Psychoschreiber - Tons May - E-Book

Psychoschreiber E-Book

Tons May

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Beschreibung

Ist das noch "normal" oder schon "gestört"? Ob Ängste, Zwänge, Rausch oder Fetischismus, ob ADHS, Besessenheit, Nägelkauen oder Nasebohren – Tons May stellt sich in ihrem Alltag psychischen Störungen und Besonderheiten und schreibt darüber. Inspiriert von der internationalen Diagnosenklassifikation ICD-10 sammelt Psychoschreiber – Qu'est-ce que c'est? 74 Glossen, die sich humorvoll mit gestellten, vermuteten und ausgeschlossenen Diagnosen auseinandersetzen. Und dabei Lebensthemen, Obsessionen und mal mehr, mal weniger kontrollierte Wahnvorstellungen der Autorin hinterfragen. Visuell begleitet werden die Ausflüge in die Tiefen der Psyche von Zeichnungen und Fotos, die wie wackelige Wegweiser durchs Dickicht der Diagnosen führen. Für alle, die sich für kreative Mental-Health-Strategien interessieren und über das innere Chaos auch mal lachen können, sei es aus Verzweiflung, Erleichterung oder purer Freude am Leben.

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Seitenzahl: 161

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Tons May

Psychoschreiber

Qu’est-ce que c‘est?

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

0: Psychoschreiber – Qu’est-ce que c‘est?

1: Frau* oder Fragezeichen.

2: Spaß mit Phobien.

3: Zu faul für Wahn.

4: War da was?

5: Stille Nacht. Ewige Nacht.

6: Spiel mir das Lied vom Tod.

7: Weichei und Wechselduscherin.

8: Angriff der Killerkarotten.

9: Fickt euch.

10: K.o. im Chaos.

11: Kein Bock auf nix, auch nicht auf Weltuntergang.

12: Harte Titten, weicher Kern.

13: Verliebt, verlobt, versemmelt.

14: Wenn die Neurose küsst.

15: Rotköpfchen sucht den Wolf.

16: Spaß mit Dämonen.

17: Spürst du schon was?

18: Träumen ohne Trauma.

19: Auf Wiederficken.

20: Noch’n Käffchen?

21: Voll kein Check, Mann!

22: Borderlining in Berlin.

23: Blut, Schweiß und Tränen.

24: Der Tod ist ein Cockerspaniel.

25: Been there, done that.

26: Gedankenfindungsstörung.

27: Ghostwriter.

28: Sweet Jesus.

29: Ohne mich.

30: Wanderlust ohne Fernweh.

31: Alles ist Liebe.

32: Seeeeehnsucht.

33: Selbst-Gentrifzierung.

34: Außen aggro, innen Prada.

35: Koma, Krankheiten, Kreativität.

36: Zu viel Haar. Zu wenig Kontrolle.

37: Zu viele Tassen im Schrank.

38: Auf der Suche nach Gottes Finger.

39: Von einer, die auszog, Gemüse zu fürchten.

40: SOS Neptun.

41: Mosquito Bashing.

42: Ein Thema, das vor allem Männer* interessieren dürfte.

43: Kindliche Fantasien eines nicht mehr ganz so kindlichen Körpers.

44: Sex, drugs and broken foot.

45: Brauche ich mehr Liebe als andere?

46: Mein Bauch und ich.

47: Satan, Jesus, Krebs: Spaß mit Zwangsgedanken.

48: Was Hexen so an „Halloween" treiben.

49: Pseudodemenz im Alltag.

50: Immer gut für eine Ausrede: Zyklothymia.

51: Hyperkinetik für Fortgeschrittene.

52: Besser Nägel kauen, als sich damit ans Kreuz hängen lassen.

53: Wenn der Frosch hysterisch wird.

54: 2x Weltuntergang und 1x Popcorn, bitte.

55: Mein neuer Vorsatz: So tun, als wäre ich normal. Happy Prosperous New Year, Humans!

56: Morgenstund‘ hat Schleim im Mund.

