Lights - Kira Kaltwasser - E-Book

Lights E-Book

Kira Kaltwasser

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Beschreibung

Eine Welt ohne Licht. Menschen ohne Gefühle, die der Regierung blind gehorchen. Das alles war scheinbar einmal Teil von Linns Vergangenheit und sorgt nun dafür, dass ihr Leben sich von Grund auf verändert. Was macht sie so besonders und wie soll sie gegen eine unbekannte Gefahr gewinnen können? Gerade jetzt, wo völlig neue Gefühle sie so richtig aus der Bahn werfen. Aber was ist der Grund, weshalb ihre Vergangenheit sie nun doch einzuholen scheint? Wie soll sie sich dieser unbekannten Gefahr gegenüber verhalten? Und was haben ihre Augen mit dem Ganzen zu tun?

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Kira Kaltwasser wurde am 22. Dezember 1999 in Dormagen geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Schon als Kind hat sie sich gerne Geschichten ausgedacht und mit Lights - so wie Mondschein nun ihren ersten Roman veröffentlicht. Momentan studiert sie an der Universität zu Köln die Fächer Deutsch und Kunst auf Lehramt.

Besuchen Sie die Autorin auf Instagram:

@kira.kaltwasser

Für Zoe und Feenja

„Am dunklen Himmel leuchtet das Licht am hellsten.“

(Andreas Tenzer)

Inhaltsverzeichnis

Chapter 1

Chapter 2

Chapter 3

Chapter 4

Chapter 5

Chapter 6

Chapter 7

Chapter 8

Chapter 9

Chapter 10

Chapter 11

Chapter 12

Chapter 13

Chapter 14

Chapter 15

Chapter 16

Chapter 17

Chapter 18

Chapter 19

Chapter 20

Chapter 21

Chapter 22

Chapter 23

Chapter 24

Chapter 25

Chapter 26

Chapter 27

Chapter 1

Linn

„Du fragst mich das jetzt schon zum tausendsten Mal, Linn“, sagt meine Großmutter und verdreht die grünen Augen. „Ich kann es nicht schöner reden, als es ist. Meine Antwort wird dir wie immer nicht gefallen. Aus dem einfachen Grund, weil ich dir keine andere geben kann.“

Ich kaue ungeduldig auf meiner Lippe und sage: „Na und? Erzähle es mir doch endlich ganz.“

Die alte Frau seufzt und es klingt fast so wie der Wind, der durch die kleinen Risse unseres alten Zeltes pfeift. „Also gut. Du bist nicht hier im Wald, sondern in der Stadt geboren.“

„Du meinst dort, wo wir niemals hingehen?“, frage ich entgeistert und zugegeben auch etwas lauter als beabsichtigt. „Worüber ich nicht einmal wirklich sprechen darf?“

Meine Großmutter nickt unwirsch und bedeutet mir, leise zu sein. Sie hat es nicht besonders gern, wenn man sie unterbricht. Und so fängt meine Lebensgeschichte also mit einer richtigen Sensation an. Das besagte Zelt, in dem wir leben, steht mitten in einem großen Wald und solange ich denken kann, dient es uns schon als Zuhause. „Ich wusste sofort, dass du etwas Besonderes bist“, fährt meine Großmutter fort. „Und das sage ich nicht nur, weil du meine Enkelin bist und das jede Großmutter behaupten würde. Irgendetwas war anders, aber noch konnte niemand sagen, was es war. Das, was wir wussten, war, dass du kleines Würmchen dem Rat Angst eingejagt hast. Und das war das Großartigste, was seit sehr langer Zeit passiert ist. Dieses Gefühl waren die obersten Herren der Darkness-Organisation nicht gewohnt, da sie es waren, die Angst und Schrecken verbreiteten.“ Meine Großmutter stoppt und streicht sich gedankenverloren eine ihrer weißen Haarsträhnen hinters Ohr.

„Was ist?“, frage ich und blicke auf.

„Ach, Schätzchen“, fängt sie wieder an, „ich habe dich da rausgeholt - aus dieser tristen, grauen Welt. Du hättest sonst dein Leben schon in der allerersten Nacht verloren. Also sagte ich zu deinen Eltern, dass wir keine Zeit verlieren dürften und dich sofort an einen sichereren Ort bringen müssten. Doch sie wollten nicht weg, zu sehr hatte sie das Leben in der dunklen Stadt eingenommen. Sie waren zu sehr der grauen Einheit der Menschen dort angepasst. Sie wollten nicht hier draußen leben und darum mussten sie dort drinnen sterben.“

„Also hätten sie mich nie geboren, würden meine Eltern jetzt noch leben?“, frage ich und bin schockiert. Das hatte meine Großmutter mir bisher verheimlicht. „Das verstehe ich nicht“, presse ich verwirrt und mit wachsenden Schuldgefühlen hervor.

Meine Großmutter sieht mich liebevoll aus ihren grünen Augen an und streicht mir eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sie brauchten jemanden, an dem sie sich rächen konnten, dass du existierst. Wie gesagt: sie hatten Angst … Angst vor einem Baby, Angst vor dir. Das hat mich fasziniert! Ich habe endlich Hoffnung geschöpft, dass eines Tages alles gut wird. Es war Hoffnung für die Rebellion. Du musst wissen, dass ich eine begeisterte Rebellin gewesen bin, als ich noch dort war. Ich habe gekämpft, wo ich konnte, doch nie einen wirklichen Ausweg erkannt. Und dann kamst du und hast alles verändert. Meine Enkelin!“ Der ernste Blick weicht aus ihrem Gesicht und Stolz schwingt in ihrer Stimme mit, als Großmutter zu berichten beginnt. „Eine echte Rebellin war ich. Es gibt sie immer, sobald es auch einen ungerechten Herrscher gibt. Das lässt sich nicht vermeiden, es ist sozusagen ein waschechtes Gesetz.“ Sie gähnt. „Schluss für heute.“

„Nein, Granny, das kannst du nicht machen“, flehe ich ohne Erfolg, denn die alte Dame macht es sich gemütlich und schließt langsam ihre Augen. Schon nach einer kurzen Zeit ist sie eingeschlafen, was ein leises, aber kontinuierliches Schnarchen beweist.

Heute kann ich nichts mehr aus ihr herausbekommen, das weiß ich. Also rolle ich mich auf meinem Lager zusammen und kuschele mich unter die alte, kratzige Wolldecke mit den Löchern. Doch so schnell, wie meine Großmutter es mir gerade vorgemacht hat, kann ich nicht einschlafen. Ich habe noch viel zu viele Fragen, die mich beschäftigen. Doch die müssen wohl oder übel bis morgen warten. Auch, wenn es etwas länger dauert, irgendwann bin auch ich eingeschlafen.

Alle Dinge, die wir besitzen, sind mindestens sechzehn Jahre alt, denn meine Großmutter hatte sie mit mir zusammen nach draußen geholt. Und darum weckt mich auch an diesem Morgen ein kühler Wind, der durch die Risse des Zeltes über mein Gesicht streicht. Ich friere, denn meine Decke liegt neben mir auf dem Boden. Ich muss sie wohl in der Nacht weggetreten haben.

Wie auch immer, jedenfalls schläft meine Großmutter noch, weshalb ich aufstehe und schon mal Wasser für ihren morgendlichen Kräutertee auf dem kleinen, wackeligen Campingkocher aufsetze. Es ist der letzte Rest und ich beschließe, beim Jagen am Bach vorbeizuschauen und den Vorrat aufzustocken. Wer weiß, vielleicht bringt mir das ja ein paar Pluspunkte ein und ich bekomme heute den Rest meiner Vergangenheit erzählt. Auch, wenn ich grundsätzlich sehr viel kaputt mache, was ich anfasse, so liegt mir eine Sache doch recht gut: das Jagen. Und darum fange ich auch heute wieder ein Eichhörnchen und einen Wildlachs, der sich im Bach herumgetrieben hat. Beide hatten ein zu großes Vertrauen. Ihr Pech, unser Glück. In unserer Welt überlebt nur der Misstrauische. „Sei immer auf der Hut, sonst hast du keine Chance“ ist einer der Leitsprüche meiner Großmutter, die sie mir scheinbar ununterbrochen einzutrichtern versucht. Überleben in der Wildnis für Tollpatsche, wie sie immer so schön sagt. Eine Bemerkung, die man sich auch hätte sparen können.

