Mondschatten und der Weltenbaum - Corinna Gottsmann - E-Book

Mondschatten und der Weltenbaum E-Book

Corinna Gottsmann

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Beschreibung

»Wenn ein Freund dich bittet, ihm zu helfen, steh ihm bei!« Es ist ein Jahr vergangen, seit Mondschatten und ihre Gefährten den Untergang der »Alten Ordnung« aufhalten konnten. Die Aufregung über den Sieg hat sich gelegt, und der Alltag bestimmt wieder das Leben der Westländer. Die Ruhe endet plötzlich, als Amon, Gefährte und Freund Mondschattens, zu ihr kommt und sie um Hilfe bittet. Sein Vater, Anführer der Ostmenschen, liegt im Sterben, und kein Heiler seines Volkes konnte ihm bisher helfen. Außerdem droht der Weltenbaum, heiliges Symbol der »Alten Ordnung«, zu verdorren. Zusammen mit ihren Freunden begibt sich Mondschatten auf die Reise in Amons Heimat, um ihm zur Seite zu stehen. Was Mondschatten nicht ahnt: In der Wüste der Ostländer erwartet sie ein Gegner, den eine sehr alte und gefährliche Macht umgibt. Ein spannendes Fantasy-Abenteuer um Glaube und Hoffnung für alle, die Magie in ihrem Herzen tragen.

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EPUB
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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Corinna Gottsmann

Mondschatten

und der Weltenbaum

Ein Fantasy-Abenteuer für alle, die Magie in ihrem Herzen tragen

Copyright: © 2020 Corinna Gottsmann

Lektorat und Satz: Corinna Gottsmann – geschichten-basar.de

Umschlaggestaltung und Illustration: Sina Holste – sinaholste.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-13920-6 (Paperback)

978-3-347-13921-3 (Hardcover)

978-3-347-13922-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für

Glaube und Hoffnung

Inhalt

Kapitel 1 – in dem unerwarteter Besuch in Vestura eintrifft

Kapitel 2 – in dem eine Bitte an Mondschatten herangetragen wird

Kapitel 3 – in dem Amon seine Geschichte erzählt

Kapitel 4 – in dem eine Entscheidung getroffen wird

Kapitel 5 – in dem Thorm Mondschattens Macht erkennt

Kapitel 6 – in dem goldener Glanz den Schatten überstrahlt

Kapitel 7 – in dem Mondschatten dem Verrat ins Gesicht blickt

Kapitel 8 – in dem der Kräftigungstrunk Wirkung zeigt

Kapitel 9 – in dem Mondschatten die Stadt unter der Stadt kennenlernt

Kapitel 10 – in dem viele Fragen beantwortet werden, aber die Dunkelheit bleibt

Kapitel 11 – in dem eine Flucht Abschiednehmen bedeutet

Kapitel 12 – in dem die Reise zum Weltenbaum beginnt

Kapitel 13 – in dem Amon eine andere Sicht der Dinge erfährt

Kapitel 14 – in dem sich eine Trennung wiederholt

Kapitel 15 – in dem den Freunden ein Kampf gegen Salars Wächter lieber wäre

Kapitel 16 – in dem das Ziel anders erreicht wird als gedacht

Kapitel 17 – in dem Mondschatten sich von ihren Freunden in die Ecke gedrängt fühlt

Kapitel 18 – in dem Mondschatten ein Rätsel löst

Kapitel 19 – in dem Fragen beantwortet werden, die niemand gestellt hat

Kapitel 20 – in dem Salar dem Sieg ganz nah ist

Kapitel 21 – in dem Mondschatten der Mut verlässt

Kapitel 22 – in dem eine alte Macht ins Wanken gerät

Kapitel 23 – in dem die Freunde dem Gegner folgen

Kapitel 24 – in dem ein Vogelschwarm Unheil bedeutet

Kapitel 25 – in dem etwas Ruhe einkehrt

Kapitel 26 – in dem sich Tränen und Sand vermischen

Kapitel 27 – in dem Häuser Trauer tragen

Kapitel 28 – in dem Amon vor sein Volk tritt

Kapitel 29 – in dem ein Abschied naht

Kapitel 30 – in dem Erde auf Sand folgt

Kapitel 1

in dem unerwarteter Besuch in Vestura eintrifft

»Mondschatten! Achtung, von rechts!«

Mondschatten keuchte, Schweißtropfen liefen ihr von der Stirn in die Augen. Sie versuchte, sie wegzublinzeln. Vergeblich. Ziellos und mit letzter Kraft hob sie das Kurzschwert ihres Großvaters und stieß nach ihrer Gegnerin. Diese aber war schneller und sprang zur Seite, und ihr Angriff ging ins Leere. Bevor sie ihren Schwung abbremsen konnte, geriet sie aus dem Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin.

»Ha, gewonnen!« Wolkentanz tänzelte feixend um ihre Schwester herum. Mondschatten fasste nach einem von Wolkentanz’ Beinen. Diese stolperte und plumpste neben Mondschatten auf den Boden. Verdutzt schaute die Jüngere die Ältere an. Die grinste, und beide Schwestern brachen in lautes Gelächter aus, das von den Bergfelsen widerhallte.

»Bitte! Bitte mit ein wenig mehr Ernsthaftigkeit!« Tara seufzte. Seit über einem Jahr war die Kriegerin nun mit den Geschwistern befreundet. Wie Mondschatten hatte sie für den Erhalt der Alten Ordnung gekämpft. Auf Drängen der beiden Schwestern hatte sie sich bereit erklärt, sie in die Künste des Kampfes einzuführen, was sie allerdings in Momenten wie diesen ein wenig bereute.

»Genau!«, pflichtete Nerondom, ebenso ein Krieger der Vesturen, seiner Kameradin bei. »Im Ernstfall könnt ihr auch nicht einfach kichernd auf dem Boden liegenbleiben.« Wobei seine vergnügt zwinkernden, hellbraunen Augen die Strenge seiner Worte Lügen straften.

»So, ihr beiden! Aufstehen! Totstellen ist natürlich auch eine Möglichkeit, den Gegner abzulenken, aber einer Kriegerin würdig ist es sicherlich nicht!« Taras grüne Augen sahen die Schwestern auffordernd an.

Kichernd rappelten die sich auf. Mondschatten klopfte die nasse Erde von ihrer Hose und sog die Frühlingsluft tief in ihre Lungen ein. Sie sah sich um. Der Winter hatte sich bereits verabschiedet. Die vereisten Schneereste waren geschmolzen, und die ersten Schneeglöckchen und Krokusse kämpften sich aus der dunklen, feuchten Erde hervor. An Bäumen und Sträuchern sah man erste, zarte Knospen, die sich aus ihrem Mantel schälten. Nur die kühle Luft am frühen Morgen erinnerte an den strengen Winter.

