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»Wer sagt, er kann nicht, der will meist nicht!« Nach ihrer Rückkehr aus Amons Heimat hatte Mondschatten gehofft, wenigstens für eine kurze Weile in Ruhe und Frieden mit ihren Eltern, ihrer Schwester Wolkentanz und ihren Freunden in Vestura zusammen sein zu können. Keine Kämpfe, keine Ängste - und vor allem: keine Magie! Aber die Magierin Mulantan und der Magier Gaios, die sie bereits im Haus ihrer Eltern erwarteten, hatten andere Pläne: »Wir brauchen dich, Mondschatten! Nur du kannst sie besiegen.« Und so begibt Mondschatten sich ein letztes Mal auf die Reise, um die Alte Ordnung zu bewahren. Wie immer sind ihre Freunde an ihrer Seite - fast immer! Denn für ihren allerletzten und schwersten Kampf ist Mondschatten auf sich allein gestellt. Das Ende der fantastischen Trilogie um Mondschatten und ihr magisches Erbe.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Corinna Gottsmann
Mondschattens
letzter Kampf
Ein Fantasy-Abenteuer für alle,die Magie in ihrem Herzen tragen
Copyright: © 2022 Corinna Gottsmann
Lektorat und Satz: Corinna Gottsmann – geschichten-basar.de
Umschlaggestaltung und Illustration: Sina Holste – sinaholste.de
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-52031-8 (Paperback)
978-3-347-52032-5 (Hardcover)
978-3-347-52035-6 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Für
Liebe und Vergebung
Inhalt
Kapitel 1 – in dem Mondschatten Vertrautes aufgeben muss
Kapitel 2 – in dem Traurigkeit Ruhe schenkt
Kapitel 3 – in dem Mondschatten ihre Grenzen gezeigt werden
Kapitel 4 – in dem die Sprache der Magie an Kraft gewinnt
Kapitel 5 – in dem Mondschatten am Ende ein bitterer Geschmack bleibt
Kapitel 6 – in dem eine Freundschaft auf die Probe gestellt wird
Kapitel 7 – in dem Mondschatten sich verwandelt
Kapitel 8 – in dem Tränen Erleichterung bringen
Kapitel 9 – in dem Gaios plötzlich verschwindet
Kapitel 10 – in dem Thorm Mondschatten ausweicht
Kapitel 11 – in dem sich Vergangenheit und Tod vereinen
Kapitel 12 – in dem Axt und Schwert aufeinandertreffen
Kapitel 13 – in dem Gaialan sich in Mondschattens Gedanken drängt
Kapitel 14 – in dem Mulantan von einem uralten magischen Gesetz erzählt
Kapitel 15 – in dem das Eis zerbricht
Kapitel 16 – in dem Erinnerungen an den Wandelwald wach werden
Kapitel 17 – in dem sich Blut mit Eis vermischt
Kapitel 18 – in dem goldene Hörner Hoffnung versprechen
Kapitel 19 – in dem Grummak eine Extraportion bekommt
Kapitel 20 – in dem Mondschatten eine vertraute Stimme hört
Kapitel 21 – in dem das Wasser der Erde seinen Weg findet
Kapitel 22 – in dem der Weg hinter den Wasserfall führt
Kapitel 23 – in dem friedlicher Gesang ein Unheil ankündigt
Kapitel 24 – in dem Mondschatten einen ganz eigenen Weg findet
Kapitel 25 – in dem die Freunde ihr Ziel erreichen
Kapitel 26 – in dem Gaialan sie willkommen heißt
Kapitel 27 – in dem Mondschatten gegen die Vergangenheit kämpfen muss
Kapitel 28 – in dem eine alte Freundschaft ihr Ende findet
Kapitel 29 – in dem alles ein Ende und einen Anfang hat
Kapitel 30 – in dem Vergangenes für einen Neuanfang steht
Kapitel 1
in dem Mondschatten Vertrautes aufgeben muss
»ICH KANN NICHT MEHR! UND ICH KANN ES AUCH NICHT BESSER!«
Mondschatten senkte ihre Arme. Das Schwert in der einen Hand, die andere zur Faust geballt, starrte sie Eranol wütend an.