Nachdem ich noch ein paar Kräuter gesammelt habe, fülle ich den Kanister mit klarem Wasser und laufe guter Dinge nach Hause. Als ich ankomme, ist meine Großmutter schon dabei, ihren Tee zu schlürfen. Sie sitzt - eingewickelt in ihre Decke - auf dem Bett und grinst mich an. „Na, schon fleißig gewesen?“, fragt sie.

„Morgen, Granny“, sage ich anstelle einer Antwort und lege meinen Beutel auf den Tisch. Als Letztes ziehe ich das Bündel frischer Minze aus meiner Jackentasche und halte es ihr unter die Nase. Ich weiß, dass Pfefferminztee Grannys Lieblingssorte ist und sie für eine Tasse von diesem sogar über Leichen gehen würde, wenn sie ihre kleine Enkelin nicht so sehr liebhaben würde, wie sie es mir des Öfteren klar macht.

Meine Großmutter klatscht vor Freude in die Hände und ihre Augen glänzen wie die meinen, wenn ich an seltenen Tagen meiner Kindheit Schokolade essen durfte. Ein Luxusgut, was nicht oft zu uns geschmuggelt wurde. „Zu schade, dass ich schon einen Tee habe!“, murmelt sie dann und starrt betrübt in ihre Tasse. Dann schiebt sie mir lächelnd einen Teller mit Rührei und Kräutern rüber. Ich habe schon lange aufgehört zu fragen, woher sie die ganzen Lebensmittel bekommt, denn eine richtige Antwort gab sie mir nie und ihre fadenscheinigen Ausreden hätte ihr wirklich niemand abgenommen.

Jedes Mal stelle ich mir eine romantische Liebesbeziehung zwischen ihr und einem Mann aus der dunklen Stadt vor, der Granny einfach nicht verhungern lassen kann, weil er sie doch über alles liebt. Doch immer, wenn ich damit anfange, ernte ich nur einen ärgerlichen Blick und den Spruch, dass doch eine so alte Frau wie sie auch ihre kleinen Geheimnisse haben dürfe. Und dann belasse ich es meistens dabei.

„Du schaust mich so komisch an“, bemerkt meine Großmutter meinen erwartungsvollen Blick. „Schon gut, schon gut, du brauchst gar nichts zu sagen. Deine Neugier bringt dich noch mal in Teufels Küche. Wo war ich denn gestern stehen geblieben? Bei den Rebellen? Es gibt sie immer, dass musst du wissen, mein Kind, das ist Gesetz.“

„Ich weiß, Granny, das sagtest du bereits“, unterbreche ich sie.

„So?“, fragt sie erstaunt und zieht eine Augenbraue hoch - eine Eigenschaft, um die ich sie insgeheim sehr beneide. „Dann habe ich dir doch auch sicher von dem Tagebuch erzählt, nicht wahr?“

„Was für ein Tagebuch?“, frage ich nach und horche gespannt auf.

„Nun ja, eigentlich ist es ja nur ein halbes. Genau genommen nur die erste Hälfte eines Tagebuchs. Es wurde von einem Mädchen geschrieben, das auf wundersame Weise irgendwann spurlos verschwand. Man sagt, dass sie aber ein paar Jahre später noch einmal gesehen wurde, wie sie in Nebelschwaden gehüllt auf dem großen Versammlungsplatz stand und alle Menschen verfluchte, sodass sie bei Vollmond das Haus nicht mehr verlassen durften, da ihnen sonst ein schreckliches Leid widerfahren wäre. Diese Geschichte wurde den Kindern zur Abschreckung erzählt, doch das heißt ja nicht, dass nicht doch ein Körnchen Wahrheit in ihr steckt.“ Sie stoppt.

„Meinst du, sie wurde in jener Nacht, in der sie verschwunden ist, umgebracht?“, frage ich sie mit Gänsehaut am ganzen Körper.

„Niemand weiß, was damals wirklich geschehen ist, außer denen, die dieses Tagebuch haben.“ Ein triumphierendes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel

„Und was steht in dem Tagebuch drin?“, frage ich aufgeregt.

„Lies es doch selbst oder hast du das etwa wieder verlernt?“, fragt sie nur grinsend und überreicht mir zwinkernd ein altes, zerknittertes halbes Buch. „Ich glaube, du bist jetzt soweit; außerdem kann ich meine Lesebrille nirgends finden. Von daher ist es eh unbrauchbar für mich geworden.“

„Danke“, hauche ich ehrfürchtig, bevor ich endgültig verstumme. Ich schnappe mir eine Decke und ziehe mich mitsamt Tagebuch nach draußen zurück. Eingewickelt in die kuschelige – okay: ehemals kuschelige - Decke mache ich es mir auf einem der großen Steine hier auf unserer Lichtung bequem, schlage die erste Seite auf und bin beim Anblick der vielen Buchstaben etwas verunsichert. Natürlich hat meine Großmutter mir Rechnen, Schreiben und Lesen beigebracht, denn sie war der Meinung, dass dies genauso wichtig sei wie der Kampf ums Überleben, aber ich brauche trotzdem immer lange, um die Schriftzeichen zu entziffern. Aufgeben will ich nicht, das ist klar, denn ich weiß, dass jeder neue Satz nicht nur eine neue Herausforderung mit sich bringt, er wird mir auch Antworten liefern und diese suche ich momentan mehr als alles andere. Also kneife ich meine Augen zusammen und fange an zu lesen.

***

15. August

Ich halte es hier nicht länger aus. Die Wände scheinen von Tag zu Tag grauer zu werden und vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber sie scheinen auch näher zu kommen. Und die nackte Glühbirne an der Decke treibt mich irgendwann noch in den Wahnsinn - wie sie einfach nur da ist und sich nicht bewegt. Ich muss hier raus, denn ich weiß nicht, wie lange ich es hier drinnen noch aushalten kann. Wenn ich wenigstens wüsste, warum sie mich hier festhalten. Aber mit mir wird ja so gut wie nicht geredet.

Ich war nicht immer hier. Früher war alles anders. Ich habe mit meinen Eltern gelebt und war glücklich. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt. Die Menschen, die immer mal wieder die Tür öffnen, verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind und hinterlassen nur einen Teller mit Essen. Wie sehr ich mich nach einer anständigen Konversation sehne, vermag ich gar nicht zu beschreiben. Doch mir wird so langsam, aber sicher klar, dass die Welt, wie ich sie kenne, eine andere geworden ist. Die Nächte werden immer länger und ich sehne mir schon nach dem Aufstehen den Tag herbei, wenigstens dann kann ich schlafen und im Traum frei sein.

Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber ich scheine aus einem unerklärlichen Grund gefährlich zu sein. Ich spüre die Angst, die mir von jedem hier entgegengebracht wird. Und ich spüre, wie sie von Nacht zu Nacht wächst.

***

„Was ist das denn bitte, Granny?“, murmle ich vor mich hin und stehe auf, um ins Zelt zu gehen.

„Stimmt etwas nicht, Schätzchen?“, fragt sie, als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck sieht.