»Es ist erst ein Jahr her«, murmelte Mondschatten.

»Was?« Wolkentanz hatte sich neben ihre Schwester gestellt und versuchte, deren Blicken zu folgen.

»Ach nichts! Ich musste nur gerade …« Und ihre Gedanken schweiften ab.

Die Alte Ordnung, auch Regla genannt, sorgte seit Anbeginn aller Zeiten für ein friedliches Miteinander auf dem Erdenball. Die Magierinnen und Magier halfen ihr dabei. Als Wanderer am Himmel zogen sie am Firmament entlang, um einzugreifen, sollte sich ein Lebewesen oder gar ein ganzes Volk über ein anderes erheben wollen. Wie alle Geschöpfe waren auch die Magier einst von Sonne und Mond erschaffen worden. Aber nur ihnen hatten ihre Schöpfer die Gabe geschenkt, die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu lenken. Doch waren es höchstens zwei der vier Kräfte, über die jede Magierin und jeder Magier herrschen durfte. Keine Kreatur sollte zuviel Macht erhalten.

Denn vor der Zeit hatte das Chaos geherrscht. Und nur durch eine glückliche Fügung war es Sonne und Mond gelungen, die vier Kräfte zu bändigen.

Als Symbol ihres Sieges erschufen sie die Vier Heiligtümer. Diese brachten sie in eine der ungezählten Höhlen des Grauen Gebirges und legten einen Schutzzauber über sie. Denn wer eines der Heiligtümer besaß, herrschte ganz alleine über das damit verbundene Element. Wer alle vier sein eigen nannte, gebot über alles Leben und Sterben in der Welt.

Antilla, ein mächtiger Magier und Anführer der Hüter der Zwietracht, wollte die Alte Ordnung stürzen. Er wollte die Vier Heiligtümer in seinen Besitz bringen, den Frieden brechen und alle Macht an sich reißen. Dafür war ihm kein Preis zu hoch.

Unter der Führung Mulantans, einer ebenso mächtigen wie weisen Magierin, hatten die Hüter der Eintracht Antillas Pläne verhindert und somit die Alte Ordnung gerettet. Aber es hatte Verluste gegeben, auf beiden Seiten. Verwundete und Tote. So auch Berondom, der auf dem Schlachtfeld sein Ende gefunden hatte.

Sein Bruder Nerondom hatte sich mit dessen Tod mit der Zeit abgefunden. Sita allerdings, auch eine Kriegerin, hatte Berondom geliebt und konnte mit dem Verlust nicht umgehen. Bald nach Kriegsende war sie auf ihren Reitwolf gestiegen und hatte ihr Volk verlassen. Keiner wusste, wo sie war oder ob sie überhaupt noch lebte.

Zwar hatte die Alte Ordnung gesiegt, aber der bittere Nachgeschmack des Todes war geblieben.

»Jetzt üben wir noch einmal den Angriff ohne Schwert«, fuhr Tara in Mondschattens Erinnerungen. »Nerondom und ich machen es euch vor.«

»Oh, nein.« Der Krieger stöhnte. »Du willst mich nur wieder mit dem Rücken auf dem Boden sehen.«

»Ganz genau!« Die Kriegerin grinste.

Nerondom täuschte einen Angriff vor, und Tara brachte ihn mit wenigen Griffen gekonnt zu Fall.

Am Anfang waren Freude und Erleichterung über den Sieg groß gewesen. Sie alle würden weiterhin in Frieden miteinander leben können.

Kriegerinnen und Krieger, die von der Schlacht zurückgekehrt waren, mussten immer wieder berichten, was sie erlebt hatten. Und auch Mondschatten, damals erst elf Jahre alt und vom Schicksalslos auserwählt worden, um an der Seite Mulantans gegen Antilla zu kämpfen, wurde in der Schule und auf der Straße ständig nach ihren Erlebnissen befragt.

Dabei hasste sie es, im Mittelpunkt zu stehen. Sogar Merowan, die Anführerin ihres Volkes, lud sie zu sich ein, um alles über die Geschehnisse zu erfahren.

Aber zum Glück legte sich die Aufregung mit der Zeit, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang.

Für die Schule gab es viel, wie Mondschatten fand, viel zu viel zu lernen. Da besuchte sie doch lieber Vesara, ihre Freundin aus dem Volk der Waldwesen. Sie stärkte Mondschattens Wissen über die Heilkunst der Pflanzenwelt. Denn Mondschatten wollte, wie ihr vor zwei Jahren verstorbener Großvater, Heilerin ihres Volkes werden.

Dann die Schul-Prüfungen vor den großen Ferien, ihr zwölfter Geburtstag im Spätsommer und …

Und, ja, mit Thorm traf sie sich jetzt häufiger. Thorm, der Sohn des Jägers, Thorm mit seinen schönen Augen, die Kraft und Ruhe ausstrahlten. Thorm, der eine Klasse über ihr in die Schule ging. Thorm, der …

»Mondschatten, bist du noch bei uns, oder an was denkst du gerade?«

»Wohl eher an wen!« Wolkentanz’ dunkle Augen blitzten.

Verflixt! Mondschatten spürte, wie heiße Röte in ihr Gesicht schoss. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester wusste immer ganz genau, wenn sie an Thorm dachte.

»Du bekommst dann so einen ‘glasigen Blick’ «, hatte sie erklärt, dabei übertrieben geseufzt und sich dramatisch an ihr Herz gefasst.

»Nein, nein, alles gut. Wirklich!« Mondschatten hoffte, dass der ‘glasige Blick’ aus ihren Augen verschwunden und einem interessierten Ausdruck gewichen war.

»Aha!« Tara klang wenig überzeugt. Die Kriegerin kniete mit einem Bein auf Nerondoms Brust und sah die beiden Schwestern von unten durchdringend an. »Wenn ihr zwei so gut aufgepasst habt, dann lasst mal sehen.«

»Mist!«, entfuhr es Mondschatten, aber so leise, dass es nur Wolkentanz hören konnte.

»Ach, das bekommen wir schon hin«, flüsterte die, und ihr Gesicht strahlte vor Schadenfreude. »Du greifst mich einfach an und liegst dann gleich wieder auf dem Boden.«

Nachdem sich Wolkentanz’ Worte erfüllt hatten, zeigte Tara Erbarmen mit den beiden und entließ sie aus dem Training.

Die Schwestern schlenderten durch das Kriegerlager zu den Wölfen. Das Rudel stand nahe einer Felsengruppe, die sich zur Stadt der Vesturen hin öffnete.

