeren Blick. Er hatte sich verlaufen, in meinem Traum.

Als ich ihn das nächste Mal traf, hatte er sich wieder verlaufen, aber diesmal war er richtig.

„Ich glaube, dass wir vom Tod nie Besitz ergreifen können.“

Federico Fellini

Als Gray aufwacht, sieht er das Gesicht des Jungen. Verzerrt an den Rändern, die Augen halbgeöffnet. Eine milchige Flüssigkeit tritt unter den Wimpern hervor, die Lippen sind verfärbt und schlaff. Gray sackt in sich zusammen, Muskel für Muskel gibt er sich auf. Er hört, wie das Telefon klingelt. Sophias Nummer. Wieder ein Mord. Wo bleibst du?

Er zieht die Decke über den Kopf und taucht zurück, in den Traum vor dem Traum. Zurück ins Licht.

TEIL I: NIGREDO

Der Abschied: Die Welt ist finster und verworren. Leises Kichern in den hinteren Rängen.

„Ich glaube, dass der Tod genauso wenig Besitz von mir ergreifen kann, wie ich von ihm, es geht nicht darum, ergriffen zu werden, es geht nur um das Staunen. Ich glaube, der Tod und ich, wir stehen uns gegenüber und bestaunen uns, Tag für Tag, mein Staunen kommt und geht wie der Atem, wenn der Atem nicht mehr kommt und geht, dann hat es sich ausgestaunt.“

Nephthys

1: Tor und Teufel

„Chicken or cheese?“

Hier oben, 10000 Meter über der Erde, über Häusern und Straßen, Wäldern, Seen und Feldern, überkommt es ihn. Er schüttelt sich. Strahlend weiße Wolkenfetzen nehmen ihm die Perspektive. Er ist so glücklich, er könnte heulen. Die Welt. So zart, so zerbrechlich. Hier oben kann er sie lieben. In Quadraten, Streifen und Ovalen liegt sie unter ihm, wellt sich bis an den Rand seiner Wahrnehmung. Er fliegt über den Abgrund und beobachtet die Falten und Risse seiner Wirklichkeit.

Hier oben ist die Schwerkraft eine andere: Sie zieht nicht in den Füßen, sie zieht in der Brust. Macht melancholisch, schwer in den Gliedern, leicht im Kopf. Hier oben gerinnt potenziell jeder Augenblick zu einer Vision. Er sieht sich durch die Luft tauchen, Wolken reiten, Regenbogen rutschen. Erhöhte Radioaktivität, Terrorparanoia, Thrombosegefahr, fades Essen – er nimmt es in Kauf.

Er liebt es zu fliegen. Er liefert sich gerne aus.

„Chicken, please.“ Er atmet schwer. Beginnt zu zittern. Mit nassem Gesicht dreht er sich zum Fenster, weg von seinem fettleibigen Nachbarn.

”Are you OK, sir?”

Er nickt ohne hochzusehen. Über den Wolken gleißt die Sonne mit einem harschen Licht. Die Luft funkelt blau, weiß, silbern. Am Horizont der dünne Streifen eines anderen Flugzeugs. Der Mann kneift die Augen zusammen. Das Licht blendet. Er wischt sich abwesend mit einer Hand über das Gesicht, schließt die Augen. Hier oben ist ihm alles klar. Nichts ist wichtig. Alles hat dieselbe Bedeutung. Er nickt. Sobald er unten ist, wird er sich wieder verlieren. Dort unten ist zu viel Welt, zu viel Verwirrung. Hier oben ist er allein; eingeschlossen in seinem engen Sitz, über seinem Abgrund, ist er ganz bei sich.

Bei der Landung merkt er, dass er nach Hause kommt. Er weint mit offenen Augen. Goldgräber oder Goldmacher? Bald wird er mehr wissen.

Die Ankunft am Flughafen nimmt ihm den gewohnten Schwung. Es regnet, ohne zu regnen. Die Passagiere bewegen sich langsam, schütteln den Unterdruck aus den Ohren, ziehen Koffer und Taschen hinter sich her. Er geht durch die Passkontrolle, ein Aktenkoffer in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Sein Jackett ist offen, die Krawatte gelockert. Er fühlt, wie der Schweiß ihm die Nase herunter läuft. Ein einzelner Tropfen, der sich mit der staubigen Mittagshitze vermischt. Er fühlt sich durchlässig unter den anderen Reisenden und unter den Einheimischen, die sich direkt hinter der Gepäckausgabe vermischen. Menschen, die ihn mit der oberflächlichen Neugier von erfahrenen Verkäufern mustern. Sie bieten alle etwas an: Zimmer, Taxis, Touren. Der Geschäftsmann geht an ihnen vorbei in die weiße Hitze vor dem Gebäude und winkt nach einem der Wagen, die sich vor dem Ausgang aufgereiht haben. Er kennt sich aus. Er steigt ein und zeigt der Fahrerin einen Zettel. Sie nickt und fährt los.

Von der Rückbank aus sieht die Gegend so fremd aus, wie er sie in Erinnerung hat. Sie fahren über eine halbe Stunde durch vorstädtische Gebiete. Die Häuser neben der Autobahn stehen eng zusammen, die Sonne spiegelt sich in den Fenstern. Attrappen, hinter denen Puppen sitzen und im Rhythmus der Autobahn zittern. Er hält sich an seiner Sonnenbrille fest.

Hinter der Brille: vibrierende Wimpern, flüchtige Blicke, halbe Konzentration. Jenseits der Brille: ein schneller, bunter Film voll von zitternden Plastiktüten, schimmerndem Metall, rennenden Kindern.

Sie passieren die Stadtgrenze. Eine halbe Stunde später erreichen sie den Äußeren Ring, die verarmten, schlecht durchbluteten Stadtteile, die sich um das Zentrum scharen. Die Fahrerin fährt jetzt schneller, „Don’t worry, Mister“, sie will keine Zeit verlieren. Er weiß, dass Übergriffe hier an der Tagesordnung sind. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Diese Gegend interessiert ihn. Er wirft schnelle Blicke aus den Augenwinkeln, sieht sie zwischen Häusern oder direkt im Licht stehen. Menschen, die alles, was sie verkaufen, an sich tragen. Dieser direkte, maximale Deal interessiert ihn. Keine Zwischentöne, keine virtuelle Bezahlung, keine Sicherheiten. Jetzt, hier, simpel und roh.

Sie überqueren die Grenze in die Innenstadt, vorbei an langen Schlangen von Wartenden, und rutschen durch eine unsichtbare Membran. Schlagartig verändert sich das Bild. Klare Strukturen. Weiches Licht. Zielstrebige Passanten. Gepflegt, urban, zivilisiert. Er entspannt sich.

Der Wagen hält an der Adresse, die er der Fahrerin gegeben hat. Als er aussteigt, kommt ihm eine Frau mit Dutzenden von Koffern, Trägern und Hunden entgegen. Ihre Haut glänzt, ihr Haar leuchtet in der Sonne. Er sieht ihr hinterher, als sie in einen Wagen steigt. Ihr Po schimmert unter dem weichen Stoff. Er geht in das Hotel und checkt ein. Sein Zimmer ist sauber und trist. Er nimmt eine Dusche, zieht sich um und ruft ein Taxi.

