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Wegen ihrer rätselhaften Lichtallergie lebt die elfjährige Lila im dunklen Tobanja-Wald bei der alten Frau Spitzhak. Als eines Tages zwei furchterregende Kreaturen auftauchen, muss Lila fliehen und schlittert in einen Strudel von Abenteuern: Warum kann sie plötzlich an den Wänden entlanglaufen? Und wie konnte sie den großen Sturm überleben, bei dem sie von dem Piratenschiff ins Meer stürzte? Hat es vielleicht was mit dem Sonnenlicht zu tun, dem Lila auf ihrer Flucht nur schwer entkommen kann? Als Lila schließlich auf einer düsteren Insel strandet, gerät sie mitten in die Jagd nach den unheimlichen Außerirdischen, die die Erde wegen der Sonnenstrahlen erobern wollen. Schon bald muss Lila erkennen, dass sie mit den "Snirq" mehr zu tun hat, als ihr lieb ist... Ein Science-Fiction-Abenteuer für Leser ab 10 Jahren.
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Seitenzahl: 589
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Nicolas Bjausch
Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel: „Der Biss des Nachtvogels“
2. Kapitel: „Als Frau Spitzhak verschwand“
3. Kapitel: „Die Gestalten“
4. Kapitel: „Eine Stadt“
5. Kapitel: „Die Mutprobe“
6. Kapitel: „Zum Hafen“
7. Kapitel: „Tyrann“
8. Kapitel: „Fallende Masken“
9. Kapitel: „Sturm“
10. Kapitel: „Siljo“
11. Kapitel: „Die Heimkehrer“
12. Kapitel: „Die Schlucht der Schmetterlinge“
13. Kapitel: „Die Snirq“
14. Kapitel: „Erwin“
15. Kapitel: „Franc“
16. Kapitel: „Der Eindringling“
17. Kapitel: „Die Festung“
18. Kapitel: „Der Prozess“
19. Kapitel: „Lilas Schrei“
20. Kapitel: „Sonnenschwämme“
21. Kapitel: „Die zerstörten Snirq“
22. Kapitel: „Theaskys Geschichte“
23. Kapitel: „Lila Blitz“
24. Kapitel: „Vierundzwanzig Stunden“
25. Kapitel: „Suoltary“
26. Kapitel: „Operation“
27. Kapitel: „Die unbändige Wut“
28. Kapitel: „Schaltzentrale“
29. Kapitel: „Die Tauben“
30. Kapitel: „Rache“
31. Kapitel: „Zum Feuer“
32. Kapitel: „Notfallkonferenz“
33. Kapitel: „Loslassen“
34. Kapitel: „Nacht“
Impressum neobooks
Lila spürte den feuchten, kühlen Sand unter ihrer Wange. Ihre Finger hatten sich rechts und links von ihrem Körper in den Schlick gegraben. Als ob sich Lila an etwas festhalten wollte. Der Boden unter ihr war weich. Ihr Körper fühlte sich so schwer an, als ob er in der Erde versinken wollte.
Das Aroma von Salz und Algen drang Lila in die Nase. Lila zuckte zusammen, als sie den beißenden Geruch wahrnahm. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Lider waren schwer wie Blei. Das tosende Krachen der Brandung ließ den nassen Boden erzittern. Die brechenden Wellen konnten nur einige Meter entfernt sein. Lila spürte die Bewegung des Wassers hinter sich.
Lila versuchte, sich zu bewegen. Ihre Arme, ihre Beine, eigentlich der ganze Körper schmerzte. Sie fühlte sich, als ob sie mitten aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden war. Auf all ihren Muskeln schien das Gewicht von tausend Tonnen zu lasten.
Jetzt entschloss sich Lila, gegen die wahnsinnige Müdigkeit zu kämpfen, die auf ihr lag. Sie sammelte ihre Kraft. Doch in diesem Moment reichte sie allein dazu, ihre Augen zu öffnen. Durch einen Schleier sah Lila nur ein dunkles Grau. Erst als sie es geschafft hatte, sich wenigstens auf ihre Ellbogen zu stützen, nahm sie wahr, was um sie herum passierte.
War es Nacht? Oder brach bereits das Morgengrauen über dem Strand herein? Die grauschwarzen Wolkenberge türmten sich gigantisch über Lila auf. Nur an wenigen Stellen blitzte weißes, aber trübes Licht am Himmel hervor. Langsam, ganz langsam ließ Lila ihren Blick über den Strand gleiten. Vor ihr lag körniger Sand, der in einiger Entfernung bis an eine graue Wand aus Kreidefelsen reichte. Das Meer hatte die Felsen über viele Jahre hin ausgespült. Noch vor kurzer Zeit musste die Flut an der Stelle gewütet haben, an der Lila jetzt lag. Darum war der Boden unter ihr nass. In kleinen Prielen stand schaumiges Meerwasser. Lila drehte sich um. Hinter ihr lag der Ozean. Die Wucht der tobenden Wellen beruhigte sich erst kurz vor dem Strand.
Lila stöhnte, als sie sich auf ihre Knie setzte. Was war ihr nur geschehen? Warum fühlte sie sich so erschlagen? Wie war sie hier hergekommen? Aber so sehr Lila auch nachdachte, es fiel ihr nicht ein. Sie erinnerte sich nicht. Lila schaute nach rechts und nach links, auf den Ozean und an den Felswänden entlang. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, sofern Lila das in der bleiernen Finsternis beurteilen konnte.
Endlich gelang es Lila, sich auf ihre Füße zu stellen. Sie taumelte, bevor sie ihr Gleichgewicht fand. Sie sah an sich herab. Ihre Kleider waren zerschlissen. Ihr langes, violettes Haar hing strähnig über ihre Schultern herab. Überall war Sand. Auf ihrer Hand klaffte ein Schnitt. Er blutete. Hilflos suchte Lila in ihren Hosentaschen. Ein zerknülltes Taschentuch war darin. Es war feucht. Als Lila es sich um die Hand band, brannte es. Das Tuch war voller Salzwasser.
Lilas Kopf dröhnte. Sie wünschte sich, dass das ohrenbetäubende Donnern der Brandung verstummen würde. Aber das tat es nicht.
Wohin sollte sie gehen? Nach rechts? Nach links? Sollte sie versuchen, die Kreidefelswand hinaufzuklettern? Wenn sie sich doch nur erinnern konnte, was geschehen war! Dann hätte sie vielleicht auch gewusst, wo sie sich überhaupt befand. Weder rechts noch links konnte Lila ein Ende des Strandes erkennen. Jeder Schritt kostete Kraft. Sie hatte keine Idee, was sie tun konnte. Was war vernünftig? Vielleicht sollte sie besser bleiben wo sie war. Vielleicht suchte jemand nach ihr und würde sie retten.
Lila blickte zum Himmel. So bedrohlich die gewitterschweren Wolken über ihr auch schienen, so boten sie ihr doch Schutz. Noch drang kein wirkliches Tageslicht hinab. Aber was sollte geschehen, wenn es hell würde? Lila entschied sich, sich in die Nähe der Kreidefelsen zu begeben. Vielleicht gab es dort eine Höhle, eine Grotte, in der sie sich verstecken konnte, wenn es sein musste.
Sie schleppte sich über den Strand. Erst jetzt spürte Lila, wie durstig sie war. Außerdem wurde der Weg mit jedem Schritt beschwerlicher. Über den nassen Sand zu laufen, war nicht so schwer. Aber in den weichen, staubigen Sand sank sie mit jedem Schritt ein bisschen in den Boden ein.
Endlich, nach Minuten, die Lila wie Stunden vorkamen, hatte sie die Felswand erreicht. Sie drehte sich wieder nach dem Meer um. Der Ozean wütete am ganzen Horizont entlang. Die ganze Welt schien unter den Wolkenriesen zu liegen.
Lila lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand. Jetzt, da sie ein wenig Erleichterung spürte, gaben ihre Knie wie von selbst nach. Sie rutschte mit dem Rücken an dem glatten Felsen nach unten. Plötzlich saß sie wieder auf der Erde im weichen Sand.
Was um alles in der Welt war denn nur geschehen? Ganz alleine war sie hier an diesem Strand. Plötzlich konnte Lila es nicht mehr zurückhalten: Sie begann zu weinen. Niemand war da, der erklären konnte, was passiert war. Niemand war da, der sie tröstete. Und niemand, der ihr einen Rat geben konnte, was sie tun sollte. Frau Spitzhak hätte Lila sicherlich einen Rat geben können.
Richtig – Frau Spitzhak! Vor nicht allzu langer Zeit war Lila noch bei ihr gewesen, bis sie – Jetzt fiel es Lila wieder ein. Ihr war, als hätte sie seit Tagen nicht an Frau Spitzhak gedacht. Dabei hatte Lila doch eigentlich ihr ganzes Leben bei der alten Frau verbracht. Wie sehr wünschte sich Lila jetzt in das gemütliche Haus zurück. Für andere Menschen mochte es wohl ein bisschen ungewöhnlich dort gewesen sein. Aber Lila war immer glücklich dort gewesen. Dafür hatte Frau Spitzhak immer gesorgt.
Es war wahrlich kein gewöhnliches Leben, was Lila dort führte. Aber ein „normales“ Leben konnte Lila wegen ihrer Krankheit sowieso nicht führen. Das hatte Frau Spitzhak ihr von klein auf erzählt. Dass Lila immer achtsam sein musste, dass ihr nichts geschah. Was für ein Glück es gewesen war, dass Frau Spitzhak Lila damals als Baby auf ihrer Türschwelle gefunden hatte. Denn Frau Spitzhaks Haus war ideal für ein Kind wie Lila.
