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»Wenn Du es eilig hast, ...« Bei Lilith ist alles in schönster Ordnung - findet sie. Ihre Praxis läuft rund, und mit ihrem langjährigen Freund Volker schwebt sie auf Wolke 7. Sie sind bereit für den nächsten Schritt in ihrer Beziehung. So glaubt sie zumindest. Als Volker sich urplötzlich von ihr trennt, fällt Lilith in die bodenlosen Tiefen der alleingelassenen Singlefrau. Zum Glück hat sie mit Esra die weltbeste Freundin an ihrer Seite, die sich einiges einfallen lässt, um sie von ihrem Liebesschmerz abzulenken.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2020
Corinna Gottsmann
Roman
Copyright: © 2020 Corinna Gottsmann – geschichten-basar.de
Umschlag, Illustration: Sina Holste – sinaholste.de
Verlag & Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Paperback
978-3-347-02895-1
Hardcover
978-3-347-02896-8
e-Book
978-3-347-02897-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Fürall diejenigen, die sich ein klein wenig mehr Romantik in ihrem Leben wünschen.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Fakten
Kapitel 2 – (Fast) Ganz allein
Kapitel 3 – Entvolkerung
Kapitel 4 – Krönchen richten
Kapitel 5 – Job-Sabbatical
Kapitel 6 – Biohof Weiden
Kapitel 7 – Markttag
Kapitel 8 – Der Tag danach
Kapitel 9 – Speed-Dating
Kapitel 10 – Hanging around
Kapitel 11 – Keinen Bock mehr auf Dates!
Kapitel 12 – Wer hat hier etwas von Keinen Bock mehr gesagt?
Kapitel 13 – Ding, ding, ding, ding, ding! Achtung, hier kommt Wolke 7!
Kapitel 14 – Wenn du es eilig hast, gehe langsam
Kapitel 15 – Es ist Zeit
Kapitel 16 – Manchmal muss frau es einfach wagen!
Kapitel 17 – Epilog, da war doch noch was!
Kapitel 1 – Fakten
»Entschuldige bitte, was hast du gesagt?«
Ich lehne mich entspannt in meinem Stuhl zurück, um einen Schluck Rotwein zu genießen. Er passt hervorragend zu dem von Volker für unser Abendessen zubereiteten Steak; noch ganz leicht blutig, so, wie ich es mag. Mhhh! Schnell angle ich mir noch einen Happs.
Anschließend schaue ich Volker, meinen Partner, meinen Seelengefährten, über den Tisch hinweg und um einen interessierten Blick bemüht fragend an. Er hat so schöne, warme Augen! Die gerade ein wenig ungehalten zu mir zurückblinzeln. Meine Gedanken allerdings schweifen immer wieder ab. Und zwar zu einer meiner Klientinnen: Frau Schmidt.
Vorab: Alle meine Klientinnen heißen so und die Klienten Herr Schmidt. Natürlich nicht in Wirklichkeit. Aber hin und wieder MUSS ich Volker einfach von den Gesprächen erzählen. Es kommt auch nur ganz selten vor. Und dann bekommen sie alle ein und denselben Namen. Schließlich geht mir der Schutz meiner Klienten über alles!
Jedenfalls, diese eine Frau Schmidt war heute wieder da. Wie jeden Mittwoch pünktlich um 16.00 Uhr betritt sie den Raum und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Sie stellt die Handtasche links zu ihren Füßen, richtet sich auf, streicht ihre Hosenbeine glatt, klemmt eine Strähne ihrer schulterlangen, eisgrauen Haare hinter ein Ohr und beginnt: Er, also ihr Mann, habe dieses oder jenes getan, darauf habe sie Folgendes gesagt, worauf er … Und so weiter und so fort.
Seit zwei Jahren kommt Frau Schmidt zu mir in Behandlung und erzählt immer und immer und immer wieder das Gleiche!