Die Fahrt geht in den Äußeren Ring, in die Klinka, die „Schöne Straße“. Es ist dunkel geworden und er zieht die Sonnenbrille ab, um die Gesichter besser zu erkennen. Er findet nicht, wonach er sucht. Er sieht die Gier nicht, den hungrigen Blick, der ihn alles kosten kann. Er lässt sich wieder zurück fahren. Dann wird er eben den Vertrag zuerst überarbeiten und danach entspannen. Er hat noch Zeit, doch er kann seine Ungeduld kaum im Zaum halten. Die Stunden brennen mit Möglichkeiten. Bald ist es soweit: Er wird wissen, was er will. Und wie er es bekommen kann.

In der Lobby angekommen, greift er nach dem Schlüssel, der wie von selbst in seine Hand gleitet. Alles läuft wie am Schnürchen. Er ist im Flow. Beschwingt geht er zum Lift und steigt ein. Der Liftboy nickt ihm zu. Er schaut weg.

Im ersten Stock steigt ein älteres Ehepaar ein und wieder aus. Ignoriert. Im zweiten Stock steigt ein Zimmermädchen zu. Ignoriert. Als der Fahrstuhl im dritten Stock Halt macht, blickt er irritiert nach oben. Und kommt aus dem Takt. Auf einmal bleibt der Flow stehen, gefriert um seine Knöchel, hält ihn fest. Die Erektion in seiner Hose beginnt zu schmerzen.

Vor ihm steht ein dünner Junge mit Sonnenbrille. Er kann sich in den verspiegelten Gläsern sehen. Sein Mund wird trocken, er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, sein rechtes Auge zuckt nervös. Er wünscht sich, seine Brille aufgezogen zu haben. Jetzt ist es zu spät. Er ist ausgeliefert.

Der Junge blickt geradeaus, direkt in sein Gesicht, ein Bein angezogen, das Becken nach vorne geschoben. Der Geschäftsmann schluckt hörbar. Er ist sich sicher: Der Junge verkauft sich. Was für ein Glück. Und wie so oft hat es ihn gefunden. Sein Blick gleitet nach unten, bleibt hängen. Nimmt der Junge ihn wahr? Schwarze, zerzauste Haare, dunkle Haut. Das Gesicht hinter der Brille ausdruckslos. Perfekt. Der Stricher zündet sich eine Zigarette an. Der Liftboy protestiert. Der Junge zieht ungerührt an seiner Zigarette. Der Geschäftsmann ist nervös, noch drei Stockwerke, und er muss aussteigen, wenn er nicht sein Gesicht verlieren will. Er ist verliebt. So verliebt, wie man es kurz vor Abschluss eines Deals nur sein kann. Verliebt in seine eigene Kraft.

Mit einem Druck in der Brust verlässt er den Fahrstuhl. Er will nicht verlieren, aber er will auch nicht zu hoch pokern. Scheinbar locker geht er den Gang entlang, seine Schritte bewusst langsamer als sein rasendes Herz, und sucht mit verschwitzten Fingern nach dem Schlüssel. Findet ihn, findet die Nummer, die Tür, das Schlüsselloch, die Bewegung. Öffnet die Tür und dreht sich um.

Der Junge steht vor ihm. Er ist ihm gefolgt. Der Mann atmet aus, macht einen Schritt zurück und lässt ihn ins Zimmer gehen. Dann schließt er hinter sich ab. Der Junge bleibt vor dem Fenster stehen und nimmt die Sonnenbrille ab. Er schaut hinaus, in den Verkehr hinunter. Der Geschäftsmann umarmt ihn von hinten, fühlt das Haar, riecht den Hals, sieht einen kurzen Moment in helle Augen, bis er den Speichel schmeckt. Er ist zurückgekehrt. Orpheus ist zurück. Er hat keine Angst.

2: Spuren

Vielleicht bilde ich es mir ein, aber in letzter Zeit fühlen sich die Lungen so voll und feucht an, jeder Atemzug eine schwere Tür aus dunklem Holz, die sich nur knarzend öffnen lässt. Ich träume von Gray, er steht vor dem Fenster und schaut nach draußen, in die milchige Helligkeit jenseits der Scheibe, er bewegt sich nicht. Ich wache auf und frage mich, atme ich noch?

Bevor er um die Ecke biegt, riecht er es schon: Blut. Es ist überall. Auf den Wänden, Tischen, Stühlen, Fenstersimsen. Auf dem Teppich. Im Waschbecken. In der Toilette. In der Dusche. An der Decke sogar, und auf den Türrahmen. An den Klinken. Auf dem Bett. Literweise. Blut, soweit das Auge reicht. Rot. Braun. Schwarz. Versickert, angetrocknet, verkrustet. Gray schließt die Augen und atmet durch den Mund.

Die Spurensicherung ist schon da. Köpfe werden zusammengesteckt und nach unten gebeugt. Finger zeigen in die Luft, ziehen Linien von Kante zu Kante, zeichnen Kreise in den Raum. Ein Fingerballett in Einmalhandschuhen. Gray sieht sich um. Am liebsten würde er jetzt eine rauchen. Er bildet sich ein, dass die Luft nach Eisen schmeckt. Er sucht nach einem Kaugummi.

Die Verhöre haben begonnen. Niemand vor Ort kennt das Opfer. Der Mann kam einige Stunden zuvor an, verließ das Hotel kurz, und kam wieder zurück. Niemand hat etwas gehört, niemandem ist etwas aufgefallen. Gray spricht mit dem Mann, der den Lift bedient. Liftboy, sagt man das überhaupt noch? Der Liftboy hat einen potenziell Verdächtigen eventuell gesehen. Genau erinnert er sich nicht. Aber da war jemand, der im Lift verbotenerweise geraucht hatte. Er beschreibt einen jungen Mann, dunkle Hautfarbe, schwarzes Haar. Mittelgroß, schlank. Wie er angezogen war, weiß er nicht mehr, aber der potenziell Verdächtige hatte eine verspiegelte Sonnenbrille auf. Er erinnert sich nicht mehr, ob er gemeinsam mit dem Opfer den Lift verlassen hat. Ob die beiden überhaupt zur selben Zeit im Lift waren. Gray reibt sich die Augen und nickt. Das mit der Zigarette macht ihn nervös.

Das elfte Opfer. Der Chef ruft an. Gray fühlt sich krank. Fox redet leise und langsam. Ein schlechtes Zeichen. Gray verspricht, nach der Spurensicherung mit den „neuesten Erkenntnissen“ ins Büro zu kommen. Er faltet das Fax mit dem Bild des Toten zusammen und geht den Gang zurück zum Hotelzimmer. Wie bei den Morden zuvor wimmelt es von Indizien. Botschaften aus Blutspritzern und Hautgewebe. Speichel und Sperma, Haare und Hautschuppen. Sorgfältig gesetzte Schnitte, symmetrisch arrangiert. Die Spuren erzählen eine Geschichte, die Gray nicht versteht. Er hat das Gefühl, der Mörder inszeniert seine Taten für ihn, für ihn allein, und er begreift die Botschaft nicht. Die Mordserie geht weiter, ohne dass er auch nur ansatzweise versteht, worum es geht. Gray schüttelt den Kopf. Ein Alptraum. So viele Spuren, doch etwas fehlt. Das Motiv.