57: Erinnerungen eines Weicheis.

58: Magic is stuff science hasn't made boring yet.

59: Von gestiefelten Katern, Neukölln und meiner Unfähigkeit, charmante sexuelle Fantasien zu entwickeln.

60: Grunzen für Profis.

61: Pubertät now!

62: Sind so kleine Füße ...

63: Trotzphase revisited.

64: Nächtliche Lieblingsbeschäftigung.

65: Auf der Suche nach dem verlorenen Rausch.

66: Von einer, die auszog, das Zähneknirschen zu verlernen.

67: Der kleine Mann und die Angst.

68: Ich habe viele Planeten im Widder. Und auch sonst einige Probleme.

69: Kann man gleichzeitig faul, unkreativ und wahnhaft sein? Ja.

70: Vom Gebüsch zum Deppenzepter: über die wundersame Wandlung einer meiner Lieblingsparaphilien.

71: Rausch deluxe: hundertprozent vegan und Kundalini-approved.

72: Trauern für Anfänger. Und was der Prenzlauer Berg damit zu tun hat.

73: Im Stroboskop der Gefühle.

74: Neue Soft Skills entdeckt: Neurodiversität.

Impressum neobooks

0: Psychoschreiber – Qu’est-ce que c‘est?

Inhaltsverzeichnis:

Die meisten Texte in diesem Buch wurden auf dem Blog me-dea.de zwischen 2011 und 2016 veröffentlicht, die letzten Texte sind von 2019. Aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen ging me-dea.de irgendwann nach 2018 offline. Möglicherweise hätte ich das plötzliche Verschwinden des Blogs verhindern, früher bemerken oder nachvollziehen können, möglicherweise war ich nie eine wirklich engagierte Bloggerin.

Ganz sicher war ich zwanghaft (> F42) genug, alle Texte in einem Dokument zu sammeln. Nun geht me-dea.de also mehr unfreiwillig als geplant den Weg manch anderer Kulturgüter: raus aus dem Netz, hinein ins (e)Book.

Die Idee, mich mit den Diagnosen von psychischen Störungen und Krankheiten auf so persönliche Art zu beschäftigen, kam während eines Seminars. Als ich mich durch die Symptome einer Schizophrenie (> F20) arbeitete, kamen mir manche der typischen Erscheinungsformen bekannt vor. Zunächst gab mir das zu denken. Dann habe ich mich damit beruhigt, dass ich meistens weiß, welche Stimme nur zu mir spricht und welche auch von anderen gehört wird (> Kapitel 3: Zu faul für Wahn).

Bei der alltäglichen Gratwanderung zwischen psychischem Phänomen und Symptom stellen sich mir immer wieder die Fragen: Was ist psychisch „normal“, „gesund“ oder „gestört“? Was verursacht Leidensdruck, was kann ich kompensieren, rationalisieren, womit kann ich leben? Und wie „normal“, „gesund“ oder „gestört“ ist meine Umwelt und die so genannte Konsensrealität? Wer kann und will das beantworten? Sicherlich nicht ich in den folgenden Artikeln.

Bevor es nun losgeht mit dem sprudelnden Wechselbad der Gefühle, Zwänge und Obsessionen – hier das große Kleingedruckte zu Quellen, Inspiration und Inklusion:

Die Kodierungen in den Untertiteln und im Text orientieren sich an der von der WHO herausgegebenen ICD1-10-Klassifikation psychischer Störungen2. Die Diagnosen orientieren sich an mir. Wie schon angedeutet, haben die Texte nichts mit Menschen zu tun, die die erwähnten Diagnosen durch entsprechende Ärzt:innen oder Therapeut:innen erhalten haben und damit leben müssen. Ich beziehe mich weder in einem therapeutischen Rahmen auf die Diagnosen noch bilde ich mir ein Urteil über die Krankheits- und Störungsbilder oder mache mich darüber lustig. Ich mache mich nur über mich selbst lustig.

