Mondschatten und das Schicksalslos - Corinna Gottsmann - E-Book

Mondschatten und das Schicksalslos E-Book

Corinna Gottsmann

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Beschreibung

»Das Los ist auf Mondschatten gefallen …!« Es ist die Zeit »Reglas«, der »Alten Ordnung«, die unzählige Zeitalter vor der unsrigen liegt. Die Geschöpfe der Erde leben in Frieden und Gerechtigkeit miteinander. - Bis zu dem Tag, an dem ein Teil der Magierzunft die Alte Ordnung anzweifelt und sie mit Hilfe der Vier Heiligtümer stürzen möchte. Mondschatten, Menschenkind der Westländer, wird vom Schicksalslos ihres Volkes erwählt, um mit ihren Gefährten loszuziehen und die heimtückischen Pläne des Gegners zu vereiteln. Keiner versteht, warum das Los ausgerechnet auf die erst elfjährige Mondschatten gefallen ist; am allerwenigsten sie selber. Mit Vata, ihrer Falkenfreundin, und Nachtwind, dem großen, freundlichen Wolf an ihrer Seite, begibt sie sich auf die lange und gefährliche Reise zum Versteck der Vier Heiligtümer. Unterwegs muss sie nicht nur gegen die Feinde der Alten Ordnung kämpfen, sondern auch den Anfeindungen der eigenen Gefährten trotzen. Was ist das für ein Geheimnis um Mondschatten, dass das Schicksalsos sie erwählte? Kann sie den drohenden Untergang der Alten Ordnung aufhalten? Ein spannendes Fantasy-Abenteuer um Mut und Freundschaft für Leserinnen ab 9 Jahren.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Corinna Gottsmann

Mondschatten

und das Schicksalslos

Fantasyroman für Mädchen ab 9 Jahren

Copyright: © 2020 Corinna Gottsmann

Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Satz: Erik Kinting

Umschlaggestaltung und Illustration: Sina Holste – sinaholste.de

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-7497-9071-5 (Paperback)

978-3-7497-9072-2 (Hardcover)

978-3-7497-9073-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Mut und Freundschaft

Inhalt

Kapitel 1 –  in dem zwei Nachrichten überbracht werden

Kapitel 2 –  in dem das Schicksal seine Wahl trifft

Kapitel 3 –  in dem Mondschatten Abschied nehmen muss

Kapitel 4 –  in dem Mondschatten eine Grenze überschreitet

Kapitel 5 –  in dem Mondschatten ungewollt hinter das Geheimnis des Wandelwalds kommt

Kapitel 6 –  in dem eine finstere Begegnung die Reise unterbricht

Kapitel 7 –  in dem dichter Nebel tiefe Ängste entfesselt und Mulantan ihren Weg kreuzt

Kapitel 8 –  in dem Mondschatten das Lager der Hüter der Eintracht erreicht und sich von Nachtwind trennen muss

Kapitel 9 –  in dem Mondschatten auf ihre Schicksalsgefährten trifft

Kapitel 10 –  in dem es kein Zurück mehr gibt

Kapitel 11 –  in dem Draka ihre Geschichte erzählt

Kapitel 12 –  in dem Mondschatten Mulantan zur Seite steht

Kapitel 13 –  in dem die Gefährten einer sehr alten Macht begegnen

Kapitel 14 –  in dem Gaios seine Geschichte erzählt

Kapitel 15 –  in dem die Gefährten eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen

Kapitel 16 –  in dem sich die Erde über den Gefährten schließt

Kapitel 17 –  in dem der Kampf um die Vier Heiligtümer am Ende einen Sieger hat

Kapitel 18 –  in dem die Alte Ordnung von den eigenen Anhängern infrage gestellt wird

Kapitel 19 –  in dem Gaios Mondschatten ein Geheimnis anvertraut

Kapitel 20 –  in dem doch nicht alles gut ist

Kapitel 21 –  in dem Mondschatten viel zu erzählen hat, aber doch nicht alles verrät

Kapitel 1

in dem zwei Nachrichten überbracht werden

»Wolkentanz! Wo bleibst du denn? Beeil dich doch!«

Hektisch suchte Mondschatten die Menschenmenge um sich herum nach ihrer Schwester ab. Sie waren rechtzeitig aufgebrochen, um auch ja nichts von dem angeblich alles veränderten Ereignis zu verpassen, das heute auf dem Marktplatz stattfinden sollte. Trotz der Aufregung, die die Stadt Vestura und ihre Bewohner gepackt hatte, waren die Eltern der Schwestern zu Hause geblieben. Allerdings hatte die Mutter Mondschatten eindringlich ermahnt: »Pass auf Wolkentanz auf! Dass sie dir ja nicht verloren geht!« Und jetzt konnte sie sie unter den Hunderten von Erwachsenen und Kindern einfach nicht finden.

Langsam schoben sich die Menschenmassen die Gassen hinauf in Richtung Marktplatz. Über ihnen flatterte Vata, Mondschattens Falkenmädchen, auf der Stelle. Die dunklen Augen fixierten die Leute unter ihr.

Mondschatten sah hoch und grinste: »Mal sehen, wer sie eher entdeckt.«

Ein lautes Krächzen war die Antwort. Vatas zimtfarbenes Federkleid mit den hellen Sprenkeln darin glänzte in der späten Herbstsonne, die von einem wolkenlosen, blauen Himmel schien.

Es war ein angenehm warmer Tag Anfang Oktober. Der weiße Gebirgsstein, aus dem die meisten Häuser der Stadt erbaut worden waren, schimmerte in den Sonnenstrahlen. Obwohl die Sonne nicht mehr mit ihrer vollen Kraft leuchtete, roch Mondschatten den erdigen Geruch, der von den aufgeheizten Häuserwänden aufstieg. Sie kniff die Augen zusammen und spürte den Ärger, der langsam ihren Rücken hinaufkroch. Wo war Wolkentanz nur? »Wolkentanz!«, rief sie erneut.

»Was ist denn los? Hier bin ich doch!« Das schlaksige Mädchen schlüpfte aus dem Menschenstrom und stellte sich direkt vor Mondschatten.

Diese blickte in die ungeduldigen Augen ihrer jüngeren Schwester. Eine Strähne der kinnlangen Haare fiel ihr ins Gesicht. Mondschatten verblüffte es immer wieder, wie sehr sie beide sich unterschieden.

Die einzige Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestand, war der honiggelbe Ring, der sich um ihre Pupillen schloss. Wolkentanz’ Augen und Haare glänzten schokoladenbraun, wie bei ihrer beider Mutter Toya. Mondschattens Augen hingegen schimmerten kleegrün. Nur wenn sie traurig war, überzog ein gräulicher Schleier ihre hellen Augen. Ihr fuchsbraunes Haar fiel über ihre Schultern.

Auch in ihrem Wesen unterschieden sich die beiden Mädchen vollkommen: Wolkentanz war quirlig und schnell aufbrausend. Sie war erst neun Jahre alt, hatte aber vor nichts und niemandem Angst. Obschon es verboten war, schlich sie an manchen Tagen zum Lager der Krieger ihres Volkes, das tief im Gebirge lag, und beobachtete heimlich deren Übungskämpfe. Mit dem Schwert, das ihre Großmutter mütterlicherseits ihr vererbt hatte und das beinahe so groß wie sie selber war, ahmte sie die Kampfbewegungen nach. Wolkentanz war sich sicher, dass sie eine hervorragende Kriegerin werden würde, genau so wie ihre Großmutter. Daran bestand für sie keinerlei Zweifel.

Mondschatten hingegen liebte es, durch die Felder und den Wald zu streifen, an dessen Rand ihr Elternhaus stand, Vata stets an ihrer Seite. Dabei sammelte sie Pflanzen und verarbeitete sie zu Tees, Salben und Tinkturen. Alles, was sie über Pflanzen, ihre Verarbeitung und Anwendung wusste, hatte sie von Yunorus, ihrem Großvater gelernt. Er war ein großer Heiler ihres Volkes gewesen und hatte sein gesamtes Wissen mit ihr geteilt. Für die elfjährige Mondschatten stand fest, dass auch sie eine Heilerin werden würde.

Seit einem Jahr nun weilte ihr Großvater nicht mehr unter ihnen. Ein Stich fuhr durch ihr Herz. Sie vermisste ihn schrecklich.