Als er ins Zimmer zurückkommt, steht Sophia vor dem Bett. Seine Lieblingskollegin. Seine Geheimwaffe. Sie versucht mit zusammengekniffenen Augen das blutige Graffiti an der Wand zu entziffern. „ACCP … HOMIAEMTO … UM ET ... RAMESUPER …D… DONEC CORPUS … MORIA … TUU ... Kannst du das lesen?“

„Klingt lateinisch.“

„Die Idee hatte ich auch schon. Aber ich kann es nicht entziffern. Verdammte Sauklaue.“

„Frag doch Warren. Der übersetzt dir das sofort.“

Sophia verzieht den Mund. „Warren ist krank.“

Kollege Warren krank? Kein gutes Zeichen. „Der hat auch keine Lust mehr.“

Sophia zuckt mit den Schultern und dreht sich um. Gray weiß, wie frustriert sie ist. Der elfte Mord und noch immer keine richtige Spur. Ein junger Beamter kommt auf sie zu, in der Hand ein Stück Papier.

„Das ist alles, was wir entziffern konnten.“

Als Gray den Kollegen ignoriert, greift Sophia nach dem Zettel.

„Das letzte Wort sieht aus wie FIORDIA.“ Sie seufzt. „Fox wird sich freuen.“

Sie nickt dem Beamten zu. „Danke. Um den Rest kümmere ich mich. Jack, bist du soweit?“

Gray zuckt zusammen. „Was?“

„Hast du dir alles angesehen?“ Sie zeigt auf das Bett. Auch dieses Mal wurde das Opfer zerlegt. Das Blut ist bis auf den Teppich gesickert und hat sich dort in braunen, faserigen Flecken gesammelt. Gray greift nach der Plane, die den Toten bedeckt, und wagt einen Blick. Die Körperteile wurden wieder zusammengelegt. Bis auf den linken Oberschenkel, der falsch herum zwischen Oberkörper und Schienbein liegt. Im Labor werden sie ihn auf Bissspuren untersuchen und mit den Gebissabdrücken auf den anderen Schenkeln vergleichen. Dasselbe Konzept. Dieselben Details. Auch die silberne Kette um den Hals ist identisch mit der seiner letzten beiden Vorgänger. Doch diesmal klebt ein kleiner Anhänger am Hals. Gray sieht genauer hin, bis er ein Auge erkennen kann. Ein geflügeltes Auge. Sein Blick wandert nach oben. Wo hat er dieses Auge schon mal gesehen? Er sieht, wie Sophia sich auf die Lippe beißt und wegschaut. Er weiß, warum: Unter dem getrockneten Blut kann er erkennen, dass der Mann – wie alle anderen vor ihm – lächelt. Gray schüttelt sich und lässt die Plane fallen. „Lass uns was essen gehen.“

Am liebsten würde Gray diesen Fall abgeben. Die verstörten Blicke der Zimmermädchen, die zerstörten Hotelzimmer, die zerlegten Körper, die lächelnden toten Gesichter, die frustrierenden Reportings und Teammeetings beim Chef – er würde liebend gerne darauf verzichten. Sophia und er verlassen das Hotelzimmer und gehen den Gang zum Lift hinunter.

Wie nach jedem neuen Fund murmelt Gray sein Mantra gegen den Alptraum, in dem sie seit Monaten feststecken. „Hier stimmt was nicht. Wenn du mich fragst, das stinkt gewaltig …“

Wie immer schweigt Sophia an dieser Stelle. Auch wenn sie Grays Paranoia nicht teilt, kann sie ihm hier nicht widersprechen. Seit über einem halben Jahr treten sie auf der Stelle. Und heute das elfte Opfer. Eine Leiche noch, und das Dutzend ist voll. Und was dann? Sie blickt kurz zu Gray, der in seinem Klagelied herumstolpert, und überlegt sich, ob sie etwas beisteuern soll. Sie bleibt stumm. Sie hat alles gesagt, was sie zu sagen hat.

Als der Lift kommt, fällt ihr Blick noch einmal auf die offene Tür, die Rolle Absperrband auf dem Boden. Sie sieht, wie ein Lichtkegel in den Flur fällt, auf eine kleine Putzstation, die einsatzbereit vor der Tür steht. Bald wird die Putzkolonne sich des Zimmers annehmen, es grob von den Spuren des Mordes befreien, damit es renoviert werden kann. Die nächsten Wochen wird der Raum geschlossen bleiben. Geister und Gerüche werden verschwinden. Das Hotelmanagement hofft, vergebens natürlich, dass nichts von dem Vorfall an die Öffentlichkeit dringen wird. Das Hotelpersonal wird eine Prämie bekommen. Schweigegeld. Die Putzkolonne wird den Raum säubern. Systematisch, Zentimeter für Zentimeter. Danach werden die schlechten Träume kommen, die Lügen und Legenden.

Sophia lässt den Blick nach unten gleiten. Stand der Täter hier? Nahm er den Lift und stand genau hier, wo sie jetzt steht, am selben Ort? Sie haben außerhalb der Hotelzimmer noch nie Blutspuren gefunden. Sie haben keine wirklich brauchbaren Zeugenaussagen. Kaum jemand hat je etwas gehört oder gesehen. Den wenigen Verdächtigen, die sie bis jetzt verhört haben, konnte nichts nachgewiesen werden. Die Täterbeschreibung ist einfach immer zu vage. Hier stimmt etwas nicht. Gray hat Recht. Als sich der Lift öffnet, treten die beiden schweigend ein, verschränken synchron die Arme. Der Liftboy nickt ihnen zu, bevor er schnell wieder weg sieht. Die Polizei: Überall gern gesehen, wo man selbst gerade nicht ist.

Der Mann im Anzug sitzt auf einer Couch. Neben ihm eine Frau mit durchgeschnittenem Hals. Sein Blick ist ausdruckslos, seine Knochenstruktur perfekt. Gray fixiert ihn, bis er den Kopf nicht mehr weiter verrenken kann. Der Wagen rollt im Schritttempo über die Kreuzung. Stau. Gray schüttelt den Kopf. Die hiesige Werbung wird er nie verstehen. Mord verkauft Anzüge. Er sieht zu Sophia und überlegt sich einen Moment lang, ob er das Plakat kommentieren soll, lässt es dann aber bleiben. Sie hat schon immer hier gelebt. Diese Werbung, diese Mentalität, ist für sie Alltag. Gray hingegen ist erst vor sechs Jahren in die Stadt gekommen. Eine Frau, ein Versprechen, ein gebrochenes Versprechen. Sie ging. Er blieb. Die Stadt und ihre Bewohner sind für ihn noch immer ein Rätsel. Er denkt, er lernt sie kennen, er versteht sie, er weiß, wie sie funktionieren. Und plötzlich sind sie verschwunden. Das passiert ihm nicht nur bei Frauen. Nicht nur bei Kollegen oder Verdächtigen. Das passiert ihm im Supermarkt, an der Tankstelle, am Kiosk an der Ecke. Er lebt hier, einer unter vielen, und bleibt einer unter vielen, ohne jemals hinter eine einzige Fassade geblickt zu haben. Ohne in dieser Stadt eine Spur zu hinterlassen. Unsichtbar, hilflos, daneben.

Er flucht leise. Der Stau nimmt kein Ende. Zwischen den Autos stehen Bettler mit Kindern, Tieren oder Ausschlag auf den Armen und klopfen an die Fenster. Gray sieht nach unten auf seine Hände. So viel Armut hat er, bevor er hierher kam, nie gesehen. Weder an den Orten, wo er Urlaub machte, noch dort, wo er aufwuchs. Bei so viel Armut muss er sich selbst anschauen, um sich nicht zu verlieren. Wo hört das Elend der anderen auf, wo fängt seines an? Die Stadt zerrt an ihm. Hier fühlt er sich transparent, fürchtet, dass jeder sehen kann, wo er sein Geld versteckt. Schlechtes Gewissen umgibt ihn wie eine Wolke. Er schließt die Augen.