„Als du noch dort warst“, setze ich an, „hast du da auch so seltsam gelebt? Also, ich meine, ich weiß ja, dass die Menschen unter dem Glass anders leben als wir. Dass sie zum Beispiel Tag und Nacht tauschen. Aber so?“

Meine Großmutter lächelt schwach und irgendwie traurig. „Nein, eigentlich lebt dort keiner so. Nur sie, wegen eines besonderen Merkmals, welches nur sie zeichnete und dort alle ziemlich verstört hat.“ Meine Großmutter wirkt auf einmal sehr geheimnisvoll.

„Was war es?“, frage ich und gehe hinüber zum Schaukelstuhl, den wir aus Ästen aus dem Wald zusammengeschustert haben, setze mich und winkele die Knie an.

Meine Großmutter grinste mich an. „Was glaubst du denn?“, sagt sie dann verschmitzt und deutete mit zwei Fingern auf meine Augen. „Darum!“

„Aber“, setze ich erneut an, „warum hat der Rat so viel Angst vor ein paar Augen, dass sie solche Maßnahmen ergriffen haben und sie wegsperrten?“

„Das …“, sagt meine Großmutter leise, „ist das große Geheimnis, welches Jahre meiner Zeit verschlungen hat, ohne sich irgendwann zu revanchieren und die Lösung preiszugeben. Es ist einfach zu verzwickt. Aber eins weiß ich: du bist wie sie und darum gibt es Hoffnung, denn du bist frei! Löse das Rätsel für mich … für mich und die Rebellion.“ Sie sieht mich liebevoll an und streicht mir über das Haar. Ich lächle zurück.

Chapter 2

Linn

16.August

„Du willst doch sicher nicht, dass alle Menschen hier sterben, oder Jolina?“, hatten sie mich gefragt. „Dann musst du weg von hier, denn wenn du noch länger bleibst, schadest du ihnen allen!“ Ich habe nicht verstanden, warum ich auf einmal eine solche Gefahr darstellen sollte oder besser gesagt, wie. Ich habe ja den Großteil meines bisherigen Lebens unter der Erde verbracht. Einsam und verlassen saß ich in diesem fensterlosen Raum und habe jede neue Nacht scheinbar grundlos an mir vorbeirauschen lassen. Mir wurde viel erzählt, doch das meiste davon verstehe ich auch jetzt nicht mal ansatzweise. Und als ich mich schließlich außerhalb der Stadt befand, die ich komischerweise mein ganzes Leben als Heimat bezeichnet habe, war ich verwirrt und alleine. Tausend Fragen schwirrten mir durch den Kopf. „Es sind deine scheußlichen Augen“, haben sie zu mir gesagt. „Mach bloß, dass du wegkommst.“ Ich bin mir sicher, sie gehen davon aus, dass ich hier sterben werde. Aber da kennen sie mich schlecht. Ich bin dank ihnen in all der einsamen Zeit zäh geworden und eines Tages werde ich wiederkommen und ihnen alles zurückzahlen, was sie mir je angetan haben.

***

Beim Verlassen der Stadt ist diese Jolina wohl noch einmal gesehen worden und dann für immer verschwunden, denke ich mir. Ich kann zwar nun ein paar wenige Puzzleteile zusammenfügen, aber mir will sich der Sinn dahinter einfach nicht erschließen. Was haben ihre Augen an sich? Es sind doch nur Augen, damit kann man doch wirklich gar nichts anrichten?! Ich habe so lange gelesen, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie es langsam um mich herum dunkel wurde. Ich sitze hier in der Dämmerung und starre den Mond an, der sich majestätisch hoch an den Himmel schiebt.

„Kommst du rein, Mäuschen?“, fragt meine Großmutter. „Ich habe Suppe aus deinem Fisch gemacht, welchen du heute Morgen so grandios gefangen hast und wenn du noch länger liest, ist sie kalt, bevor du auch nur einen Löffel meines Meisterwerkes probiert hast.“ Also sammle ich meine Sachen zusammen und komme zu ihr ins Zelt. Ich habe Hunger, mein Magen knurrt. „Du brummst ja wie ein hungriger Grizzly“, schmunzelt meine Großmutter, als sie es hört.

„Ich könnte auch mindestens einen ganzen verdrücken!“ Mit diesen Worten lasse ich mich auf einen der wackeligen Campingstühle plumpsen. Er hat nur noch drei Beine, weshalb nun ein Stapel Bücher das vierte ersetzt. Es ist zwar sehr wackelig, aber es hält relativ gut. Eine große dampfende Schüssel mit Suppe steht jetzt vor mir und ich stürze mich hungrig darauf.

„Langsam, langsam“, lacht die alte Frau mir gegenüber. „An einer Suppe zu ersticken ist nun wirklich nicht besonders ruhmreich, meine Liebe.“ Ich muss lachen. Nach dem Essen greife ich sofort wieder zu dem Tagebuch. Ich will Antworten und das so schnell wie möglich. Mein ganzes bisheriges Leben habe ich darauf gewartet, zu erfahren, was an mir falsch ist und jetzt scheint es endlich möglich zu sein, an Antworten zu kommen. Also nehme ich mir eine der wenigen, noch übrig gebliebenen Kerzen mit nach draußen, die wir aufgrund des ominösen Lieferanten meiner Großmutter ab und zu neben anderen nützlichen Dingen bekamen. Ich frage mich, ob sie mir jemals verraten wird, was dies für ein Kontakt ist, den sie da pflegt und wie es weitergehen wird, wenn sie, nun ja, nicht mehr bei mir sein kann. Aber sie weicht jedes Mal aus, wenn ich sie darauf anspreche. Ich vertiefe mich wieder in die eng beschriebenen Seiten. Eingemummelt in meine Decke beginne ich zu lesen.

20.August

Es sind bisher nur wenige Tage vergangen und doch lebe ich noch, ein Aspekt, der andere Leute wohl ziemlich unglücklich machen würde, wenn sie davon erfahren. Ob es wohl ein Fehler war, mich einfach nur gehen zu lassen, aus der Stadt zu verbannen und zu hoffen, mich nie wiederzusehen? Ich denke ja. Ich bekomme sehr wohl mit, wie ihre Angst weiterhin wächst. Sie haben eine kahle Fläche rund um den Würfel, der einst über ihre Stadt gestülpt wurde, gerodet. Ob sie nun wirklich eine bessere Sicht für ihre Überwachungskameras geschaffen haben, sei dahingestellt. Jetzt, wo ich draußen bin, hat sich so einiges geändert. Sie lügen… das ist mir schmerzlich klar geworden. Die Sonne schien zwar anfangs unglaublich hell zu sein und tat mir in den Augen weh - so viel Licht war ich einfach nicht gewohnt - aber mittlerweile schätze ich ihr Licht und ihre Wärme sehr, sodass ich meinen Tagesrhythmus kurzerhand umgedreht habe. Das Einzige, was mir noch zu schaffen macht, sind die kühlen Nächte. Sie sind einfach grauenhaft! Ich bin es nicht gewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen, weshalb jedes noch so kleine Rascheln ausreicht, mich aus meinem ohnehin schon unruhigen Schlaf zu reißen. Gestern Nacht war es besonders schlimm! Ich wachte von einem beängstigenden Knacken im Unterholz auf. Es war zu laut gewesen, um von einem heimischen Tier verursacht worden zu sein, außer vielleicht von einem Panther. Aber die hatte man - soweit ich wusste - seit über 300 Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich sprang auf und tastete in der Dunkelheit nach einem großen Stein oder einem dicken Ast, mit dem ich mich verteidigen konnte. Ich spannte meine Muskeln an und war bereit, den Stein einzusetzen, doch jetzt war alles um mich herum still, totenstill. Ich ließ meinen Blick herumschweifen und achtete auf jede noch so kleine Bewegung. Doch da war keine und es blieb still. Können Panther klettern? Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wunderte ich mich nicht nur darüber, dass ich überhaupt ein Auge zugetan hatte, sondern blickte auch noch in zwei haselnussbraune Augen, welche zu einem kleinen Eichhörnchen gehörten. Es schaute mich mit schief gelegtem Kopf an, bevor es sich umdrehte und verschwand. Dieser Wald ist voller Leben, ganz anders als der hohe Rat es uns immer weismachen wollte. Ich war lange nicht mehr glücklich, doch jetzt habe ich das Gefühl, genau dies ist wieder möglich. Irgendwann werde ich dort wieder reingehen und dann wird sich so einiges ändern.