»Jetzt komm schon!« Wolkentanz zog an Mondschattens Ärmel. »Oder willst du etwa, dass wir alles verpassen?«

Mondschatten, die ihre Schwester um beinahe eine Kopflänge überragte, sah sie genervt an, riss sich aber zusammen und schwieg.

Hand in Hand ließen sie sich von der Menschenmenge weiter in Richtung Marktplatz treiben.

Mondschatten war froh, als sie endlich die Anhöhe erreichten, auf der der Marktplatz lag. Sie staunte, wie viele Menschen sich auf dem großen Platz versammelt hatten.

Die beiden Mädchen quetschten sich bis ganz nach vorne in die erste Reihe. Vata ließ sich auf Mondschattens nieder. Diese stieß sanft mit ihrem Kopf gegen das Köpfchen des Falken. Der piepste wohlig auf.

»Puh, ist das heiß hier«, beschwerte sich Wolkentanz. Sie strich sich mit einer Hand über ihre Stirn.

Auch Mondschatten spürte, wie die tiefen Strahlen der Herbstsonne und die vielen Körper um sie herum eine bedrückende Wärme verbreiteten. Sie drehte sich um und sah in ein Meer voller Menschen, die sich um den Marktplatz drängten. Jung und alt waren gekommen, um auch ja nichts zu verpassen.

Der riesige Platz erstreckte sich quer über die Anhöhe. Er zeichnete einen der höchsten Punkte Vesturas, der Stadt der Menschen des Westens: den Vesturen. Das schlichte Haus Merowans, ihrer Anführerin, grenzte an den westlichen Rand des Platzes. Die Stadt selber schmiegte sich an die unteren Ausläufer eines mächtigen Gebirges. Einige Gebäude waren direkt in den groben Fels dieser Berge gebaut worden. Wie die meisten Häuser Vesturas war auch der Platz aus dem hellen Bergstein errichtet.

Selten ruhte das Leben auf dem Marktplatz. Tagsüber schacherten Händler und Käufer um allerlei Waren. Ihre Rufe und Schreie flirrten durch die Luft, bis hinein in die kleinste Gasse. Am Abend traf man sich hier, um den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. An besonderen Festtagen aber stellte das fahrende Volk seine Künste zur Schau. Die Bewohner der Stadt legten dann ihre unscheinbare Alltagskleidung aus grobem Leinen und harter Wolle ab und tauschten sie gegen feine und farbenfrohe Stoffe. An diesen Abenden tanzten, lachten und feierten sie alle im flackernden Licht mannshoher Fackeln, die um den Marktplatz verteilt standen. Erst wenn die Sonne wieder ihren mächtigen Körper über die Baumwipfel des östlich gelegenen Waldes schob, wankten die Letzten nach Hause.

Heute jedoch herrschte auf dem Platz eine angespannte Stimmung. Mondschatten hörte die Menschen aufgeregt schnattern und tuscheln. Irgendwo lachte eine Frau nervös auf. Ein Mann tönte mit lautem Bass: »Ach, so ein Unsinn! Natürlich wird uns hier in unserer Stadt nichts passieren! Merowan wird die richtige Entscheidung treffen!«

Mondschatten sah auf. Gleich war es soweit. Gleich würde Merowan die zwei Boten der beiden Magier Mulantan und Antilla hier auf dem Platz willkommen heißen und sie anhören. Anschließend würde die Anführerin zusammen mit ihrem Rat eine Entscheidung treffen müssen.

In der Mitte des Platzes standen steinerne Bänke für Merowan und ihre vier Berater bereit. Die Menschenmenge zwängte sich bis auf wenige Meter an sie heran. Keiner wollte verpassen, was hier bald gesagt und entschieden werden würde.

Mondschatten sah in die Gesichter der Umstehenden. Die Vesturen waren ein buntes und aufgeschlossenes Volk. Menschen aller Haar-, Augen- und Hautfarben lebten hier zusammen: blonde, braune, schwarze, rote und grauweiße Haare; Augen von hellblauer Färbung, über Grün, Grau und Braun bis zu einem funkelndem Rabenschwarz. Auch die Farben der Haut reichten von einem hellen Weiß bis zu einem tiefdunklen Ton. Die Händler und Boten, die durch Vestura reisten, berichteten, dass dies bei den anderen drei Menschenstämmen nicht so war.

Die Unruhe unter den Schaulustigen wuchs.

»Wann ist es denn endlich soweit?«, maulte Wolkentanz, die ganz dicht an Mondschatten gedrängt stand.

Diese zuckte nur mit den Schultern und ließ ihre Gedanken weiter treiben. So fröhlich die Menschen ihres Volkes sonst waren, so sehr spürte sie die Anspannung, die gerade von ihnen ausging. Jeder von ihnen ahnte, dass heute eine Entscheidung getroffen werden würde, die ihr aller Leben für sehr lange Zeit verändern sollte – vielleicht für immer.

Die ersten beunruhigenden Veränderungen hatte Mondschatten während des Schulunterrichts mitbekommen. Sie und ihre Mitschüler saßen verteilt auf dem gefällten Stamm einer alten, mächtigen Eiche, der am Rand des Schulhofs auf einer Wiese lag.

Gebannt lauschten sie den Worten Solunas, ihrer Lehrerin für die Sternstunden. Obwohl es bereits früher Abend war, strich ein noch leicht wärmender Wind über ihre Köpfe hinweg. Das hohe Gras um sie herum wiegte sich leise raschelnd hin und her.

Soluna wies ihren Schülern gerade die ersten erkennbaren Sterne am Abendhimmel, als plötzlich ein gewaltiger Donner über ihnen explodierte. Sie zuckten erschrocken zusammen. Ein Schüler rutschte vor lauter Schreck vom Stamm und plumpste ins Gras. Fragend schauten Mondschatten und ihre Mitschüler erst in den Himmel, dann zu ihrer Lehrerin und wieder zurück ans Firmament. Dort zuckten Blitze wild herum, als würden sie sich gegenseitig jagen.

»Was bedeutet das?«,fragte Mondschatten.

Doch Soluna starrte genauso ratlos zu dem Schauspiel hinauf wie ihre Schüler. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Das können eigentlich nur die Wanderer am Himmel sein. Aber was machen sie da bloß?«

Die Magier und Magierinnen, oder auch Wanderer am Himmel genannt, waren einst wie alle anderen Lebewesen von Sonne und Mond erschaffen worden. Aber nur ihnen ward von ihren Schöpfern die Macht anvertraut, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu lenken und so ins Geschick der Erde einzugreifen. Um jedoch keinem der Magier und Magierinnen zu viel Stärke zu geben, beherrschte jeder nur eines der Elemente. Und nur den Mächtigsten unter ihnen ward die Gabe geschenkt, über zwei der vier Kräfte zu gebieten. Die Wanderer zogen am Himmelszelt entlang, um von dort aus das Geschehen auf Erden überblicken zu können. Sie griffen nur ein, wenn ein Geschöpf oder gar ein ganzes Volk versuchte, sich über andere Kreaturen zu erheben.

Diese Zeit wurde Regla, die Alte Ordnung genannt. Über viele Sonnen- und Mondwechsel hinweg sicherte sie den Frieden unter den Erdbewohnern. Sie lebten in Achtung untereinander und halfen sich gegenseitig. Kam es zu Uneinigkeiten, griffen die Magier umsichtig ein. Einigte man sich dennoch nicht, mied man den anderen einfach. Die Magier nutzen ihre Macht weise und sorgten für beständigen Frieden. So wuchs der Reichtum der Erde und verteilte sich gerecht unter allen. Keiner hatte Grund, an der Alten Ordnung zu zweifeln.