Mondschatten ließ ihren Blick schweifen: von den hellen Gebirgsfelsen über die Stadt bis hin zu dem Haus ihrer Eltern. Eingebettet in einen Hain alter, verhutzelter Bäume lag es am Rand eines mächtigen Waldes, der sich bis weit in den Osten hin öffnete und dunkle Geheimnisse in sich barg. Geheimnisse, die Mondschatten während ihres Auftrags hatte kennenlernen müssen. Gleich daneben schloss die Arbeitshütte ihres Vaters an. Er war Schreiner und bis über die Grenzen des Landes wegen seiner Kunst geschätzt.

Vestura, die Stadt der Westmenschen, schmiegte sich in die unteren Ausläufer des Gebirges, in dem die Krieger ihr Lager errichtet hatten. Die meisten Häuser waren aus den weißen Steinen des Gebirges erbaut worden. Einige von ihnen aber verschmolzen direkt mit dem hellen Bergfels.

Der Gebirgsstein leuchtete in der Nachmittagssonne. Mondschatten musste ihre Augen zusammenkneifen, so grell war es. Als sie sie wieder öffnete, stand ein großer Wolf vor ihr. Seine hellen Augen sahen ruhig auf sie hinab.

»Hallo, Nachtwind«, sagte sie zärtlich. Das Tier senkte seinen Kopf. Sie strich durch sein weiches, nebelgraues Fell und lehnte sich gegen den mächtigen Körper. In so vielen Nächten war er ihr Trost, Beschützer und Freund auf ihrer Reise gewesen.

»Das ist nicht fair!«, maulte Wolkentanz. »Nur, weil das Los auf dich gefallen ist und du auf Nachtwind mit den Kriegern losziehen durftest, erlaubt er dir jetzt, weiterhin auf ihm zu reiten. Ich will auch einen Wolf haben!« Trotzig funkelte sie ihre Schwester an.

Wie die gefühlten einhundert Male zuvor erklärte diese geduldig: »Aber du weißt doch, sobald du deine Prüfung zur Kriegerin ablegst, wirst du deinen eigenen Wolf finden.«

Wolkentanz würde nämlich, wie ihre Großmutter, Kriegerin ihres Volkes werden. »Ganz klar!«, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte.

Jetzt zuckte die Jüngere unwillig mit ihren Schultern und brummte: »Jaja, ich weiß!«

Die Wölfe, seit jeher mit den Westmenschen tief verbunden, dienten den Kriegern als Reittier. Hatte der Krieger als letzten Teil der Prüfung seinen Wolf im Gebirge gefunden, verband die beiden eine unerschütterliche Freundschaft, die nur der Tod trennen konnte.

Nachtwind war im Kriegerlager zur Welt gekommen und von Menschenhand aufgezogen worden. Nur deswegen war er so zahm, und nur deswegen war es Mondschatten möglich gewesen, mit ihm ihren Auftrag zu erfüllen.

Mondschatten umfasste abwesend das Amulett, das kühl und trocken an einer langen Kette auf ihrer Brust lag. Seine goldgelbe Oberfläche war von feinen Linien überzogen. Es war ein Geschenk ihres Großvaters gewesen. Und es war ein Zeichen für die besondere Macht, die in ihr schlummerte. Das hatte sie auf ihrem Weg zum Grauen Gebirge erfahren. Von Gaios, dem einst mächtigsten Magier, den die Geschichte kannte; und der, wie sie erfuhr, zufällig ihr vielfacher Ur-Großvater war. »Nimm dir die Zeit, darüber nachzudenken, wofür du dich entscheidest!«, hatte er gesagt. »Wirst du dein Erbe annehmen und die Kunst erlernen, über die vier Elemente zu herrschen? Oder wählst du, wie dein Großvater, den Weg des Heilens?«

Mit diesem Geheimnis, nein, mit dieser Bürde war sie nach Vestura zurückgekehrt. Sie hatte sich nur Wolkentanz und ihrer Freundin Vesara anvertraut.

»Vata, lass das!«

Mondschatten fuhr herum und sah Wolkentanz und Vata, die sich wütend anfunkelten. Vata, Mondschattens Falkenmädchen, flatterte aufgeregt vor ihnen her. Mondschatten runzelte die Stirn.

Sie folgte dem Blick des Falken in südliche Richtung. »Was möchtest du uns zeigen?«

Wolkentanz trat neben ihre Schwester, und auch Tara, Nerondom und einige andere Krieger stellten sich zu ihnen an den Rand der Felsen.

»Was ist das?« Wolkentanz kniff ihre Augen zusammen, um besser in die Ferne sehen zu können.

»Stolze Reiter in heller Kleidung auf edlen, dunklen Pferden?« Mondschatten strich sich eine Strähne ihres fuchsbraunen Haares, die der aufkommende Wind gelöst hatte, hinter ihr Ohr. »Das sind Austuren, die Menschen aus dem Osten.«

»Ich glaube, du hast recht. Ich frage mich nur, warum es so viele sind.« Tara schüttelte ihren Kopf. »Normalerweise reisen sie in Gruppen von höchstens zwanzig Reitern, um ihren Handel zu treiben. Da unten aber, das müssen mindestens fünfzig von ihnen sein!«

»Und sie kommen direkt auf Vestura zugeritten!« Nerondoms sonst freundliches Gesicht wurde ernst. Er umschloss mit einer Hand den Griff seines Schwerts. Die anderen Krieger taten es ihm gleich. Anschließend gingen alle zu ihren Wölfen, um den Ankömmlingen entgegenzureiten.

»Uaaauuuuu!« Ohrenbetäubendes Gebrüll erhob sich plötzlich und hallte im Gebirge wider. Die Felsen um sie herum bebten leicht. Staub wirbelte vor ihnen auf.

»Was in aller Welt war denn das?« Nerondom wischte sich den feinen Felsstaub aus dem Gesicht. »Wollen die mit diesem Lärm die Berge zum Einsturz bringen?«

Mondschatten ließ die Leine Nachtwinds los und rannte wieder zurück an den Felsenrand. Sie schirmte ihre Augen gegen die tiefen Sonnenstrahlen ab.

»Was siehst du?« Wolkentanz, die ihr nachgelaufen war, zappelte aufgeregt neben ihr.

Mondschatten zeigte auf zwei Figuren, die sich am Anfang des Zuges befanden: Ein Junge, der neben seinem Reittier stand und versuchte, es mit Worten und Gesten zu besänftigen. Das Reittier aber hatte sichtlich keine Lust, sich besänftigen zu lassen. Es stellte sich auf seine beiden Hintertatzen und stieß erneut ein gewaltiges Brüllen aus seinen Lungen.