Ich weiß, bei vielen Paaren ist dieser spezielle Umgang der Kitt, der ihre Beziehung zusammenhält. In Ordnung! Ist mir recht, jedem seine Überlebensstrategie. Aber warum kommt sie dann zu mir, wenn sie sowieso nichts ändern möchte?
Immer und immer und immer wieder gehe ich mit ihr die Möglichkeiten durch, wie sie das Muster durchbrechen könnte. Natürlich erarbeite ich diese Möglichkeiten mit ihr. Eine gute Therapeutin gibt ja nichts vor. Eine gute Therapeutin lockt das, was in ihren Klienten ist, heraus, führt sie, hilft ihnen, selber ihren Weg zu finden.
Aber! Obwohl wir bereits so viele Möglichkeiten zur Veränderung in den letzten zwei Jahre erarbeitet haben: nichts, aber auch rein gar nichts ändert sich!
Ich habe mich schon gefragt, warum sie nicht einfach das Gespräch mit ihren Freundinnen sucht. Das ist doch bestimmt günstiger, denn zu mir kommt ausschließlich Privatklientel.
Erst bekam ich zu Beginn meines Therapeutinnendaseins keine Kassenzulassung. Es gab schlicht keine mehr. Als dann eine frei wurde, habe ich mich dagegen entschieden, denn mittlerweile ist der Dokumentationsaufwand, der auch ohne die unendlich vielen Vorgaben durch die Krankenkasse unüberwindbar erscheint, ins Unermessliche geschossen. Nein, darauf habe ich keine Lust. Und zum Glück habe ich auch so genügend zahlende Klientel.
Also, zurück zu Frau Schmidt. Sie könnte mit ihren Freundinnen sprechen. Aber ich hege den Verdacht, dass diese es satthaben, sich immer wieder die alte Leier anzuhören.
Ups, das war jetzt böse, Lilith. Ich grinse versonnen in mein Glas hinein. Der Rotwein hat eine besonders schöne tiefrote Farbe. Ich lecke mir über die Lippen.
Na ja, auf alle Fälle hat sie niemanden, mit dem sie reden kann. Und ihr Mann hat genügend Geld, deswegen kommt sie zu mir. Einfach nur, um jemanden zu haben, dem sie ihr Leid klagen kann.
Ich bin besonders langmütig, dafür bin ich bekannt. Ein großer Pluspunkt, wenn man Psychotherapeutin ist. Aber hier spüre ich, dass ich an meine Grenzen komme.
Vielleicht bin ich aber auch einfach nur überarbeitet? Vielleicht brauche ich eine Pause? Ein Sabbatical, ein Sabbatjahr! Das macht doch gerade jeder. Sich selber finden, sich neu sortieren. Insbesondere wir Psychotherapeuten sollten uns ab und an eine Auszeit gönnen. Damit wir wieder mit vollem Einsatz unsere Klienten unterstützen können!
Ich werde das mit Volker besprechen. Er wird das auch gut finden. Er beklagt sich ja sowieso ständig, dass ich zu wenig Zeit für das UNS habe. Wenn ich es recht bedenke, ist er in den letzten Wochen sehr ruhig gewesen, hat sich zurückgezogen. Und er hat auch gar nicht mehr über das Thema Kinder mit mir gestritten. Aber das soll sich jetzt ändern! Eine Auszeit ist genau das Richtige! In dieser können wir alles klären. Toll, großartig! Ich spüre, wie sich augenblicklich meine Stimmung hebt.
Ich blicke Volker immer noch an. Er starrt zurück. Ach ja, genau, wo waren wir?
Ich richte mich auf, verwandle meinen bemüht interessierten Blick in einen echten und wiederhole: »Entschuldige, ich habe dich nicht richtig verstanden. Und was ist los? Du hast ja kaum etwas gegessen.«
Sofort schaltet meine Stimme in den Therapeutenmodus. Verflixt, ich weiß, dass Volker das nicht leiden kann. Ich räuspere mich und sage im Partnerinnenton: »Geht es dir nicht gut?«
Volker schaut mich aus seinen warmen, braunen Augen unglücklich an. Oh Gott, sein Hundewelpen-ich-hab-was-Schlimmes-verbrochen-Blick. Das ist nicht gut. Nein, das ist gar nicht gut! Wie damals, als er vergessen hatte, mir RECHTZEITIG zu sagen, dass es doch keine Motto-Party bei seinem Arbeitgeber geben würde, sondern nur eine ganz normale ...