Bis … ja, bis zu jenem Tag, an dem einige Magier und Magierinnen begannen, Regla infrage zu stellen. Warum etwa sollte man denjenigen, die stärker waren als andere, ihre Macht nicht zugestehen? War es nicht der Wille der Natur, dass sich der Schwächere dem Stärkeren zu unterwerfen habe? Waren es nicht sogar einst die Elemente selber, die vor der Größe und Macht von Sonne und Mond hatten zurückweichen müssen? Diese Stimmen konnten am Anfang vom Hohen Magierrat zum Schweigen gebracht werden, aber mit der Zeit schlossen sich immer mehr Magier dieser Meinung an. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Magiergemeinschaft in zwei Lager gespalten: Da gab es diejenigen, die weiterhin nach der Alten Ordnung handelten und durch sanftes, aber bestimmtes Eingreifen das Gleichgewicht der Welt aufrecht erhielten. Diese Gemeinschaft nannte man die Hüter der Eintracht. Ihre Anführerin war Mulantan, eine hochgewachsene Frau, die durch ihr ruhiges Wesen und ihre klugen Entscheidungen großes Ansehen genoss. Antilla dagegen führte die Hüter der Zwietracht an. Machthunger und Überheblichkeit trieben ihn. Sein Ziel war es, die Vier Heiligtümer in seinen Besitz zu bringen, denn die alten Geschichten erzählten, dass, wer eines der Heiligtümer besaß, das damit verbundene Element ganz alleine beherrschen würde. Wer hingegen alle vier sein eigen nannte, gebot über alles Leben und Sterben in der Welt.

Die Vier Heiligtümer, einst von Sonne und Mond als Symbol ihres Sieges über Feuer, Wasser, Erde und Luft erschaffen, lagen geschützt in einer der zahlreichen Höhlen des Grauen Gebirges, weit im Nordosten. Sonne und Mond hatten einen mächtigen Zauber über die Höhle und ihren wertvollen Schatz gelegt. Dieser Zauber brach nur alle tausend Jahre und auch nur für sehr kurze Zeit. Sonne und Mond standen dabei gleichzeitig am Himmel. Die gewaltige Höhlendecke öffnete sich dann und die gemeinsamen Strahlen der beiden Himmelskörper spendeten den Heiligtümern Lebenskraft für die nächsten tausend Jahre. Wollte man die Heiligtümer stehlen, musste man also diesen einen Moment wählen. Man erzählte sich, dass Diebe immer wieder versucht hatten, die Heiligtümer vor der Zeit an sich zu bringen, doch keiner von ihnen war je wieder gesehen worden.

Mondschatten wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass dieser besondere Zeitpunkt kurz bevorstand und ein weiterer tausendjähriger Abschnitt zu Ende ging. Ihr Lehrer hatten ihnen erzählt, wie sich die Höhlendecke öffnen würde und der Schutzzauber so für kurze Zeit unterbrochen wäre.

Die Boten Vesturas und die herumreisenden Händler berichteten, dass Antilla und seine Anhänger planten, die Heiligtümer in ihren Besitz zu bringen. Sie wollten die Macht über die vier Elemente und somit über alle Lebewesen an sich reißen.

Doch mit Magierkunst alleine konnte Antilla dieses Unterfangen nicht bestreiten. Er begann, Boten auszusenden, um möglichst viele Völker von sich und seiner Idee zu überzeugen. Ganze Heere sollten die Hüter der Eintracht davon abhalten, sich ihm in den Weg zu stellen. Er wollte indes mit einer Gruppe weniger Auserwählter zum Grauen Gebirge ziehen und die Vier Heiligtümer rauben.

Sobald Mulantan und ihre Anhänger von Antillas Plänen erfahren hatten, wurde beschlossen, diese zu durchkreuzen. Sie sandten eigene Boten durch das Land, um möglichst viele Völker für sich zu gewinnen. Sie würden gegen die Armeen der Hüter der Zwietracht kämpfen. Gleichzeitig brach Mulantan mit einer Gruppe Freiwilliger auf, um sich Antilla und den seinen im direkten Kampf zu stellen.

Die Schlacht der Völker sollte im nördlichen Teil des Landes stattfinden, in Hernadur, einer öden und unbewohnten Gegend. Die beiden Anführer vereinbarten, dass der Kampf beginnen würde, wenn sie mit ihren Gefährten auf ihre Reise zum Grauen Gebirge aufbrächen; es würde enden, sobald einer den anderen besiegt hätte.

Die Menschen Vesturas, sonst von Stärke erfüllt, waren verunsichert. Sie stellten sich die Frage, ob Regla, die Alte Ordnung, die den Frieden über so viele Zeitalter gesichert hatte, zu zerbrechen drohte. Und heute, endlich, sollten sie es erfahren.

Die Aufregung auf dem Markt wuchs. Die Stimmen schwollen an. Auch Vata drückte ihre Krallen aufgeregt in die Schulter ihrer Freundin.

»Blöde Steine«, brummte Wolkentanz neben ihr und schüttelte ihr Bein. Spitze Kieselsteine, die auf dem Marktplatzboden verstreut lagen, flogen von ihrem Schuh.

Plötzlich tippte jemand auf Mondschattens Rücken. Aufgeschreckt fuhr sie herum und sah direkt in die bernsteinfarbenen Augen eines Jungen.

»Hallo«, sagte Thorm. Er war nur wenige Monate älter als Mondschatten und ging eine Klasse über ihr in die Schule. Er lächelte und die dunklen Sprenkel in seinen Augen schienen zu funkeln.

»Hallo«, antwortete Mondschatten schüchtern. Sie spürte, wie ihre Knie auf einmal weich wurden und ihre Wangen brannten. Na toll, dachte sie, jetzt werde ich gleich rot, und dadurch, dass ich das weiß, wird es noch schlimmer. Außerdem sah sie aus den Augenwinkeln heraus das feixende Grinsen ihrer Schwester.

Wolkentanz wusste ganz genau, dass Mondschatten den Sohn des Jägers etwas mehr als nur ein wenig mochte. Bei jeder Gelegenheit, die sich der Jüngeren bot, zog sie sie damit auf.

Mondschatten wollte ihrer giggelnden Schwester gerade einen Stoß versetzen, als die Stimmen um sie herum jäh verstummten.

Mondschatten, Wolkentanz und Thorm wandten ihre Köpfe und sahen Merowan, die aus ihrem Haus trat. Ihre Berater, zwei Frauen und zwei Männer, folgten ihr. Das einfache Haus markierte den höchsten Punkt Vesturas. Nur vereinzelte Häuser, die in das Gebirge gehauen waren, lagen höher.

Die fünf schritten zu ihren Bänken. Die Berater setzten sich, während Merowan den Blick über ihr Volk wandern ließ. Mondschatten stand so nahe, dass sie in die dunkelgrauen Augen der großen sehnigen Frau sah.

Die Anführerin strahlte Ruhe und Gerechtigkeit aus, konnte ihr Gegenüber aber auch mit eiserner Strenge durchdringen. Eine leichte Böe kam auf und wirbelte durch das sonnenblonde schulterlange Haar der Vesturenanführerin. Merowan, einst Kriegerin des Vesturenvolks, war dem Rat vor vielen Jahren durch ihre weisen und beherzten Entscheidungen aufgefallen. Er war an sie herangetreten und hatte sie gebeten, sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Die einstige Kriegerin war mit großer Mehrheit von den Vesturen gewählt worden. Seitdem lenkte sie, gemeinsam mit ihren Beratern, die Geschicke der Vesturen. Die Kleidung Merowans erinnerte an ihre Zeit bei den Kriegern. Während ihre Berater violette, rote, gelbe und grüne Umhänge trugen, war die Anführerin den Farben der Krieger treu geblieben: Ihr seidiger Umhang schimmerte in der typischen graublauen Farbe der Kriegergemeinschaft. Am unteren Saum blitzten graue Stiefelspitzen hervor.

Sie lächelte in die Menschenmenge. »Liebe Vesturinnen, liebe Vesturen, heute ist ein bedeutender Tag in der Geschichte unseres Volkes. Danach wird nichts mehr sein wie zuvor.« Ihr Blick schien jeden einzelnen von ihnen einzufangen. »Keiner kann sagen, was das Schicksal für uns vorgesehen hat.«

Es war, als ob die Menschenmenge die Luft anhielt. Jedes Paar Augen richtete sich gebannt auf die Anführerin, die ihrer aller Vertrauen genoss. Sie würde gewiss die richtige Lösung für das drohende Unheil finden. Sogar der leichte Wind hatte sich wieder gelegt.