Die Illustrationen und Fotos zwischen den Artikeln, kleine Verschnaufpausen auf den verworrenen Wegen durch mein Bewusstsein, sind von mir, außer wo angegeben. Danke an alle Beteiligten und menschlichen Inspirationsquellen in meinem Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis, sowie an den Gefährten und Dataloo für die technische Hilfe, als das Weib noch ewig bloggen wollte (und ziemlich schnell daran scheiterte).

Trigger-Warnung: Ich werde im Folgenden auf das Gendern verzichten. Die Originalartikel, die zwischen 2011 und 2016 erschienen sind, wurden nicht gendergerecht/inklusiv formuliert. Da ich ab und an einem Perfektionswahn aufsitze, der die Fertigstellung meiner Texte stark verzögert, habe ich mich entschieden, den Text in dieser Hinsicht nicht mehr zu überarbeiten. Ich weiß, es ist hart, aber da müssen wir jetzt durch. Trotzdem oder gerade deshalb viel Spaß beim Lesen.

Und jetzt alle mitsingen: “It’s all in your head… you just have no idea how big your head is.” (Lon Milo DuQuette)

1: Frau* oder Fragezeichen.

F64.8 sonstige Störungen der Geschlechtsidentität

Ich bin meistens gerne Frau*. Zumindest an 25 Tagen im Monat und an den Tagen, an denen ich nicht bei meiner Gynäkologin oder bei der Mammografie rumhängen muss (> F45.2 hypochondrische Störung). Von außen betrachtet bin ich voll Standard. Möpse, Arsch, lange Locken, andro-/heterosexuell, monogam, irgendwie kreativ (wir Frauen* können ja nicht anders). Ich mag Bücher, Tiere, Männer* und andere Lebewesen.

Am liebsten mag ich Männer*, die langhaarig und bärtig sind und an Kreuzen hängen oder mit Fellen bekleidet anderen Wasser über den Kopf schütten. Ich weiß nicht warum, aber katholische Ikonografie (vor allem die der Renaissance und des Barocks) verursacht bei mir eine Erektion.

Und das kann schmerzhaft sein, wenn man nicht den richtigen Körper für eine Erektion hat. Als Kind konnte ich noch ignorieren, dass in meinen sexuellen Fantasien keine Frauen* vorkamen. Schließlich hatte ich ja noch keine Ahnung, wie sich Sex mit anderen Leuten anfühlt. In der Pubertät war ich dann gezwungen, diesen Umstand als USP zu verkaufen. Sämtliche Versuche, mich selbst oder andere Menschen mit weiblich* gelesenen Körpern beim Sex zu visualisieren, scheiterten. Ich versuchte es, aber es fühlte sich an wie de Sade lesen. Als Idee interessant. In der Umsetzung einschläfernd.

Erschwerend kommt hinzu, dass mich der seit den 1980ern geläufige Gay Mainstream ebenfalls langweilt. Kurzhaarige, muskulöse, gesund aussehende Typen bringen es nicht. Ich finde Narben, blaue Flecken und fehlende Gliedmaßen aufregender. Mein Youporn sind Kirchen und Museen.

Seit vielen Jahren versuche ich sexuelle Selbstintegration und Individuation über eine intensive Beschäftigung mit Hermaphroditismus voranzutreiben. Die Mythologie verschiedener Kulturen bietet zahlreiche Beispiele sexueller Perfektion. Tireisias, Aphroditos, Crossdresser Dionysos, Shapeshifter Baphomet, Mama Jesus mit Brüsten (gerne von hochmittelalterlichen Mystikerinnen3 halluziniert), der alchemistische Stein der Weisen und Robert Graves goldbestiefelte Sakralkönige im Korsettchen.

Aber statt bei trans* (> F64.0 Transsexualismus**) oder non-binären Personen lande ich doch immer wieder bei bärtigen Männern* in Frauen*kleidern (> F64.1 Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechterrollen), und ich, ganz unkörperlich, testosteronschwach, eine von ihnen (> F44.3 Trance und Besessenheitszustände).