Mondschattens kleegrüne Augen blitzten vor Freude. »Das, meine liebe Schwester, sind Amon und sein nicht sonderlich gut erzogener Bär Romal.«

Kapitel 2

in dem eine Bitte an Mondschatten herangetragen wird

»Jetzt gib schon endlich Ruhe!« Amon zog und zerrte an den Gurten, die der Bär um seinen mächtigen Hals trug. Aber die einzige Antwort des Tieres bestand darin, sein Maul weit aufzureißen und erneut ein donnergleiches Brüllen von sich zu geben.

»Wie ich sehe, tanzt Romal dir immer noch auf der Nase herum! « Aufgebracht drehte sich Amon um. Schweiß rann seine Stirn hinab, und das Haar hing wirr in sein Gesicht.

Als er Mondschatten sah, schob er eine Augenbraue hoch und versuchte, sich aufrecht hinzustellen. Allerdings hatte sich Romals Zaumzeug so eng um sie beide gewickelt, dass er immer wieder von den Bewegungen seines Bären mitgezogen wurde.

»Mondschatten«, keuchte er zwischendurch. »Schön, dich zu sehen. Einen kleinen Moment noch, ich hab’s gleich.«

»Ja, ganz bestimmt.« Mondschatten stieg gemeinsam mit Wolkentanz von Nachtwind ab. Auch Tara und Nerondom waren mitgekommen, glitten von den Rücken ihrer Wölfe und stellten sich neben die Schwestern.

Neugierig betrachteten sie das Schauspiel.

Schließlich erbarmte sich Mondschatten. »Nachtwind, wie wäre es, wenn du und Vata euren Freund begrüßen würdet?«

Mit dem Falken vor sich her fliegend tapste der Wolf auf den Bären zu. Der hob schnüffelnd seinen Kopf. Als er die beiden Tiere erkannte, die ihm da entgegenkamen, vergaß er Gurt und Leine und zottelte fröhlich auf sie zu.

Rasch befreite Amon sich von dem Zaumzeug. Er zuckte übertrieben ergeben mit seinen Schultern, strich sein Haar zurück und ging auf Mondschatten zu.

Mit hocherhobenem Kopf und spitzem Mund sagte er: »Vielen Dank, das war wirklich sehr freundlich.«

»Vielen Dank? Das war wirklich sehr freundlich?« Wolkentanz sah ihre Schwester mit großen Augen an. »Redet der immer so?«

Mondschatten grinste. »Ja, Amon muss so reden. Das denkt er jedenfalls. Du weißt ja, dass er der Sohn des Anführers der Austuren ist. Und irgendwann wird er der Anführer sein. Außerdem ist er der Meinung, dass Mädchen nicht so gut kämpfen können wie Jungen. Und schon gar nicht so gut wie er.«

»So, so.« Wolkentanz musterte den Austurenjungen mit seinen hellblauen Augen, der olivfarbenen Haut und den dunklen Haaren. »Das denkt er also.«

»Ja, das hat Nerondom auch immer gedacht, als er noch jung und unbedarft war. Ihr habt ja gesehen, wie schnell man mit dieser Einstellung auf dem Boden liegen kann.« Tara grinste.

Mondschatten und Wolkentanz kicherten, während Nerondom seufzte und zu Amon sagte: »Lass dir eines gesagt sein, irgendwann werden die Frauen die Welt beherrschen. Du solltest dich also besser gut mit ihnen stehen!«

Amon lockerte seine Haltung. »Ja, das behauptet meine Schwester auch immer.«

Dann umarmte er Mondschatten. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Schön, dich zu sehen«, erwiderte Mondschatten. »Was machst du hier?«

»Handel treiben«, antwortete Amon leichthin.

»Mit so vielen von euch?« Tara warf einen skeptischen Blick auf die Reiter.

»Mein Onkel meint, der zukünftige Anführer der Ostmenschen steht unter seinem besonderen Schutz!« Mit seiner Antwort zufrieden wandte Amon sich an Wolkentanz. »Du musst Wolkentanz sein. Mondschatten hat mir schon viel von dir erzählt.«

Die beiden sahen sich an und wussten nicht, wie sie sich begrüßen sollten. Stattdessen überzog langsam eine feine Röte ihre Gesichter.

Mondschatten feixte. »Ha!«

Wolkentanz, die sehr genau wusste, was dieses Ha! zu bedeuten hatte, brauste auf. »Gar nichts mit Ha!«

»Ganz genau, rein gar nichts.« Mondschatten dehnte jedes Wort übertrieben in die Länge. Dann betrachtete sie die Männer, die hinter Amon geduldig auf ihren Pferden warteten.

Reiter und Reittiere waren prächtig geschmückt.

Das Leder des Zaumzeugs glänzte, und auf ihren Köpfen trugen die Pferde goldene Bleche mit aufwendigen Verzierungen darauf. Rote Trotteln hingen links und rechts von ihnen herab. Die Kleidung der Reiter war in hellen Tönen gehalten. Mondschatten fiel auf, dass einige Reiter seidige Stoffe trugen, die im Licht der Sonne erstrahlten. Ihre Schwerter waren mit grünen Edelsteinen besetzt.

In den hinteren Reihen mischten sich Kamele unter die Reittiere. Die Kleidung ihrer Reiter war weniger seiden und kostbar, und sie trugen meist kurze Säbel anstelle der kunstvollen Schwerter an ihren Gürteln.

Einer der vorderen und edleren Reiter stieg von seinem schwarzen Pferd, stellte sich neben Amon und legte eine Hand auf seine Schulter.

Mondschatten erstarrte für einen winzigen Moment, als sie den Mann erkannte. Seine Augen waren wie Amons von heller, beinahe durchschimmernder Farbe. Allerdings leuchteten sie grün. Wie die Edelsteine auf den Schwertern, dachte Mondschatten.

Es war Salar, Amons Onkel, Bruder seines Vaters. Sie hatte ihn im letzten Jahr auf der Burg der Hüter der Eintracht kennengelernt. Und aus einem Impuls heraus, den sie nicht verstand, hatte sie sofort ihre Gedanken vor ihm verschlossen.

Sie mochte diesen Mann nicht, der da in seinen prächtigen Gewändern vor ihnen stand.

»Darf ich vorstellen?« Amon sah seinen Onkel voller Bewunderung an. »Salar, mein Onkel. Mondschatten, ihr kennt euch ja bereits.« Mondschatten und Salar sahen einander an und erkannten die Abneigung in den Augen des anderen.