»Ich weiß, ihr denkt, dass es für diese Herausforderung eine einfache und schnelle Lösung gibt.« Ihr Lächeln wich einem ernsten Ausdruck. »Nichts wäre mir lieber, aber ich fürchte, dass wir Westländer, wie auch alle anderen Völker, äußerst schwierigen Zeiten entgegensehen. Allerdings«, und hier zuckte wieder ein zuversichtliches Lächeln um ihre Mundwinkel, »vertraue ich auf unsere Stärke, unseren Mut und das Schicksal. Doch bevor wir weiter im Ungewissen rätseln, lasst uns die Boten Mulantans und Antillas anhören. Sie werden Licht in diese dunklen Tage bringen können.«

»Hoffentlich«, murmelte jemand.

Mondschatten, Wolkentanz, Thorm und alle anderen sahen sich um. Wo waren die Boten? Unruhe kam auf und mit einem Mal teilte sich die Menge neben ihnen. Es entstand eine schmale Gasse, die sich zum Marktplatz hin öffnete. Mondschatten beugte sich etwas vor und sah am Ende der Gasse drei Gestalten, die auf Merowan und den Rat zugingen. Allen voran schritt Tylkon, ein Bote Vesturas. Sein langes dunkles Haar wurde von einem Band lose zusammengehalten. Hemd und Hose waren schlicht und von heller Farbe. Über beidem trug er eine braune Jacke aus leichtem Leder. Die Füße steckten in knöchelhohen Stiefeln. Seine blauen Augen blitzten vor Stolz. Gleich hinter ihm folgten zwei Wesen, die Mondschatten bisher nur von den Bildern und Erzählungen aus ihren Büchern kannte. Das erste gehörte zum Volk der Borraks.

»Der sieht aus wie eine Mischung aus Bär, Troll und Zwerg«, flüsterte Mondschatten.

Wolkentanz kicherte.

Der Borrak war deutlich kleiner als ein ausgewachsener Menschenmann, dafür aber sehr breit. Unter seinem vollständig behaarten Körper vermutete Mondschatten eine unbändige Kraft. An Händen und Füßen wuchsen etwas weniger Haare. Winzige dunkle Augen schnellten unruhig in dem fast haarlosen Gesicht hin und her. Aus seinem Mund tropften zähe Speichelfäden, die er zwischenzeitlich mit einem scheußlichen Zischen in den Mund zurückzog. Die Fäden, die es nicht in den Mund zurückschafften, fielen auf sein dunkles Fell oder gleich auf den Boden. Seine Arme waren genauso lang wie seine Beine, sodass er sich auf allen vieren fortbewegen konnte, was er zwischendurch auch tun musste, um mit den beiden anderen mithalten zu können. Obwohl seine Bewegungen seltsam ungelenk aussahen, waren sie pfeilschnell. Seine schlammfarbene Kleidung war alt und verschlissen.

»Bei den vielen Haaren hätte er sich das bisschen Stoff auch ganz sparen können«, höhnte eine Frau aus der Menge.

Die Menschen lachten.

»Wie wunderschön!«, piepste da eine Kinderstimme hinter Mondschatten.

Alle Augen richteten sich nun auf das Geschöpf, das neben dem Borrak mit spielerischer Anmut an ihnen vorbeiglitt. Noch nie hatte Mondschatten eine so durchschimmernde mondweiße Gestalt gesehen. Die feinen Flügel, durchzogen von zartgelben Adern, schlugen sanft auf dem Rücken des Wesens.

Eine Feenfrau, eine Faerunda, dachte Mondschatten. In ihren Büchern stand, dass der Feenmann an seinen grünen, die Feenfrau an ihren gelben Adern zu erkennen war.

Tunika und Hose, getaucht in leuchtendes Orange, flatterten um den zerbrechlich wirkenden Feenkörper. Aus den Ärmeln des Oberteils lugten schlanke Hände hervor, die in langen Fingern endeten. Sie waren genauso fein, wie die Zehen an ihren schuhlosen Füßen. Goldene Augen funkelten aus dem weißen Gesicht, das von kinnlangem tiefschwarzen Haar eingerahmt wurde. Zwei kleine spitze Ohren ragten links und rechts aus dem glatten Haar empor.

Alle drei Boten kamen direkt an Mondschatten vorbei. Sie und Wolkentanz sahen sich an und rümpften die Nasen, denn dem Borrak, der etwa so groß wie Thorm war, folgte ein übler Gestank nach saurem Schweiß. Die drei betraten den Marktplatz und blieben vor Merowan und ihrem Rat stehen.

Die Anführerin hatte sich zwischen ihre Berater gesetzt und lächelte den Vesturenboten an: »Tylkon, ich hoffe, du hast unsere Gäste freundlich willkommen geheißen und ihnen eine Erfrischung angeboten.«

Tylkon neigte respektvoll seinen Kopf. »Ja, Merowan.«

»Vielen Dank, Tylkon«, entließ die Anführerin den Boten, der nickte und zur Seite trat.

Merowan richtete ihre Augen auf den Borrak und die Faerunda. »Herzlich willkommen! Ich hoffe, ihr wart mit dem Empfang zufrieden.«

Die Feenfrau neigte ehrerbietig ihren Kopf. »Ja, Merowan, Anführerin der Westländer, habt vielen Dank.«

Merowan wandte sich an den Borrak. »Ist auch für dich alles zu deiner Zufriedenheit?«

Grummelnd trat der Borrak gegen einen Kieselstein. »Meine Axt und mein Schwert musste ich dem da geben.« Er wies anklagend auf Tylkon.

Der sah den Borrak seelenruhig an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Nun ja«, antwortete Merowan freundlich, »bei uns ist es Brauch, seine Botschaften ohne Waffen zu überbringen. Es tut mir leid, wenn dich dies erzürnt.«

Der Borrak murmelte noch etwas Unverständliches, brummte dann aber: »Ist schon gut.«

»Du wirst es ja wohl eine Weile ohne deine schäbige Axt und dein rostiges Schwert aushalten. Schließlich sind wir nicht hier, um zu kämpfen, sondern um die Anliegen unserer Anführer zu überbringen«, blaffte die Feenfrau. »Ich hatte ja auch kein Problem damit, Pfeil und Bogen abzulegen.« Ihre Augen glitzerten den Borrak gefährlich ruhig an. Dieser trat einen Schritt auf sie zu.

Die Spannung zwischen den beiden knisterte so stark, dass Mondschatten ein Kribbeln auf ihrer Haut spürte.

»Wie ich sehe, kennt ihr euch bereits«, beendete Merowan die Auseinandersetzung mit fester Stimme. »Mögt ihr uns dann bitte auch noch eure Namen verraten?«

Die beiden Boten ließen nur äußerst langsam und widerwillig voneinander ab und wandten sich Merowan und dem Rat zu.

Die Feenfrau antwortete als Erste: »Mein Name ist Kahja, vom Volk der Faerunden, euch besser bekannt als Feenwesen. Ich komme im Auftrag meiner Herrin Mulantan, der großen Magierin und Anführerin der Hüter der Eintracht.«

»Große Magierin … Anführerin der Hüter der Eintracht«, äffte der Borrak sie verächtlich nach.

Doch bevor die Feenfrau wortreich über ihn herfallen konnte, bat Merowan: »Und dein Name?«

»Borrak, nein, äh, Trolek ist mein Name.« Er räusperte sich und begann noch einmal: »Trolek ist mein Name. Ich bin ein Borrak. Und mein Herr heißt Antilla. Er ist der größte Magier aller Zeiten und führt deswegen die Hüter der Zwietracht an.« Stolz lag in seiner rasselnden Stimme.

»Größter Magier aller Zeiten, dass ich nicht lache«, spottete Kahja. »Du hast schon einmal die Geschichten über Gaios gelesen? Dem wirklich größten Magier unserer Zeit? Oh, entschuldige, mein Fehler – lesen kannst du wahrscheinlich gar nicht. Aber vielleicht hast du ja zumindest von ihm gehört?«

Einige Menschen auf dem Marktplatz glucksten. Mondschatten und Wolkentanz grinsten.

Merowan mahnte sie alle mit einem Blick aus ihren dunkelgrauen Augen zu schweigen.