Vielleicht bin ich eine Cis-Frau*. Vielleicht ein Fragezeichen. Neurose klingt besser als Psychose.

* Begriffe wie Frau/en und Mann/Männer bezeichnen hier Menschen, die weiblich oder männlich gelesen werden, unabhängig von der Gender-Zuschreibung bei der Geburt.

** Diese „Diagnose“ und die damit einhergehende Kodierung basiert, wie alle anderen hier erwähnten Kodierungen, auf der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. In der seit Anfang 2022 in Kraft getretenen ICD-11 gibt es die Diagnose „Transsexualismus“ nicht mehr. Aktuell werden trans* Personen ab der Pubertät mit „HA60 Gender incongruence of adolescence or adulthood“ kodiert, wenn eine Diagnose gestellt werden muss. Mehr dazu: https://www.trans-inter-beratungsstelle.de/de/aktuelle-themen-details/stellungnahme-zur-veroeffentlichung-von-idc11.html

Swampthing

2: Spaß mit Phobien.

F40.2 spezifische (isolierte) Phobien – Phobie vor Phobientechnik

Als ich meine (hüstel) NLP-Ausbildung machte, wollte mir jemand die Phobientechnik beibringen. Für den praktischen Teil des Unterrichts wurden wir Schüler eingeladen, uns in unserem Leben umzuschauen und uns eine deftige Phobie zu suchen, an der sich dann jemand anderes abarbeiten durfte.

Mir fiel keine passende Phobie ein und ich wollte mir keine künstlich heranzüchten, indem ich sie mir kreierte (Phobie vor Künstlichkeit!). Das Leben ist gruselig genug. Erst später kam ich auf eine Angst, die mich wirklich betrifft: Ich fürchte mich ganz allgemein vor Gleichförmigkeit und, spezifischer, so sein zu müssen, wie „alle anderen.“ Man könnte es auch als Zwangsstörung (> F42) bezeichnen, als Zwang, „anders“ sein und immer wieder Erwartungshaltungen brechen zu müssen. Diese beiden Störungsgebiete liegen nah beieinander und gelten als klassisch neurotisch. Beim Zwang spielen Zwangsrituale, anhand derer man die Angst „besänftigt“, eine wichtige Rolle, bei der Phobie geht es um die Vermeidung der angstauslösenden Momente und damit – quasi als negative Verstärkung – um eine Stabilisierung der Störung.

Zwänge gelten als überaus schwer zu behandeln. Phobien hingegen scheinen ein Steckenpferd vieler Therapeuten zu sein („Arachnophobia? Das mache ich Ihnen in fünf Minuten weg.“). Gegen Phobien gibt es zum Beispiel die Phobientechnik. Sowohl bei Zwangs- als auch Angststörungen wissen die Betroffenen in der Regel, dass sie „nicht richtig ticken“. Typisch Neurose also.

Die Phobientechnik, an der ich mich an diesem phobienlosen Tag versuchte, mochte ich nicht. Ich glaubte nicht daran. Und dass ist seltsam, weil ich an sehr viel glauben kann. Ich kann an Außerirdische, Washingtons Marihuana-Plantagen, Mayakalender, Kornkreise, fliegende Yogis und Poltergeister glauben. Ich kann sogar an Spiegel Online glauben, wenn ich mich anstrenge. Meiner Meinung nach hält Glauben den Geist flexibel. Man muss nur wissen, wie man wieder runterkommt.

Ich glaubte damals also nicht an die Phobientechnik und das, obwohl ich heute mit ähnlichen Techniken arbeite. Ich kann sehen, dass es funktioniert. Aber: Ich lernte damals auch, dass Phobien aufgrund von Verschiebungen entstehen. So können zum Beispiel ernstzunehmende Existenzängste auf Spinnen, U-Bahnen oder Kurzhaarfrisuren verschoben werden. Und sind als solche dann besser zu „handhaben“, weil meist vermeidbar.