Plötzlich bemerkt er, dass Sophia mit ihm redet. Langsam öffnet er die Augen und dreht den Kopf in ihre Richtung. Leicht nach vorne gebeugt umklammert sie das Lenkrad, als müsse sie sich daran festhalten. Die Zigarette in ihrer Hand glimmt vergessen vor sich hin. Einen Moment lang will er ihr über die Hand fahren, den Druck nehmen, doch er lässt es bleiben.

„Wasil, der Sektenexperte, mit dem ich gestern gesprochen habe, hat unsere bisherigen Informationen bestätigt. Fiordia ist vor mindestens fünf Jahren von der Bildfläche verschwunden. Angeblich haben sich die Gründer umgebracht. Das Ganze war auf den Äußeren Ring beschränkt.“

„Was wissen wir über diese Leute?“

„Nicht viel. Er kannte auch keinen, der tatsächlich dabei war. Falls sich welche von ihnen nicht umgebracht haben, sind sie untergetaucht.“

„Das bringt uns nicht weiter.“

Sophia nickt. „Stimmt. Das Gespräch war nicht sonderlich ergiebig. Aber im Prinzip ist es auch egal. Ich bin noch immer der Meinung, dass es hier nicht um Fiordia geht. Der Mörder legt eine falsche Fährte. Hast du dir den letzten Autopsie-Bericht noch mal angesehen?“

Gray verneint. Er hat plötzlich Halsschmerzen. „Ich muss was trinken.“

Sophia umgreift das Lenkrad mit weißen Knöcheln. Sie verzieht den Mund. Gray schaut aus dem Fenster. Er fühlt sich elend. Aus den Augenwinkeln bemerkt er, wie sie mit einer fahrigen Bewegung die Zigarette ausdrückt und ihm einen Blick zuwirft. Er starrt aus dem Fenster, und sieht eine Frau, die ihm bekannt vorkommt. Sie geht mit schnellen Schritten auf dem Gehweg neben ihnen, ihr langes Haar wie eine Fahne im Wind.

„Kannst du mich mal kurz rauslassen?“

„Jack, warte mal …“

Gray hört ihre letzten Worte nicht mehr. Er rennt der Frau hinterher, stößt sich an Autos, flucht, wird angehupt. Schließlich hat er sie erreicht und tippt ihr auf die Schulter. Was für eine Überraschung, dich hier zu treffen. Ich dachte, du rufst mal zurück. Irgendwann hat die Nummer nicht mehr gestimmt … Er beißt sich auf die Zunge, als sie sich umdreht.

Natürlich kennt er sie nicht. Mit offenem Mund lässt er die Hand fallen, versucht sich zu entschuldigen, doch in der Aufregung fallen ihm die passenden Begriffe nicht mehr ein. Er fängt an zu stammeln, unterstreicht seine Worte mit flatternden Handbewegungen, bricht mitten im Satz ab. Sie sieht ihn irritiert an, macht eine abwehrende Bewegung und dreht sich um. Verwirrt sieht er ihr hinterher, ihrem schaukelnden Becken, dem langen Haar. Er wird die Menschen hier nie verstehen. Als er wieder im Auto sitzt, fühlt er sich völlig erschöpft. Er wirft einen schnellen Blick zu Sophia, die ihn entgeistert ansieht. Bevor sie etwas sagen kann, fragt er sie, „Kommst du noch mit?“

„Wohin?“

„Ich habe noch ein paar Filme da. Wir könnten was essen. Oder reden. Oder. Na ja.“

„Danke, aber … ich kann nicht.“ Sie fährt wieder los. „Soll ich dich nach Hause bringen?“

Gray lässt sich am Kiosk absetzen. Ab wann lief eigentlich alles schief?

Fiordia, du schöne Blume am Abgrund, derjenige, der dich pflücken will, muss neugierig sein, und mutig. Wenn das Tor geöffnet ist, gibt es kein Zurück.

Zu Hause in der dunklen Wohnung. Die Halsschmerzen sind nach dem letzten Bier besser. Gray schließt die Augen. Er fühlt sich ausgebrannt. Er langweilt sich. Er macht den Fernseher an und schiebt die Hand in die Hose. Als er die Augen wieder aufmacht, sieht er, wie Sonne durch die Jalousien dringt. Der Nacken tut ihm höllisch weh, und er muss den ganzen Oberkörper drehen, um zu sehen, wie viel Uhr es ist. Viertel nach sechs. Er hat einen abgestandenen Geschmack im Mund. Und Halsschmerzen. Langsam kommt er nach oben und schlurft ins Bett.

Er kann nicht mehr einschlafen. Er muss an Sophia denken. Wie sie jeden Morgen gereizter wirkt, Tag um Tag angespannter. Er weiß, dass sie genervt ist. Von ihm. Vom Job. Von ihrem ganzen Leben. Doch darüber würde sie nie sprechen. Nicht mit ihm. Nicht nach dem, was passiert ist. Gray dreht sich auf die andere Seite. Ohne, dass er es will, fährt ihm ein Bild durch den Kopf: Cameron, wie er unvermittelt anfängt zu lachen. Mitten im Gespräch, einfach so. Als ob ihm plötzlich etwas Lustiges einfallen würde. Ein Witz aus dem Nichts. Gray schließt die Augen und lauscht auf den frühmorgendlichen Straßenverkehr. Zwischen den Mülllastern und ausparkenden Autos hört er Camerons kehliges Lachen, sieht, wie er den Kopf nach hinten wirft und in den Himmel grinst, einfach so. Kurz bevor der Wecker piept, schläft er ein.

Zwei Tage später sitzen sie wieder im Auto. Gray trinkt ein kleines Bier, Sophia hält sich an ihrer Zigarette fest. Sie rollen langsam die Straße hinunter, vorbei an den Frauen und Männern, die auf der Klinka arbeiten. Gaslampen verbreiten ein grünliches Licht. Dazwischen dunkle Inseln, die jede Bewegung verschlucken. Sophia fährt den Wagen bis vor das große, hell erleuchtete Café am Ende der Straße. Sie werfen einen Blick durch die Fensterfront. Männer in zu engen Hosen. Frauen, die nah beieinander sitzen und Tabak aus ihren Ausschnitten schnippen. Jugendliche, die mit fiebrigen Augen die Runde von Tisch zu Tisch machen.

Gray dreht sich um. „Er ist nicht da.“

„Hm.“

„Was jetzt?“

Sophia startet den Wagen und wendet. Cameron könnte überall sein. Hier war er früher oft gewesen. Hier war einmal sein Territorium, doch die Zeiten ändern sich. Sophia fühlt sich unwohl hier. Sie lässt den Wagen langsam die Straße zurück rollen. Sie sehen sich die Gesichter an, weiße Flecken im Scheinwerferlicht. Niemand, der ihnen bekannt vorkommt.

„Wahrscheinlich schlitzt er gerade einem Touristen den Bauch auf.“

Gray verschluckt sich an seinem Bier und fängt an zu husten. Sophia macht selten Witze, aber manchmal erwischt sie ihn eiskalt. Cameron ist kein Killer. Auch wenn die Zeugenbeschreibungen auf ihn passen würden, verdächtigen sie ihn nicht. Doch wer ist der Typ, der immer wieder an den Tatorten gesichtet wurde? Ein mittelgroßer, dunkelhaariger, dunkelhäutiger Mann zwischen 20 und 35. Die Beschreibung passt auf Hunderte hier auf der Klinka. Cameron könnte ihn kennen. Deshalb suchen sie ihn.