Frau Spitzhak war ein Nachtmensch. In dem windschiefen, dreistöckigen Haus hielt und züchtete sie alle möglichen Nachttiere. Zum Beispiel auf dem hohen Dachboden, dort lebte eine Fledermauskolonie. Als Kleinkind hatte Lila vor den Fledermäusen noch Angst gehabt. Aber als sie etwas größer wurde, stellte sie fest, dass sich mit Fledermäusen wunderbar spielen ließ. Lila hatte einige Fledermäuse sogar dressiert.
Ein winziges Zimmer im Obergeschoss war das Hamsterzimmer. Die Hamster lebten hier nicht in einem Käfig. Frau Spitzhak hatte für die Hamster eine komplette Landschaft aus Streu, Stroh, Ästen und Zweigen gebaut. Sobald es Nacht wurde, kamen die Hamster aus ihren Bauen hervor und spielten miteinander. Lila liebte es, den Hamstern stundenlang zuzusehen. Manche Hamster waren zahm und krabbelten gerne auf ihr herum.
Was Lila in Frau Spitzhaks Haus ganz besonders liebte, war das Glühwürmchenkabinett. Das war eine kleine Kammer, in die Frau Spitzhak Büsche und Pflanzen gestellt und den Boden mit Moos ausgelegt hatte. Hier lebten Hunderte von kleinen Glühwürmchen, die als klitzekleine Lichtpunkte durch die finstere Kammer schwirrten. Lila hielt sich bei den Glühwürmchen ganz besonders gerne auf, denn das Licht der Insekten schadete ihr nicht. Außerdem sah es so hübsch und gemütlich, fast wie verzaubert, aus.
Es gab noch andere Tiere, die Lila ganz besonders mochte. Zum Beispiel die Tauben. In den Baumwipfeln um das Haus herum lebten Unmengen von weißen Tauben. Am schönsten war es, wenn Vollmond war: Das helle Mondlicht reflektierte auf dem Gefieder der Tauben, so dass es aussah, als ob die Vögel im Dunkeln leuchteten. Zwar waren sie eher am Tage unterwegs – aber die Tauben hatten sich daran gewöhnt, dass Lila ihnen in der Nacht Futter zuwarf. Mit der Zeit kannte Lila die Tauben so gut, dass sie sogar ihren Ruf nachahmen konnte. Ja, wirklich, es schien unglaublich - aber wenn Lila diesen „Taubenruf“ ausstieß, dann kamen sofort einige Tauben zu ihr und setzten sich auf ihre Hände, Schultern und den Kopf.
Frau Spitzhak kümmerte sich auch um kranke Tiere und pflegte sie gesund. Zum Beispiel lebte einige Zeit ein Dachs bei ihnen im Haus, der sich einen Fuß gebrochen hatte. Ein Marder, der mit dem Schwanz in ein Fuchseisen geraten war, war auch eine Zeitlang dort.
Seit einigen Tagen gab es ein neues Haustier, das nicht verletzt war. Aber es sich bei Lila und Frau Spitzhak wohl zu fühlen. Weder Frau Spitzhak noch Lila konnten genau sagen, was das für ein Nachtvogel war, der sich seit kurzem vor ihrem Haus aufhielt. Frau Spitzhak vermutete, dass es eine Art Uhu war. Aber es war eine Art von Uhu, die man vorher noch nie gesehen hatte. Er flatterte stets um das Haus herum und guckte in die Fenster. Es dauerte nicht lange, bis er Lila und Frau Spitzhak aus der Hand fraß. Die beiden mochten den ulkigen Nachtvogel und tauften ihn auf den Namen „Erwin“. Uhu Erwin wurde mit der Zeit immer zutraulicher. Schließlich bekam er einen eigenen Platz im Wohnzimmer; Frau Spitzhak hatte einen Ast aus dem Wald an zwei Ketten an die Decke gehängt. Hier hatte Erwin nun seinen festen Platz im Haus. Erwin durfte sich im Haus bewegen, wie er wollte. Manchmal machte er auch Rundflüge über die Wipfel des Tobanja-Waldes. Aber treu wie er war, kehrte er immer wieder zu Lila und Frau Spitzhak zurück.
Obwohl Erwin schnell handzahm geworden war und gerne auf Lilas Arm saß, war einmal etwas sehr merkwürdiges geschehen, kurz nachdem Erwin bei ihnen aufgetaucht war. Eigentlich tat Lila gerade nichts außergewöhnliches, sie spülte Geschirr in der Küche ab. Erwin saß dabei neben ihrem Kopf und schaute interessiert zu. Als Lila ein kleines Holzbrettchen in das Seifenwasser fallen ließ, hackte Erwin plötzlich wie aus heiterem Himmel mit seinem scharfen Schnabel in Lilas Schläfe. Lila schrie erschrocken auf. Im gleichen Moment breitete Erwin die Flügel aus und flatterte aus der Küche. Atemlos hielt Lila sich die Hand auf die Brust und sah dem Vogel nach. Was war in ihn gefahren? Lila tastete nach dem Biss mit den Fingerspitzen an ihrer Schläfe. Aus einer Wunde tropfte dunkelrotes Blut.
Glücklicherweise hatte Frau Spitzhak eine große Sammlung von Kräutern und selbstgebrauten Medikamenten. Zwar hatte Erwin nicht den Eindruck erweckt, irgendwie krank zu sein, aber sicher war sicher: Lilas Wunde musste versorgt werden.
„Bestimmt hat er sich genauso erschreckt wie du“, vermutete Frau Spitzhak, als sie ein Pflaster aus Moos auf ihre Schläfe klebte. „Er hat es bestimmt nicht mit Absicht gemacht.“
Das glaubte Lila auch. Und Erwin hatte das auch danach nicht wieder getan. Er blieb zahm und liebevoll. Lila war froh darüber. Wenn Erwin ein gefährlicher Uhu gewesen wäre, hätte er nicht im Haus bleiben dürfen. Aber als Nachtvogel passte er doch so gut in das Haus von Frau Spitzhak.
Lila liebte das Haus. Es war immer finster dort. Und das war für Lila ganz besonders wichtig.
Als Frau Spitzhak Lila damals auf der Türschwelle gefunden hatte, lag ein Zettel neben dem schreienden Bündel. Wer Lila dort bei Frau Spitzhak abgelegt hatte, das wusste niemand. Derjenige hatte aber geschrieben: „Wir werden Lila, sobald wir können, wieder abholen.“ Das war jetzt so viele Jahre her. So viele Jahre, in denen nichts dergleichen geschehen war. Der oder die Unbekannte hatte eine sehr wichtige Warnung auf den Zettel geschrieben: Lila musste immer auf sich aufpassen. Sie musste immer darauf Acht geben, dass sie auf keinen Fall hellem Licht ausgesetzt wurde. Ja, Lila litt unter einer schweren Lichtallergie. Sie durfte unter keinen Umständen in die Sonne gehen. Selbst eine Straßenlaterne in der Nacht war vielleicht schon zu hell für sie. Was geschehen würde, wenn das Licht auf Lilas Gesicht oder ihre Arme traf, das wusste niemand – denn glücklicherweise war es ja nie soweit gekommen. Vielleicht würde sie Quaddeln kriegen oder Ausschlag. Vielleicht würden ihr aber auch die Haare ausfallen oder ihre Haut verbrennen.
So war es eigentlich ein Glücksfall, dass Lila bei Frau Spitzhak gelandet war. Denn Frau Spitzhak hatte ihr Leben den Nachttieren gewidmet. Sie stand abends, wenn die Sonne unterging, auf und ging bei Tagesanbruch ins Bett. Und so war Lilas Leben auch geregelt: Wenn andere Menschen für gewöhnlich schlafen gingen, stand sie erst auf. Frau Spitzhak nannte Lila deshalb auch manchmal liebevoll „mein kleiner Vampir“.
Lila hatte ihr ganzes Leben in Dunkelheit verbracht. Eigentlich liebte sie die Finsternis. Manchmal verbrachte sie die Nächte auf dem Dach des Hauses. Der blanke Schein des Silbermonds konnte ihr nichts anhaben. Das war wundervoll, denn unter dem Mondschein hatte Lila immer die allerschönsten Tagträume – nur dass man die in Lilas Fall „Nachtträume“ nennen musste.
Was allerdings etwas schade war: Lila hatte nur wenige Freunde. Schließlich hatte sie nie zur Schule gehen können. Es gab keine Schule, in der der Unterricht bei Nacht stattfand. Und das Haus von Frau Spitzhak lag so weit abseits im Wald, dass es keine Nachbarn gab. In ihrem ganzen Leben war Lila nur wenigen anderen Menschen begegnet, zum Beispiel dem freundlichen Alexander. Der brachte einmal in der Woche mit seinem Motorrad Lebensmittel, die Frau Spitzhak bestellt hatte. Manchmal kam auch Herr Taubenblau, er war ein alter Freund von Frau Spitzhak. Über den Besuch von Herrn Taubenblau freute sich Lila immer besonders, und zwar deshalb, weil Herr Taubenblau dann seine Neffen, die Zwillinge Anatol und Bernhard mitbrachte. Sie waren über all die Jahre im Tobanja-Wald die einzigen, gleichaltrigen Spielgefährten von Lila gewesen. Leider kamen sie nicht so häufig zu Besuch, wie Lila es sich gewünscht hätte.