Und damit bin ich wieder bei meiner Angst vor der Gleichförmigkeit, meinem Zwang, trotz aller Harmoniesucht (Ambivalenz!) gegenteilige Meinungen zu denen der mich umgebenden Menschen zu äußern und zu provozieren. Logisch kann ich das so erklären: Die Menschheit kann nur evolvieren, wenn sie vielseitig bleibt, wenn nicht alle dasselbe tun, wenn sich Menschen von ihren Vorfahren und Zeitgenossen absetzen und mutieren.

Logik ist natürlich auch ein Glaubenskonzept, das ich sofort wieder über Bord werfen kann, wenn ich es nicht mehr brauche. Wie wäre es also damit: Meine Phobie vor Gleichförmigkeit erklärt sich aus einem frühkindlichen Konflikt, der sich aus dem angeblichen „Nonkonformismus“ meiner Eltern und der angeblichen „Spießigkeit“ der Leute um uns herum ergab. Als ich als Kind von anderen Kindern gedisst wurde, hat mir mein Vater die Welt erklärt. Und klar war, wer böse ist: die Normalos. Die Freaks ins Töpfchen, die braven Bürger ins Kröpfchen – ein Glaubenssatz meiner Comfort Zone. Und ich bin meinem Vater noch heute dankbar dafür, weil ich nicht anders kann: Diese Phobie war identitätsbildend.

Und wer weiß, was geschehen würde, nähme man mir diese Phobie. Vielleicht würde ich meinem Gefährten sofort die Haare schneiden, in ein Reihenhaus ziehen und Drillinge kriegen (Peter, Paul und Penjamin). Und würde dabei erleben, dass in jeder Phobie auch etwas Faszinierendes wohnt: Hinter der Angst vor Kontroll-, Gesichts- und Lebensverlust versteckt sich möglicherweise die Sehnsucht nach Oneness, Identitätswechsel und Väterchen Tod. Insofern: Phobientechnik rules, wenn die Angst dahinter im Reihenhäuschen wohnen bleiben darf. Ich mach dann mal weiter bei den Spinnen.

3: Zu faul für Wahn.

F23.9 nicht näher bezeichnete akute vorübergehende psychotische Störung – Stimmen hören

Wenn es still wird um mich herum, höre ich Stimmen. Manchmal ist es nur eine Stimme, die spricht, manchmal mehrere. Sie kommentieren nicht, sie dialogisieren nicht. Sie äußern meist nur wirres Zeug, das scheinbar nichts mit mir oder meiner aktuellen Situation zu tun hat. Mein Bewusstsein könnte jetzt die Schultern zucken und weitermachen mit still sein, die „Sprache des Unterbewussten“ ignorieren und auf spannendere Botschaften aus dem Off hoffen. Das könnte es tun, wäre es weniger zwanghaft (> F42 Zwangsstörung). Aber das Bewusstsein (ich) muss immer versuchen, jedes Rätsel zu lösen, was mir über den Weg läuft. Geheimnisvolle Gesprächsfetzen auf der Straße, dahergelaufene Kreuzworträtsel, halb sichtbare Headlines aus gegenübersitzenden Zeitungen: Ich muss stets alle Zeichen, die mich anspringen, deuten, erklären, in Kontext setzen, so, als hätten sie irgendeine Bedeutung. Für mich, für die Welt, für das Universum. Erklärungswahn könnte man das nennen, stünde dahinter ein systematisches Wahngerüst. Aber dafür bin ich natürlich zu faul (> Kapitel 69: Kann man gleichzeitig faul, unkreativ und wahnhaft sein? Ja).

Und wenn wir schon bei den klassischen Ausdrucksstörungen der Schizophrenie (> F20) sind: Meine Stimmen überraschen mich immer wieder mit ihrer Zerfahrenheit, ihren Neologismen, Kontaminationen, Begriffsverdichtungen und Begriffsverschiebungen. So, als würde in mir irgendwo ein kleiner Psychotiker sitzen und Steinchen ins Gehirn schnippen.