Ok, ich bin gewappnet. Wir bekommen das schon hin. Wir haben bisher alles hinbekommen. Lilith, schön ein- und ausatmen! Ich setze mein professionelles Verständnisgesicht auf und bin bereit.
»Lilith«, druckst Volker herum. »Lilith!«
Oh, nein, zweimal Lilith, hintereinander. Nicht Schatz oder Hase. Nein, zweimal Lilith. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut. Aber ich lächle ihn weiterhin an. Er soll sich wohlfühlen.
Und das scheint er zu tun. »Ich weiß, dass das jetzt hart ist. Aber du musst mich auch verstehen. Es fällt mir wirklich schwer, dir das zu sagen.«
Verstehen? Schwerfallen? Ich nicke voller Überzeugung weiter und halte meinen teilnahmsvollen Therapeuten-Blick. Innerlich denke ich: Komm endlich zum Punkt. Schlimmer als das mit der Nicht- Motto-Party kann es ja nicht sein.
»Lilith«, sagt Volker, jetzt mit fester Stimme. Er wird sicherer. »Ich habe Eva bei einem Seminar kennengelernt. Und erst war da auch gar nichts. Wirklich! Rein gar nichts!«
Ich spüre, wie mir das Nicken schwerer fällt und mein teilnahmsvoller Therapeuten-Blick langsam verblasst. Aber ich bleibe tapfer. Volker bekommt von all dem nichts mit. Er fühlt sich sicher.
»Wir haben abends nach dem Seminar geredet. Einfach nur geredet. Es waren tolle Gespräche. So locker und leicht. Und dann, ... dann.«
Er kann mir kaum in die Augen sehen. »Dann haben wir uns auch noch nach dem Seminar, also, da haben wir uns weiter getroffen und geredet. Und, na ja, …«, er seufzt und nimmt ein letztes Mal Anlauf. »Und jetzt ist sie schwanger, die Eva. Und du weißt, wie sehr ich mir immer Kinder gewünscht habe. Du wolltest ja keine oder hattest keine Zeit.« Endlich sieht er mich an, wenn auch etwas trotzig. Der Hundewelpen-ich-hab-was-Schlimmes-verbrochen-Blick ist dem Ich-hab-zwar-was-Doo-fes-gemacht-aber-eigentlich-bist-du-daran-schuld-Blick gewichen.
So schnell kann sich das Blatt wenden, denke ich noch und nicke weiter. Mein nickender Kopf könnte problemlos einen Wackeldackel auf der Hutablage eines alten Mercedes´ ersetzen.
Moment, ich muss mich sammeln! Ich MUSS die Fakten in meinem Kopf sortieren! Denn das kann ich: Fakten benennen, in die richtige Reihenfolge bringen und so zu einer Lösung kommen.
Da gibt es also diese Eva, und diese Eva hat er auf einem Seminar kennengelernt. War das etwa das Kommunikationsseminar vor einem halben Jahr? Das, was ihm sein Arbeitgeber aufgedrängt hatte? War das etwa das Seminar, von dem er auf meine Frage, wie es denn gewesen war, meinte: »Na ja, ging so.«?
Mit der Kommunikation scheint es ja zwischen ihm und Eva bestens funktioniert zu haben. Tolle Gespräche! Pah! Und von den Gesprächen ist sie dann schwanger geworden, oder wie? Nein, Lilith, Blödsinn! Fakten, ich benötige dringend mehr Fakten!