Frau Spitzhak kümmerte sich um Lila, so gut sie konnte. Sie sorgte dafür, dass Lila Lesen und Schreiben lernte. Sie sorgte dafür, dass Lila mit Zahlen umgehen konnte. Und sie sorgte dafür, dass Lila es trotz der Einsamkeit in dem alten Haus nicht langweilig wurde. Denn Frau Spitzhak konnte noch viele andere Dinge, außer sich um die Nachttiere zu kümmern. Zum Beispiel war Frau Spitzhak eine Meisterin darin, aus Buchstabensuppe (das Leibgericht der beiden) Geschichten vorzulesen. Sie sah nur die Buchstaben, und gleich fiel ihr eine Geschichte ein. Manchmal merkte Frau Spitzhak, dass Lila die Gesellschaft von anderen Menschen fehlte. Dann kostümierte sie sich in den verrücktesten Verkleidungen und begegnete Lila irgendwo im Haus immer als eine andere Figur: Mal war sie eine beschwipste Fee, mal ein trauriger Clown, mal ein Kobold oder auch einmal eine giftige Tante. Frau Spitzhak war wirklich ein Schatz, fand Lila.
Lila hatte den Winter immer lieber gehabt als den Sommer. Nämlich aus dem Grund, dass die Nächte im Winter viel länger waren als im Sommer. So konnte Lila das alte Haus verlassen, durch die Wälder streifen und die Gegend erkunden. Oft fragte sie sich, wie das ganze bei Licht aussehen würde. Aber davon hatte sie nur eine vage Vorstellung. Wie kräftige Farben und Helligkeit aussahen, das wusste Lila nicht. Alles, was Lila über die Welt draußen wusste, kannte sie nur aus Büchern und aus dem Fernsehen. Ja, Frau Spitzhak hatte einen kleinen Fernseher, mit dem man zwei Programme empfangen konnte. Da das Haus hier draußen im Tobanja-Wald nicht an das Stromnetz angeschlossen war, hatte Frau Spitzhak einen kleinen Generator gebaut. Um fernzusehen oder ein anderes elektrisches Gerät zu benutzen, musste man erst auf einem Fitness-Fahrrad so lange in die Pedale treten, bis genug Strom geladen war.
Wenn Lila traurig war, weil sie die ganze Welt nur aus Büchern und vom Bildschirm kannte, strich Frau Spitzhak ihr über das violette Haar und sagte: „Mein lieber kleiner Vampir, sei nicht traurig. Denk an all die Dinge, die du zu sehen bekommst, aber kein anderer.“
Dass Frau Spitzhak so gut mit Lila umgehen konnte, lag vielleicht daran, dass Lila nicht das erste Kind war, um das sie sich kümmerte. Schon damals, als Frau Spitzhak noch eine junge Frau gewesen war, hatte sie sich um einen kleinen Waisenjungen gekümmert. Zu der Zeit hatte sie noch in der Stadt unter anderen Menschen gelebt. Aber als der kleine Junge erwachsen geworden war und sein Zuhause verließ, zog Frau Spitzhak sich in die Wälder zurück. Mit Lila sprach sie nie viel über das Kind. Lila wusste noch nicht einmal den Namen von Frau Spitzhaks Ziehsohn. In den ersten Jahren hatte er ihr noch regelmäßig geschrieben. Aber dann hatte Frau Spitzhak nichts mehr von ihm gehört. Das machte sie wohl sehr traurig, dachte Lila. Aber jetzt hatte sie Lila, den Uhu Erwin und all die anderen Tiere.
Lila kauerte an der Felswand und hatte ihr Gesicht zwischen ihren Knien vergraben. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte. Besorgt blickte sie zum Himmel. Er war noch ebenso grauschwarz wie vorher. Die Sonne machte keine Anstalten, sich zu zeigen. Solange sich das nicht änderte, war Lila wenigstens vor dem Licht in Sicherheit.
Hier konnte sie nicht bleiben, das wusste sie. Lila konnte nicht darauf warten, dass vielleicht jemand vorbeikommen würde und sich um sie kümmerte. Außerdem war sie viel zu durstig. Das Wasser in den Prielen im Schlick war Salzwasser, das konnte sie nicht trinken.
Lila richtete sich auf und stellte sich auf ihre Füße. Sie fühlte sich immer noch etwas benommen, aber nicht mehr ganz so wie vorher.
Was hätte Frau Spitzhak ihr geraten? Lila hörte die Stimme der alten Frau regelrecht in ihren Ohren: „Mein kleiner Vampir, du bist elf Jahre alt. Alt genug zu entscheiden, ob du dich auf deinen Kopf oder auf deinen Bauch verlassen willst.“
Sich auf ihren Kopf zu verlassen, das hatte keinen Zweck, das wusste Lila. Denn sie hatte ja keine Ahnung, was hier überhaupt vor sich ging. Also musste der Bauch die Antwort liefern. Lila schaute nach rechts. Dann blickte sie nach links. Eigentlich sahen beide Seiten gleich aus: Es gab nur den finsteren Strand, der irgendwo in absoluter Finsternis verschwand. Hin und wieder ragten hohe, scharfe Felsen aus dem Sand.
Lila schloss die Augen und stellte sich die Frage: „Rechts oder links?“. Dann horchte sie tief in sich hinein. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie in ihrem wunderschönen gemütlichen Bett bei Frau Spitzhak immer nach links gedreht lag. Das war einerseits sehr bequem, andererseits weg vom Fenster, durch das ja immer ein wenig Licht dringen konnte.
„Links!“ schoss es Lila durch den Kopf. Sie wandte ihren Körper nach links und begann zu laufen. Sicherheitshalber blieb sie immer in der Nähe der Felswand – falls sie schnellen Schutz vor den Sonnenstrahlen suchen musste.
„Frau Spitzhak hat recht“, dachte Lila. „Es war richtig, sich auf meinen Bauch zu verlassen. Was würde sie mir noch raten?“
Da fiel Lila schlagartig wieder ein, dass Frau Spitzhak ihr gar nichts raten konnte. Nicht nur, weil sie nicht in der Nähe war, nein... Waren es Tage? Oder waren es Wochen, in denen sie Frau Spitzhak nicht gesehen hatte? Richtig, es war ja etwas passiert...
Frau Spitzhak liebte es zu kochen. Mit dem Motorrad brachte Alexander ja jede Woche einen Korb voller Lebensmittel, aber Frau Spitzhak bediente sich auch an dem, was der Wald bot. Zum Beispiel sammelte sie Pilze. Sie konnte jeden Giftpilz von einem leckeren, genießbaren Pilz unterscheiden. Außerdem kochte sie herrliche Gerichte aus gesammelten Wurzeln und Beeren.
Was Frau Spitzhak außerdem sehr liebte, waren Krebse. Einige Meilen entfernt vom Haus gab es einen See. Ab und zu wanderte Frau Spitzhak dorthin, um Krebse zu fangen. Lila begleitete sie nur selten, denn der See war zu weit entfernt. Die Gefahr, dass sie es nicht vor Sonnenaufgang nach Hause schafften, war zu groß.
Wenn der Nachtnebel bei Vollmond über dem See schwebte, dann war für Frau Spitzhak die beste Zeit, Krebse zu fangen. Daraus kochte sie dann zu Hause ein leckeres Gericht, verfeinert mit edlen Kräutern, die sie ebenfalls im Wald gesammelt hatte.
Während Frau Spitzhak unterwegs war, vertrieb sich Lila die Zeit alleine. Entweder spielte sie im Haus oder kletterte in den hohen Bäumen herum. Darin war Lila unschlagbar, sie konnte klettern wie ein Affe – und Höhe machte ihr gar nichts aus.
Das letzte Mal, als Frau Spitzhak Krebse fangen ging, war, als die Tage wieder länger und die Nächte kürzer wurden. Ja, es musste kurz nach Frühlingsanfang gewesen sein. Denn Lila spürte, wie sich die Luft im Wald veränderte. Außerdem sah sie im Nachtlicht, wie sich tagsüber Knospen an den Sträuchern geöffnet hatten. Das war zwar sehr schön. Aber für Lila bedeutete es auch, dass die Nächte mit jedem Tag, bis zur Sommersonnenwende, kürzer wurden. Und je länger ein Tag dauerte, desto mehr Gefahr bestand, dass das Sonnenlicht Lila erreichte.
Lila winkte Frau Spitzhak nach, als sie an diesem Abend auf Krebsfang ging. Der Uhu Erwin saß auf Frau Spitzhaks Buckelkorb, der über ihren Schultern hing. Aber dann entschied Erwin sich noch einmal um und flog zu Lila zurück. Wahrscheinlich würde Frau Spitzhak erst gegen Morgen wiederkommen. Es war also noch ungewiss, ob Lila und Frau Spitzhak sich in dieser Nacht noch begegnen würden.
Lila schaute nach den Fledermäusen, nach den Hamstern und nach den Glühwürmchen. Außerdem war in der Stube gerade ein Hermelin zu Gast, das sich an seiner Brust verletzt hatte. Aber es war nach Frau Spitzhaks Behandlung auf dem Weg der Besserung.
Tatsächlich ging es dem Hermelin heute Nacht wieder richtig gut. Nachdem es anfänglich etwas schüchtern war, fraß es Lila nach einiger Zeit sogar aus der Hand. Dann spielte Lila mit dem Hermelin. Es war kitzlig, wie Lila beim Herumtoben feststellte: Als sie ihm den Bauch kraulte, fiepste das weiße Tier vor Vergnügen.