Jedes Geschöpf kannte die Geschichten, dass Gaios der mächtigste Magier ihrer Zeit war. Er war der Einzige, der alle vier Elemente beherrschte, und das, obwohl jeder Magier über höchstens zwei der vier Elemente gebieten durfte, so wie Sonne und Mond es am Beginn der Alten Ordnung festgelegt hatten. Trotz seiner außergewöhnlichen Begabung hatte Gaios jedoch von einem auf den anderen Tag der Macht entsagt. Warum, schien keiner zu wissen. Genauso wenig war bekannt, ob der Magier überhaupt noch lebte und wenn ja, wo. Wenn die Geschichte stimmte, musste Gaios mittlerweile viele Hundert Jahre alt sein. Mondschatten schüttelte ihren Kopf: Ein Magier, der Feuer, Wasser, Erde und Luft beherrschte und dann noch Hunderte von Jahren alt sein sollte? Von dem keiner wusste, wo und ob er überhaupt noch lebte? Mondschatten hielt das alles für ein Märchen.

»Ich denke«, sagte Merowan, »wir hören uns jetzt an, was ihr uns von Mulantan und Antilla ausrichten sollt.« Sie sah den Borrak an. »Möchtest du vielleicht beginnen, Trolek?«

Der straffte seinen stämmigen Körper und schaute demütig aus seinen schwarzen Knopfaugen. Anschließend verneigte er sich unbeholfen. »Merowan, Anführerin der Westländer! Habt Dank für Eure Worte. Ich, Trolek vom Volk der Borraks, bin von Antilla, dem Großen und Herrlichen ausgesandt worden, um die Stärksten und Klügsten davon zu überzeugen, dass der Weg meines Meisters der einzig wahre ist. Antilla der Weise will, dass jedes Lebewesen seiner Natur gemäß leben kann.«

Immer, wenn Trolek den Namen Antillas aussprach, betonte er das letzte A. Sein Mund stand dann so weit offen, dass eine dunkelgraue fleischige Zunge herausschnellte, was feixende Blicke und leisen Spott der Menge zur Folge hatte. Ein langer Speichelfaden zog sich aus Troleks Mund. Ungelenk wischte er ihn mit einer Hand fort und schüttelte ihn ab. Tropfen davon trafen einige der Zuhörer in der ersten Reihe. Kreischend wischten sie sich über die Gesichter.

Trolek, der von all dem nichts mitbekam, setzte seine Rede unbeirrt fort: »Die Magier sollen keinen Einfluss mehr auf den natürlichen Kreislauf nehmen. Die Stärkeren sollen sich die Schwächeren untertan machen können.« Er leckte über seine Lippen. »Und das zu verstehen, meint mein allwissender Herr, sei den Vesturen, diesem mächtigen und herrlichen Volk, gegeben. So ist es nur natürlich, dass Ihr Euch zu Antilla, dem großen Anführer der Hüter der Zwietracht, bekennt.« Die Stimme des Borraks erstarb. Er sah vollkommen erschöpft aus.

Mondschatten dachte, dass er die Worte wahrscheinlich nur mit großer Mühe auswendig gelernt hatte. Er ist bestimmt immer sehr erleichtert, wenn er seine Nachricht überbracht hat.

Merowan forderte Tylkon mit einem Nicken auf, dem Borrak einen Becher mit Wasser zu reichen.

Trolek nahm einen großen Schluck und ließ den Becher anschließend achtlos auf den Boden fallen. »Was, oh Anführerin der Stärksten und Weisesten, darf ich Antilla dem Großen von Euch ausrichten?« Unterwürfig schaute er Merowan an.

»Trolek, vielen Dank für das Überbringen der Botschaft Antillas …« Der Borrak schüttelte eifrig seinen Kopf.

»… aber ein, zwei Fragen hätte ich noch an dich, Trolek. Und dann möchte ich mir natürlich auch noch Kahjas Nachricht anhören. Das verstehst du doch sicherlich?« Merowan sah ihn prüfend an.

Der Borrak nickte argwöhnisch. Unsicher und verärgert trat er gegen den am Boden liegenden Becher.

Merowan tat, als ob sie es nicht gesehen hätte, und richtete sich auf. Die Sonne schien nun direkt auf ihr blondes, leicht welliges Haar. Wie ein glänzender Kranz umhüllten die Strahlen ihren Kopf. »Meine erste Frage lautet: Wozu genau benötigt dein Herr eigentlich die Vier Heiligtümer, die er gedenkt, in seinen Besitz zu bringen? Würde es nicht vollkommen ausreichen, wenn die Wanderer am Himmel einfach nicht mehr in das Miteinander auf der Erde eingreifen würden? Was will Antilla also mit den Heiligtümern und der Macht, die er durch sie bekommen würde?«

Trolek starrte Merowan einen langen Moment sprachlos an.

»Klar, seine Rede hat er fleißig auswendig gelernt. Gerade eben so. Aber auf Fragen ist das helle Köpfchen nicht eingestellt«, spottete eine Frau aus den hinteren Reihen, begleitet vom Gelächter der Umherstehenden.

»Tja, äh, also … ich weiß nicht so genau«, stotterte Trolek. »Mein Auftrag ist es eigentlich nur, die Nachricht Antillas zu überbringen. Wenn Ihr Euch dann für meinen Herren entscheidet, wird er Euch auf all Eure Fragen antworten.« Ein schiefes Lächeln unterstrich seine Unsicherheit. Sein Fell triefte vor Schweiß.

»Nun gut. Vielleicht war diese Frage etwas schwierig«, half Merowan. »Womöglich fällt dir folgende Frage leichter?« Argwöhnisch sah sie der Borrak an. »Wie genau gedenkt Antilla, die Heiligtümer in seinen Besitz zu bringen?«

»Also das weiß ich!«, nickte Trolek eifrig, sichtlich stolz, diese Frage Merowans beantworten zu können. »Diejenigen Völker, die sich für meinen Herren entscheiden, haben die Ehre, seine Ansichten im Kampf zu verteidigen. Und dann versammelt er noch eine Gruppe Auserwählter um sich. Die dürfen dann direkt mit ihm losziehen, um die Heiligtümer zu … äh, zu … zu finden.«

Mondschatten meinte zu sehen, dass der Borrak unter seinem dicken Fell rot anlief. Mit einem misslungenen Grinsen versuchte er, von seinem ungeschickten Gestammel abzulenken, und fuhr fort. »Mein Bruder Trawlek ist bereits einer, der zu dieser Gruppe gehört.« Neid schwang in der Stimme des Borraks mit.

Quellklares Lachen unterbrach die Rede des Borraks. »Versuch’ erst gar nicht, von deinen Worten abzulenken.« Die gelben Adern in Kahjas aufgeregt schlagenden Flügeln pulsierten bedrohlich. Sie sprühten vor Zorn. »Zu stehlen, das wolltest du doch eigentlich sagen. Antilla, dein Herr, möchte die Heiligtümer stehlen! Und dann wird er sie dazu missbrauchen, unsere Alte Ordnung zu zerstören. Er will die Macht über alles und jeden an sich reißen. Das ist es doch, was er will. Oder, Herr Trolek?«

Die beiden Boten starrten einander voller Verachtung an.

»Aber das sage ich doch die ganze Zeit«, zischte Trolek. Mit sichtlich erzwungener Freundlichkeit richtete er sich an Merowan: »Wie ich schon erklärt habe, möchte Antilla der Natur ihren freien Lauf lassen. Dazu benötigt er selbstverständlich die Vier Heiligtümer. Mit ihnen und denjenigen, die seine Ansichten teilen, wird er eine neue und bessere Ordnung aufbauen. Es werden diejenigen herrschen, die zum Herrschen geboren sind.« Zufrieden und um Zustimmung aus der Menge heischend, sah er sich um.