Und da sind sie auch schon: Wie aus weiter Ferne dringt Volkers Stimme zu mir. »Und wir wollen jetzt zusammenziehen. Jetzt, wo das Baby kommt. Es wird übrigens ein Mädchen.«
Dabei leuchten seine Augen ganz selig. Zusammenziehen? Baby? Mädchen? War das alles? Waren das jetzt alle Fakten? Ja, Lilith, das sind jetzt alle Fakten. Und um die Lösung musst du dich nicht mehr kümmern. Die hat Volker bereits erarbeitet.
Aber wo bleibe ich dabei ?, kann ich noch denken, bevor Volker sich aufatmend zurücklehnt und sagt: »Endlich!« Ein Buddha-Lächeln zieht sich über sein Gesicht. »Es hat so gutgetan, dir das alles zu sagen. Und toll, wie ruhig du reagierst. Ich habe Eva gleich gesagt, dass du kein Theater machen wirst. Du bist halt ganz der Psycho-Profi!«
Ich merke, wie ich weiterhin mit dem Kopf nicke. Verflucht, Lilith, hör auf damit. Reiß dich zusammen! Ich kann aber nicht anders. Das Zimmer um mich herum verschwindet langsam. Volkers Grinsen, das ich ihm so gerne mit dem Steakmesser aus dem Gesicht kratzen würde, verschwimmt. Mein letzter Halt, denke ich noch, meine ach so geliebten Fakten: Volker wird mit Eva zusammenziehen. Sie werden dieses Mädchen-Baby in die Welt setzen, es gemeinsam großziehen und glücklich zusammen alt werden. Sie werden gemeinsam reisen, lachen, sich streiten, wieder versöhnen, gemeinsam aufwachen, und vieles, vieles mehr werden sie gemeinsam tun. Vieles mehr, was ich bis dato immer mit Volker getan habe. WIR waren »gemeinsam«! Und, wie ich finde, ein sehr gutes »Gemeinsam«!
Ich schlucke. Der Kloß in meinem Hals wächst, die Luft brennt sich ihren Weg durch die Luftröhre in die Lungenflügel bis in das kleinste Bläschen hinein, meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich möchte wissen, seit wann er das alles geplant hat, seit wann ihm klar ist, dass er sich von mir trennt, um mit dieser Eva zusammenzuziehen. Ich will wissen, seit wann er weiß, dass sie schwanger ist. Ich möchte ihn fragen, ob wir das nicht irgendwie wieder hinbekommen können! Irgendwie! Wir sind immerhin seit über zehn Jahren zusammen, haben jede Hürde gemeistert. Wir sind doch ein Team! Und mein Herz schreit nach der Frage, ob er mich denn gar nicht mehr liebt?
Nein, antworte ich meinem Herzen ruhig, er liebt uns nicht mehr. Seine Liebe ist jetzt bei dieser Frau und dem ungeborenen Zwerg. Seine Liebe ist jetzt bei dem neuen »Gemeinsam«.
Ich bekomme mit, wie ich ihm antworte: »Ja, hm, natürlich, klar.« Dann schiebt sich ein Schleier vor meine Augen, und ich sehe nur noch, wie Volker ganz beschwingt den Tisch abräumt. »Danke, Lilith! Das ist wirklich so großartig von dir. Ich schlafe dann wohl besser auf dem Sofa«, höre ich ihn sagen.
***
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe. Aber plöztlich bin ich im Schlafzimmer, habe meinen Pyjama an und sitze mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett. Mein Kissen stützt meinen Rücken. Wenigstens eine Stütze, denke ich und greife nach dem Glas Rotwein, das mit mir zusammen den Weg ins Schlafzimmer gefunden hat. Noch eine Stütze. Ich nehme einen großen Schluck der Verzweiflung. Ganz alleine sitze ich in diesem monströsen Bett, auf das ER bestanden hat. Volkers Seite ist leer. Leer und kalt.
Ich starre vor mich hin. Mein Herz und ich können es nicht fassen. Alles tut weh. Selbst die Haarspitzen. Mein Körper steht in Flammen, und mir ist gleichzeitig eiskalt. Meine Welt stirbt.