Es war früher Nachtmittag. Noch stand die Sonne hoch am Himmel. Schon bald aber würde sie sich in Richtung der Baumgrenze strecken und lange Schatten in den Innenhof der Burg werfen.
Wie beinahe jeden Tag um diese Zeit standen sich Mondschatten und Eranol im Hof der Burg der Hüter der Eintracht gegenüber. Und wie beinahe jeden Tag bettelte Mondschatten darum, das Training mit dem Krieger aus dem Nordland frühzeitig beenden zu dürfen.
Außer ihnen waren nur noch wenige andere Anhänger der Hüter der Eintracht im Hof und gingen ihren Beschäftigungen nach. Verstohlene Blicke trafen die beiden. Über manche Gesichter huschte ein verständnisvolles Lächeln. Ob für Mondschatten oder Eranol, konnte man nicht sagen.
Mondschatten fing eines dieser Lächeln aus den Augenwinkeln auf und fühlte sich in ihrer Mutlosigkeit bestärkt. Sie stieß die Schwertspitze vor sich in den Boden, die Augen weiter unverwandt auf den Krieger gerichtet.
Der blickte ungerührt zurück. »Wer sagt, er kann nicht, der will meist nicht!«
Ein Schleier legte sich über Mondschattens grüne Augen. Zorn stieg in ihr auf. Sie wollte irgendetwas sagen. Irgendetwas, das ihn verletzten würde. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen!
Stattdessen quengelte sie: »Außerdem ist mir das Schwert hier viel zu groß. Und es ist zu schwer und zu lang. Warum kann ich nicht weiter mit dem Kurzschwert meines Großvaters üben?«
»Mondschatten!« Eranol ging zu ihr und legte eine kräftige Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß, dass du unsicher bist. Und ich kann dich verstehen. Wer möchte schon dafür ausgebildet werden, gegen Gaialan zu kämpfen?«
»Niemand!«, unterbrach Mondschatten ihn schnell.
Der Krieger nickte. »Ganz genau: Niemand!«
Mondschatten setzte zu einer Erwiderung an, aber Eranol fuhr unbeirrt fort: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich mit solch einem Erbe, wie du es in dir trägst, umgehen würde.« Wieder versuchte Mondschatten, etwas zu sagen, aber Eranol hob die Hand. »Aber es ist auch nicht wichtig, was ich tun würde, wenn ich die Macht besäße, gegen Gaialan kämpfen zu können, um die Alte Ordnung zu erhalten! Jeder und jede hat in diesen schweren Zeiten seine oder ihre Aufgabe. Und meine Aufgabe ist, dich bestmöglichst auf dieses Aufeinandertreffen vorzubereiten. Und das mit einem anständigen Schwert!«
»Als ob ein Schwert Gaialan aufhalten könnte.« Mondschatten schüttelte ihren Kopf. »Ich müsste viel mehr mit den Magierinnen und Magiern üben.« Sie sah den ersten Blättern nach, die der Herbstwind weg von den Bäumen und in den Hof getragen hatte, und die nun von der aufkommenden Brise über den Boden gejagt wurden. »Und eigentlich hatten Mulantan und Gaios mir versprochen, dass sie mich ausbilden. Aber stattdessen lerne ich hier nur die Dinge, die ich schon als Kind konnte!« Sie hob ihre Augenbraue. »Kleine Winde heraufbeschwören, Wasserpegel steigen lassen, Erdhügel aufschütten, Feuer … Ach, ist ja auch egal!« Sie wischte mit ihrer Stiefelspitze über den staubigen Boden. Dann sah sie Eranol an und wiederholte leise: »Mulantan und Gaios haben es mir versprochen.«
»Ich weiß, Mondschatten. Und ich bin mir sicher, sie werden ihr Versprechen halten.« Er tätschelte unbeholfen ihren Kopf. »Aber, freu dich doch! Solange die beiden noch nicht hier sind, haben wir zwei mehr Zeit miteinander.«
Er zwinkerte ihr zu, ging wieder einige Schritte zurück und hob sein Schwert. Mondschatten blies ihre Wangen auf, zog ihr Schwert aus dem Boden, und kurze Zeit später hallte das vertraute Klingen der Schwerter über den Hof und verlor sich über den Burgmauern im Wald.