ABER! (und dieses ABER! kann nicht GROSS genug sein), ABER! Meine Stimmen sind kein Symptom einer Psychose, weil ich weiß, dass nur ich sie hören kann. Damit fallen sie in die Kategorie der „Pseudohalluzinationen“ und könnten ein Zeichen von Übermüdung, einer regen akustischen Fantasie oder irgendeiner anderen Pseudobeschwerde sein, die nichts, REIN GAR NICHTS! mit Schizophrenie zu tun hat. Sie könnten natürlich auch als Symptom einer akuten Cannabinoidintoxikation (> F12.0) oder einer Haschisch-induzierten Durchgangspsychose (> F1x.52 psychotische Störung während oder nach Substanzgebrauch, vorwiegend halluzinatorisch) auftreten, aber ich glaube nicht an so einen paranoiden Scheißdreck. ICH BIN GEISTIG TOTAL GESUND (und ihr da unten haltet jetzt mal die Fresse).

Das mit den Stimmen hat mir als Kind Angst gemacht. Bis ich gemerkt habe, wie ich sie zum Schweigen bringe. Heute fordere ich sie auf, mit mir zu kommunizieren. Sharing is caring. Das sehen die Stimmen aber ganz anders und verstummen sofort. Offensichtlich will sich mein Unterbewusstsein, Über-Ich, Gott, Satan oder wer immer mir in die Stille reinquakt, nicht unter Druck setzen lassen. Die Stimmen wollen nicht mit mir „quatschen“ und „mal schauen, was du da draußen so treibst“. Das interessiert sie nicht die Bohne. Und sie antworten mir auch nicht, ich solle mir einen Bart wachsen lassen und mit dem Messer meine Nachbarn besuchen.

Und das finde ich, trotz aller schizophrenen Erst- und Zweitrangsymptome, dann doch ziemlich beruhigend.

CallofChiron

4: War da was?

F22.0 wahnhafte Störung: Paranoia

Manchmal bin ich so paranoid, dass ich meine Wahngedanken vor mir selbst geheim halte.

5: Stille Nacht. Ewige Nacht.

F51.1 nichtorganische Hypersomnie

Es ist wieder soweit: je kürzer die Tage, desto länger mein Schlafbedürfnis. Ganz besonders extrem sind die Tage nach Weihnachten, wenn der Adventskalender abgelaufen ist und die Sonne woanders Urlaub macht. Ich nehme mir jeden Abend vor, am nächsten Morgen spätestens um zehn aufzustehen. Ich bin froh, wenn ich bis elf aus dem Bett komme. Ich bin froh, wenn ich überhaupt aus dem Bett komme.

Der Situation nicht zuträglich ist, dass mein Gefährte noch größere Schwierigkeiten hat, morgens aufzustehen. Wir schieben die Schuld auf niedrigen Blutdruck, Einschlafstörungen (> F51.0), depressive Verstimmungen (> F34.1), aufregende Träume (> F51.5) , zu viel Abendessen (> F50.4), Selbstständigkeit, Kinderlosigkeit oder allgemeine Apathie. Etwas ist immer dafür verantwortlich, dass uns das Bett morgens einfach nicht loslässt.

Vielleicht liegt es auch am Bett. Das ist meine heimliche Sorge: Dass es in Wahrheit an unseren perversen Betten liegt. Sie wirken ganz harmlos, stehen, wenn ungenutzt, ruhig und geduldig in unseren Zimmern herum, ein scheinbar sicherer Hafen für sportliche, sexuelle und kommunikative Aktivitäten aller Art. Aber wehe, wir schlafen in ihnen ein: Dann saugen sie unsere ganze Energie aus, die Kraft unserer Träume, die wir selbst nicht zu nützen wissen, unsere Zuckungen, die geballte Potenz meiner knirschenden Zähne, die Schnarchkraft der anderen Nase, unser somnambules Herumwälzen, unsere Wadenkrämpfe, Grunzlaute, hypnagogen Visionen.