***

Als ich jetzt aufblicke, ist es ganz dunkel geworden und der Mond steht voll und rund am Himmel. Mir ist noch nie aufgefallen, wie schön er eigentlich ist. Jede Nacht taucht er die Welt in ein silbriges Licht und ich habe nichts davon mitbekommen. Ich muss blind gewesen sein! Ich gähne und beschließe, dass es nun auch für mich Zeit ist, die Augen zu schließen und ins Bett zu fallen. Also gehe ich ins Zelt. Vorher puste ich noch schnell die Kerze aus, sehe dem Rauch hinterher, der sich gen Himmel ringelt und ziehe den Reißverschluss der Zelttüre behutsam und leise hinter mir zu, um meine Großmutter nicht aufzuwecken. Sobald ich mich hingelegt und die Augen geschlossen habe, falle ich in einen ruhigen, aber traumlosen Schlaf, aus dem ich erst wieder erwache, als der Mond schon lange untergegangen und auch die Sonne schon am höchsten Punkt ihrer Bahn angelangt ist. Kurz gesagt: es ist schon Mittag. Ich springe auf und rufe noch ganz schlaftrunken: „Granny, warum um alles in der Welt hast du mich denn nicht geweckt? Jetzt habe ich den halben Tag verschlafen!“

„Du hast so süß ausgesehen“, antwortet sie entschuldigend. „Fast so, als wärst du wieder mein kleines Baby. Nur, dass du nicht so gesabbert hast wie damals“, grinst sie nun.

„Da bin ich aber beruhigt, Granny!“ Meine Stimme trieft vor Sarkasmus und ich schaue sie grimmig an. Dann schnappe ich mir meinen Bogen aus der Ecke.

„Halt!“, brüllt meine Großmutter da. Vor Schreck lasse ich ihn wieder fallen und hebe reflexartig beide Hände in die Luft. „Heute wird nicht gejagt.“ Ich werde an den Tisch dirigiert, damit ich etwas frühstücke.

„Aber“, will ich protestieren, doch da wird mir das Wort abgeschnitten. „Nix da, du bleibst schön zu Hause. Wer die ganze Nacht lang wach bleibt, muss sich tagsüber ausruhen.“

„Du gibst mir ernsthaft Hausarrest? Das hast du noch nie wirklich durchgezogen“, sage ich verwundert und etwas aufgebracht.

„Zeltarrest“, kommentiert meine Großmutter meine Frage nur ausdruckslos. Ich nehme mir vor, abends nicht mehr so lange wach zu bleiben und zu lesen, denn wenn ich dadurch am nächsten Tag so gerädert bin, dass ich bis mittags schlafe und nicht jagen darf, rechnet sich das einfach nicht. Außerdem müssten wird dann wohl verhungern. Und da ich jetzt nichts anderes tun darf und sonst vor Langweile platze, lese ich einen weiteren Eintrag im Tagebuch.

31.August

Heute habe ich etwas Merkwürdiges gesehen, etwas, das ich in anderer Form von Zuhause kenne. Es waren Nachtfalter, aber eigentlich müssten es ja Tagfalter sein, denn sie flogen mir gegen Mittag entgegen. Sie waren so anders als meine weißen und schwarzen Freunde, die mich in so manchen Nächten besuchen kamen. Sie schlüpften durch die Luke in der Tür und flatterten um die nackte Glühbirne, welche einsam und alleine an einem Kabel von der Decke baumelte. Ab und an setzte sich einer von ihnen auf meinen ausgestreckten Finger und flog erst wieder weg, wenn ich ihm leicht auf seine Flügel blies. Diese hier waren nicht grau, sie waren rot und blau mit grünen und gelben Sprenkeln und Tupfen und sie flogen lustig umher. Auf einmal landete ein Falter auf meiner Nase und ich musste lachen, was ihn kurz aufschreckte und dazu veranlasste, sich von meiner Nase in die Lüfte zu erheben.

Irgendwann am Ende dieses Tages ging die Sonne in leuchtenden Farben hinter den Baumwipfeln unter und die Nacht machte sich breit, der Mond ging auf und viele kleine Lichtpunkte waren am Himmel zu sehen. „Sterne“, schoss es mir durch den Kopf. Warum kannte ich sie nicht? Man hatte mir von der Sonne und dem Mond erzählt, aber warum hatte man mir die Sterne verschwiegen? Und weshalb waren sie mir erst jetzt aufgefallen? Vielleicht war es ja immer zu wolkig gewesen oder ich war, erschöpft vom langen und hellen Tag, immer zu früh eingeschlafen, um sie zu bemerken. „Sterne!“, flüstere ich schon die ganze Zeit vor mich hin. „Sterne!“ “Sterne!“ Es klingt so vertraut.

***

Der Wind blättert einige Buchseiten um und ich schlage es zu. Meine Stelle werde ich jetzt so oder so nicht mehr wiederfinden. Aber das ist jetzt auch egal, denn seit einer kurzen Weile beschleicht mich das Gefühl, dass ich eh nicht mehr genau begreife, was ich da eigentlich gelesen habe. Zu sehr habe ich mich auf das leise Schnarchen konzentriert, was aus dem Zelt dringt. Meine Chance. Als ich jetzt das Tagebuch aus der Hand lege, ist es schon Nachmittag. Ich klappe das Buch zu und gehe zurück ins Zelt. Als ich reinkomme, sitzt meine Großmutter im Schneidersitz auf dem Teppich und hat den Kopf auf ihre Brust gelegt. Vermutlich hat sie mal wieder meditiert. Ich finde es schrecklich langweilig, so still dazusitzen und nichts zu tun; ich tanze lieber oder renne - so schnell ich kann - durch den Wald. Doch meine Großmutter liebt es, denn es entspannt sie völlig. Ich schleiche möglichst leise auf Zehenspitzen an ihr vorbei. In der Ecke steht unser kleiner Spiegel, er reflektiert das Sonnenlicht, dass durch den Zelteingang, den ich zum Lüften offengelassen habe, reinfällt und lässt tausend kleine Lichtflecken über die Zeltwände tanzen. Und das alles, obwohl er fast blind und dreckverkrustet ist. Ich beschließe, ihn mit zum Bach zu nehmen und ihn ordentlich sauber zu schrubben. Heimlich nehme ich auch Pfeil und Bogen mit und schleiche mich raus. Als meine Großmutter zu blinzeln beginnt, bin ich schon fast aus ihrem Blickfeld verschwunden. Ich weiß, dass sie nicht lange sauer auf mich sein wird und so mache ich mich fröhlich pfeifend auf den Weg.