Mondschatten wusste, dass sie durch das Training mit Eranol in den letzten Wochen schon richtig gut darin war, sich mit und ohne Waffe zu verteidigen.
Natürlich hatte sie früher auch mit Tara und Nerondom geübt. Aber das tägliche Üben mit dem Nordländer hatte sie schnell und deutlich sicherer werden lassen.
Ihre Gedanken schweiften ab. Tara und Nerondom. Krieger aus ihrer Heimat Vestura. Das gemeinsame Üben mit ihrer Schwester Wolkentanz. Mondschatten schluckte innerlich und zwang die aufkommenden Tränen wieder hinunter.
Eine Schwertspitze traf sie mitten auf die Brust.
»Hallo! Noch jemand da?«
Mondschatten verdrängte schnell den letzten Zipfel Erinnerung an ihr Zuhause, straffte die Schultern und sagte: »Natürlich bin ich da!«
Der Krieger ließ sein Schwert sinken und lächelte. »Ist schon gut, genug für heute.«
Mondschatten packte erleichtert ihr Schwert und wollte schon in Richtung der Ställe loslaufen, als Eranol ihr hinterherrief: »Aber rede nicht nur mit deinen Freunden; vergiss nicht, die Ställe auch zu säubern!«
»Jaja, natürlich!« brummte sie vor sich hin, während sie weiterlief. »Ställe saubermachen, den Hof fegen und Holz hacken. Das sind die wirklich wichtigen Aufgaben, die eine Magierin können sollte!« Unwillig schüttelte sie ihren Kopf. »Ach, und nicht zu vergessen, dem Schmied beim Schärfen der Waffen zu helfen.«
Vom ersten Tag an waren ihr diese Aufgaben übertragen worden.
»Und, Mondschatten, mach es bitte ordentlich!«, hatte Erysel sie ermahnt. Die Schwester des Nordländers hatte sie dabei ernst, aber auch liebevoll angeschaut und ihr durch das fuchsbraune Haar gestrichen.
Erysel hatte sie schon bei ihrem ersten Besuch auf der Burg freundlich willkommen geheißen. Eine heiße Wanne und ein warmes Essen hatten für Mondschatten bereitgestanden. Und auch jetzt, zwei Jahre später, erleichterte die mütterliche Fürsorge der Nordländerin Mondschatten das Heimweh.
Und wenn sie ganz ehrlich war, mochte sie die körperlichen Arbeiten: den Geruch der Tiere und des Strohs in den Ställen, die gleichmäßigen Bewegungen beim Fegen, das kraftvolle Spalten gefällter Bäume in Holzscheite. Ja, sogar die unerträgliche Hitze aus dem Ofen des Schmiedes war gar nicht so unerträglich.
Sie war durch ihre Aufgaben stärker geworden. Ihre Muskeln waren sehnig und gespannt. Nichts brachte sie mehr so schnell aus der Puste. Ihre Hände hatten durch die harte Arbeit und das Feuer Schwielen bekommen und konnten mühelos das Schwert gegen Eranol führen.
Während dieser Gedanken hatte sie ihr Ziel erreicht. Ungestüm riss sie die Holztür zum Inneren der Stallung auf und huschte hinein. Das Blöken, Wiehern und Scharren, das sie begrüßte, war ihr ebenso vertraut wie der warme Stallgeruch, der ihr entgegenschlug. Sie flitzte den Gang entlang, vorbei an den Boxen, die rechts und links aneinandergereiht waren.
Sie hielt erst an, als sie die letzte Box auf der linken Seite erreicht hatte. Ein großer, nebelgrauer Wolfskopf streckte sich ihr über dem Holzschlag entgegen. Hellblaue Augen sahen sie an.
Mondschatten zog den Schlag auf und versenkte ihren Kopf in das dichte Fell ihres Freundes Nachtwind. Der vertraute Geruch nach Erde und Stein stieg in ihre Nase, und sofort beruhigten sich all ihre Gedanken.