Unsere Betten sind schuld.

Oder vielleicht liegt es auch an der Zeit. Weihnachten. Hort und Herd aller jemals gelebten und erlebten Neurosen. Zeit für Regression. Wenn an Halloween die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits besonders dünn sein soll, dann ist an den Tagen „zwischen den Jahren“ die Grenze zwischen meiner Familie und mir, zwischen Vergangenheit und Heute, zwischen Kindheit und vermeintlicher Erwachsenenexistenz, gefährlich transparent.

Auf einmal bekomme ich Lust, Geisterromane zu lesen, Kuscheltiere mit ins Bett zu nehmen und Weihnachtsgebäck herzustellen. Ich zwinge Freunde, mit mir auf den Weihnachtsmarkt zu gehen und schlechten Glühwein zu trinken. Ich wünsche Fremden „schöne Feiertage“ und stelle mir Mithras und Dionysos in Krippen vor. Und wenn zwölf Schneeflocken vor dem Fenster aufwirbeln, freue ich mich wie eine Schneekönigin – und das, obwohl ich Schnee und Kälte hasse (> F40.2 Spezifische Phobie – Pa-leng oder Frigophobie).

Dann kommt der Heilige Abend oder irgendein anderer heiliger Abend oder Silvester und eigentlich ist alles wie immer, nur kälter und ekliger draußen, und zwei oder drei oder auch tausend Böller knallen hier und dort, und ich kann mich nicht mehr wehren: Ich merke, dass ich doch nicht so viel vergessen habe, wie ich gehofft hatte.

Und dann muss ich erst mal eine Runde schlafen.

6: Spiel mir das Lied vom Tod.

F63.0 pathologisches Spielen

Ich spiele nicht gerne. Falsch: Ich hasse Spiele. Mit Brettspielen, Kartenspielen oder lustigen Scharaden jagt man mich aus jedem geselligen Beieinander. Meine überzogene Reaktion ist dabei diversen neurotischen Konflikten geschuldet: Angst vor Bürgerlichkeit und Lehrerkindersozialisation, Assimilierung, Peer Pressure und Ausgrenzung, Verleugnung von persönlichem Ehrgeiz, Leistungsdruck und Erwartungshaltungen. Projektion genau dieser Gefühle auf andere. Konsum von Substanzen, die logisches Denken im Sinne der Spiele erschweren. Ambivalenz, was den Energieaufwand betrifft.

Kommen Spieler zu lustigen Spieleabenden zusammen, fühle ich mich dazu berufen (> F42 Zwangsstörung), die Spielverderberin zu spielen, die Spaßbremse, den Sündenbock, den man bei Falschimpulsen in die Wüste schickt. Die einzigen Spiele, die für mich funktionieren, sind „kreative Spiele“, also Spielstrukturen, bei denen das Ergebnis vollkommen offen ist, weil abhängig vom kreativen Output der Beteiligten. Man könnte jetzt natürlich argumentieren, dass alle Spiele kreativ sind. Ich dagegen meine Spiele, in denen relativ frei assoziiert, geschrieben und gezeichnet wird. Und das Wichtigste: Spiele, die nicht gewonnen werden können.

Jetzt ist es raus: Gewinnen müssen finde ich doof. Ich verstehe, dass Spiele am Ende irgendein Ende haben müssen und dass Menschen sich miteinander messen wollen, aber ich will mich nur mit und an mir selbst messen. Deshalb spiele ich auch keine Mannschaftssportarten oder laufe den Marathon. Ich laufe nur gegen mich selbst.

Was nicht heißt, dass ich kein Teamplayer bin. Ich arbeite gerne mit anderen und liebe es, Teil von Kreativkollektiven zu sein. Kann „spielerisch Ideen entwickeln“ und mit den Ideen anderer „herumspielen.“ Kein Problem. Aber von Spieleabenden fühle ich mich eingezwängt, gegängelt von den Regeln und vom Ehrgeiz anderer. Und das, ohne dafür Geld zu kriegen.