»Danke, Trolek, für deine Worte«, antwortete Merowan knapp. Sie wandte sich an die Feenfrau: »Nun zu dir, Kahja, welche Argumente hat Mulantan? Warum sollen die, die von Geburt an stärker sind, nicht über die Schwächeren herrschen, wie Antilla und die Seinen es anstreben?«

»Ja, genau«, blaffte der Borrak. »Erklär’ uns das mal!«

Kahja antwortete, ohne eine Miene zu verziehen. »Das ist ganz einfach: Regla, die Alte Ordnung, hat bisher immer dafür gesorgt, dass sich das Rad unserer Zeit in Frieden drehen konnte. Natürlich gab und gibt es immer Geschöpfe, die stärker oder schwächer sind.« Die Feenfrau wandte sich nun eindringlich an alle Menschen auf dem Platz: »Bisher haben die Wanderer am Himmel stets dafür Sorge getragen, dass trotz aller Unterschiedlichkeiten jeder in Frieden leben konnte. Sie unterbanden kleinere Streitigkeiten und verhinderten große Kriege. Mit Antilla aber wird dieser Friede zu Ende sein. Für immer!« Kahja dämpfte ihre Stimme, sodass die Menschen näher kommen mussten, um ihre nächsten Worte zu verstehen. »Es beginnt mit der Schlacht im Nordosten, in Hernadur. Völker, die vorher friedlich nebeneinander her gelebt haben, werden dort gegeneinander antreten – werden sich töten! Und das ist erst der Anfang.« Kahja sah jetzt wieder zu Merowan und ihrem Rat. »Antilla wird dafür sorgen, dass den Stärkeren immer mehr Macht zugetragen wird. Und mit den Heiligtümern, die er aus dem Grauen Gebirge stehlen möchte, wird er die Gewalt über jedes Lebewesen, jedes Geschöpf besitzen. Es wird dann kein Gleichgewicht mehr geben. Regla wird in Vergessenheit geraten und mit Antilla an der Spitze wird dunkles Chaos die Welt beherrschen.«

Absolute Stille legte sich über den Platz. Mondschatten las Angst und Entsetzen in den Mienen der Vesturen. Nur auf dem Gesicht des Borraks breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus. Sie dachte, dass er durch die Ausführung Kahjas wohl zum ersten Mal verstand, was Antilla mit seinem Tun wirklich bezweckte – und es schien ihm sehr zu gefallen.

Mittlerweile zogen Wolken über den Himmel und warfen flüchtige Schatten auf den Platz und die Anwesenden.

Merowan fand als Erste ihre Stimme wieder. »Auch dir, Kahja, gebührt mein Dank.« An beide Boten gewandt sagte sie: »Bevor der Rat und ich uns zurückziehen, um eine Entscheidung zu treffen, habe ich noch eine Frage an euch beide.« Ihre Augen schimmerten undurchdringlich.

Kahja und Trolek sahen sie an.

»Seit einiger Zeit beschäftig mich die Frage, was genau denn das Gute und was das Böse ist in uns und in der Welt? Könnt ihr mir hierzu eure Meinung sagen?«

Mondschatten, Wolkentanz und Thorm sahen sich fragend an und zuckten ratlos mit den Schultern. Auch die Menschen um sie herum murmelten irritiert.

Kahja holte Luft. Sie wirkte gelassen, aber das leichte Zittern ihrer Flügel verriet ihre Anspannung. »Eine schwere Frage, und doch gleichzeitig so klar.«

Trolek schnaubte verächtlich, hörte allerdings sehr genau hin.

»Ich glaube und bin mir sicher, dass auch Mulantan der Ansicht ist, dass das Gute den Geist und das Herz eines jeden öffnet, für Liebe, Hoffnung, Weisheit und Vertrauen – die Eigenschaften, für die die einzelnen Elemente stehen: das Feuer für die Liebe, das Wasser für die Hoffnung, der Wind für die Weisheit und schließlich das Element Erde für Vertrauen und Glauben … Vertrauen und Glaube in die Alte Ordnung. Das Gute erhebt sich nicht über andere und achtet das Leben …« Die Feenfrau atmete tief ein. »… während das Böse Hass, Traurigkeit, Schmerz und Zweifel in die Welt sät.« Bekümmert schloss sie: »Und in seiner unendlichen Gier ist das Böse auch zum Äußersten bereit: zum Töten! Alles, was sich ihm ihn den Weg stellt, wird es vernichten.«

Merowan dachte kurz nach, nickte und sah dann Trolek an. »Und du, Trolek, was denkst du? Was ist das Gute und was das Böse?«

Der Borrak wippte unruhig auf seinen klobigen Füßen. Seine haarige Stirn glänzte vor Schweiß. »Mein Herr Antilla wird dir diese Frage beantworten, wenn du dich für ihn entscheidest«, presste er schließlich zwischen seinen schmalen Lippen hervor.

Merowan neigte ihren Kopf. »Habt Dank, für eure Botschaften. Ich ziehe mich jetzt mit dem Rat zurück. Anschließend werden wir euch unsere Entscheidung mitteilen.«

Die Anführerin der Vesturen wandte sich an Tylkon, der etwas abseits stand. »Tylkon, bitte versorge unsere Gäste mit Speisen und Getränken.«

Er deutete eine Verbeugung an und verschwand in der Menge. Kurz darauf kehrte er mit etwas zu Essen und einem Krug frischen Wassers zurück.

Der Borrak fiel wie ausgehungert darüber her. Die Faerunda sah verächtlich dabei zu und trank nur von dem Wasser, und auch nur kleine Schlucke.

Währenddessen zogen Merowan und ihre Berater sich in das Haus der Anführerin zurück.

Kapitel 2

in dem das Schicksal seine Wahl trifft

Aufgeregte Stimmen flirrten über den Marktplatz. Die Menschen begannen zu diskutieren: Wer vertrat welche Meinung? Und welche Entscheidung würden Merowan und der Rat am Ende treffen?

Unterdessen stoben regenschwere graue Wolken über den Himmel, hinter denen die Sonne immer häufiger verschwand. Die Windböen gewannen an Kraft. Sie fegten Staub und hagere Äste über den Platz und in die Gesichter der Menschen.

»Ha! Endlich passiert hier mal etwas!« In Wolkentanz’ Augen glitzerte Abenteuerlust. Eine Böe huschte durch ihr Haar. Unwirsch strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Mondschatten zog scharf die Luft ein. Sie wusste, dass ihre Schwester noch nicht verstand, was die Zukunft für Vestura bereithielt. Denn gleichgültig, welche Entscheidung Merowan und der Rat trafen, spürte sie instinktiv: Die Krieger und Kriegerinnen Vesturas würden auf dem Schlachtfeld in Hernadur kämpfen müssen. Verletzte und – schlimmer – Tote wären die Folge. Und keiner konnte absehen, was mit der Stadt selbst und ihren Bewohnern geschehen würde.

Vorsichtig sah Mondschatten zu Thorm. Er erwiderte lächelnd ihren Blick. Ihr Herz hüpfte in der Brust. Sie nahm all ihren Mut zusammen und wollte gerade etwas zu ihm sagen, als die Unruhe auf dem Platz mit einem Mal erstarb – Merowan und ihre Berater kehrten zurück.

Die Anführerin sah ernst und nachdenklich aus. Ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie kam. Ein fahler Schleier hatte sich über ihr Gesicht gelegt.

Endlich erreichten sie ihre Plätze. Die Frauen und Männer setzten sich, Merowan aber blieb stehen. Die vier Ratsmitglieder sahen würdevoll in die Menschenmenge.

Mondschatten hielt den Atem an. Alle warteten gespannt, was Merowan nun verkünden würde.

»Sie hat immer wieder bewiesen, dass es richtig war, sie zu unserer Anführerin zu wählen«, flüsterte ein Mann.

»Ja, das hat sie«, pflichtete ihm eine kleine füllige Frau bei. »Allerdings musste sie auch noch nie eine so schwierige Entscheidung treffen.«

Indes wischte Trolek letzte Krümel von seinem Mund und unterdrückte erfolglos einen herzhaften Rülpser. Kahja und er standen nebeneinander vor Merowan.

Alle auf dem Platz sahen die große Frau erwartungsvoll an.

Die Faerunda wirkte ruhig und gelassen, nur das Schimmern ihrer goldenen Augen verriet ihre Anspannung. Der Borrak versuchte gar nicht erst, still zu stehen. Mal stützte er sich auf seinen langen Armen ab, die er vor sich aufstellte, dann wieder richtete er sich auf und stapfte nervös von einem auf das andere Bein.