Was Sophia nicht ahnt: Gray weiß, dass Cameron die Morde nicht begangen hat. Denn er kennt ihn besser, als er zugibt. Was Gray nicht ahnt: Sophia weiß, dass Cameron die Morde nicht begehen konnte. Denn sie kennt ihn noch besser. Beide hängen ihren Gedanken nach und sehen nicht mehr, wie Cameron aus dem Café kommt und seine Hände abtrocknet. Er sieht in die Dunkelheit und wirft das Papiertuch auf den Boden. Dann winkt er ein paar Leuten auf der anderen Straßenseite zu und steigt in eine schwarze Limousine, die vor dem Café auf ihn wartet.

AM SEE:

Ihre Geschichte endet dort, wo seine ihren Ausgang nimmt. Als sie im Tal ankamen, hörte es auf zu regnen. Die Wolken rissen auf und einige dünne Strahlen fielen im Fächer auf die kleine Stadt. Sie zog ihre Kapuze ab und legte den Kopf in den Nacken. Feuchte Luft und die ersten Sonnenstrahlen seit einer Woche. Sie sah ihn an, unverhohlen: In seinen Augen leuchteten kleine Regenbogen, als er fiel.

3: Kopflos

Der erste Mord. Ein Einzelfall. Das dachten sie damals. Ein Monolith, der aus dem Alltag herausragte. Aus dem Sumpf tödlicher Eifersucht, Gier und Dummheit, mit dem sie es normalerweise zu tun haben. Der Mord, der ein neues Kapitel ankündigen sollte. Damals ahnten sie noch nichts, aber: Ab hier griffen die bewährten Methoden nicht mehr. Ab hier gab es kein Zurück mehr. Sie steckten fest.

Es fing harmlos an: Gray und Weinstein fuhren ins Büro. Gray am Steuer, Weinstein am Telefon. Der ältere Kollege, kurz vor der Pensionierung und seit Jahren auf Psychopharmaka, nickte und grunzte alle paar Sekunden. Dann legte er auf und atmete tief ein.

„Mord im Arcadia. Wir müssen.“

„Müssen was?“

Weinstein verdrehte die Augen. Gray wendete an der nächsten Kreuzung und fuhr zurück in die Innenstadt. Mord im Arcadia. Das klang nach Überstunden. Sie fuhren über den Lastenaufzug in den dreizehnten Stock und gingen durch dicke Teppiche den Flur entlang. Zimmer 1309. Gray nickte seinen Kollegen zu und trat ein. Vor dem Bett blieb er stehen. Auf einmal hatte er stechende Kopfschmerzen. Er fasste sich an die Schläfe und sah zu Weinstein. Der Kollege warf einen Blick auf das blutüberströmte Bett und drehte sich wortlos um. Am nächsten Tag meldete er sich krank. Eine Woche später war er frei gestellt.

Unter normalen Umständen hätte Gray ihn aufgehalten. Unter normalen Umständen wäre alles anders gelaufen. Doch als Gray in dem Zimmer stand und auf das Bett starrte, auf den kopflosen Körper und das Blut, das auf den Teppich getropft und an die Wände gespritzt war, als Gray das alles sah, konnte er sich nicht mehr umdrehen. Er hatte schon viel gesehen. Er war schon an Tatorten gewesen, die dem Gemetzel hier in nichts nachstanden. Doch die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Und er hatte eine böse Vorahnung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er sah, was er sah, und er hatte das Gefühl, dass das nicht alles war.

Ein Kollege von der Spurensicherung zeigte auf das Badezimmer und Gray drehte langsam den Kopf. Durch die geöffnete Tür sah er das Waschbecken. Im Waschbecken sah er den Kopf. Er atmete tief ein. Er wartete. Er wusste nicht genau, auf was. Dass Weinstein wieder zurückkommen würde. Dass ein anderer Kollege ihn ablösen würde. Ein junger, motivierter Beamter, der mit der Spurensicherung auf dem Boden herumkriechen und nach Stoffresten suchen würde. Jack, geh nach Hause. Wir übernehmen das hier.

Er bewegte sich erst wieder, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Sophia. Seine Sophia. Sein Schrecken, sein Segen. Seine neue Partnerin, wie sich herausstellte. Ersatz für Weinstein und Verbündete in einem aussichtslosen Kampf in den folgenden Monaten. Aber das wusste er damals noch nicht. Denn der erste Mord ist immer ein Einzelfall. So lange, bis ihn der zweite zu einer Serie macht.

Sophia begrüßte ihn mit einem kurzen Nicken, sah sich um und ging ins Badezimmer. Gray folgte ihr mit gesenktem Blick. Die weißen Kacheln schimmerten bräunlich im gelben Licht. Haare klebten am Waschbeckenrand. Gray zwang sich, den Kopf anzusehen. Sophia zog sich Handschuhe über und fasste ins Becken. Vorsichtig drehte sie das Gesicht nach oben. Gray zuckte zusammen. Das Gesicht war gereinigt worden. Der Kopf in Sophias Händen lächelte.

Fiordia, meine Liebe, meine Lust. Zuerst fühlt es sich einfach an, dann wird es kompliziert, und dann wirst du kompliziert und es funktioniert nicht mehr.

Die nächsten Tage verbrachten Gray und Sophia damit, Informationen zu sammeln und das berüchtigte Netz zu knüpfen. Das feinmaschige, unsichtbare Netz, in das sie den Täter locken wollten. Sein Profil. Doch es taten sich immer wieder Löcher auf. Blinde Stellen, Sackgassen, frisch geknüpfte Fäden lösten sich zwischen ihren Fingern auf. Sie wussten nur soviel: Der Tote war ein britischer Tourist. Er war am Tag vorher eingereist und eingecheckt. Über seine Reisepläne war nichts Genaues bekannt. Auch der Tatort gab ihnen Rätsel auf: Es gab weder Finger- noch Fußabdrücke. Die Autopsie ergab, dass der Mann kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Man fand Spuren eines latexfreien Kondoms. Jedoch keine anderen Körperflüssigkeiten als seine eigenen. In seinem Blut wurden Reste eines starken Schlafmittels festgestellt. Der Gerichtsmediziner war nicht der Meinung, dass der Mann „friedlich lächelte“. Gray und Sophia schon und Fox verschüttete beim Diskutieren seinen Kaffee. Die Ermittlungen kamen nicht voran.

Der nächste Mord sechs Wochen später versetzte das gesamte Präsidium in Alarmbereitschaft. Die Ähnlichkeiten zum Arcadia-Fall waren frappierend: Wieder hatte es einen Touristen erwischt, Reisegrund unbekannt. Diesmal war der abgetrennte Kopf des Mannes zurück an den Hals gelegt worden. Auch „Schwanenhals“ lächelte. Und der Autopsiebefund stimmte weitgehend mit dem des letzten Mordes überein. Der Innenminister schaltete sich ein. Das Team wurde aufgestockt. Verbissen knüpften sie weiter am Netz.

Drei Monate vergingen, ohne dass sie in den Ermittlungen weiter kamen. Sie ließen die großen Hotels der Stadt bewachen. Verhörten Hotelpersonal. Erstellten Phantombilder von potenziell Verdächtigen. Entwickelten Täterprofile und verwarfen sie wieder. Sie forschten in der Satanistenszene, trafen sich mit Beamten, die verdeckt in radikalen politischen Gruppen aktiv waren. Wälzten Dossiers über Sexualdelikte, Perversionen, Geisteskrankheiten. Dann ging alles ganz schnell: Die nächsten drei Morde geschahen innerhalb einer Woche. Sie unterschieden sich darin, dass die Männer, ausnahmslos Touristen oder Geschäftsreisende von außerhalb, nicht nur geköpft, sondern in mehrere Stücke zerteilt wurden. Allen gemeinsam war das mysteriöse Lächeln.