Am Bach angekommen, hocke ich mich erst einmal hin und schöpfe mit beiden Händen Wasser, welches ich zur Abkühlung in mein Gesicht spritze. Dann kremple ich meine Hose hoch und renne mit ausgebreiteten Armen durchs Wasser. Ich fühle den Widerstand des kühlen Nasses und jeden kleinen Stein unter meinen Füßen… ich könnte schreien vor Glück! Nach einer Weile lasse ich mich wieder neben den Spiegel ins Gras fallen und beginne, ihn zu säubern. Ich bin so in meine Arbeit vertieft, dass ich vor Schreck den Spiegel fallen lasse, als mich etwas am Kopf streicht. Er zerspringt in tausend kleine Teile, als er auf einem großen Stein am Rande des Baches aufkommt. Ich fluche und bemerke das beschriebene Blatt Papier, das zwischen den Scherben im Bach liegt und vom Wasser leicht hin- und hergeschaukelt wird erst nach einer Weile. Ich fische es aus dem Wasser und lasse es am Ufer auf einem großen Stein in der Sonne abtropfen. Die Tinte ist an manchen Stellen verlaufen, aber man kann trotzdem fast alles lesen. Den Rest reime ich mir einfach dazu. Es ist ein altes Lied oder Gedicht, so schnell kann ich das auf den ersten Blick nicht feststellen, zumal es auch das erste ist, was ich selber in den Händen halte. Es ist wunderschön und ich lese es mehrmals, um es richtig wirken zu lassen.

Schattenlied

Wenn spätabends in frühmorgens übergeht,

wenn der Mond trotz Sonne noch am Himmel steht,

wenn das Sternenlicht funkelt beim ersten Hahnenkrähen,

dann wird das Dunkel das Helle übersehen.

Ein funkelnder Regen erstickt den Nebel.

Ein Traum oder Wahrheit?

Zum Greifen nah oder fern?

Besiegelt das Schicksal, um die Antwort zu klären.

Ein Fehler

und ist er noch so klein

löscht die Flamme,

er wird der Auslöser sein.

Richtet den Blick gen Himmel,

dem Band aus Rauch hinterher.

Dunkel wird herrschen,

Licht gibt es nimmermehr.

Du kannst alles zum Guten,

zum Schlechten wenden.

Das Schicksal liegt nun

in deinen Händen.

Ich rolle das inzwischen trockene Blatt Papier zusammen und stecke es in meine Jagdtasche. Noch ist sie leer, wenn man von der Papierrolle einmal absieht. Und das wird sich heute auch nicht mehr ändern, es ist schließlich spät und ich sollte mich auf den Heimweg machen. Ich sammle nur noch schnell die Scherben des Spiegels zusammen und lasse sie klimpernd zu dem Gedicht in die Tasche fallen. Als ich mich gerade zum Gehen aufrichten möchte, sehe ich noch eine letzte, verbliebene Scherbe auf dem Grund des Baches glitzern. Ich greife nach dem schönen Ding, ziehe jedoch mit einem leisen Aufschrei meine Hand zurück, als sich die scharfen Kanten in meine Haut bohren. Ein dünnes Blutrinnsal läuft meine Hand hinunter und tropft in regelmäßigen Abständen ins feuchte Gras. Es tut jetzt gar nicht mehr weh und ich blicke fasziniert auf das Muster, welches mein Blut im Wasser bildet, während ich die Scherbe nun vorsichtiger heraushebe. Mit einem klirrenden Geräusch landet auch sie schließlich bei den anderen, als ein Vogel ganz in schwarz pfeilschnell auf mich zuschießt. Geistesgegenwärtig greife ich nach meinem Bogen und ein Pfeil schießt dem Vogel entgegen. Er trifft ihn genau zwischen seinen beiden stechend blauen Augen und zusammen fallen sie wie ein Stein zu Boden. Das Tier liegt nicht weit von mir und ich hebe ihn an seinen Klauen auf und trage ihn kopfüber nach Hause. Der Schreck des Angriffs sitzt noch in meinen Knochen, weshalb ich den Rückweg nicht - wie sonst immer - singend, sondern zügig und still antrete. So einen Vogel habe ich vorher noch nie gesehen, vor allem keinen, der sich wie ein Irrer auf mich stürzt. Vielleicht - und das hoffe ich - weiß Großmutter mehr als ich.

Als ich reinkomme, werfe ich die Tasche auf mein Bett und es klirrt verdächtig.

„Was ist mit meinem Spiegel passiert?“ Ich fange mir einen entsetzten Blick ein, als meine Großmutter zum Bett hinüber humpelt und einen Blick in die Tasche wirft. „Und wenn du die Autorität deiner alten und weisen Großmutter schon missachtest und trotz meiner Anweisung mit deinem Bogen hinausgehst, dann bring doch auch etwas Essbares mit nach Hause. Aber wenn du willst, kann ich auch einen Scherben-Papier-Salat zubereiten.“ Ich ziehe den Vogel hinter meinem Rücken hervor und halte ihn ihr unter die Nase. Ihr Grinsen erstirbt, alle Farbe weicht aus ihrem Gesicht und sie stolpert einen Schritt zurück. Ihre Stimme gleicht einem heiseren Krächzen, als sie leise fragt: „Wo hast du den her? Bring ihn sofort weg, verstecke ihn und lass keinen sehen, dass du von ihm weißt. Warte… gib ihn lieber mir, ich erledige das. Hoffentlich hat dich kein anderer gesehen! Sie haben ihre Augen überall! Warum sind sie nur wieder da?“ Damit erstirbt ihre Stimme und sie sinkt kraftlos in sich zusammen. Dann streckt sie den Arm aus und gibt mir zu verstehen, ihr den Vogel auszuhändigen. Widerstrebend drücke ich ihn ihr in die zitternde Hand. Es ist plötzlich so kalt in diesem Raum. Eine Gänsehaut hat sich auf meinen Armen breitgemacht und die vielen kleinen Härchen dazu veranlasst, sich kerzengerade aufzustellen. „Linn, Liebes“, fängt sie noch einmal an. Sie klingt sehr kontrolliert, als wollte sie dem Zittern in ihrer Stimme keine Kraft geben. „Vergiss den Vogel, er ist es nicht wert, sich Sorgen zu machen, es ist eben nur … ein Vogel!“ Damit verstummt sie endgültig und deutet nur müde auf die mit Dreck verkrustete Schaufel, welche verbeult und morsch in der Ecke steht. Ich gehe hin, um sie zu holen.

„Sag mir doch wenigstens, was das für ein Vogel ist“, flehe ich, „ich meine, du kannst doch nicht immer alles für dich behalten! Wenn dir was passiert und du dann nicht mehr da bist, bin ich der Gefahr wehrlos ausgesetzt, da ich sie nicht einmal kenne. Ich finde, ich bin alt genug, um endlich alles zu erfahren! Ich bin schließlich sechzehn, Granny.“ Jetzt bin auch ich still und hoffe, dass sie mir antworten wird und ich nun sehr viel mehr als nur Bruchstücke der Wahrheit erfahre.