Eine kurze Pause entstand. Mondschatten hatte das Gefühl, Salar versuche, sie niederzustarren. Aber sie hielt seinem Blick stand. Mit einem Funkeln in den Augen gab er es endlich auf und neigte den Kopf. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.« Seine Stimme war honigweich, aber die Worte erreichten nicht seine Augen.

Mondschatten nickte nur stumm.

Amon stellte die anderen vor, dann stiegen alle wieder auf ihre Reittiere und ritten zur Stadt. Die Reiter folgten ihnen. Vata hatte sich auf Mondschattens Arm niedergelassen.

»Du trägst ja das Lederarmband.« Amon zeigte auf das Band, das er Mondschatten am Ende ihrer Aufgabe geschenkt hatte.

»Natürlich.« Mondschatten hob ihren Arm. Vata schrie freudig auf und schoss in die Höhe.

»Das ist meine erste Reise, auf der ich alleine Geschäfte abschließen darf.« Amon strahlte Mondschatten an. »Mein Vater meinte, dass es an der Zeit wäre, mich in die Kunst des Handelns einzuweihen und mir Verantwortung zu übergeben.« Bei den letzten Worten war Amons Stimme ganz leise geworden. Er schlug seine Augen nieder.

»Was hast du denn?« Mondschatten sah ihren Freund besorgt an.

Amons Blick schweifte in die Ferne, abwesend antwortete er: »Kurz nachdem ich im letzten Jahr mit Salar und den Kriegern in meine Heimat zurückgekehrt war, ist mein Vater sehr schwer erkrankt. Er isst und trinkt nur wenig und ist so dünn geworden, dass beinahe nichts mehr von ihm übrig ist. Aber das, was mir am meisten Angst macht, ist, dass er nicht mehr lacht. Gar nicht mehr. Er war so ein fröhlicher Mensch, der seine Umgebung immer mitgerissen hat. Jetzt ist es, als ob ein dunkler Schatten über ihm liegen würde. Er verlässt sein Bett nicht mehr. Keiner unserer Heiler konnte ihm helfen.« Amons nächste Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Wahrscheinlich wollte er deswegen, dass ich die Reise antrete. Nur für den Fall, dass …« Hier verstummte er ganz.

»Es tut mir so leid.« Mondschatten meinte, Amons Schmerz in sich zu spüren. Auch Wolkentanz sah ihn voller Mitgefühl an.

»Dafür ist Salar mit mir gekommen!« Amons Augen leuchteten mit einem Mal und suchten den Blick seines Onkels, der ihm freundlich zunickte. »Ich kann so viel von ihm lernen!« Mondschatten verkniff sich eine bissige Bemerkung.

Sie waren am Rand der Stadt angekommen.

»Herzlich willkommen in Vestura!« Merowan trat ihnen entgegen. Die Anführerin der Westmenschen stand mit ihren Beratern und einigen Bewohnern bereit, um die Besucher zu begrüßen.

»Meinen herzlichsten Dank.« Salar, der von seinem Pferd abgestiegen war, trat vor Merowan und neigte den Kopf.

Das kinnlange Haar der Vesturin schimmerte hell in der Sonne. Ihre silbrigen Strähnen waren im letzten Jahr deutlich mehr geworden. Ihre blaugraue Kleidung hob sich in ihrer Einfachheit auffällig gegen das edle Gewand Salars ab.

Der trat einen Schritt zur Seite und wies auf Amon.

»Das ist Amon, mein Neffe und Sohn Bahrams, Anführer der Ostmenschen.«

»Auch an dich mein herzlichstes Willkommen. Mondschatten hat mir bereits vieles von dir erzählt.« Dabei nickte Merowan in Mondschattens Richtung, die mit den anderen abgestiegen war. »Und ich würde mich freuen, wenn ihr heute Abend unsere Gäste sein würdet. Wir bereiten ein kleines Fest auf dem Marktplatz vor.«

»Es wäre uns eine Ehre.« Salar neigte erneut seinen Kopf. »Vorher würden wir aber gerne noch unseren Geschäften nachgehen.«

»Gut.« Merowan blickte zum Himmel, wo die Sonne sich bereits auf ihren Untergang vorbereitete und die Stadt in ein orangefarbenes Licht tauchte. »Dann sehen wir uns in ein paar Stunden auf dem Marktplatz.«

Sie verabschiedeten sich voneinander. »Bis heute Abend«, rief Amon Mondschatten und Wolkentanz zu und verschwand mit seinem Onkel in den Gassen Vesturas.

Auch einige der Reiter strömten in die engen Straßen, um Handel mit den dortigen Geschäftsleuten zu treiben. Die restlichen blieben zurück. Sie bauten Zelte auf und versorgten die Pferde und Kamele - und Amons Bären, der über den plötzlichen Aufbruch seines Herrn alles andere als erfreut war.

Mondschatten und Wolkentanz brachten Nachtwind ins Lager zurück. Anschließend liefen die Schwestern nach Hause, um ihren Eltern zu berichten, wer zu Besuch gekommen war, und um sich für das Fest am Abend vorzubereiten.

***

Es dunkelte bereits, als Mondschatten, Wolkentanz und ihre Eltern von zu Hause aufbrachen.

»Jetzt beeilt euch doch!«, drängelte Wolkentanz, die es nicht abwarten konnte, zu den flackernden Lichtern auf dem Marktplatz zu gelangen.

Schon in den Straßen, die zum Marktplatz führten, wurden sie von Musik, lautem Lachen und Stimmengewirr umfangen.

»Die Musik hört sich so anders an, findet ihr nicht?« Mondschatten sah ihre Eltern fragend an.

»Das sind die Klänge der Musik der Ostmenschen.« Toya, die Mutter der Schwestern, war Lehrerin und liebte es, ihr Wissen weiterzugeben. Meist in einem etwas belehrenden Ton. »Sie haben eigene Instrumente. Und ihre Melodien klingen für unsere Ohren fremd, weil sie andere Dinge erlebt und so uns unbekannte Geschichten zu erzählen haben.«

Im Zauber dieser Melodien, die sich unter die vertrauten Lieder der Vesturen mischten, erreichten sie den Marktplatz.

»Da hol mich doch einer!«, brach es aus Gard, dem Vater der Schwestern, hervor.

»Toll!« Wolkentanz sprang freudig vor ihnen her.

Mondschatten stand einfach nur sprachlos da und betrachtete das Bild, das sich ihr bot.

Sicher, die Vesturen liebten es, Feste zu feiern, und zwar aus allen erdenklichen und unerdenklichen Gründen. Stets wurde der Marktplatz bunt geschmückt, und Tische und Bänke boten genügend Platz für alle. Köstliche Gerüche waberten durch die Reihen, und mannshohe Fackeln umrahmten den Festplatz. Auch Gaukler, Schausteller und verschiedenste Handwerker stellten ihre Künste dar, und es herrschte ein fröhliches Treiben auf dem Platz.