Ab dem vierten Mord tauchten blutige Schmierereien an den Wänden auf. Kryptologen entzifferten, widersprachen sich, stellten Theorien auf, verwarfen diese wieder. Gray und Sophia verbrachten Tage in Archiven und verglichen Bilder von Serien- und Ritualmorden auf der ganzen Welt. Es gab Parallelen. Fälle, die Ähnlichkeiten aufwiesen. Fälle, die aufgedeckt und Fälle, die nie gelöst wurden. Serien, die Serien nach sich zogen. Spontantäter und Täter, die alles bis ins kleinste Detail planten. Von einem Motiv in ihrem eigenen Fall jedoch keine Spur.

Ab dem dritten Mord gab es Hinweise auf einen Verdächtigen. Ein junger, dunkelhaariger Mann wurde an den Tatorten gesichtet. Nach dem fünften Mord nahmen sie einen Hotelangestellten fest, der kurz davor in einem der anderen Hotels gearbeitet hatte. Nach Mord sechs ließen sie ihn frei.

Ab dem siebten Mord fanden sie endlich die ersehnte Fremd-DNA: Der abgetrennte linke Schenkel wies Bissspuren auf. Sie begannen, Bluttests bei Verdächtigen zu machen. Ohne Erfolg. Der Täter spielte mit ihnen. Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, mitspielen. Nach dem achten Mord gelangte eine Information zu viel an die Öffentlichkeit und Gray musste auf einer Pressekonferenz erscheinen. Fox zog ihn von den Kameras weg. Der Pressesprecher der Polizei behielt die delikaten Umstände für sich, gab aber zu, dass es in den letzten Monaten zu einer Reihe von Übergriffen auf Touristen gekommen sei. Es bestünde jedoch kein Grund zur Sorge.

Was Gray zunächst verdrängte und später bewusst verschwieg, war, dass ihn das Phantombild an jemanden erinnerte. Als Sophia schließlich unbedingt mit einem ehemaligen Informanten reden wollte, wusste Gray sofort, wen sie meinte. Ohne, dass sie es vor einander zugaben, schwebte Cameron im Raum. Ein vages, unangenehmes Gefühl machte sich bei Gray breit. Zwei Tage später, unmittelbar nach dem neunten Mord und dem ersten entzifferbaren Fiordia-Graffiti am Tatort, nahm er sich ein Herz und klickte das Phantombild an, als Sophia neben ihm saß. „Willst du mit Cameron sprechen?“

Sie biss auf ihren Kugelschreiber. „Was meinst du?“

„Ich kenne ihn. Ich meine, von früher.“

„Ich weiß.“

„Er hat damit nichts zu tun. Da bin ich mir ganz sicher.“

Sie sah ihn an. „Ja? Nachfragen schadet nichts.“

4: Der Sprung

Der Mann, massiv, aber wendig, fährt mit einer ausladenden Geste über den Schreibtisch. Tassen klirren, Stifte rollen, Papiere flattern. Fox ist gereizt. Seine Ungeduld hängt wie kalter Nebel zwischen ihm und Gray und Sophia, die schweigend vor ihm sitzen. Gray blickt auf den Boden. Dann zu Sophia. Dann wieder auf den Boden. Jede falsche Bewegung kann unangenehme Folgen haben. Er hat in diesem Raum schon zu viele Dinge fliegen sehen, um dieses Risiko einzugehen.

Fox lockert seine Krawatte. Die Fakten sind beunruhigend. Sein Gesicht ist rot. Elf Morde nach demselben Muster. Fox atmet tief aus. Elf Touristen und Geschäftsreisende wurden in ihren Hotelzimmern abgeschlachtet, neun davon in mehrere Teile zerlegt. Er atmet tief ein. Das Gemetzel, die Verwüstung der Zimmer von Tat zu Tat schlimmer. Er zählt innerlich bis fünf und atmet wieder aus. Und jetzt noch Fiordia. Er kratzt sich am Hals und zählt weiter.

Sophia räuspert sich. „Jack und ich sind der Meinung, dass …“

„Ja?“ (Eins, zwei, drei, vier, fünf)

„Also, wir denken, dass der Mörder, oder die Mörder, es könnten ja auch mehrere sein …“ (neun, zehn, elf, zwölf), „dass der Mörder uns auf eine falsche Fährte locken will. Die Zeichen sind zu gewollt, zu …“ Sie wirft Gray einen Hilfe suchenden Blick zu. Er sitzt zusammengesunken neben ihr, seine Augen halbgeschlossen.

„Zu offensichtlich. Die Hieroglyphen, die Graffitis …“

„Offensichtlich? Was meinst du mit offensichtlich? Wissen wir, was sie bedeuten? (siebenundzwanzig, achtundzwanzig, achtund …, verdammt …)“

„Noch nicht. Aber ...“

Fox atmet tief aus. Das Zählen wird ihm zur Qual. Er rutscht nach vorne. Seine Hand greift zur Wasserflasche. Plastik. Gut. Scherben wurden ihm verboten. Er atmet tief ein. „Was aber?“

„Wir glauben, das bedeutet nichts. Der Täter erwähnt Fiordia nur, um uns zu verwirren.“

„Wieso können wir eine Verwicklung der Fiordia-Sekte völlig ausschließen? Habt ihr dafür Beweise? Und was bedeuten diese ganzen Graffitis überhaupt? Leute, wie wäre es, wenn ihr noch mal die Kryptologen einschalten würdet? Nur so ein Tipp von mir.“ Er lässt sich zurück in den Stuhl fallen und drückt die Flasche an die Brust. Jetzt nicht komplett die Nerven verlieren. Nur ein bisschen. Er sieht, wie Sophia den Mund verzieht. Wie er diese Trotzigkeit hasst.

Sophia beißt sich auf die Lippe: Sie glaubt nicht an eine Fiordia-Verschwörung. Fox starrt seine beiden Ermittler an. Gray versinkt tiefer im Stuhl. Fox’ Stimme wird leiser. „Was soll das sein, Jack? Sekundenschlaf?“

Sophia schubst ihren Kollegen an. Als Gray nicht reagiert, nimmt sie einen tiefen Atemzug. „Noch was. Die Indizien häufen sich immer mehr und wirken so ... arrangiert. So, als würde der Täter einer bestimmten Dramaturgie folgen. Wir wissen nicht, wohin uns das noch führen wird, aber ich denke, der nächste Mord ist schon geplant.“

Fox zieht eine Grimasse, die Flasche zittert. Er flüstert, immer noch kontrolliert. „Umso wichtiger, dass wir endlich Fortschritte machen. Dass ihr endlich vorankommt. Jack? Folgst du mir? Bist du noch da? Hallo?“

Dann geht alles ganz schnell. Gray wird sich später nicht mehr genau erinnern können, ob er zuerst den Aufprall gehört oder gefühlt hat. Jedenfalls ist er plötzlich nass. Und Fox sitzt nicht mehr hinter dem Schreibtisch, sondern springt neben ihm auf und ab. So schnell, wie der Ausbruch begann, ist er auch schon zu Ende. Sophia und Gray sehen konzentriert auf ihre Hände. Gray kratzt sich heimlich unter dem nassen Stoff am Schenkel. Fox setzt sich wieder hinter den Schreibtisch und sagt, als sei nichts passiert: „Und ist der Verdächtige dieses Mal wieder gesichtet worden?“

„Vage Andeutungen des Liftboys. Sonst hat ihn niemand gesehen.“

„Niemand hat irgendwas gesehen oder gehört? Leute, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ Fox schüttelt den Kopf. Sophia und Gray werfen sich einen Blick zu.