„Ich erzähle dir morgen alles über den Rat, was ich weiß. Für heute muss diese Information reichen, schließlich muss ich ja noch Totengräber spielen.“ Sie deutet auf den toten Vogel und Erleichterung macht sich in mir breit, sie hat ihren Humor wiedergefunden, dann kann es wohl nicht so schlimm sein, wie ich anfangs angenommen habe. „Diese Vögel heißen Krypter, sie sind die perfekten Spione und werden in der Stadt unter dem Glas auch dazu eingesetzt, alles Mögliche herauszufinden. Sie spionieren die Menschen aus, um für die Darkness-Organisation in Erfahrung zu bringen, ob es irgendwo Lichtrebellen gibt, damit jeder Widerstand niedergezwungen werden kann. Sie gleiten nahezu lautlos durch die Luft und sind mit ihrem dunklen Gefieder perfekt getarnt, jedenfalls dort, wo es fast kein Licht gibt. Also eigentlich in der gesamten Stadt.“ Sie macht eine Pause und ich nutze sie. „Aber warum ist Licht denn so gefährlich? Ich meine, wir leben doch auch hier und es geht uns gut… sehr gut sogar! Im Sommer nimmst du sogar oftmals ein Sonnenbad und du bist noch nicht gestorben. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“ Sie seufzt. „Ach Linn, Licht lässt Gefühle wachsen und Menschen, die Gefühle in sich tragen, sind sehr viel schwerer zu kontrollieren als jene, die mit starrem Gesichtsausdruck durch die Welt wandeln, sich keine eigene Meinung bilden und wie Schoßhündchen jeden Befehl ausführen. Mit jedem neuen Menschen, der geboren wird, haben sie eine Seele mehr dazu bekommen, eine Seele, die sie kontrollieren und die alles für sie tun würde, egal was, alles. Erinnerst du dich noch an die Sage um das Tagebuchmädchen? Ich denke, sie wird dazu benutzt, um die Menschen bei Vollmond zu Hause behalten zu können. Dieses Licht ist zu stark, als dass man es wirklich abschirmen könnte. So wie das Sonnenlicht, weshalb sie ja auch tagsüber schlafen und nachts wach sind. Wir Rebellen haben versucht, dagegen anzukämpfen und die, die noch übrig sind, tun es auch heute noch. Ob wir jemals gewinnen werden, weiß ich nicht, aber wir werden niemals aufgeben.“ Ein Schauer durchläuft meinen Körper. Es ist nicht das wohlige, spannende Kribbeln, welches mich bei einer von Großmutter Gruselgeschichten erfasst. Es ist irgendwie anders, ernster. Ich gehe langsam - bedacht darauf, kein Geräusch zu verursachen - auf mein Bett zu und verkrieche mich unter der Decke. Normalerweise gibt sie mir ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Sicherheit, doch heute wirkt sie viel zu dünn und kaputtbar, als dass sie mich beschützen könnte. Zitternd verharre ich und starre mit weit aufgerissenen Augen auf den Eingang, dann wieder weg und noch einmal hin. Immer wieder huschen meine Augen unruhig umher, bevor ich sie endlich schließe.

Chapter 3

Linn

Ich laufe, renne um mein Leben und weiß nicht einmal, warum. Doch dann sehe ich sie, es sind so viele, dass sie den Mond verdecken und den Himmel verdunkeln. Das Rauschen ihrer nachtschwarzen Schwingen dröhnt in meinen Ohren und ihre krächzenden Schreie lassen mich jedes Mal zusammenzucken. Es sind so viele! Ich renne weiter und weiter, doch das scheint sie nur noch mehr anzutreiben. Ich keuche, so langsam kann ich nicht mehr, doch ich darf nicht aufgeben, nicht jetzt, wo ich das Zelt fast erreicht habe. Es ist so, als würde ich auf einem Laufband laufen, ich komme nicht vorwärts, doch meine Verfolger holen immer mehr auf. Auf einmal stürzt ein Hagel aus Kryptern auf mich nieder. Ich ducke mich und halte die Hände schützend über meinen Kopf. Dann schreie ich.

Schweißgebadet schrecke ich aus meinem Traum hoch. Es ist leichter gesagt als getan, nicht an diese grauenhaften Viecher zu denken. Ich zittere noch immer, als ich leise aufstehe, um etwas frische Luft zu schnappen. Das Mondlicht fällt in silbrigen Fäden auf die Erde hinunter, es spinnt ein Seidentuch aus Licht, welches sich hauchdünn über den Boden legt. Ich genieße den Augenblick und schließe die Augen, um die kühle Nachtluft in mich einzuatmen. Es entspannt mich und ich höre langsam auf zu zittern. Zögernd gehe ich ein paar Schritte, setze einen Fuß vor den anderen und atme noch einmal tief ein und aus, bevor ich wieder ins Zelt gehe, um den Rest der Nacht hoffentlich ruhig zu verbringen. Und als ich meine Augen schließe und dem Rauschen des Windes lausche, der an den Zeltwänden rappelt und mich so langsam, aber sicher in einen traumlosen Schlaf wiegt, stiehlt sich ein flüchtiges Lächeln auf mein Gesicht.

Ich erwache früh am Morgen. Doch nicht früh genug, denn meine Großmutter ist schon wach, was das unüberhörbare Getöse bestätigt, welches sie beim Teekochen veranstaltet. Der Kessel pfeift und der Campingherd klappert. Verschlafen reibe ich mir die Augen und gähne. „Hand vor den Mund!“ Meine Großmutter unterbricht das Summen irgendeines uralten Liedes. „Na, auch schon wach?“ Sie reicht mir eine Tasse frischen Pfefferminztee. Ich halte sie mit beiden Händen unter meine Nase und sauge den heißen Dampf in mich auf. Vorsichtig nehme ich einen kleinen Schluck von dem Tee, der eigentlich noch zu heiß zum Trinken ist und verbrenne mir die Zunge. Die Matratze wackelt verdächtig, als sich meine Großmutter neben mich fallen lässt und ich beginne, ihr von letzter Nacht zu berichten. Mittendrin stocke ich, denn mir fällt gerade ein, dass sie mich angewiesen hat, nicht mehr an die Krypter zu denken.

„Schon gut“, schmunzelt sie. „Ich kann dich verstehen, ich habe auch nicht direkt alles ausgeblendet, was ein bisschen gruselig war. Dafür bin ich immer noch viel zu neugierig.“ Sie grinst in sich hinein. „Und das bist du auch.“ Ich lächle schief, während meine Großmutter mir das Tagebuch hinhält, welches sie unter meinem Kopfkissen hervorgekramt hat. „Endspurt, Liebes“, sagt sie und fügt noch hinzu: „Lies noch den letzten Eintrag, dann erfährst du von mir alles, was ich weiß.“ Also schnappe ich ihr das Buch aus der Hand und beginne, den letzten, von mir noch ungelesenen Eintrag zu enthüllen.

15.Dezember

Es ist viel passiert in letzter Zeit, aber ich habe keine Zeit und Lust gehabt, es aufzuschreiben. Heute habe ich mir dann gesagt: Jolina, du musst wieder etwas zu Papier bringen. Dann fange ich wohl mal an. Dies sind wichtige Informationen, lieber Leser, denn ich habe mir gedacht, dass ich einige Experimente und Beobachtungen machen könnte. So habe ich zum einen erfahren, dass es einen Ausgang aus dem Würfel - oder besser gesagt: einen Eingang für mich wieder hinein - gibt und wo er sich befindet. Zum anderen weiß ich nun, wie sich die Kameras umgehen lassen und ich ungesehen meinen Plan in die Tat umsetzen kann. Es steht also fest: ich werde zurückgehen und zurückschlagen. Doch das ist nicht alles, ich habe etwas herausgefunden, wovon ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Etwas, was alles ändert und mir endlich eine wirkliche Möglichkeit bietet, all das zu bekommen, was ich will. Gerechtigkeit. Es ist so unglaubwürdig, dass ich es selbst noch gar nicht wirklich fassen kann. Aber endlich ergibt alles einen Sinn, was sie zu mir gesagt haben. Ich frage mich nur, ob der Rat wirklich weiß, mit wem er es zu tun bekommt. Ich denke nicht, denn sonst hätten sie vermutlich ganz anders gehandelt. Ich werde es nun lüften, mein Geheimnis. Ich bin…

***

Ich schaue auf. Meine Großmutter hat es sich auf dem alten Schaukelstuhl gemütlich gemacht und wippt leicht hin und her. Er knarzt unangenehm in den Ohren, doch zerbrochen ist er noch nie und das wird er auch heute nicht. Sie schaut mich gespannt an. „Was?“, frage ich und schaue nochmals auf die letzte Seite. Ich hätte zu gerne gewusst, was Jolinas Geheimnis ist und mehr herausgefunden, aber die nächsten Seiten sind alle herausgerissen worden. Entweder wollte jemand - vielleicht sogar sie selber - nicht, dass man sie liest oder sie sind aus Versehen weggekommen. Letzteres halte ich aber für ziemlich unwahrscheinlich. Wie dem auch sei. Ich klappe das Buch zu, es staubt und ich streiche mit der Hand über den ledernen Einband. Dann schaue ich meine Großmutter wieder an, denn nun ist sie an der Reihe, ihr Versprechen einzulösen und mir alles, wirklich alles zu erzählen. Und wirklich, sie fängt an.