Aber das, was sie hier und heute sahen, übertraf alles bisher Gesehene.

Wie immer schäumte der Platz schier über vor lauter Feiernden. Und immer mehr strömten hinzu. Auch die sich vor Speisen und Getränken biegenden Tische und vollbesetzten Bänke boten keinen außergewöhnlichen Anblick. Selbst die Feuerstellen, die über den Marktplatz verteilt flackerten, verbreiteten ihre vertraute Wärme.

Ganz anders das Licht, das von den riesigen Fackeln ausging. Vor ihnen hingen bunte Tücher, die sich leise im Wind bewegten. Sie warfen einen schillernden Glanz auf das Treiben. Fremde Gerüche vermischten sich mit den fremden Melodien und zogen durch die Reihen.

»Sieh mal da!« Mondschatten folgte dem Finger ihrer Schwester. Umringt von einer Menschentraube saß ein Ostländer mit verschränkten Beinen auf dem Boden. In seinen Händen hielt er eine Flöte und spielte darauf. Vor ihm stand ein Korb, und aus diesem erhob sich langsam schwingend eine große, dunkelbraune Schlange mit einem breit gespreizten Nackenschild. Mondschatten zog die Luft tief ein.

Der Kopf wiegte sich sacht hin und her, wobei nicht zu erkennen war, ob er der Melodie oder der Bewegung der Flötenspitze folgte.

»Das muss ich mir ansehen!« Wolkentanz klatschte aufgeregt in die Hände und mischte sich unter die Schaulustigen.

»Nun denn, schnell hinterher!« Toya seufzte. »Sonst nimmt sie dem Mann noch die Flöte weg, um es selber zu probieren.«

Mondschatten kicherte und sah ihren Eltern nach, die sich neben ihre Jüngste stellten. Abwesend strich sie über Vatas Federkleid. Der Falke, der die meiste Zeit vor ihnen hergeflogen war, hatte sich auf ihrem Arm niedergelassen.

Mondschatten betrachtete ihr Volk, das zu Ehren seiner Gäste dieses Fest gab.

Mondschatten war immer stolz darauf gewesen, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Die Westmenschen waren für ihre Offenheit, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft bekannt. Bisher jedenfalls.

Menschen aller Haut-, Haar- und Augenfarben hatten hier ihr Zuhause gefunden. Man lebte miteinander, und auch andere Geschöpfe, wie das Zwergenvolk, fühlten sich bei den Vesturen willkommen.

Aber irgendetwas hatte sich verändert. Auch, wenn die Hüter der Eintracht den Sieg errungen hatten und die Alte Ordnung weiterhin von allen Geschöpfen anerkannt wurde, begann der einst starke Verbund der Westmenschen leise zu bröckeln.

Nach außen fiel das niemandem weiter auf. Fremden gegenüber waren die Vesturen wie immer aufgeschlossen.

Sobald die Austuren aber abgereist wären, würde man hier und da kleine Abfälligkeiten über sie fallen lassen.

Aber nicht nur Fremden gegenüber, auch innerhalb der Gemeinschaft schlichen sich Veränderungen ein, wie leises Gift durch einen Körper. Missgunst und Misstrauen hatten Einzug in die einst offene Stadt gehalten. Wo vorher die Menschen noch bunt durcheinander gewürfelt miteinander gelebt hatten, zogen sie sich immer mehr zurück.

Mondschatten fragte sich, warum keiner etwas dagegen unternahm. Sah es vielleicht kein anderer? Oder spürte sie hier etwas, was gar nicht da war? Oder lag es daran, dass sie das Gedankenlesen noch nicht richtig beherrschte und überempfindlich reagierte?

Ich muss mit Gaios und Mulantan darüber sprechen!, überlegte sie.

»Mondschatten?«

Sie fuhr herum und musste ihren Blick ein klein wenig nach oben richten, um in die bernsteinfarbenen Augen des Jungen sehen zu können, der da vor ihr stand. Thorm! Ihr Herz schlug schneller.

»Hallo«, brachte sie hervor. Verflixt, dass ich immer noch verlegen werde, wenn ich ihn sehe!

Sie entließ Vata von ihrem Arm, die in den Abendhimmel verschwand.

»Beeindruckend, findest du nicht?«, fragte sie. Dabei folgten ihrer beiden Augen dem Treiben auf dem Platz. Kurz blieb Mondschattens Blick an Salar hängen. Er saß an einem der Tische rechts neben Merowan und unterhielt sich mit ihr. Mondschatten konnte den Ausdruck auf dem Gesicht der Anführerin nicht deuten. Aber sie schien ihm interessiert zuzuhören.

»Es ist toll! Wir sollten künftig häufiger mit den Ostmenschen zusammen feiern.« Thorm grinste. »Wollen wir da hinten zu dem Mann gehen, der sein Schwert verschluckt?«

»Jemand verschluckt sein Schwert? Wo?« Sie sah sich neugierig um und entdeckte den Schwertschlucker.

Die Schwertspitze verschwand gerade in seinem Mund. Mondschatten verzog das Gesicht, war aber auch gleichzeitig fasziniert.

»Klar wollen wir dahin!« Sie wollten beide loslaufen, als ein »Hallo, Mondschatten!« sie davon abhielt.

Sie wusste schon, wem die Stimme gehört, bevor sie sich umdrehte.

»Amon!« Sie freute sich sehr, dass er da war. Während der gemeinsamen Zeit im Kampf für Regla war eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen gewachsen. Sie hatten sich ein Jahr nicht gesehen, und es gab viel zu erzählen. Andererseits war da Thorm, der mit ihr den Abend verbringen wollte.

Amon, der keinerlei Verlegenheit zu kennen schien, streckte Thorm seine Hand entgegen. »Hallo, ich bin Amon.«

»Hallo, ich bin Thorm. Ich hab schon viel von dir gehört.« Thorm, der etwas größer als Amon war, nahm die Hand und schüttelte sie.

»Nur Gutes, nehme ich an.« Amon grinste.

»Eine wirklich schöne Feier«, versuchte Mondschatten, das Thema zu wechseln.

»Ja«, erwiderte Amon kurz. Er sah Mondschatten eindringlich an.

»Wir wollten uns gerade den Schwertschlucker ansehen. Kommst du mit?« Thorm sah Amon fragend an und umschloss Mondschattens Hand.

Ein Stoß fuhr durch ihren Körper. Das hatte er noch nie getan. Warm und groß umfasste seine Hand die ihre.