Kapitel 2 – (Fast) Ganz allein
Meine Welt ist immer noch tot. Sie ist verdorrt, verwüstet, erkaltet. Hier und da züngeln sich noch ein paar Flammen des Weges entlang, dort, wo das Eis bisher noch nicht alles empfindungslos zurückgelassen hat.
Volker ist vor zwei Tagen ausgezogen. Mit Sack und Pack, leichtem Gepäck und schnellem Schritt. Es fehlte nur noch ein Lied auf seinen Lippen. So ganz beschwingt kam er mir vor. Nicht so wiegend und bedächtig wie sonst. Beinahe, als ob er in ein neues Leben starten würde. Ach ja, richtig, tut er ja auch.
Ich vergaß zu erwähnen, dass er mir auch gleich mitteilte, er werde am nächsten Tag ausziehen. Alles wäre vorbereitet. Eva hätte bereits dieses, er hätte längst jenes, und GEMEINSAM würden sie …! Völlig aus dem Häuschen war er. Es hätte nur noch gefehlt, dass er vor lauter Aufregung in die Hände klatscht.
Und natürlich hat ihn mein verständiges Dackel-Nicken noch so richtig motiviert. Ich blöde Kuh, oder besser: Ich armer, alter, verlassener Wackeldackel! Kurz zuckt der Begriff »Alte Jungfer« durch meinen Kopf und kichert diabolisch.
Hat der Kerl verbale Diarrhö? So viel hat er in den gesamten zehn Jahren davor nicht geredet! Als ob ein Damm gebrochen ist, erzählt er mir jede noch so winzige Kleinigkeit: Wo sie wohnen werden, was sie schon alles für die kleine Lena (so soll der sehnlichst erwartete Erdenbewohner nämlich heißen) besorgt haben. Einen Schwangerschaftskurs haben sie auch schon herausgesucht. Volker überlegt, ob er Elternzeit nehmen soll. Und überhaupt, wie aufregend das alles sei!
Eine Frage bitte: Welche gerade frisch verlassene 38-jährige Frau will so etwas eigentlich wissen? Und dann noch direkt von ihrem Ex-Partner, eiskalt serviert. Klar, als die Frau an seiner Seite nimmt er mich schon gar nicht mehr wahr. In diesem Moment bin ich seine Therapeutin, bei der er die ganzen aufgestauten Gefühle abladen kann. Seine Seelenklempnerin! Ich sollte ihm eine Rechnung schreiben! Ach nein. Besser nicht.
Zum Glück hat der Schock dafür gesorgt, dass ich das meiste von seinem Gerede gar nicht verstanden habe. Und der Rest schlummert noch heilsam und verschollen in meinem Unterbewusstsein. Hoffentlich verkümmert er da und verlöscht im Nichts.
Jetzt liegen mein gebrochenes Herz, meine tote Welt und ich auf dem Sofa. Gemeinsam ist man weniger allein. Haha! WIR drei hüllen uns in einen übergroßen, flauschigen Pulli und eine bequeme Jogginghose. WIR haben uns in eine kuschelige Decke gewickelt. WIR … Lilith! Hör auf mit dem WIR! Wir … ach egal. ICH nehme mir die Rolle Klopapier, die vor mir auf dem Tisch liegt, reiße zwei Blätter ab und schnäuze kräftig hinein.
So wie meine Mutter und ich früher, wenn wir schluchzend vor dem Fernseher saßen und Ein Engel auf Erden mit Michael Landon und Victor French geschaut haben. Das ging auch nur mit einer Rolle Klopapier. Taschentücher reichten da einfach nicht mehr aus.
Meine roten, verquollenen Augen starren in den Fernseher, in dem irgendeine Schnulze läuft. Na prima, wo ist der gute dänische Thriller mit Blut, Gedärmen und verwesenden Leichen, wenn man ihn braucht?