Fox fährt fort, „Der Täter verabreicht den Opfern ein Beruhigungsmittel, so viel wissen wir. Danach tötet und zerteilt er sie. Und das recht fachmännisch. Und schnell. Der Täter muss kräftig sein, wenn er das so sauber hinkriegt. Was denkt ihr?“

Gray räuspert sich. „Vielleicht ist der Verdächtige ein Lockvogel, der später andere ins Zimmer lässt.“

„So, so. Interessante Theorie, Jack. Wie auch immer. Schneider sitzt mir im Nacken. Es wäre schön, wenn ihr nächste Woche mehr Infos hättet. Und ich meine damit nicht eine neue Leiche.“ Fox’ Stimme wird leiser und sein Kopf verschwindet in einer Schublade. Sophia macht eine kurze Kopfbewegung zur Tür und beide verabschieden sich schnell.

Wir gehen in die Sterne, weil wir nicht anders können, nichts anderes macht mehr Sinn, wenn du es einmal getan hast. Es ist kein Zwang, es ist ein Ausweg, der einzige Ausweg.

Wann fing es an? Wann hörte es auf? Am Anfang waren es nur vereinzelte Randnotizen. Ungeklärte Todesfälle im Äußeren Ring der Stadt. Scheinbar ohne Zusammenhang. Zwei Menschen verbrannten sich auf der Straße, während Passanten hilflos zuschauten. Drei Jugendliche wurden tot in einem Keller gefunden, vergiftet. Andere stürzten sich zu Tode. Sie hinterließen keine Abschiedsbriefe, ihre Motive blieben im Dunkeln. Schnell wurden sie wieder vergessen. Doch dann schwappte eine Welle von Massenselbstmorden in ein Sommerloch und sorgte für Medienhysterie: Die Polizei fand an einem einzigen Wochenende 28 Tote in einer Wohnung und vierzehn Leichen in einem Lagerhaus. Das machte die Randnotiz über Nacht zu einer Schlagzeile, den vereinzelten Fall zu einem Phänomen. Tragisch und verstörend, aber auch faszinierend. Zumal immer häufiger ein Name kursierte, ein mögliches Motiv: Fiordia.

Im lokalen Dialekt bedeutete das Wort damals so viel wie „Gott in mir“ und beschrieb alles Mögliche, von religiöser Verzückung bis zum banalen Vollrausch. Bald jedoch stand der Begriff nur noch für die Sekte, die hinter den Selbstmördern vermutet wurde. Waren es Apokalyptiker, die das Ende der Welt prophezeien oder provozieren wollten? Das Gros der Opfer war jung. Zu jung für den Tod, zu arm und ungebildet für ein Leben jenseits des Äußeren Rings. Eine Tragödie, an der sich nicht wirklich etwas ändern ließ. Und die nach anfänglicher Bestürzung auch schnell wieder zur Randnotiz schrumpfte. Die offene Wunde, die Fiordia gerissen hatte, verkrustete, bevor geklärt werden konnte, was tatsächlich dahinter stand. Warum so viele Menschen sich für den Freitod entschieden, ohne sich zu erklären. Der Tod an sich war die Botschaft, und das machte Fiordia zu einer radikal individualistischen Angelegenheit, zu einer mysteriösen Massenpsychose am Rande der Gesellschaft.

Zehn Jahre später war Fiordia zum Mythos geworden, zu einer historischen Fußnote in einer geteilten Stadt. Ihre Ursprünge und Motive blieben im Dunkeln. Suchten die Mitglieder im Tod eine „Vereinigung mit Gott“, einen ekstatischen Extremzustand, der sie aus ihrem Elend befreite? Auch war unklar, ob sich die gesamte Sekte das Leben genommen hatte oder nur einzelne Mitglieder. Die Gründer blieben gesichtslos, es gab keine Informationen, die darauf schließen ließen, dass die Selbstmorde abgesprochen waren, oder dass die Sekte auf irgendeine Weise weiterlebte. Das Einzige, was als erwiesen galt, waren die knapp achtzig Suizide, die mit Fiordia assoziiert wurden, weil der Name entweder bei den Leichen auftauchte oder weil die Selbstmorde zeitlich und räumlich gesehen ins Raster passten. Davon hatten sich die meisten vergiftet, einige wenige verbrannt, erhängt oder selbst gekreuzigt, andere waren in den Tod gesprungen.

Sophia erinnert sich noch an die Fernsehbilder: Zwei Schatten, die sich händehaltend von einem Hochhaus hinunterstürzten, in eine Menge von Zuschauern, die ihnen sprachlos entgegen sah. Auf dem Dach die dunklen Umrisse der zurückgebliebenen Feuerwehrleute, die sie nicht mehr aufhalten konnten. Damals nahm Sophia die Tat weniger als einen Akt der Verzweiflung oder Verzückung, sondern vielmehr als eine Art Performance wahr. Als die beiden nach ihrem Sprung, ein leichtfüßiger Tanz in Sophias Augen, nicht mehr aufstanden, erwischte der Schock sie eiskalt. Die Realität des Todes riss sie aus ihrer Fantasie mit Bildern, die ihr noch Jahre nachgehen sollten. Zwei Jahre danach begann sie ihre Polizeiausbildung. Und nun, fast acht Jahre später, verfolgt der Todessprung sie erneut.

Sophia und Gray sichteten das gesamte verfügbare Videomaterial über die Selbstmorde: Über 40 Stunden Nachrichtenberichte, Interviews, Amateuraufnahmen. Auch die Hochhausspringer sprangen wieder, in den verwackelten Bildern eines aufgeregten Katastrophentouristen. Und wieder erschien es Sophia, als tanzten die beiden wie Superhelden durch die Luft. Und wieder zuckte sie zusammen, als sie unten liegen blieben, während die Kamera an den Füßen der Umstehenden hängen blieb. Sie sah die Gesichter der Toten nicht, aber sie war sich sicher, dass die beiden lächelten. Und sich noch immer an den Händen hielten.

AM SEE:

Die beiden Männer verließen den Raum nicht. Zimmerservice. Minibar. Do Not Disturb. Es regnete in Strömen. Der See lag mit gekräuselter Oberfläche direkt vor dem Fenster. Sie verschanzten sich gegen die nasse Kälte im Hotelzimmer und ließen die Tage und Nächte vorbeiziehen, abwechselnd grau und schwarz, verwaschen, ohne Konturen. So, als habe sich ein Ball dämmender Watte um sie gelegt, um ihre Sinne und Bewegungen. Die Geräusche verschwanden im Nebel. Die Farben verblichen in der Feuchtigkeit. Alles, was die Männer noch sehen konnten, waren sie selbst. Der eine war bei einem Unfall gestorben. Ein Wiedergänger. Ein Inkubus. Ein bösartiges Geschwür, das sich Stunde um Stunde fester in den anderen verkeilte. Dieser wiederum verkroch sich in seiner Trauer. Er hatte seine Schwester verloren und sich in ihr. Der Wiedergänger hielt die Zeit für ihn an, versteckte sie im Nebel, befreite ihn von sich selbst. Der Trauernde wusste es noch nicht, aber er würde den Nebel mitnehmen.