Zweifellos ging es dem Hermelin wieder prächtig. Also entschloss sich Lila schweren Herzens, dem Tier seine Freiheit zurückzugeben. Sie brachte es auf eine Lichtung, die nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt war. Dort setzte sie es in den Schein des Mondlichts auf den Boden. Das Hermelin legte den Kopf schief und schaute Lila fragend an. Als Lila dem Tier freundlich und aufmunternd zunickte, fiepste es noch einmal und sprang mit großen Sprüngen zwischen den Büschen hindurch in den Wald. Lila winkte dem kleinen Kerl noch ein wenig nach, selbst wenn er längst schon über alle Berge war. Erwin kreiste noch einige Runden über den Baumkronen, um festzustellen, dass das Hermelin auch wirklich seinen Weg fand.
Lila ging zurück nach Hause. Auf dem Weg dorthin kam sie an einem Strauch vorbei, an dem viele Frühlingsnachtastern wuchsen. Diese Blumen hatten einen ganz besonderen Duft, den sowohl Frau Spitzhak als auch Lila sehr liebten. Lila pflückte ein paar davon. Vielleicht konnte sie Frau Spitzhak damit überraschen.
Erst jetzt fiel ihr auf, wie lange sie sich mit dem Hermelin beschäftigt hatte. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis die Morgendämmerung hereinbrach. Es war Zeit für Lila, sich in ihre Kammer zurückzuziehen und schlafen zu gehen, bevor die Sonne aufging.
Frau Spitzhak war noch nicht zurück. Lila war ein wenig enttäuscht, aber machte sich keine Sorgen. Der Weg war weit, und der Krebsfang kostete Frau Spitzhak viel Zeit. Sie würden sich ja spätestens in der nächsten Nacht wiedersehen. Vielleicht überraschte Frau Spitzhak Lila ja morgen Abend mit einem köstlichen Frühstück (trotzdem sie es abends zu sich nahmen, nannten Lila und Frau Spitzhak die Mahlzeit „Frühstück“). Das tat sie manchmal, wenn sie in der vorherigen Nacht so spät nach Hause kam, dass sie Lila nicht mehr gute Nacht (vielmehr „guten Tag“) wünschen konnte. Lila kam eine Idee: Sie stellte das Glas mit den herrlich duftenden Nachtastern direkt vor die Haustür. Wenn Frau Spitzhak mit ihren Krebsen nach Hause kam, würde sie den Strauß mit den herrlichen Blumen sofort entdecken. Das war bestimmt eine fantastische Überraschung! Auch Erwin heulte begeistert über diesen Plan. Dann zog er sich mit Lila zurück und bewachte ihren Schlaf.
Als Lila am nächsten Abend aufwachte, zog kein Frühstücksduft durch das Haus. Sie hörte auch kein Poltern oder kein gutgelauntes Singen von Frau Spitzhak. Es herrschte Stille. Das war merkwürdig. Lila stand auf und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Der wohltuende Geruch der Nachtastern hatte sich überall hier unten ausgebreitet. Aber Frau Spitzhak war nirgends zu sehen.
Lila erschrak, als sie feststellte, dass der Blumenstrauß noch immer an der Stelle stand, wo sie ihn am frühen Morgen drapiert hatte. Das musste bedeuten, dass Frau Spitzhak nicht nach Hause gekommen war. Sonst hätte sie die Nachtastern ganz bestimmt auf einen Tisch gestellt. Für alle Fälle vergewisserte Lila sich und rief: „Frau Spitzhak? Frau Spitzhak!“
Niemand antwortete. Lila öffnete die Haustür und schaute nach draußen. Der nächtliche Wald lag in seiner gewohnten Stille vor ihr. „Frau Spitzhak?“ schallte Lilas Stimme zwischen den Bäumen hindurch. Wieder kam keine Antwort.
Was hatte das zu bedeuten? Wenn Frau Spitzhak hätte länger wegbleiben wollen, hätte sie Lila das bestimmt gesagt. Ob ihr etwas zugestoßen war? Irgendwas musste sie aufgehalten haben, das war sicher. Aber Frau Spitzhak war gewitzt und wusste sich zu helfen. Bestimmt würde sie bald nach Hause kommen.
„Erwin?“ rief Lila. „Erwin!“
Es dauerte keine zehn Sekunden, bis der Nachtvogel angeflogen kam und sich auf Lilas ausgestreckte Hand setzte. Er blickte Lila erwartungsvoll an.
„Such Frau Spitzhak!“ forderte Lila ihn auf. „Frau Spitzhak! Verstehst du?“
Erwin legte den Kopf schief und stieß einen kleinen Eulenschrei aus. Dann breitete er die Flügel aus und flatterte davon. Lila sah ihm nach, wie er im nächtlichen Wald verschwand. Erwin war klug und kannte Frau Spitzhak. Bestimmt würde er sie finden und bald nach Hause bringen. Vielleicht hatte sie sich ja verirrt? Dann war Erwin der Retter in der Not zum richtigen Zeitpunkt.
Die Stunden verstrichen. Noch immer war Frau Spitzhak nicht zu Hause. Lila saß in der Küche und schaute aus dem Fenster in die Nacht. Bis vor einiger Zeit war sie noch der festen Überzeugung gewesen, dass Frau Spitzhak jeden Moment mit ihrem Buckelkorb zwischen den Bäumen hindurch treten würde. Und Erwin würde rufend auf dem Korb sitzen, stolz, dass er Frau Spitzhak gefunden hatte. Jetzt war Lila sich nicht mehr ganz so sicher. Sie fürchtete sich ein wenig. Was konnte Frau Spitzhak nur geschehen sein? Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit, vielleicht war es überhaupt nicht schlimm. Aber es war ganz einfach nicht ihre Art, so ohne weiteres von zu Hause fernzubleiben. Lila versuchte, sich mit einem kleinen Lächeln zu beruhigen. Bestimmt würde sich bald alles aufklären, und sie und Frau Spitzhak würden darüber lachen.
Plötzlich sah Lila durch das Küchenfenster, wie sich etwas im Wald bewegte. Etwas flatterte aufgeregt zwischen den Baumstämmen hin und her und näherte sich dem Haus. Als Lila erkannte, was das war, stockte ihr der Atem. Sofort riss sie das Küchenfenster auf.
Denn es war Erwin, der Nachtvogel, der da ganz allein aufgeregt durch die Nacht flog.
„Erwin!“ rief Lila. „Was ist passiert? Hast du Frau Spitzhak nicht gefunden?“
Natürlich konnte Erwin nicht antworten. Aber als er auf Lilas Arm landete, sah Lila in seinen kreisrunden Augen, dass etwas nicht in Ordnung war. Angst überkam Lila.
„Erwin“, flüsterte sie leise. „Wenn du doch nur reden könntest. Was ist denn nur geschehen? Warst du am See?“
Erwin stieß einen kleinen Schrei aus und legte den Kopf schief. Es war, als ob er antworten würde.
Die Stunden bis zum Morgengrauen verbrachte Lila mit nervösem Auf- und Abgehen. Immer noch in der Hoffnung, dass Frau Spitzhak eventuell doch noch zurückkommen würde. Aber sie tauchte nicht auf. Irgendwann bemerkte Lila, dass das Morgengrauen nicht mehr weit war. Durch die Baumwipfel drang das erste Tageslicht. Das war die Zeit, zu der es draußen gefährlich für Lila wurde.
Erwin saß mittlerweile auf seinem Ast im Wohnzimmer. Die Aufregung hatte ihn müde gemacht. Außerdem hatte er ja einen sehr ausgiebigen Flug auf der Suche nach Frau Spitzhak hinter sich gebracht. Seine Augen wurden schwer, bis der Vogel schließlich einschlief.
Auch Lila begab sich in ihre Kammer ins Bett. Zunächst war an Einschlafen nicht zu denken: Die ganze Zeit grübelte Lila über Frau Spitzhak nach. Aber schließlich bezwang die Müdigkeit Lila. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
Allzu lange dauerte der Schlaf nicht: Schon als die Sonne am nächsten Abend unterging, erwachte Lila. Der letzte Funken Hoffnung, dass Frau Spitzhak vielleicht doch wiedergekommen war, erfüllte sich nicht. Lila war noch immer alleine im Haus.
Lila lugte durch die Fensterläden nach draußen. Gleich war es dunkel genug, dass sie das Haus verlassen konnte.
Bald war die Sonne untergegangen. Lila schaute nach Erwin. Der Uhu saß niedergeschlagen auf seiner Stange. Seine gelben Augen leuchteten traurig.
„Komm, Erwin!“ flüsterte Lila und hielt ihm ihren Arm hin. „Wir gehen Frau Spitzhak suchen. Heute suchen wir zusammen. Vielleicht finden wir sie gemeinsam. Lass uns in den Wald gehen.“
Erwin schien zu verstehen. Vorsichtig stieg er mit seinen Vogelfüßen von seiner Stange auf Lilas Handgelenk. Dann nutzte er dem Arm wie eine Treppe und kletterte bis zu ihrer Schulter rauf.
Sicherlich würde sie ein paar Stunden unterwegs sein. Daher packte sich Lila zwei Brote mit Rübensirup ein. Dann verließ sie das alte Waldhaus.
Mehr als zwei Stunden lief Lila mit Erwin auf der Schulter durch den finsteren Nachtwald. Glücklicherweise waren ihre Augen an die Dunkelheit so gewöhnt, dass Lila in der nächtlichen Schwärze gut sehen konnte.