Ich kann es nicht fassen. Es ist tatsächlich erst drei Tage her, dass Volker mit mir Schluss gemacht hat und gleich am nächsten Tag ausgezogen ist.
Ich weiß nicht mehr, wie ich es noch an dem Abend geschafft habe, Esra anzurufen. Ich habe ihr irgend so etwas Unverständliches wie »Volker«, »10 Jahre«, »Eva-Schlampe«, »Zwergin« und »neues Gemeinsam« in den Hörer geheult. Sie hat sofort alles richtig kombiniert und ist zu mir gekommen.
Während Volker auf dem Wohnzimmersofa von seiner strahlenden Zukunft mit Eva und Lena träumte, habe ich Esra im Schlafzimmer unter Tränen und Schluckauf berichtet, was er mir nur wenige Momente zuvor gestanden hatte.
Sie hat gar nichts gesagt. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hat mich einfach tröstend in ihre Arme genommen und mir zwischendurch über mein Haar gestrichen. So sind wir schließlich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen hat Esra ihre Worte wiedergefunden. Sie hat Volker keines Blickes gewürdigt. Und darüber kann er mehr als froh sein, denn ein Blick aus ihren nachtschwarzen Augen kann tödlich sein. Esra ist Abteilungsleiterin in einem Buchverlag. Ich stelle mir immer vor, wie sie in schwierigen Verhandlungen ihren Blick aufsetzt, und sofort geht der Verhandlungspartner in die Knie.
Nur einer hat diesem Blick etwas entgegenzusetzen, und das ist Martin, ihr Mann. Vor sechs Jahren haben sich die beiden kennengelernt. In seiner Funktion als Agent für Autoren mussten er und Esra einen Vertrag für einen seiner Schützlinge aushandeln. In einem Punkt konnten sie sich nicht einigen. Esra setzte siegessicher ihren Nachtschwarze-Augen-Blick ein, um die Angelegenheit zu ihren Gunsten zu regeln. Nur hatte sie nicht mit dem Warme-graue-Augen-Blick und dem jugendlich verschmitzten Lächeln von Martin gerechnet. Letztlich brachte er ihren Blick zum Schmelzen. Sie handelten einen Kompromiss (dieses Wort kommt unter normalen Umständen in Esras Wortschatz nicht vor) aus, und anschließend lud Martin sie zum Essen ein.
Ich möchte betonen, dass Esra weit davon entfernt ist, der romantische Typ zu sein. Im Gegenteil, wenn wir einen Liebesfilm zusammen anschauen, zerreißt sie diesen mit ihren bissigen Kommentaren in die kleinsten Filmfetzen und bekommt Lachanfälle an den tränenreichsten Stellen.
Einmal mussten wir inmitten einer Kinovorstellung aus dem Saal fliehen, da Esra bei der ergreifendsten Szene aus vollem Herzen losbrüllte. Und während alle anderen weiblichen Besucher, ich inklusive, vor Herzschmerz vergingen, zog sie lachend über die - ihrer Meinung nach – unrealistische Vorstellung der Schauspieler her. Seitdem meiden wir solche Filme. Nein, Esra hat wirklich keine romantische Ader. Nur, wenn sie erzählt, wie Martin und sie sich kennengelernt haben, leuchtet in ihren Augen die Wärme auf, die sich hinter ihrer kühlen, professionellen Art verbirgt.
Sie und Martin sind jetzt seit vier Jahren verheiratet und haben einen Sohn, Lukas, der ganze Stolz der beiden. Das Leben der drei ist perfekt geregelt, mit einer Tagesmutter, Esras Eltern und den Freiheiten, die sich Martin und sie in ihren Jobs nehmen können. Alles läuft wie geschmiert. Wenn Esra etwas plant, gelingt es zu 99,9%.
So auch am Tag von Volkers Auszug. Sie half mir beim Anziehen, da ich ansonsten die Hose über den Kopf gezogen hätte. Bei meinem Vorschlag, Volker doch etwas bei seinen Sachen zu unterstützen, kassierte ich DEN Blick.