Merowan trat einen Schritt auf die Boten zu. Sie faltete ihre Hände vor dem Körper und öffnete ihr Gesicht zu einem Lächeln. »Liebe Kahja, lieber Trolek, im Namen meines Volkes möchte ich mich bei euch beiden für euer Kommen und für die Botschaften eurer Herrin und eures Herrn bedanken.« Bei den letzten Worten neigte sie den Kopf erst in Richtung der Feenfrau, anschließend in die des Borraks. »Im ersten Moment, Trolek, hört sich die Erklärung Antillas schlüssig an: Wieso eine Ordnung aufrecht erhalten, die versucht, das vermeintlich Natürliche zu unterbinden? Warum sollten nicht diejenigen, die von Geburt an überlegen sind, diesen Vorteil auch nutzen können? Warum ziehen sich die Wanderer am Himmel nicht einfach zurück und überlassen alles dem Lauf des Lebens? Warum also Energie in eine Ordnung fließen lassen, die so widersprüchlich erscheint?«

Die letzten Worte hatte Merowan an Kahja gerichtet. Mit gerunzelter Stirn starrte die Feenfrau sie an.

Trolek, der sein Glück nicht fassen konnte, spottete fröhlich: »Da siehst du es, du Botin einer Anführerin von Versagern!«

Kahja versteifte sich, sagte aber nichts.

»Auf der anderen Seite haben der Rat und ich festgestellt, dass es diese unsere Alte Ordnung ist, die seit Anbeginn aller Zeiten für ein friedliches Miteinander sorgt.« Merowan richtete ihre Worte nun an alle Umstehenden: »Und auch, wenn der eine oder andere seinen Unmut über Regla äußert und Antillas Ansicht Verständnis entgegenbringt: Unsere Alte Ordnung schließt uns alle ein und steht dafür, dass kein Lebewesen sich über das andere erhebt – wenn wir einmal von den Wanderern am Himmel absehen.« Die Anführerin sah Trolek direkt an.

Der Borrak glotzte verwirrt zurück. Er begriff ihre Worte nicht.

»Allerdings«, fuhr Merowan fort, »nutzen die Wanderer am Himmel ihre Macht nur, um diese Ordnung zu bewahren. Sie gebrauchen ihre Fähigkeiten nicht, um über andere Kreaturen zu gebieten. Das aber ist das Ziel Antillas. Er will die Vier Heiligtümer in seinen Besitz bringen, um alle Macht an sich zu reißen. Antilla will die ganze Welt und alle Lebewesen darin beherrschen. Koste es, was es wolle.« Merowan seufzte. »Es graut mir davor, aber ein Krieg scheint unausweichlich.« Ihre Augen flammten zornig, ihre Stimme aber blieb gefasst, als sie zu Trolek sagte: »Du kannst deinem Herrn mitteilen, dass das Menschenvolk des Westens an der Seite Mulantans kämpfen wird. Wir werden auf dem Schlachtfeld die Alte Ordnung verteidigen.« Merowan nickte den Boten zu, ging zu ihrem Stuhl und setzte sich.

Mondschatten fand, dass ihr Gesicht jetzt ganz grau aussah. Selbst ihre Augen hatten ihren Glanz verloren.

Bis zu den letzten Worten Merowans waren die Menschen auf dem Platz still geblieben, nun aber wirbelten ihre Stimmen mit ihren Fragen aufgeregt über ihre Köpfe hinweg. Die Lautstärke schwoll an.

Mondschatten, Wolkentanz und Thorm sahen einander an. So großspurig die Jüngere eben noch getönt hatte, so fragend schaute sie nun zu den beiden Älteren.

Mondschatten strich ihrer Schwester beruhigend über das Haar.

»Was passiert denn jetzt?«, flüsterte Wolkentanz und guckte abwechselnd von Mondschatten zu Thorm.

Aber bevor einer von ihnen antworten konnte, hörten sie einen dröhnenden Schrei und sahen Trolek mit einem Bein aufstampfen.

»Das werdet ihr bitter bereuen«, kreischte er. Speicheltropfen flogen aus seinem Mund. Seine Augen blitzten zornig zwischen Merowan und Kahja hin und her. Dann drehte er sich um und stürmte auf die überraschte Menschenmenge zu, die eilig eine Gasse bildete.

»Tylkon, bitte sorge dafür, dass Trolek seine Waffen wiederbekommt und er sicher von hier losreiten kann«, bat Merowan.

Der Vesturenbote nickte und eilte dem Borrak hinterher. Die Menschengasse schloss sich hinter ihnen wieder.

Durch die Unruhe aufgeschreckt flatterte Vata verstört auf.

»Sch… meine Schöne. Der böse Borrak ist doch schon weg.« Mondschatten streichelte sanft über das Federkleid ihrer Falkenfreundin.

Der Wind blies ungestümer. Mondschatten strich Strähnen ihres fuchsbraunen Haares aus dem Gesicht und sah in den Himmel. Die Wolkendecke ballte sich zusammen. Kein Fleckchen blauen Himmels war mehr zu sehen. Milchiggraues Sonnenlicht lastete auf dem Platz. Aus der Ferne drangen Donnerschläge zu ihnen. Die Luft hing feucht und schwer zwischen den Menschen.

»Es wird bald regnen«, sagte Thorm.

»Ja«, pflichtete Mondschatten ihm bei. »Wolkentanz, wir sollten jetzt gehen, damit wir noch rechtzeitig nach Hause kommen. Merowan hat ja ihre Entscheidung getroffen, die können wir Mama und Papa mitteilen.«

Ihre Schwester nickte stumm.

Doch bevor sich die drei durch die dicht gedrängten Menschen schlängeln konnten, hörten sie Kahja sagen: »Hab Dank, Merowan. Ich werde gleich aufbrechen, um Mulantan die Entscheidung der Vesturen zu überbringen.«

»Kahja, ich habe noch eine Nachricht für deine Herrin.«

Die Feenfrau sah Merowan fragend an.

»Der Rat und ich finden, dass es eine Ehre für das Volk der Vesturen wäre, wenn einer oder eine von uns Mulantan auf ihrer Reise in das Graue Gebirge unterstützen dürfte.« Merowan räusperte sich. »Deswegen haben wir beschlossen, das Los entscheiden zu lassen, wer von uns deine Herrin begleiten soll.«

Erstauntes Raunen hallte über den Platz. Aufgeregte Stimmen verschwommen mit den näher kommenden Donnerschlägen. Es war merklich kühler geworden und Mondschatten fröstelte. Sie band ihre Jacke enger um ihren Körper und sah nach oben. Mittlerweile musste es später Nachmittag sein. Die Sonne war nur noch als blassgelbe Scheibe hinter den Wolken zu erahnen. Sie sah zu Wolkentanz und Thorm. Ihre Schwester schaute weiterhin gebannt zu Merowan und Kahja. Thorm blickte konzentriert auf seine Füße.

Das Losverfahren wurde seit Jahrhunderten von den Vesturen bei schwierigen Entscheidungen verwendet. Für jede Bewohnerin und jeden Bewohner der Stadt lag ein Zettel mit ihrem oder seinem Namen darauf in einem Urnenglas. Musste eine Wahl getroffen werden, holte man die Urne mit den Namenszetteln und Merowan zog dann das Los. Diejenige Person, deren Name auf dem Papier stand, musste die Aufgabe erfüllen. Es gab keine Möglichkeit, sich dieser Entscheidung zu entziehen. Über viele Jahre hinweg hatte sich das Vorgehen als gerecht und weise erwiesen. Aber Mondschatten und Thorm wussten auch, dass es wirklich jeden treffen konnte, sogar ihre Eltern.

»Vielleicht zieht Merowan ja meinen Namen aus der Urne.« Wolkentanz’ Augen funkelten erneut voller Begeisterung. Ihre Angst von eben schien verflogen.

Mondschatten lächelte Thorm an. Das Los traf wirklich immer die richtige Wahl. Es würde für diese schwierige Aufgabe sicherlich kein neunjähriges Mädchen bestimmen, gleichgültig, wie sehr es sich das auch wünschte.

Alle Augen richteten sich auf die ehemalige Kriegerin. Die Geräusche erstarben. Nur das Zischen des Windes, der um die Häuserecken stob, war zu hören.

»Mein liebes Volk«, begann Merowan. »Wessen Name auch auf dem Zettel steht, den ich gleich aus der Urne ziehen werde: Eine ehrenvolle, aber durchaus gefahrenvolle Aufgabe wird ihm oder ihr zuteil. Ich bin mir sicher, dass das Los die richtige Wahl treffen wird.«

Während sie sprach, traten die zwei Frau und die zwei Männer des Rates hervor. Die Frauen trugen eine große Urne zwischen sich.