Durch die Jahre hinweg kannte Lila den Wald in- und auswendig. So wusste sie genau, wo entlange der Weg zum See führte, in dem Frau Spitzhak immer Krebse fing. Nirgends war eine Spur der alten Dame auszumachen. Je näher Lila dem See kam, desto aufgeregter wurde sie. Vielleicht würde sich das Geheimnis am Ufer des Sees offenbaren. Erwin führte sich höchst merkwürdig auf. Je weiter Lila sich von zu Hause entfernte, desto häufiger und lauter fing er an, seine Kauzschreie auszustoßen.
Endlich war Lila an ihrem Ziel angelangt. Der See lag glatt und ruhig vor ihr. Das fahle Mondlicht spiegelte sich in der unbewegten Oberfläche. Lichte Nebelfetzen lagen über dem Wasser.
Lila merkte, wie Erwin auf ihrer Schulter unruhig wurde, je mehr sie sich der Stelle näherte, an der Frau Spitzhak immer mit ihrem Krebsnetz gesessen hatte. Kurz bevor sich Lila den Weg durch das Schilf gebahnt hatte, stieß Erwin einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Aus heiterem Himmel raste er steil in die Höhe, drehte eine kleine Runde über dem Schilf und ließ sich dann wieder auf Lilas Schulter nieder.
„Ruhig, Erwin!“ flüsterte Lila dem Uhu zu. Sie streichelte ihm behutsam über die braun gescheckten Federn. Aber Erwins Aufregung ließ nicht nach. Was war nur los mit ihm?
Nun hatte Lila Frau Spitzhaks Platz erreicht. Hier war das Schilf abgeknickt. Ein Schachtelhalm war völlig zerfetzt. Auf der Erde konnte Lila Fußspuren entdecken. Die Abdrücke in der feuchten Erde – Lila war sich nicht sicher, ob die nur von Frau Spitzhaks kleinen Wanderschuhen hinterlassen worden waren - oder ob da nicht noch andere Abdrücke waren. Abdrücke, die größer schienen und vorne spitz zusammen liefen.
Das, was Lila erschrecken ließ, war allerdings die Entdeckung, die sie neben dem zerfetzten Schachtelhalm machte: Frau Spitzhaks Krebsnetz lag zerrissen daneben. Halb hatte es sich in den Pflanzen verfangen, halb lag es im Wasser. Daneben lag ihr Buckelkorb. Den hatte Lila nicht gleich sehen können, weil er ins Schilf gestürzt war.
Ein Schauer überkam Lila. Jetzt war sie absolut sicher, dass Frau Spitzhak etwas schlimmes zugestoßen war. Und darum Lila begann zu weinen.
Als Lila sich diesen Moment wieder aus ihrer Erinnerung hervorholte, füllten sich ihre Augen mit Tränen – ganz genau wie damals. Sie blickte sich wieder um. Aber außer der dunkelgrauen See, dem trüben Strand und den finsteren Kreidefelsen war nichts weiter zu sehen. Jetzt fühlte Lila sich genauso verlassen wie damals. Dazu spürte sie die Angst, die sie immer enger einzuschnüren schien.
„Du darfst nicht aufgeben, kleiner Vampir“, hörte Lila Frau Spitzhak sagen. „Von alleine geschieht nämlich nichts. Das ist nun mal so im Leben.“
Wie recht Frau Spitzhak damit gehabt hatte, dachte Lila. Sie atmete tief durch. Dann sprang sie in die Luft und stieß einen lauten Schrei aus. Das Tosen des Meeres hatte den Schrei schnell verschluckt. Aber es tat trotzdem gut – so konnte Lila das Gefühl der Einsamkeit und ihre Angst abschütteln. Und sie konnte beschließen, dass sie selbst doch viel stärker war als all die blöden Gefühle, die sie nur aufhielten.
„Von alleine geschieht nämlich nichts“, sagte Lila vor sich hin.
Das hatte sie auch damals vor sich hin gesagt, als sie am See weinend im Schilf kauerte. Denn Weinen und Kauern brachte Frau Spitzhak auch nicht zurück zu Lila. Sie musste etwas sinnvolles unternehmen.
Doch - was machte Sinn? Frau Spitzhak im endlosen Tobanja-Wald zu suchen? Und was, wenn Frau Spitzhak gar nicht mehr im Tobanja-Wald war? Vielleicht hatte man sie verschleppt und an einen fernen Ort gebracht.
Bei allem, was Lila sich überlegte, musste sie stets im Hinterkopf behalten, dass sie sich vor dem Morgengrauen vor dem Sonnenlicht in Sicherheit gebracht haben musste. Jetzt war die Nacht schon zu weit fortgeschritten, als dass Lila noch große Unternehmungen machen konnte. Wahrscheinlich war es das Klügste, erst mal nach Hause zurückzulaufen.
Erwin hatte sich derweil ebenfalls wieder ein wenig beruhigt. Er zitterte noch sachte. Lila strich ihm sanft über das Gefieder, während sie ihre letzten Tränen herunterschluckte. „Komm, Erwin“, flüsterte sie. „Ich bringe dich nach Hause.“
Auf dem Weg durch den Nachtwald aß Lila die Brote, die sie sich als Proviant mitgenommen hatte. Bisher war sie viel zu aufgeregt zum essen gewesen, aber sie musste sich ja irgendwann in dieser Nacht noch stärken. Außerdem hatte sie so das Gefühl, dass die Zeit auf dem langen Nachhauseweg schneller verstrich.
Mit dem Blick auf den Mond stellte Lila fest, dass die Nacht sich bald ihrem Ende zuneigen würde. Glücklicherweise konnte der Weg nach Haus nicht mehr allzu weit sein. Es war allerhöchste Zeit, sich vor dem drohenden Sonnenlicht zu verstecken.
Tatsächlich sah Lila nur kurze Zeit später in der Ferne zwischen den Bäumen die Schemen des großen, alten Hauses auftauchen. Das fahle Licht des Mondes wurde immer schwächer. Nun würde es nicht mehr lang dauern, bis die ersten Sonnenstrahlen sich den Weg durch das Blattwerk bahnen würden.
„Da sind wir wieder, Erwin“, flüsterte Lila dem Uhu zu.
Ein Hoffnungsfunken, dass Frau Spitzhak vielleicht mittlerweile nach Hause gekehrt war, überkam Lila. Doch gerade, als sie diesen Gedanken zuende gedacht hatte, hörte sie plötzlich das laute Knacken von Ästen. Gleich darauf erklangen zwei dunkle, merkwürdig verzerrte Stimmen, die in einem scharfen Ton miteinander stritten.
Fast wäre Lila zu Tode erschrocken. Fremde Menschen so tief im Tobanja-Wald? Das war noch nie vorgekommen, solange Lila sich erinnern konnte. Sie war außer Frau Spitzhak, Alexander, und Herrn Taubenblau mit seinen Neffen noch nie anderen Menschen hier begegnet. Waren sie freundlich? Oder waren sie böse?
Als Lila zwei Schatten aus dem Dickicht heraustreten sah, schlüpfte sie schnell hinter einen Strauch, um sich zu verbergen. Ihr stockte der Atem. Durch das dichte Geäst konnte sie nicht ganz genau erkennen, was das für Gestalten waren, die da nur wenige Meter von ihr entfernt aus den Büschen traten.
„Da ist das Haus!“ zischte eine Stimme.
„Dann haben wir das Kind ja gleich in den Fingern“, antwortete die andere Stimme, gefolgt von einem gehässigen Kichern.
Lila zuckte zusammen. Sprachen die beiden Stimmen über sie? Sie merkte, wie Erwin auf ihrer Schulter immer aufgeregter wurde. Sie merkte, wie er den Schnabel öffnete, um zu rufen. Aber es gelang Lila, ihm den Schnabel zuzuhalten. Auch wenn Erwin sich heftig wehrte.
„Komm schon“, dröhnte die erste Stimme wieder. „Liefern wir das Balg ab. Dann herrscht endlich wieder Ruhe.“
„Und dann sind wir die Größten!“ fügte die zweite Stimme hinzu. „Das riecht nach einer wunderbaren Belohnung!“
Unter großem Gelächter entfernten sich die beiden Gestalten Richtung Haus. Lila wagte vor Angst nicht, aus ihrem Versteck auch nur einen kleinen Schritt hervorzutreten. Aber durch die Zweige hindurch sah sie die Silhouetten der beiden Figuren. Obwohl Lila leibhaftige andere Menschen ja fast nur aus dem Fernsehen oder von Bildern kannte, so hatte sie sich andere Menschen nicht so vorgestellt. Nein, dachte Lila. Menschen waren das ganz sicher nicht. Die beiden Kreaturen waren viel größer als sie selbst oder Frau Spitzhak. Sie hatten unheimlich breite, oben spitz zusammenlaufende Schultern. Aus den Schultern ragten lange Arme mit dürren spitzen Fingern daran. Außerdem waren die Gestalten irgendwie... bucklig. Lila sah die Kreaturen nur von hinten, so dass die Köpfe beinahe ein bisschen hinter dem Rücken verschwanden. Zumindest der obere Teil ihrer Köpfe hatte eine ganz andere Form als menschliche Köpfe.
Mit einem angsterfüllten Blick zum Himmel musste Lila feststellen, dass die Morgendämmerung nicht mehr lange auf sich warten ließ. Was sollte sie nur tun? Zwei merkwürdige Geschöpfe, die nichts Gutes im Sinn hatten, steuerten schnurstracks auf ihr Haus zu. Und bald würde die Sonne ihr erstes Tageslicht durch den Wald schicken.