„Es stimmt“, sagt sie, „dieser Würfel ist dafür da, das Licht, welches die Natur auf natürlichem Weg erzeugt, so gut es geht fernzuhalten. So wie ein Fliegengitter lästige Fliegen vom Obst fernhält. In letzter Zeit habe ich immer mehr Krypter gesehen; sie haben ihre Bahnen über unser Zelt gedreht, sind dann aber immer wieder abgezogen, ohne irgendetwas verrichtet zu haben. Also habe ich mir nicht wirklich etwas dabei gedacht, aber nun wurdest du angegriffen. Sie wissen also, dass du noch lebst und wo du bist.“ Sie endet und mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Das war auch schon alles, was ich weiß“, murmelt meine Großmutter. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir in einer so ernsten Situation stecken.“

Diesen verstörten Gesichtsausdruck habe ich noch nie bei ihr gesehen. Es scheint echt ernst zu sein! Wenn ich die Gefahr besser kennen würde, hätte ich wahrscheinlich auch ein sehr mulmiges Gefühl in der Magengegend. Meine Großmutter verschwindet hinter einem großen Berg aus Kisten, der an der linken Wand aufgestapelt ist und wühlt in einer von ihnen herum. Sie kommt wieder zu mir zurück und hält mir eine kleine Schachtel hin. „Hier, nimm!“ Und das tue ich. Als ich sie öffne, kommt ein kleiner Ring an einer Silberkette zum Vorschein. Er sieht wunderschön fremd und gleichzeitig auch irgendwie sehr vertraut aus und ich bewundere seine filigranen Schnörkeleien und Verzierungen. Auf der Innenseite ist mein Name eingraviert. Linn Linora.

„Den haben dir deine Eltern zur Geburt geschenkt“, lässt meine Großmutter aus dem hinteren Teil des Zeltes vernehmen. „Er ist dir schnell zu klein geworden. Du bist damals so schnell gewachsen, als hätte ich dich gedüngt! Ich habe ihn dann für dich verwahrt, um ihn dir an einem Tag wie diesem wieder zurückzugeben. Ich wusste, dass du mich irgendwann verlassen musst, um deinen eigenen Weg zu gehen, doch dass es schon so bald sein wird, trifft mich hart. Ich habe dich so unendlich doll lieb, Linn! Möge dieser Ring dir auf ewig Glück bringen.“ Mit diesen Worten legt sie mir die Kette um und lächelt mich traurig an. „Es ist schwer, doch ich muss dich loslassen. Flieg wie ein Schmetterling in die weite Welt und lasse dich nicht umbringen.“ Sie drückt mir mit Tränen in den Augen einen Kuss auf die Stirn. Irgendwie kommt mir das bekannt vor.

„Mama“, flüstere ich. Es war nur ein kurzer Moment, doch ich habe sie wieder… die Erinnerung, wie eine junge Frau einem Baby Lebewohl wünscht und dieses auf die Stirn küsst. Sie sieht blass und traurig aus, doch das Glück über ihr Kind spiegelt sich noch in ihren Augen wider. Die Erkenntnis trifft mich mit einer solchen Wucht, dass ich mich setzen muss. Das Baby bin ich.

Chapter 4

Linn

„Merk dir eins, mein liebes Kind: je dunkler es wird, desto heller erscheint das Leuchten eines einzelnen, noch so kleinen Lichtes!“ Und das waren sie, die letzten Worte meiner Großmutter, bevor sie mich rausschmeißt. Es hat lange gedauert, bis sie mich hat gehen lassen und ehrlich gesagt ist mir das nur recht gewesen. Ich will auch jetzt nicht ohne sie sein, sie ist mein Anker, gibt mir Sicherheit und nur sie schafft es, dass ich mich geborgen und zu Hause fühle. Egal, wo wir unser Zelt im Laufe meines Lebens aufgeschlagen hatten… sobald meine Großmutter in ihrem wackeligen Schaukelstuhl saß und mich angegrinst hat, habe ich mich wohl gefühlt. Es ist schwer, das alles jetzt hinter mir zu lassen und ich bin froh über jede einzelne Sekunde, die ich noch länger mit ihr verbringen konnte. Sie hat mich so fest an ihre Brust gedrückt, dass ich meinte, gleich zu ersticken, aber das war mir egal. Genauso wie die vielen Küsse, mit denen sie mich zum Abschied übersät hat und die mich sonst so genervt hatten. Eben habe ich sie genossen und jetzt vermisse ich die Berührungen schon. Meine Großmutter hat mir so viel beigebracht, dass ich es auch ohne sie schaffen werde, das weiß ich. Und das weiß sie auch, immerhin hat sie jahrelang darauf hingearbeitet, mich eines Tages ziehen zu lassen, damit ich mein eigenes Leben beginnen kann. Ein Leben von großer Bedeutung, wie sie mir noch einmal einschärfte, bevor ich gehen musste. „Du bist das Wichtigste, was ich habe, aber nicht nur für mich bist du dies, sie alle vertrauen auf dich.“ Ich weiß nicht, was sie damit meint und mich beschleicht das merkwürdige Gefühl, dass sie sehr viel mehr weiß, als sie zugeben wollte. Aber es hat wohl einen Sinn, mich außen vorzulassen, so wie alles einen Sinn hat, was meine gewitzte Großmutter in ihrem Leben getan hat. Und darum vertraue ich ihr, niemand weiß es besser als sie. Ich liebe sie und wenn es an der Zeit ist, werde ich zurückkommen, egal, ob sie das möchte oder nicht.

Ich laufe durch den Wald, so wie sie es mir aufgetragen hat. Meine Tasche ist voller Dinge, die ich eventuell gebrauchen könnte. Aber die meisten sind wohl eher unnötig und dienen ausschließlich dazu, das Gewissen meiner besorgten Großmutter zu beruhigen. So weiß ich noch immer nicht, warum sie darauf bestanden hat, dass ich ein paar Bände von „Wie überlebe ich am besten in der Wildnis“ mit mir herumschleppe. Nur unnötiger Ballast, wie ich finde… schließlich habe ich mein ganzes bisheriges Leben in der sogenannten Wildnis verbracht. Meinen Bogen habe ich mir über die Schulter gehängt. Die Hitze ist drückend und wird immer unerträglicher, je weiter ich durch den Wald stolpere. Doch ich höre nicht auf, ich muss weiter, erst einmal einen gewissen Abstand zwischen mich und mein altes Zuhause bringen. Irgendwann lasse ich mich erschöpft und außer Atem auf einen umgestürzten Baumstamm fallen, um zu verschnaufen. Langsam rutsche ich hinunter, sodass ich nun auf dem Boden sitze und mich anlehnen kann.

Ich schaue durch die Baumwipfel nach oben und beobachte die Wolken, die über mich hinwegziehen. Wie gerne würde ich jetzt auf einer von ihnen liegen! Ich würde einfach die Augen schließen und sie erst wieder öffnen, wenn die Wolke mich irgendwohin geweht hätte, wo es weder Krypter noch einen dunklen Rat gäbe und wo ich ihnen nicht die ganze Zeit entkommen müsste. Auf der Flucht vor etwas, das ich nicht einmal mit eigenen Augen gesehen habe. Ich meine, ich kenne den Rat doch gar nicht und er hatte mich auch vergessen oder dachte zumindest, dass ich tot wäre. Oh, wie ich diesen Krypter hasse, der mich verraten hat. Ich schließe die Augen und bemerke daher nicht, dass die fluffigen Wattewolken dicken, schwarzen und tiefhängenden Regenwolken weichen, welche zu platzen drohen.