Mondschatten konnte die vielen Papierschnipsel durch das dicke Glas erkennen. Sie schluckte. Hoffentlich würde das Los nicht auf ihre Mutter oder ihren Vater fallen.

Die zwei Männer rollten einen groben, etwa einen Meter hohen Holzstamm vor Merowan und stellten ihn aufrecht hin. Die Frauen setzten die Urne darauf ab. Die Berater setzten sich wieder.

Merowan räusperte sich. »Keiner kann sagen, was die Reise für Gefahren birgt. Niemand weiß, welches Ende das Schicksal vorherbestimmt hat.« Der Wind riss an ihrem graublauen Umhang und bauschte ihn auf. Sie glättete ihn mit den Händen und fuhr mit fester Stimme fort: »Der- oder diejenige wird gleich morgen früh aufbrechen, um zu Mulantan zu reisen. Einige Krieger unseres Volkes werden ihn oder sie zum Schutz begleiten.« Sie holte tief Luft und straffte ihre Schultern. »Und nun lasst uns sehen, wen das Schicksal erwählen wird.«

Sie schob einen Ärmel ihres Umhangs zurück und griff tief in das Urnenglas hinein. Mondschatten hatte das Gefühl, dass es eine Ewigkeit dauerte. Dann zog Merowan ihren Arm wieder hervor und hielt den schicksalhaften Zettel in der Hand.

Wolkentanz zappelte unruhig neben ihrer Schwester. Diese nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Vata flog auf und ließ sich auf dem Boden vor Mondschatten nieder. Auch das Falkenmädchen spürte die Anspannung und hüpfte aufgeregt auf dem steinigen Untergrund hin und her.

Merowan öffnete den Zettel und las lautlos den Namen, der darauf geschrieben stand. Sie runzelte die Stirn, dann hob sie den Kopf und ließ ihre Augen über die Menge streifen. Mit undurchdringlicher Miene nickte sie. »Mein liebes Volk, das Los hat entschieden.«

Wolkentanz drückte die Hand ihrer Schwester so stark, dass diese einen Aufschrei unterdrücken musste.

Merowan befeuchtete ihre Lippen, dann sagte sie: »Das Los ist auf Mondschatten gefallen. Sie wird mit Mulantan und anderen Freiwilligen zum Grauen Gebirge reisen, um die Vier Heiligtümer und somit unsere Alte Ordnung zu verteidigen. Mondschatten, komm doch bitte zu mir nach vorne.«

Mondschatten stand bewegungslos da. Sie hielt immer noch die Hand ihrer Schwester, wobei sie sich nun mehr an ihr festhielt, als sie zu umschließen. Ungläubig stierte sie Merowan an. Vata war aufgeflogen. Sie spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Behutsam ließ sie sich auf der Schulter ihrer Herrin nieder.

Thorm und Wolkentanz sagten etwas. Aus den Menschen sprudelten die Fragen nur so heraus: Wer war diese Mondschatten? Was für einen Beruf übte sie aus? Hatte sie vielleicht sogar kriegerische Erfahrungen? Würde sie das Volk des Westens würdig vertreten können?

Mondschatten hörte all diese Fragen nicht und verstand auch nicht, was Wolkentanz oder Thorm zu ihr sagten. Es war, als ob sie in einer riesigen wattigen Haube eingeschlossen wäre. Die Stimmen drangen nur noch aus weiter Ferne zu ihr durch. Alles wirkte unwirklich, wie in einem Traum. Das Gefühl, das sich langsam und zäh in ihr ausbreitete, war eine unendliche Leere, die allmählich die umhersurrenden Gedanken verdrängte. Angst umhüllte sie, wie ein riesiger kratziger Winterschal. Ihre Nackenhaare stellten sich wie winzige Nadelspitzen auf. Vorne, an der Kehle, schnürte sich der unsichtbare Schal eng zusammen und machte ihr das Atmen beinahe unmöglich. Verschwommen nahm sie wahr, wie die Feenfrau sich von Merowan verabschiedete und durch die Menge davonglitt.

»Mondschatten, komm doch bitte zu mir«, wiederholte Merowan und streckte ihr die Hand entgegen.

Aber Mondschatten wollte sie nicht ergreifen. Stattdessen umschloss sie Wolkentanz’ Hand immer fester. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie konnten doch nicht ernsthaft von ihr erwarten, dass sie sich auf solch ein Abenteuer einließ. Eines, das selbst für einen erfahrenen Vesturenkrieger eine übergroße Herausforderung darstellte. Sie war gerade mal elf Jahre alt! Gleichzeitig wusste sie, dass das Los sie erwählt hatte – und niemand zweifelte seine Entscheidung an oder widersetzte sich ihr gar.

Sie hätte später nicht mehr sagen können, wie sie es geschafft hatte, sich von der Hand ihrer Schwester zu lösen. Langsam und mit wankenden Schritten erreichte sie Merowan. Mittlerweile fielen Regentropfen aus den prallen dunkelgrauen Wolken auf die Stadt hinab. Mondschatten bemerkte nicht, wie sie ihr Gesicht benetzten. Der Wind heulte um Häuserecken und zerrte an der Kleidung der Menschen. Vata saß weiterhin auf ihrer Schulter, sie würde ihre Freundin nicht im Stich lassen.

Mondschatten ergriff die ausgestreckte Hand Merowans. Die Anführerin lächelte sie an. Gemeinsam wandten sie sich der Menschenmenge zu. Mondschatten sah Wolkentanz an. Weit aufgerissene dunkle Augen blickten zu ihr zurück.

Merowan holte tief Luft. »Das ist Mondschatten. Tochter der Lehrerin Toya und unseres geschätzten Schreiners Gard. Vielen aber wird es mehr sagen, dass sie die Enkeltochter Yunorus’ ist, des so sehr geachteten Heilers unseres Volkes, der leider vor einem Jahr von uns gegangen ist.«

Die Menschen Vesturas hatten Mondschattens Großvater und seine Heilkunst verehrt. Dass er eine Familie gehabt hatte, war vielen unbekannt. Obschon Yunorus geachtet worden war, erkannte Mondschatten das Entsetzen und die Ungläubigkeit in allen Gesichtern. Keiner konnte verstehen, warum das Schicksal ein Kind erwählt hatte, am Allerwenigsten sie selber.

Als ob Merowan ihre Gedanken gelesen hätte, sagte sie: »Das Los hat entschieden. Wir haben seine Wahl nicht anzuzweifeln.« Sie sah Mondschatten an. »Du hast eine ehrenvolle, aber auch sehr gefährliche Aufgabe vor dir. Gleich morgen in aller Frühe wirst du mit vier Vesturenkriegern aufbrechen, um deiner Bestimmung zu folgen.« Sie drückte sanft ihre Hand und nickte ihr aufmunternd zu. »Ich wünsche dir alles Glück unserer Zeit«, sagte Merowan und in ihrer Stimme schwangen sowohl Zuversicht als auch Sorge.

Anschließend verbeugte sich die Anführerin vor ihrem Volk und lächelte Mondschatten noch einmal aufmunternd zu. Dann verließ sie mit ihren Beratern den Platz und zog sich in ihr Haus zurück.

Kaum hatten sich die Türen hinter Merowan und dem Rat geschlossen, erhoben sich abermals Stimmen. Mondschatten stand wie verwachsen mit den Steinplatten da, konnte sich nicht bewegen. Vata saß auf ihrer Schulter und knabberte vorsichtig an ihrem Ohrläppchen.

Wolkentanz und Thorm liefen zu ihr.

»Komm, Mondschatten! Lass uns nach Hause gehen.« Liebevoll zog Wolkentanz ihre Schwester fort und durch die Menschenmenge hindurch. Thorm half ihr.

Verstohlene und ungläubige Blicke folgten den dreien.

Der Regen war stärker geworden und klatschte in großen Tropfen auf sie hinunter. Sie kamen nur mühsam voran. Die Menschen drängelten jetzt, um in ihren trockenen Häusern Schutz vor der dichten Regenwand zu suchen.