Erwin gelang ein kleiner Schrei. Dann drückte Lila ihm wieder den Schnabel zu.
Die Gestalten blieben stehen. „Was war das?“ kreischte die eine.
„Nur eine Eule!“ zischte die andere. „Komm schon!“
„Welche Eule?“
„Irgendeine Eule!“
„Aber –"
„Komm schon, das Haus! Schnappen wir das Menschlein und dann nix wie weg!“
Panisch hielt Lila dem Uhu den Schnabel zu. Erwin versuchte, ihre Hand mit einem seiner Füße zu lösen. „Bitte, sei still!“ wisperte Lila dem Nachtvogel energisch entgegen. „Es tut mir leid, wenn ich dir wehtue, aber sie dürfen uns nicht erwischen!“
Einige Augenblicke später wagte Lila einen Schritt nach vorne. Die beiden Gestalten waren fast am Haus angelangt und durften eigentlich nicht mehr in Hörweite sein.
Lila schlich ein paar Schritte zurück auf den Waldpfad. Gerade noch konnte sie sehen, wie die beiden großen Gestalten die Stufen zur Haustür hinauf huschten. Gleich darauf ertönte das Krachen von splitterndem Holz. Lila zuckte zusammen. Die Wesen hatten die Haustür aufgebrochen.
Plötzlich schlug Erwin seine Kralle auf Lilas Unterarm. Vor Schreck und vor Schmerz lockerte sie schlagartig ihren Griff um seinen Schnabel. Sie gab sich alle Mühe, den Schmerzensschrei zu unterdrücken. Erwin kreischte auf, flatterte mit den Flügeln und löste sich von Lilas Schultern. Erschrocken sah Lila ihm nach, gleichzeitig von Panik erfüllt, dass die beiden Kreaturen sie hören konnten. Erwin flog über eine Baumkrone und sauste dann direkt auf das Haus zu.
Das durfte nicht wahr sein! Entgeistert musste Lila mit ansehen, wie Erwin direkt durch ein geöffnetes Fenster im Obergeschoss in das Haus flog.
„Wo bist du, du verkommene, kleine Kröte?“ hörte Lila die dunklere der beiden Stimmen aus dem Inneren des Hauses brüllen.
„Komm raus!“ kreischte die andere Stimme. „Auf der Stelle, du missratenes Miststück!“
Lila wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hörte das Poltern, das Krachen und zerbrechendes Glas, dazwischen die beiden Kreaturen, die mit ohrenbetäubenden Geschrei im Haus herum wüteten.
Was mochten sie wollen? Wen oder was suchten die unheimlichen Wesen im Haus? Meinten sie mit der „kleinen Kröte“ Frau Spitzhak - oder Lila selbst?
Weiter kam Lila mit ihren Gedanken nicht, denn ein lauter Knall schallte durch den Wald. Entgeistert beobachtete Lila, wie Holzlatten und Ziegel aus dem Hausdach in alle Richtungen flogen, fast wie bei einer Explosion. Plötzlich erhob sich aus dem Dach ein großer Schwarm kleiner schwarzer, flatternder Gestalten: Es waren die Fledermäuse vom Dachboden, die aufgeschreckt auseinander stoben. Fast hätte Lila „Nein!“ geschrien, aber glücklicherweise besann sie sich rechtzeitig.
„Wo bist du?“ kreischte eine der Stimmen wieder. Gleich darauf gab es einen weiteren Donner im Haus. Die Fensterscheiben zerbarsten. Lila erstarrte, als sie Tausende von kleinen, funkelnden Punkten durch die Nachtschwärze fliegen sah. Das Glühwürmchenkabinett! Wie ein Funkenflug zerstreuten sich die vielen kleinen Lichter rund um das Haus, das von innen gerade immer mehr zerstört wurde.
Lila hatte keine Zeit zu überlegen, was sie tun konnte, denn soeben hörte sie die Stimme des einen Ungeheuers wieder brüllen: „Nun komm endlich raus, du Göre! Ich reiße dir eines deiner Haare nach dem anderen aus!“
Da drang ein lauter Eulenschrei aus dem Haus. Erwin!
„Noch so ein Viehzeug!“ brüllte die gehässige Stimme. „Komm her, du!“
Lila hörte das laute Kreischen des Uhus, dann einen dumpfen Schlag – auf den der Eulenschrei schlagartig verstummte. Erwin! Ob er noch am Leben war? Oder ob sie ihn getötet hatten?
„Irgendwo muss sich doch dieses widerliche Kind herumtreiben!“ hörte Lila die dunkle Stimme schreien. „Es riecht ja alles nach ihr! Es riecht alles nach dem Kind mit den lila Haaren!“
Lila Haare! Die beiden Gestalten waren also auf der Suche nach ihr! Lilas Angst steigerte sich ins Unermessliche. Sie musste hier weg, schleunigst weg! Und während das Poltern und Knallen im Haus weiterging, begleitet von den schrillen Schreien der Eindringlinge, begann sie zu rennen. Lila drehte sich nicht mehr um Sie lief und lief, sprang über Baumwurzeln, trat in Pfützen und wirbelte Laub hinter sich auf.
Erst nachdem sie eine Ewigkeit gerannt war, und die Kraft sie allmählich verließ, wagte es Lila, stehen zu bleiben. Zaghaft drehte sie sich um. Egal wie weit sie vom Haus weg war, in Sicherheit fühlte Lila sich deswegen noch lange nicht. Vielleicht waren ihr diese Monster schon längst auf den Fersen, nachdem sie festgestellt hatten, dass Lila nicht im Haus war. Die Nacht hatte derweil an Schwärze verloren. Das Morgengrauen brach allmählich herein. Lila konnte ihr Zuhause nicht als rettenden Unterschlupf vor der Sonne aufsuchen. Aber sie musste sich vor ihren gefährlichen Strahlen schützen!
Eine riesige Eiche stand dort in der Nähe, am Rande eines kleinen Abhangs. Dort, wo die Wurzeln des Baumes den Abhang berührten, war der Boden ein wenig weggebrochen und die Erde nach unten gerutscht. Auf diese Weise entstand unter den verschlungenen Baumwurzeln eine Art Höhle. Vorsichtig kletterte Lila am Stamm entlang über die Wurzeln und hangelte sich in die Höhle. Viel Platz war dort nicht. Aber wenn Lila den Eingang des kleinen Raumes von innen mit Laub vergrub, würde das Tageslicht sie sicher nicht erreichen. Außerdem wäre sie – hoffentlich – vor den Blicken der unheimlichen Gestalten geschützt, die sicherlich nach ihr suchen würden.
Schnell hatte Lila ihr Versteck gesichert, so gut es ging. Erst jetzt umgab sie die Finsternis wieder völlig. Ein paar bleiche Schimmer, die durch das Laub drangen, ließen Lila das Tageslicht erahnen. Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Vor der Sonne war sie geschützt – aber was war mit ihren Verfolgern? Sie konnte nur hoffen. Noch immer schnürte ihr die Angst die Kehle zu.
Lila dachte an Erwin. Sein Schrei war durch diesen enormen Schlag erstickt worden. Trotzdem hatte Lila noch immer Hoffnung, dass er es vielleicht geschafft hatte. Vielleicht hatten die Eindringlinge das Tier nur zu Boden geschlagen und es musste sich erst wieder erholen. Nein, tot war Erwin bestimmt nicht... oder?
Es wäre schön gewesen, wenn Erwin jetzt mit Lila gemeinsam im Versteck ausgeharrt hätte. Die Vertrautheit des Tieres hätte ihr gewiss Trost gespendet.
Auch wenn Lila ihre Furcht an diesem Tage nicht mehr abschütteln konnte, so übermannte die Müdigkeit sie irgendwann doch. Lila fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Lila konnte den Schrecken dieser Nacht ohne Anstrengung wieder in sich hervorrufen. In dieser Nacht war ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden, als Frau Spitzhak verschwunden war und die beiden unheimlichen Kreaturen ihr Zuhause zerstört hatten. Selbst den Geruch von faulendem, nassen Laub aus ihrem Versteck unter der Baumwurzel hatte Lila noch in der Nase. Sie hatte allerdings auch nicht vergessen, wie sehr sie das Versteck vor dem bedrohlichen Sonnenlicht beschützt hatte.
Lilas Blicke zum wolkenverhangenen Himmel verrieten ihr, dass sie auch hier, am Ufer des Ozeans, bald der Bedrohung durch das Tageslicht ausgesetzt sein würde. In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie ein Sonnenstrahl getroffen hatte. Sie wusste gerade nicht mehr genau, wie und wann – dazu dröhnte ihr Kopf noch viel zu sehr. Aber Lila spürte, dass dieses Ereignis noch gar nicht lange her war. Und es hatte irgendwas damit zu tun, dass Lila sich hier in dieser Nacht an diesem unbekannten, verlassenen Strand wiedergefunden hatte. Doch so sehr Lila sich in diesem Augenblick anstrengte – sie konnte sich nicht erklären, wie das alles zusammenhing. Aber wahrscheinlich, nein, ganz sicher, war der Sonnenstrahl Schuld daran gewesen, dass Lila jetzt alles wehtat.