»Lilith«, sagte sie nur, »wir gehen jetzt richtig schön frühstücken.« Und an Volker gewandt ergänzte sie mit aller Verachtung, die ihr möglich ist: »Und wenn wir wiederkommen, bist du hier verschwunden!« Sie schaute demonstrativ auf ihre Uhr. »Wir sind etwa drei Stunden weg. Deine Zeit läuft. Ab jetzt!«
Und weg waren wir. Ich meine noch gesehen zu haben, dass Volker bei Esras Worten kurz die Hacken zusammengeschlagen hat.
Wir fuhren in das teuerste Hotel der Stadt, um dort zu frühstücken. Leider war ich nicht besonders hungrig und stocherte nur in dem hervorragenden Rührei herum. Esra bestellte mir mit den Worten: »Der beruhigt die Nerven!« drei bis fünf Gläser Prosecco. So genau weiß ich das nicht mehr.
Anschließend fuhren wir wieder nach Hause. Es waren etwas mehr als drei Stunden vergangen. Aber als wir um die Ecke bogen, sah ich sie: Volker und Eva! Arm in Arm schlenderten sie von der Haustür zu dem beladenen Transporter auf dem Bürgersteig. Eva, sein neues Gemeinsam. Und deutlich kleiner als er. Höchstens 1 Meter 65. Beinahe niedlich, denke ich und ziehe meine Nase kraus. Ich bin genauso groß wie Volker, 1 Meter 79. Deswegen trage ich immer flache Schuhe, wenn wir zusammen ausgehen. Habe getragen, Lilith, habe! Ich schluchze auf bei dem Gedanken, dass ich ab jetzt auch wieder in Schuhe mit Absatz schlüpfen kann. Esra stößt mich in die Rippen und hält sich den Zeigefinger vor den Mund. Ich zucke müde mit den Schultern, reiße mich aber zusammen.
Wir beobachten die beiden aus sicherer Entfernung von einem Rosenbusch meiner Nachbarn aus. Volker und Eva erreichen den Transporter, drehen ihre Köpfe zueinander und lächeln sich innig an. Immer, wenn er in meine Augen gesehen hat, waren seine Worte: »Lilith, ich liebe deine seeteichgrünen Augen!« Seeteichgrün. Ich fand mich einzigartig!
Jetzt fährt er durch Evas kinnlanges, glattes, engelsblondes Haar. Bei mir sind es rote, widerspenstige Locken, durch die er immer voller Zärtlichkeit gestrichen hat. Auch diese Umgewöhnung hat mein Ex-Volker bereits gemeistert. Ich reiße mich zusammen und atme tief ein, wie ich es auch meinen Klienten in Stresssituationen rate.
Ich schaffe es noch, ruhig weiter zu atmen, als er ihr einen innigen Kuss auf den Mund gibt. Aber als er dann seine Hand auf ihren leicht gewölbten Bauch schmiegt und sich ein dämliches Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet, verwandelt sich meine gleichmäßige Atmung in eine Schnappatmung. Esra reagiert blitzschnell. Sie legt ihre Hand auf meinen Bauch, und gemeinsam finden wir einen Atemrhythmus. Nach einer kurzen Weile nicke ich ihr zu. Es geht wieder, und wir wenden uns erneut dem Rosamunde-Pilcher-Augenblick zu.
Jetzt öffnet mein Ex seiner Eva die Beifahrertür. Er selber tänzelt – ja, Volker tänzelt, wobei er ungefähr so grazil tanzen kann wie eine Giraffe – zu der Fahrertür. Eva hat sich schon hinübergebeugt und ihm die Tür geöffnet. Er steigt ein, startet den Wagen, und weg sind sie.
Erst da merke ich, dass Esra mich in ihrem Arm hält. Einerseits als Stütze und andererseits (vor allem andererseits!), damit ich nicht losstürmen, mich vor Volker auf den Boden werfen und ihn bitten kann, bei mir zu bleiben.