5: Traumfrei

Als es klingelt, wacht er wieder auf. Die Zigarette glimmt noch. Sekundenschlaf. Gray rappelt sich hoch. Sucht den Aschenbecher. Es klingelt Sturm. Scheiße, wer ist das bloß. Er schaut auf die Uhr. Sie ist weg. Ihm fällt auf, dass er noch den Mantel an hat. Und darunter den Anzug. Er hat Kopfschmerzen, obwohl er betrunken ist. Es klingelt Sturm. Das muss Sophia sein. Wieder ein Mord. Er torkelt zur Tür und öffnet.

Vor ihm steht Cameron. Bevor Gray etwas sagen kann, hat er sich an ihm vorbei in die Wohnung gedrückt.

„Was machst du denn hier?“

„Ich komm dich besuchen.“

„Es ist“, Gray zieht den Ärmel des Mantels hoch und schaut auf die Uhr. Sie ist da, wo sie immer ist. „Halb vier, mitten in der Nacht. Ich hab schon geschlafen. Was ...?“

Cameron lacht. „Rauchst du im Schlaf?“

Gray zuckt die Schultern und lässt die Kippe fallen. „Andere träumen. Ich rauche. Na und?“

„Im Ernst, was machst du gerade?“ Cameron greift nach der Flasche auf dem Tisch und hält sie ins Licht. „Du hast gesoffen? Ha! Ich habe eine bessere Idee: Lass uns rausgehen und ich zeige dir was.“

Gray schüttelt den Kopf. Langsam zieht er den Mantel aus und lässt sich auf die Couch fallen.

„Doch, lass uns das machen. Kannst du mir ein T-Shirt leihen? Ich muss mir was überziehen.“ Cameron öffnet die Lederjacke. Auf seiner Haut frische rote Striemen. Bevor Gray protestieren kann, hat er die Jacke ausgezogen. Grays Augen wandern von den Kratzspuren zu Camerons Arm. Als er die Tätowierung sieht, zuckt er zusammen. Cameron verschränkt die Arme und sieht ihn an, herausfordernd. „Und?“

„Das Auge.“

„Was ist damit?“

„Seit wann hast du es?“

Cameron runzelt die Stirn. „Schon ewig, warum?“

„Damals hattest du es noch nicht. Ich meine, am See.“

„Doch. Hast du wohl vergessen.“

„Nein, das glaube ich nicht.“

Cameron schaut aus dem Fenster und lächelt. „Hey, ich erzähle dir die Geschichte im Taxi. Kann ich mal telefonieren?“

Bevor Gray etwas erwidern kann, hat Cameron sein Telefon gefunden und tippt eine Nummer ein.

„Ich geh nicht mit. Mit dem Taxi kannst du allein fahren.“

Cameron steht auf und zieht Gray nach oben. „Nimm den Mantel mit. Und was ist mit dem Shirt? Egal. Ich nehme das Hemd hier. OK? Lass uns gehen. Das Taxi kommt gleich.“

In der einen Hand seine Jacke, in der anderen Grays Arm öffnet er die Tür und zieht Gray nach draußen.

„Verdammt noch mal. Kannst du mir mal sagen, was das soll? Wohin gehen wir?“

Cameron zieht ihn in den Lift. „Lass dich überraschen.“

Sie setzen sich ins Taxi und Cameron nennt eine Adresse in der Weststadt. Sie fahren los und bald schon kennt Gray die Gegend nicht mehr. Cameron zieht sich das Hemd über und zündet eine Zigarette an. Der Fahrer sagt etwas. Cameron gibt zurück.

Gray versteht den lokalen Dialekt nicht. „Was hat er gesagt?“

„Er hat gesagt, dass du gut aussiehst in dem Mantel.“

„Sehr witzig. Und was hast du gesagt?“

„Dass du besser ohne aussiehst.“

Als sie von der Hauptstraße abbiegen und sich durch ein Wohngebiet schlängeln, werden die Häuser kleiner, die Straßen dunkler, die Grünflächen größer. Gray sieht schweigend aus dem Fenster, bis er es nicht mehr aushält. „Jetzt sag schon, wo’s hingeht.“

„Geheimnis.“

„Und die Geschichte mit dem Auge?“

„Ich hatte einen Filmriss und danach das Auge.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

Cameron legt ihm beschwichtigend die Hand auf das Bein. Gray atmet tief ein. Ungewollte Erinnerungen werden wach und er öffnet das Fenster. Es nieselt leicht. Aber es ist nicht kalt. Die Luft riecht frisch. Sein Blick bleibt an einer Reihe geparkter Autos hängen, an Ausfahrten und Straßenschildern. Nichts gibt ihm Aufschluss über Camerons Plan. Er ärgert sich über sich selbst. Cameron wirkt entspannt. Zu entspannt. Er lässt den Kopf nach hinten fallen und schaut an die Decke.

Nach über einer halben Stunde hält Cameron den Wagen an und zahlt. Langsam steigt Gray aus und geht hinter ihm her. Sie überqueren einen Grünstreifen und laufen auf einen kleinen Bahnhof am Waldrand zu. Hier gibt es kaum noch Häuser. Der Wald riecht nach nassem Laub und Erde. Selbst aus der Nähe sieht er undurchdringlich aus. Ein Dutzend Motten fliegt um eine gelb schimmernde Straßenlaterne herum. Das Taxi verschwindet hinter einer Ecke und sie sind allein.

Gray rutscht ein paar Mal auf der weichen Erde aus, aber Cameron wird nicht langsamer. Beide schweigen. Gray merkt, wie ihm unwohl wird. Er weiß, dass er Cameron nicht vertrauen sollte. Aber dazu ist es jetzt zu spät. Seine alte Paranoia flackert auf, als sich Cameron umdreht und ihn anlächelt.

„Wir sind gleich da.“

Er zieht ihn auf den Weg, der am Bahnhofshaus vorbei nach oben in den Wald verläuft. Nach ein paar Schritten bleibt Cameron stehen und schaut ihn an. „Spring.“

„Was?“

„Spring aufs Dach. Es ist nicht hoch.“

Cameron zeigt auf das Haus neben dem Weg. Das Dach ist direkt unter ihnen. Ein graues, feucht schimmerndes Rechteck, das sich in einer Felswand verliert.

Gray zieht die Schultern hoch. „Spinnst du? Was soll das?“

„Sag ich dir, wenn du unten bist.“

„Ich denk nicht dran!“

Cameron macht einen Schritt nach vorne und reißt ihn mit. Schwer prallen sie auf dem Dach auf, doch Cameron rollt sich sofort ab und schnellt wieder nach oben.

Gray stöhnt auf, als Cameron ihm hoch hilft. „Du Dreck ...“

Cameron lacht auf und wirft den Kopf zurück. Gray beißt die Zähne zusammen und setzt sich schwerfällig hin. Auf den beiden Bahnsteigen unter ihnen leuchtet ein diffuses gelbes Licht, die Gleise liegen dunkel dazwischen. Rechts von ihnen steht der Wald, links verlieren sich Felder und Wiesen in der Dunkelheit. Er merkt, dass Cameron auf einmal ruhig geworden ist. Es ist ganz still um sie herum. Nicht einmal aus dem Wald dringen Geräusche. Gray folgt Camerons Blick und sieht nach oben.