Irgendwann würde die Sonne sich zeigen – daran bestand kein Zweifel. Was konnte Lila tun, um sich zu schützen? Hier am Strand konnte sie sich allenfalls in den ausgewaschenen Kreidefelsen verstecken. Aber es sah nicht so aus, als würde sie hier eine Höhle oder eine Grotte finden, in der sie sich vor dem Tageslicht komplett verbergen konnte. Lila überlegte. Dabei fiel ihr Blick auf das Tuch, mit dem sich sich die Hand verbunden hatte. Richtig, das war das Tuch, das sie auf dem Schiff aus der Küche gestohlen hatte. Das Essen, das sie darin versteckt hatte, hatte sie aufgegessen. Aber kurz bevor man sie erwischt hatte, hatte Lila das Tuch hastig in ihre Tasche gestopft...
Der Schnitt auf der Hand blutete noch ein wenig. Aber der war jetzt weniger wichtig, fand Lila. Für den Fall, dass das Sonnenlicht sie schneller einholen würde als erwartet, war der Schutz ihres Kopfes bestimmt das allerwichtigste. Sie zupfte das Tuch von ihrer Hand ab faltete es an zwei Ecken zusammen und legte es zu einem Dreieck. Dann band sie sich das Tuch um ihren Kopf. Ihre lila Haare und ihre Stirn waren nun verhüllt.
„Bestimmt sehe ich jetzt wie ein Pirat aus“, sagte Lila leise zu sich – und erschrak. Das Wort „Pirat“ hatte sie erschreckt. Sie hatte es unwillkürlich benutzt. Lila schluckte und sagte: „Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte ich über das Wort lachen.“
Damals in ihrem Versteck unter der Baumwurzel hatte Lila geglaubt, nie wieder im Leben zu lachen. Frau Spitzhak war verschwunden, zurück nach Hause konnte sie nicht. Nicht einmal Erwin war noch bei ihr. Was sollte sie nur tun?
So viele Stunden hatte sie in ihrem Versteck nun ausgeharrt. Geschlafen hatte sie nicht sehr viel. Der leichte Schimmer des Tages, der durch das aufgeschichtete Laub drang, ergraute immer mehr und verblasste schließlich völlig. Das bedeutete wohl, dass der Abend draußen hereingebrochen war.
Ganz behutsam grub sich Lila mit den Händen durch das Laub. Sofort sog sie die frische Luft ein, die in ihr Versteck drang. Das tiefe Durchatmen tat gut.
Tatsächlich war Lila vor der Sonne erst einmal sicher: Der Mond stand kühl und blank am sternenbesetzten Nachthimmel. Aber ob Lila auch vor den beiden Wesen sicher war? Vielleicht waren sie noch immer im Wald und suchten nach ihr. Für einen Moment überlegte Lila, ob es besser wäre, nach Hause zurückzugehen. Aber vielleicht würde sie den Kreaturen dann direkt in die Arme laufen.
Wo sollte sie hingehen? Sie war schon jetzt in einem Teil des Waldes, den sie nicht richtig kannte. Und zu essen und zu trinken hatte sie auch nichts. An eine Rückkehr nach Hause war einfach nicht zu denken. In der Hoffnung, dass die Eindringlinge die Suche nach ihr aufgegeben hatte, entschied Lila, noch ein Stück weiterzugehen. Vielleicht fand sie irgendwo ein paar Beeren oder essbare Wurzeln. Jedenfalls war alles besser als hier zu bleiben.
Nach ein paar Stunden konnte sich Lila nur noch am Mond orientieren – und selbst das nicht so recht, weil sich der Mond am Himmel ja nicht stillstand. Der Teil des Waldes, den sie jetzt erreicht hatte, war ihr völlig fremd. Hier war der Boden viel feuchter, fast sumpfig. Die Bäume wurden dürrer, ihre knorrigen Äste sahen aus wie Arme, die nach Lila greifen wollten. Aber Lila versuchte tapfer, ihre Angst herunterzuschlucken und ging weiter. Wann immer ein Geräusch durch den Nachtwald drang, zuckte Lila zusammen. Selbst wenn es nur das Knacken eines Zweiges oder der Ruf eines Käuzchens war, so fuhren Schreck und Angst immer wieder durch ihre Glieder. Denn wer konnte sagen, dass die unheimlichen Wesen ihr nicht auf den Fersen waren?
Stunde um Stunde irrte Lila durch den Wald. Ein schmaler Bach floss durch eine Senke. Das kalte Wasser half Lila, ihren Durst ein wenig zu bekämpfen. Zum Essen hatte sie noch immer nichts gefunden.
Lila hatte den Wald in ihrem ganzen Leben noch nie verlassen. Bisher hatte sie auch den Wunsch danach nie verspürt. Aber in dieser Nacht dachte sie, dass es vielleicht besser wäre, das Ende des Waldes zu finden. Jetzt, da sie Frau Spitzhak und ihr Zuhause verloren hatte, brauchte Lila vielleicht jemand anderen, der ihr helfen konnte. Aber wer verirrte sich schon in diese entlegenen Gebiete des Tobanja-Waldes?
Allmählich zeichnete sich ab, dass Lilas Irrweg sie heute Nacht zu keinem Ziel führen würde. Langsam wurde es Zeit, sich wieder eine Zuflucht vor dem Tag zu suchen. Das Glück, eine schützende Höhle zu finden, hatte Lila kein zweites Mal. Stattdessen fand sie einen Baum, dessen Blätter größer waren als ihr eigener Kopf. Lila sammelte einen ganzen Haufen dieser Blätter, um damit und mit abgebrochenen Zweigen einen Unterstand zu bauen. Es wurde ein richtiger Verschlag daraus. Bestimmt würde Lila darin gut geschützt sein. Als sie sich wieder bückte, um einige der Riesenblätter aufzuheben, fand Lila plötzlich eine braune Glasflasche auf dem Boden. Sie war leer, das grüne Etikett war halb abgerissen. Anzufangen war damit nichts. Aber was Lilas Herz schneller schlagen ließ, war die Erkenntnis, dass irgendjemand hier gewesen sein musste. Schließlich war die Flasche nicht von alleine hier gelandet. Das bedeutete ja vielleicht, dass sie nicht allzu weit von der Grenze des Waldes entfernt war. Vielleicht würde sie morgen diese Grenze finden. Doch was mochte jenseits dieser Grenze liegen?
Den folgenden Tag über schlief Lila besser als am vorherigen. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass sie ihren Verfolgern erst einmal entkommen war. Außerdem hatte der Fund der Flasche ihr einen Funken Hoffnung geschenkt.
Am nächsten Abend lugte Lila vorsichtig zwischen den Blättern hindurch, bis sie sich sicher sein konnte, dass die Abenddämmerung weit genug fortgeschritten war. Dann verließ sie ihren Verschlag und machte sich wieder auf ihren Weg ins Ungewisse.
Das Geräusche, das Lila heute Nacht am meisten erschreckte, war das Knurren ihres Magens. Bei den ersten Malen hatte sie gedacht, dass ein knurrender Wolf ihr auflauerte. Es war an der Zeit, endlich etwas zu essen zu finden. Einmal fand sie einen Hexenring von großen Pilzen. Aber ob die essbar waren, wusste Lila nicht.
Plötzlich stolperte Lila über etwas. Im ersten Moment dachte sie an einen Zweig oder einen Baumstumpf – aber es war ein Schuh. Tatsächlich, ein Schuh! Ein erneuter Hinweis darauf, dass Menschen hier gewesen sein mussten – oder vielleicht sogar ganz in der Nähe waren?
Gespannt lief Lila weiter. Es dauerte nicht lange, bis sie auf den nächsten Gegenstand stieß: Der Wind trieb einen kleinen Ballen von zerknülltem Zeitungspapier zwischen den Baumstümpfen hin und her. Aber die Baumstümpfe... sahen sehr seltsam aus, dachte Lila. Normalerweise ragten scharfkantige Splitter, die mit Moos und Pilzen bewachsen waren, aus den Stümpfen heraus. Diese hier aber hatten eine ebene, glatte Oberfläche, auf denen man Jahresringe erkennen konnte. Und Lila fand es merkwürdig, dass hier zahlreiche dieser Baumstümpfe mit ebener Oberfläche nebeneinander standen. Hier war es viel heller als im Rest des Waldes. Das fahle Mondlicht spendete der Lichtung einen silbernen Schimmer.
Lila ging weiter. Auf einmal ragte ein riesiges Gebilde vor ihr empor. Zuerst dachte Lila, es sei eine Hütte. Als sie aber näher kam, sah sie, dass das ein Haufen von turmdicken Baumstämmen war, die aufeinandergestapelt waren. Baumkronen hatten die Stämme nicht mehr. Die andere Seite der Stämme waren ebenso glatt wie die Oberfläche der Baumstümpfe. Jetzt erkannte Lila, was es damit auf sich hatte: Die Bäume waren abgesägt worden! Lila hatte so etwas nie zuvor gesehen, aber hatte davon gelesen – Bäume wurden gefällt, um Brennholz zu gewinnen oder Papier daraus zu machen. Noch ein untrügliches Zeichen, dass die scheinbar grenzenlosen Wälder hier doch irgendwo ein Ende fanden.
Es mochte vielleicht noch eine halbe Stunde Fußmarsch gewesen sein, als Lila einen schwachen Schimmer wahrnahm. Der Schimmer fiel in einem zarten Orange durch die Bäume und Sträucher in der Ferne. Es war ein schwaches Licht, wie Lila es noch nie zuvor gesehen hatte. Zwar war sie sich nicht sicher, inwiefern dieses Licht für sie gefährlich war, aber es war ganz sicher kein Sonnenlicht. Sie wagte sich näher heran.