Sie seufzte. Es könnte so schön sein. Aber sie ahnte, dass das, was Amon als nächstes sagen würde, den gemeinsamen Abend mit Thorm beendete. Das Gedankenlesen gelang ihr zwar noch nicht wirklich gut, allerdings wurden ihre Ahnungen immer stärker.

Amon, der Thorm nicht weiter beachtete, sah sie an. »Ich muss dich sprechen, Mondschatten! Allein! Es ist wichtig!«

Der Griff um ihre Hand wurde fester, bestimmter.

»Kann das nicht bis morgen warten?«, fragte sie lahm.

»Es ist wichtig!«, war Amons Antwort, die keinen Aufschub duldete.

Mondschatten sah Thorm an und hoffte auf sein Verständnis.

Der Griff um ihre Hand löste sich. »Geht nur«, sagte er, drehte sich um und verschwand in dem bunten Treiben der Feiernden.

»Was ist denn so wichtig, dass du es nur mit mir alleine besprechen kannst?«, platzte es aus Mondschatten heraus.

»Denkst du viel an …?« Amon stockte, er suchte nach den richtigen Worten. »Denkst du noch oft an unsere Reise, unseren Auftrag?« Der plötzliche Themenwechsel nahm Mondschatten jeglichen Zorn.

»Jeden Tag«, antwortete sie leise, während sie versuchte, gegen die wachsende Schwere anzukämpfen.

»Ich denke jeden Tag daran«, wiederholte sie. »Manchmal träume ich sogar davon. Und es sind keine besonders schönen Träume. Wenn ich dann aufwache und die Vier Heiligtümer über mir an der Decke sehe, überlege ich, ob es nicht besser wäre, sie zu übermalen. Aber dann vergesse ich es wieder. Bis zum nächsten bösen Traum. Oder, wenn wir in der Schule über die Vier Heiligtümer sprechen. Über die Macht, die sie angeblich demjenigen verleihen, der sie besitzt.« Auf einmal merkte sie, wie gut es ihr tat, mit jemandem zu reden, der all das miterlebt hatte.

Sie schwiegen eine lange Zeit.

»Es belastet dich auch«, stellte Amon schließlich fest.

»Ja, meinen Eltern und den anderen nicht die ganze Wahrheit zu erzählen, ist zwar nicht leicht, aber sie geben sich mit meiner Version zufrieden. Wolkentanz und meine Freundin Vesara zu belügen, das ist …« Ihre Stimme war so leise geworden, dass Amon den Satz für sie beendete: »Das ist grausam! Mir geht es auch so.«

»Und Wolkentanz spürt, dass etwas nicht stimmt«, sagte Mondschatten.

»Sie ist schlau, deine Schwester.«

»Ja, ja.« Mondschatten grinste. »Wolkentanz ist besonders schlau.« Im Schein der Fackeln konnte sie erkennen, wie Amon ihrem Blick auswich.

»Auch in meiner Familie gibt es einige, die meine Erzählungen anzweifeln«, lenkte er ab. »Salar ist bei seinen Fragen besonders hartnäckig.«

Das glaube ich gerne, dachte Mondschatten und war froh, dass Amon ihre Gedanken nicht lesen konnte. Sein Onkel wurde ihr immer unheimlicher. Laut sagte sie: »Aber wir haben geschworen zu verschweigen, was wirklich im Grauen Gebirge passiert ist, nicht wahr?« Amon blickte zu Boden und nickte.

Nach einer kurzen Pause fragte er: »Hast du dich eigentlich entschieden?« Wieder ein plötzlicher Wechsel. Sie wusste genau, was er meinte, antwortete aber trotzig: »Was meinst du?«

»Mondschatten!« Seine Augen wurden schmal. »Du weißt ganz genau, was ich meine! Aber gut, wie du willst: Wirst du dein Erbe antreten? Wirst du dich von Gaios und Mulantan zur Magierin ausbilden lassen, um alle vier Elemente zu beherrschen? Wie viel Macht zu hättest!« Aufgeregt sah er sie an.

»Nein, habe ich nicht! Und du redest genauso wie Wolkentanz! Aber habt ihr eigentlich eine Ahnung, was das für eine Verantwortung ist? Und was passiert, wenn ich mit dieser Macht gar nicht umgehen kann? Denk an Gaios! Er beherrscht die vier Elemente. Was hat es ihm gebracht? Er hat seine Schwester auf dem Gewissen! Nicht mit Absicht, aber sie ist tot!« Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn.

»Aber du bist doch ganz anders als er«, versuchte Amon, sie zu besänftigen.

»Das weißt du doch gar nicht!« Mondschatten wollte sich nicht beruhigen lassen. »Macht kann jeden verändern, das hat schon mein Großvater gewusst. Deswegen hat er sich ja auch dagegen entschieden.« Sie starrten sich wortlos an. »Aber«, fuhr Mondschatten ruhiger fort, »ich werde im Gedankenlesen besser.« Sie zwinkerte Amon versöhnlich zu.

Der grinste. »Ich werde aufpassen.« Dann wurde er wieder ernst.

»Mondschatten, mein Vater ist schwer krank. Und keiner kann ihm helfen. Die besten Heiler unseres Landes sind ratlos und denken, dass er bald stirbt.« Er sah sie flehend an und nahm all seinen Mut für seine nächsten Worte zusammen. »Deswegen bitte ich dich, wenn nicht als Magierin, dann doch als Heilerin und als Freundin, mich in meine Heimat zu begleiten.«

Kapitel 3

in dem Amon seine Geschichte erzählt

»Ich soll was?« Mondschatten riss ihre Augen auf.

»Pst, nicht so laut!« Amon lenkte sie zu einem der Tische, die sich allmählich leerten. Viele der Gäste drängten sich nach dem Essen um die Attraktionen der Ostländer. Die meisten jedoch bewegten sich auf der Tanzfläche zu der Musik aus fremden und vertrauten Tönen.

Mondschatten beobachtete Merowan und Salar, die sich angeregt unterhielten. Plötzlich drehte der Ostländer seinen Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. Ein Stich fuhr in Mondschattens Brust und nahm ihr den Atem. Schweiß bildete sich auf ihrer Oberlippe. Sie schwankte leicht.

»Was ist?« Besorgt zog Amon sie neben sich auf die Bank. »Nichts!« Mondschatten holte tief Luft und bemühte sich um ein Lächeln. »Nichts, es ist alles gut. Wahrscheinlich nur die Hitze. All die Fackeln und die vielen Menschen hier.« Amon schien beruhigt. Wüsste er, was sie glaubte, in Salars Gedanken gelesen zu haben, er würde sie schlichtweg für verrückt halten.