Dicke Tropfen klatschen auf mein Gesicht und reißen mich abrupt aus meiner Traumwelt. Wie ein begossener Pudel bleibe ich im Regen sitzen. Irgendwann rappele ich mich auf und stolpere klitschnass weiter, um einen Unterschlupf zu suchen. Nicht etwa wegen des Regens, der vom Himmel prasselt, sondern eher, um einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht zu finden. Ich stoße auf einen mittelgroßen, schrägen Felsen, unter dem ich Schutz suche. Nachdem ich mich niedergelassen habe, schaue ich nach draußen. Dicke Fäden aus Regentropfen ziehen sich vom Himmel bis zur Erde hinab und weichen diese in Sekundenschnelle auf. Ich schlinge die Arme um meine angewinkelten Beine und starre mit leerem, ausdruckslosem Blick hinaus. Die Blitze, die über den Himmel zucken und den ohrenbetäubenden Lärm, den der darauffolgende Donner erzeugt, nehme ich gar nicht wirklich war. Immer wieder werden die Bäume im hellen Licht der aufflackernden Blitze zu gruseligen Fratzen. Solche Sommergewitter sind normal und dauern meist auch nicht lange an. Trotzdem bin ich eingeschlafen, noch bevor es ganz vorüber ist.

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage, weiß ich nicht, wo ich bin. Und auch nachdem ich mehrmals geblinzelt habe, will sich mein Kopf einfach nicht an diese Umgebung erinnern. Im nächsten Moment sitze ich kerzengerade auf einem wackeligen Ausklappsofa, welches sich in einem fensterlosen Raum zusammen mit einem Tisch und zwei Stühlen befindet. Panik macht sich in mir breit und mein Herz beginnt unnatürlich schnell zu schlagen. Wer hat mich gefunden? Etwa ein paar dieser widerlichen Krypter? Heißt das jetzt, dass ich mich im Glas befinde? Ach du Scheiße! Das hat dann wohl überhaupt gar nichts gebracht, wegzulaufen. Muss ich jetzt etwa sterben? Schließlich bin ich ja vor sechzehn Jahren nicht gestorben. Aber warum haben sie mich dann nicht gleich umgebracht? Soll es vielleicht öffentlich geschehen, als Schachzug gegen die Rebellion? Mittlerweile zittere ich am ganzen Körper und kaue an meinen Fingernägeln… eine schreckliche Angewohnheit, die ich mir eigentlich abgewöhnt hatte. Es sind einfach zu viele beunruhigende Fragen so früh am Morgen, die sich in meinem Kopf breitmachen.

Eine einzelne Glühlampe spendet Licht, sie hängt nackt an einem Kabel von der Decke. Alles erinnert mich an die Zelle, die Jolina in ihrem Tagebuch beschrieben hat. Das Licht flackert, als ich dabei bin, in dem kleinen Raum unruhig auf und ab zu gehen. Dann ist es auf einmal ganz weg. „Na toll“, denke ich, „jetzt darf ich die wahrscheinlich letzten Stunden meines Lebens auch noch im Dunkeln verbringen.“ Ich taste mich zum Bett vor und bleibe dort mit dem Rücken zur Wand sitzen. Dann lehne ich meinen Kopf an und warte voller Angst auf das, was kommen wird. Als nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nichts passiert ist, stehe ich auf und gehe zum Lichtschalter neben der Tür. Ich klicke ihn langsam, dann immer schneller hin und her, bis ich schließlich aus lauter Verzweiflung auf ihm herumhämmere. Doch wie beim ersten Mal, welches kurz nach dem Eintreffen der Dunkelheit erfolgt war, passiert auch jetzt nichts. Ich hätte es wissen müssen, doch ich wollte mein letztes bisschen Hoffnung nicht aufgeben… noch nicht. In meiner Verzweiflung haue ich immer und immer wieder gegen die Tür. Dann fange ich an zu schreien. Ja, so tief bin ich gesunken. Irgendwann geht mir die Puste aus und ich rutsche erschöpft am Türrahmen hinunter, vergrabe meinen Kopf in den Händen und fange an zu weinen. Die einzelnen Tränen, welche mir die Wangen hinunterrinnen und mit einem leisen Geräusch auf dem Boden aufkommen, halten nicht lange an, sie werden stärker. Ich schluchze laut vor mich hin, meine Hände sind mittlerweile schon ganz nass, denn ich weine und weine. Doch irgendwann bin ich wohl leer, denn es will kein Wasser mehr aus meinen Augen kommen. Also bleibe ich sitzen und schniefe nur noch ein bisschen vor mich hin. Ein Knacken und Rasseln lässt mich aufspringen. Es ist das Geräusch, welches ein sich im Schloss drehender Schlüssel verursacht. Ich zucke zusammen, als sich die Tür neben mir öffnet und dort eine dunkle Gestalt steht. Ihre Hand wandert zum Lichtschalter und ich höre ein vertrautes Klicken, gefolgt von einem leisen Fluchen. Ich konnte hören, dass es sich bei der Gestalt um einen Jungen oder einen jungen Mann handelt - auf jeden Fall männlich. Er geht weg und schließt die Tür hinter sich, aber das Geräusch, welches ich vermutet habe zu hören, vernehme ich nicht. Er hat die Tür nicht wieder verschlossen.

Langsam schleiche ich mich vorwärts, öffne die Tür einen Spalt breit und spähe hinaus. Es ist nichts Auffälliges zu entdecken, also setze ich einen Fuß vor den anderen und mache eine paar zögerliche Schritte nach draußen, dann ziehe ich die Tür hinter mir zu. Ein aufgeregtes Kribbeln macht sich in mir breit und ich verscheuche die Angst, die mir immer noch in den Knochen sitzt. Ich fühle mich wie ein Spion aus Großmutters vielen Geschichten und schaffe es nur sehr schwer, dem Drang zu widerstehen, meine Hände zu einer Pistole zu formen und eine astreine Agentenrolle hinzulegen. Es macht mir trotz der Angst irgendwie Spaß, die Gänge auf Zehenspitzen hinab zu schleichen und vorsichtig um die Ecken zu spähen. Bei Weggabelungen entscheide ich mich für eine einfache Strategie: erst rechts, dann links und das immer so weiter. Jedes Mal merke ich mit klopfendem Herzen, dass die Luft rein ist. Womöglich befinden sich alle in einem großen Speisesaal und essen einen Haufen von unglaublich gut schmeckenden Dingen, wie Pfannkuchen oder Suppe. Unwillkürlich nehme ich das Knurren wahr, welches ich bis gerade eben so vortrefflich ausgeblendet hatte. Das leere Gefühl in meiner Magengegend ist unangenehm und das Brummen lässt mich jedes Mal zusammenzucken und herumwirbeln. Ich brauche etwas, um zu begreifen, dass es sich dabei keinesfalls um einen Verfolger, sondern eher um meinen eigenen Bauch handelt.

Auf einmal schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich erstarren lässt: Meine Sachen! Ich habe sie in der kleinen Kammer - vor lauter Freude über die zum Greifen nahe Freiheit - stehen lassen. Soll ich zurückrennen, um sie zu holen? Schließlich sind es meine einzigen Besitztümer und das erste, wonach ich gegriffen habe, als ich im Dunkeln aufgewacht bin. Und wenn ich ehrlich zu mir selber bin, vermisse ich meinen Bogen schon jetzt. Ich verharre einen kurzen Augenblick, den ich zum Überlegen nutze. Doch es dauert nicht lange, da bin ich schon wieder auf dem Weg zurück. Auch wenn es vielleicht größtenteils an dem älteren Jungen liegt, den ich auf der Treppe gesichtet habe und der genau in meine Richtung zu kommen scheint. Ohne weiter darüber nachzudenken, bin ich davongestürzt, auf dem Weg zu meiner Waffe.