Je weiter Lila ging, desto kräftiger wurde der Schein. Aber er war längst nicht stark genug, um die Nacht zu durchbrechen. Die Finsternis umgab Lila immer noch wie ein schützender Umhang. Das wog Lila so sehr in Sicherheit, dass sie es wagte, sich der großen Hecke immer mehr zu nähern, die vor ihr lag. Dahinter schien der Schimmer am kräftigsten zu sein. Lila bahnte sich den Weg durch die Hecke und strich die letzten Zweige zur Seite. Mit dem, was sie hier sah, hätte Lila nie gerechnet.
Sie blickte hinunter in einen Talkessel. Dort unten lag eine Ansammlung von Häusern, die an hell erleuchteten Straßen standen. Diese kleine Stadt war es, die den orangefarbenen Schein in die Nachtschwärze trug. Hinter der Stadt spiegelte sich das Licht des Mondes auf einer scheinbar unendlichen schwarzen Fläche unter dem Nachthimmel.
„Das Meer“, dachte Lila schlagartig. Sie hatte oft in Büchern Bilder vom Meer gesehen, und Frau Spitzhak hatte erzählt, dass man am Meer „Wasser, so weit das Auge reicht“ sehen konnte.
Was Lila an der kleinen Stadt am schönsten fand, war eine Ansammlung von vielfarbigen Lichtern, die in der Dunkelheit blinkten und blitzten. So schönes, buntes Licht hatte sie noch nie gesehen. Und es war weit genug weg, als dass es Lila hätte gefährlich werden können. Was mochte das sein, was da so bunt leuchtete und sich drehte? Außerdem glaubte Lila, in der Ferne Musik zu hören.
Lila atmete tief durch. Es war das erste Mal, dass sie eine Stadt vor sich sah. Ganz sicher würde sie dort etwas zu essen finden. Und bestimmt würde sie auch jemanden finden, der ihr helfen konnte. Vielleicht wusste man dort sogar, was mit Frau Spitzhak geschehen war. Und so begann Lila, den Abhang in das Tal hinabzusteigen, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stadt zu betreten.
Lila war zunächst enttäuscht, als sie feststellte, dass die Straßen menschenleer waren. Eine Stadt hatte sie sich viel lebendiger vorgestellt. Dann fiel ihr ein, dass die meisten Menschen ja in der Nacht im Bett lagen und schliefen. Ob es noch mehr Leute wie sie gab, die in erster Linie in der Nacht lebten?
Lila überquerte eine große Straße und irrte durch schmale Gassen, an denen Häuser aus großen Steinen dicht aneinander gebaut waren. Hinter manchen Fenstern leuchtete ein wenig Licht. Staunend betrachtete Lila die großen Autos, die an den Bürgersteigen geparkt waren. Sie hatte noch nie ein Auto in Wirklichkeit gesehen.
Die Musik, die Lila schon im Wald gehört hatte, klang jetzt näher als eben. Außerdem glaubte Lila, ein Gewirr aus Stimmen und Lachen zu hören. Da – dort hinten huschten einige Menschen über die Straße. Lila wollte instinktiv rufen - gleichzeitig war sie aber auch erschrocken. Rasch verbarg sie sich hinter eine Mülltonne. Die Leute waren achtlos weitergelaufen.
Obwohl es noch einige Stunden bis zum Sonnenaufgang waren, machte Lila sich Gedanken, wo sie sich vor dem Tageslicht in Sicherheit bringen konnte. Aber hier in der Stadt, mit den vielen Gassen und Häusern würde sich bestimmt eine Gelegenheit finden.
Lila trat aus einem kleinen Seitengässchen auf eine größere Straße hinaus. Die Straße schlängelte sich am Lauf eines kleinen Flusses entlang. Eine Brücke aus mächtigen Steinen führte über den Fluss. Auf der Brücke fuhren Autos, Menschen liefen am Geländer entlang. Die Leute hatten Luftballons in der Hand und trugen große Herzen an Bändern um den Hals. Sie schienen gute Laune zu haben. Lila schaute staunend zu. Hier auf der größeren Straße klang die Musik gleich viel lauter. Außerdem schimmerte das bunte, flimmernde Licht über den Hausdächern, das Lila vom Wald aus schon bewundert hatte.
Obwohl sie von der Neugier gepackt war, wagte Lila sich nicht auf die Brücke, um sich dort unter die Menschen zu mischen. Unter der Brücke, direkt am Flussufer nahm sie einen schwachen, flackernden Schein in der Dunkelheit wahr. Das war gewiss ein Feuer. Das Feuer im Ofen im Haus von Frau Spitzhak war stets gemütlich gewesen. Ob es unter der Brücke auch wenigstens ein bisschen gemütlich war? Lila beschloss, dort nachzusehen. Vielleicht war sogar jemand da, dem sie sich anvertrauen konnte.
Vorsichtig lugte Lila um die Ecke des Brückenpfeilers. Zu ihrer Überraschung saß dort eine Gruppe von Kindern um das Feuer herum. Vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, schätzte Lila. Die Kinder trugen Mützen und waren in zerschlissene Decken eingehüllt.
„Kinder, mitten in der Nacht unter einer Brücke“, dachte Lila. „Sind gewöhnliche Kinder nicht nachts bei ihren Eltern und schlafen? Vielleicht geht es ihnen ja so ähnlich wie mir.“
Zaghaft näherte sie sich der Gruppe. Sie musste die Augen zukneifen. Das helle Strahlen des Feuers brannte darin.
Lila musste an die Zwillinge Anatol und Bernhard denken, die Neffen von Frau Spitzhaks Freund Herr Taubenblau. Hoffentlich waren diese Kinder genauso freundlich wie die Zwillinge. Noch hatte die Gruppe Lila nicht bemerkt. Lila schluckte aufgeregt und trat einen weiteren Schritt vor. Dann sagte sie vorsichtig: „Guten Abend!“
Schlagartig wandten sich alle Blicke ihr zu. Der Junge, der ihr am nächsten saß, stand sofort auf und zischte: „Was willst du hier?“
Erschrocken machte Lila einen Schritt zurück. „Ich... ich...“
„Sieh zu, dass du Land gewinnst!“ sagte der Junge mit scharfer Stimme. „Bei uns hast du nichts verloren.“
In dem Moment standen die anderen beiden Jungen ebenfalls auf und stellten sich mit Drohgebärden hinter den angriffslustigen Jungen.
„Ich wollte nur... ich“.... Lila konnte sich vor Schreck kaum rühren. Warum waren diese Kinder denn so böse?
„Lila Haare“, spottete der Junge rechts hinter dem Anführer. „Habt ihr so was schon mal gesehen?“
„Vielleicht hat sie sich das Haar mit Blaubeersaft gewaschen!“ kicherte der Junge auf der linken Seite boshaft. Die anderen beiden fielen in das Gelächter mit ein.
„Was bitte ist an lila Haaren so ungewöhnlich, ihr Mützenträger?“ fragte Lila und verschränkte die Arme.
Das Gelächter verstummte. Damit hatten die Jungen nicht gerechnet. Bevor einer der drei reagieren konnte, erhob sich das Mädchen, das bis jetzt noch am Feuer sitzen geblieben war.
„Lasst sie doch in Ruhe! Wir wissen doch gar nicht, was sie möchte.“
Der Anführer warf dem Mädchen einen verächtlichen Blick zu. Dann sah er Lila prüfend an. „Willst du stehlen?“ fragte er drohend.
„Nein“, antwortete Lila. „Ich wollte nur schauen. Aber wenn ihr vielleicht was zu essen habt, wäre ich nicht unglücklich.“
„Gut, jetzt hast du geschaut“, gab er zurück. „Und jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause verschwindest. Mama und Papa warten schon!“
Die anderen Jungs lachten. Das Mädchen rollte mit den Augen und ging auf Lila zu. Sie legte ihr den Arm um die Schulter. „Amadeo hat recht“, sagte sie. „Es ist spät. Du solltest wirklich nach Hause gehen.“
„Wenn das so einfach wäre“, erwiderte Lila. „Ich habe kein Zuhause mehr.“
„Du hast kein Zuhause?“ wiederholte das Mädchen.
Hastig erzählte Lila in knappen Worten, woher sie kam und was sie erlebt hatte. Die Jungen sahen sie ungläubig an.
„So ein Märchen habe ich schon lange nicht mehr gehört!“ sagte Amadeo verächtlich.
Aber das Mädchen sagte: „Komm. Setz dich mit zu uns ans Feuer.“
Unsicher, aber doch ein wenig froh, begleitete Lila das Mädchen zum Feuer. Die Jungen setzten sich ebenfalls wieder und beäugten Lila argwöhnisch.
„Habt ihr vielleicht etwas zu essen?“ fragte Lila bittend. „Ich habe seit vorgestern nichts mehr gehabt.“
„Gib ihr was, Otto“, knurrte Amadeo seinen Freund an, der daraufhin widerwillig in einem von Motten zerfressenen Rucksack kramte. Daraus holte er ein Stück Brot und ein bisschen Käse hervor. Dankbar nahm Lila es an.
„Der Dritte im Bunde heißt Matthes“, erklärte das Mädchen. „Und mein Name ist Eri. Wir heißt du?“
„Lila“, sagte Lila kauend. „Mein Name ist Lila.“
„Lila“, wiederholte Otto höhnend. „Ihr Name ist genauso verrückt wie ihre Haare! Zum Piepen!“
„Halt den Mund, Otto!“ sagte Eri.