Da war etwas Weißes gewesen. Etwas großes Weißes. Und das hatte sich auf sie zubewegt, war zu ihr geglitten. Ganz nah zu ihr hin, bedrohlich nah. Nein, das ist nur eine Täuschung, dachte sie. Amons Bitte hat mich so aufgeregt, dass ich vollkommen durcheinander bin.

»Ich kann nicht einfach so mit dir in deine Heimat reisen!«, sagte sie bemüht ruhig.

»Selbst wenn ich von der Schule frei bekäme, meine Mutter würde mir das nie erlauben. Es ist etwas anderes, wenn das Schicksalslos der Vesturen seine Wahl trifft. Aber einfach so mit dir kommen? Auf gar keinen Fall!«

»Als ich vor einem Jahr mit Salar und den anderen von der Burg nach Hause zurückkehrte, war die Freude groß«, begann Amon, ohne auf ihre Bedenken einzugehen. »Meine Familie, meine Freunde, das Volk, einfach alle waren froh, dass wir gesiegt hatten und jeder sein Leben so weiterleben konnte wie bisher. Mein Vater war so stolz auf mich. »Du hast mir und unserem Volk alle Ehre erwiesen!«, sagte er.

Natürlich gab es ein Fest. Ganze fünf Tage haben wir gefeiert. Und ich musste immer wieder erzählen, was ich alles auf meiner Reise erlebt hatte. Besonders, was sich im Grauen Gebirge zugetragen hatte. Dieser Schwindel …« Er stockte, fing sich aber schnell wieder. »Mit der Zeit wurde der Trubel weniger. Zum Glück! Allerdings begann mein Vater zu dieser Zeit zu kränkeln. Wir ließen einen Heiler nach dem anderen kommen. Jeder hatte eine andere Meinung. Aber keine dieser Meinungen nutzte meinem Vater.« Amon sah Mondschatten traurig an. »Schon seit Wochen verlässt er nicht mehr sein Bett.«

»Es tut mir so leid.« Mondschatten legte eine Hand auf Amons Arm.

»Das ist noch nicht alles.« Amon wischte sich fahrig durch sein Haar. »Du weißt ja, dass in der Wüste unseres Landes der Weltenbaum wächst. Von seinen Wurzeln haben Sonne und Mond einst das Saatkorn entnommen.« Er richtete sich gerade auf. Mondschattens Hand rutschte von seinem Arm.

»Für uns Austuren ist der Weltenbaum ein besonderes Heiligtum. Jeder versucht, einmal in seinem Leben zu dem Baum zu reisen und seine Hand an den Stamm zu legen. Das bringt Glück, Wohlstand und Gesundheit.«

»Ach ja?« Mondschatten zog eine Augenbraue hoch. »Glück, Wohlstand und Gesundheit? Genauso, wie die Vier Heiligtümer demjenigen alle Macht schenken, der sie beherrscht?«

Amon sah sie mit offenem Mund an. Dann zuckte er mit seinen Schultern. »Ja, wahrscheinlich hast du recht, und wir Austuren benutzen diesen Baum nur als Zeichen, ohne dass er irgendwelche Kräfte besitzt.«

»So hat es Mulantan gesagt«, erinnerte ihn Mondschatten. »All diese Dinge, wie die Heiligtümer und der Baum … Es sind die Geschichten, die ihnen Kraft verleihen. Aus sich selbst heraus besitzen sie keine Macht.«

»Jaja, ist ja gut!« Amon blies die Luft aus und schwieg.

»Was ist denn nun mit dem Baum?«, lenkte Mondschatten ein.

»Er ist krank. Normalerweise sind die Blätter immer grün. Es ist noch niemals vorgekommen, dass sie sich verfärbt haben, wie die Blätter anderer Bäume im Herbst. Jetzt sind sie braun, und viele von ihnen werden vom Wind davongetragen. Der Stamm hat sich schwarz verfärbt, und die Rinde schält sich ab.«

Sie lauschten den Stimmen auf dem Marktplatz.

Mondschatten blickte sich um. Die Sonne war mittlerweile vollständig untergegangen. Der Mond und die Sterne strahlten am Himmel und erhellten zusammen mit dem Licht der Fackeln den Platz. Vereinzelt stiegen Rauchfahnen von den Feuerstellen nach oben. Die Luft wog schwer und roch nach Gewürzen, Fleisch und verbranntem Holz. Die Geräusche verschmolzen und schossen über ihren Köpfen hin und her.

»Mondschatten!« Amons Stimme war ganz leise. Er sah sie durchdringend an. »Für dich mag das alles keine Bedeutung mehr haben. Du hast selbst erlebt, dass die Geschichten über die Vier Heiligtümer nicht ganz der Wahrheit entsprechen. Aber für alle anderen haben die Heiligtümer nichts von ihrer Kraft verloren. Im Gegenteil! Ich habe das Gefühl, dass sie durch den Krieg, die Ängste, die Verluste, noch stärker geworden sind. So ist es auch mit dem Weltenbaum.«

Mondschatten wusste, dass das stimmte. Sie war selbstgerecht. Wenn es den Geschöpfen der Welt hilft, die Heiligtümer, einen Baum oder was auch immer zu verehren und dadurch Frieden im Land herrscht, wer bin ich, diese Lebensweise zu verurteilen?

»In Ordnung. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Lass mich zu Ende erzählen. Du musst wissen, dass der Anführer der Austuren für den Weltenbaum verantwortlich ist. Es ist seine Aufgabe, ihn vor jeglichen schlechten Einflüssen zu schützen. In den vergangenen Jahrhunderten war das leicht. Der Baum war gesund, und seine grünen Blätter hingen ausladend über dem gelben Wüstensand. Seine Wurzeln gruben sich so tief in den Boden, dass er auch bei größter Hitze genügend Wasser bekam. Nun aber verdorrt er. Einige berichten sogar, dass sie kleine, weiße Insekten aus dem Sand am Stamm hinaufkrabbeln gesehen haben.«

»Und dein Vater ist zu krank, um zu dem Baum zu reisen und nachzusehen, was mit ihm los ist.« Allmählich verstand Mondschatten.

»Richtig! Am Anfang war das alles kein Problem. Das Volk liebt meinen Vater. Er ist gütig und gerecht. Jeder ging davon aus, dass er schnell wieder gesund werden, zum Weltenbaum reisen und ihn erneut zum Blühen bringen würde. Aber das ist nicht passiert. Und seit einigen Wochen breiten sich Angst und Unruhe unter den Menschen aus. Es spricht keiner laut aus, aber das Vertrauen in meinen Vater schwindet. Es bilden sich kleine Gruppen, und man grenzt sich von anderen ab.«

»Was meinst du damit?«