Esra kennt mich einfach zu gut. Und das jetzt seit 17 Jahren. Wir haben uns bei einer Unifete kennengelernt. Die Umstände waren den jetzigen beängstigend ähnlich. Ich war gerade von meiner langjährigen Liebe wegen einer anderen verlassen worden: Sie braucht mich, du bist doch so stark, sie so schwach, blablablapfffhhhh. Ich sitze also auf der Treppe des Unigebäudes im Fachbereich für Psychologie und schluchze steinerweichend. Esra setzt sich neben mich und hört sich die nächste Stunde meine Jammertalgeschichte an.
Am Ende frage ich sie: »Meinst du, ich soll es noch einmal versuchen?« Da lerne ich zum ersten Mal DEN Blick kennen - und fürchten. Sie fragt: »Hast du denn gar keinen Funken Selbstachtung im Leib?«
Ich stammele etwas zu meiner Entschuldigung vor mich hin. »Lilith«, erklärt sie mir, »wenn ein Mann gehen will, lass ihn ziehen. Richte deinen Blick nach vorne, nicht zurück. Wozu verschwendest du deine Energie an einen Typen, der schon längst bei einer anderen ist?« Sie runzelt ihre Stirn. »Was studierst du eigentlich?«
»Psychologie«, antworte ich verlegen, »erstes Semester.«
Esra schaut mich mitleidig an und sagt: »Wie zu befürchten war. Dann will ich mal hoffen, dass das was bringt. Ansonsten hilft vielleicht jetzt erst einmal das«, worauf sie mir ein Glas Prosecco in die Hand drückt. Wir stoßen an.
Es gibt an diesem Abend noch sehr viele Gelegenheiten, bei denen wir anstoßen. Am nächsten Tag habe ich einen fürchterlich dicken Schädel – und eine allerbeste Freundin! Seitdem sind wir unzertrennlich. Während ich mein Psychologiestudium zu Ende bringe und mir meine Selbstständigkeit aufbaue, legt sie erfolgreich ihre Prüfungen in Betriebswirtschaftslehre, Vergleichende Literaturwissenschaft und Wirtschaftspsychologie ab.
Esra liebt Bücher! Schon als kleines Mädchen verlor sie sich in den Geschichten ihrer Bücher. Und in einem schwachen Moment – es war so ein »Prosecco-Augenblick« - erzählte sie mir, dass sie am liebsten selber Schriftstellerin geworden wäre. Leider musste sie schon früh erkennen, dass es ihr dazu absolut an jeglichem Talent mangelt. Wenn sie sich in der Schule eine Geschichte ausdenken sollte, trug Klein-Esra die Fakten zusammen. Die Geschichte hatte einen Anfang, einen Mittelteil und ein logisches Ende. Das, was ihren Erzählungen fehlte, waren die Gefühle, die Bilder, das Lebendige.
Wie es Esras Art ist, hält sie sich nicht lange mit Selbstmitleid auf. Sie erkundigt sich, was frau braucht, um in der Bücherwelt außerhalb des Schreibens erfolgreich zu sein. Und das ist sie jetzt. Sie liebt, was sie tut! Und der Erfolg gibt ihr recht. Sie ist eine Jägerin, die Jagd auf Bestseller macht.
Meine Gedanken schweifen wieder zu Volker. Volker …!?! Ach ja, Volker! Wieder schießen mir Tränen in die Augen. Ich kuschele mich tiefer in die Decke hinein und nehme noch zwei Blätter Toilettenpapier. Ich hätte nie gedacht, dass sich so viel Tränenflüssigkeit in mir befindet.
Nachdem Volker und Eva weggefahren sind, bringt mich Esra wieder in die Wohnung. Es fehlt nicht viel, nur seine Kleidung, ein paar Bücher und seine Arbeitsordner. Mehr wollte er wohl nicht mitnehmen. Es konnte ihm einfach nicht schnell genug gehen.