Plötzlich zerrte etwas an ihren Haaren. »He, was soll das?« Sie fuhr herum und starrte in zwei dunkle Perlaugen, die sie von Nachtwinds Kopf herab ansahen.
»Vata!« Mondschatten streckte der Falkendame ihren Arm entgegen. Die flatterte krächzend auf und ließ sich auf dem Lederarmband, das sich um Mondschattens Unterarm schloss, nieder.
Mondschatten streichelte über das zimtfarbene Federkleid mit den weißen Sprenkeln darin und betrachtete abwesend das Lederarmband, ein Geschenk ihres Freundes Amon aus dem Ostland.
»Wie es ihm wohl geht?«, fragte sie die beiden Tiere und hielt für einen Moment in ihrer Bewegung inne. Als Antwort stieß Vata mit ihrem Köpfchen gegen ihre Hand. »Jaja, ist ja gut«, sagte Mondschatten und setzte die Streicheleinheiten wieder fort.
Ihre Gedanken aber wanderten wieder zu Amon, ihrem Freund und Gefährten. Mit ihm, Eranol und weiteren Anhängern der Hüter der Eintracht hatte sie in den letzten beiden Jahren so vieles erlebt:
Vor zwei Jahren die Reise zu den Vier Heiligtümern im Grauen Gebirge mit allen Gefahren, denen sie sich auf dem Weg dorthin hatten stellen müssen.
Mondschattens Überraschung, als sie erfuhr, dass Gaios, mächtigster Magier ihrer Zeit, ihr Urahn war – und dass sie selbst das Erbe in sich trug, über alle vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde und Luft) zu herrschen.
Als sie und ihre Gefährten schließlich die Vier Heiligtümer gefunden hatten und sie diese gegen Antilla (Magier und Anführer der Hüter der Zwietracht) und seine Anhänger verteidigen mussten.
Am Ende aber hatten sie gesiegt, und Regla, die Alte Ordnung konnte weiterbestehen. Der Frieden war gesichert, zumindest vorerst.
Abwesend umfasste sie den Anhänger, der mattgolden und kühl auf ihrer Brust ruhte. Ein Erbstück, das innerhalb ihrer Familie von Magier zu Magier weitergegeben wurde. Sie hatte es von Yunorus bekommen. Yunorus, ihr Großvater, der einst ein großer Heiler der Vesturen gewesen war, und in dessen Fußstapfen sie treten wollte. Seit über drei Jahren war er jetzt schon tot.
Und er hatte ihr nichts gesagt. Über ihr Erbe, ihr Können, ihre Macht, die auch in ihm ruhte, die er aber nicht angenommen hatte.
Bevor die vertraute Wut und Enttäuschung in ihr aufsteigen konnten, fuhr sie mit ihren Fingern die feinen Zeichnungen entlang, die sich über die Oberfläche des Anhängers zogen.
Im letzten Jahr dann die Reise in Amons Heimat, um seinem Vater zu helfen, dem Anführer der Ostländer. Eine schleichende Krankheit hatte ihn befallen, und kein Heiler wusste, was zu tun war.
Auch drohte der Weltenbaum, der in der Wüste der Ostmenschen stand und ein Symbol für Regla, die Alte Ordnung, war, zu verdorren.
Mondschatten hatte erkannt, dass es Gift war, welches den Anführer der Austuren so sehr schwächte. Und sie fand heraus, dass es Salar war, Amons Onkel, der seinem Bruder dieses Gift gab.
Beim Weltenbaum selbst war sie auf Gaialan gestoßen. Gaialan, Gaios’ Zwillingsschwester und genauso mächtig wie er selbst. Und die eigentlich tot sein sollte …
»Nein, ich will jetzt nicht daran denken!« Wütend schnappte sie sich einen Besen und begann, den Gang zu fegen. Vata, von der plötzlichen Bewegung ihrer Herrin aufgescheucht, hockte sich beleidigt auf einen Holzpfosten.
Mondschatten war nicht wirklich bei der Sache und verteilte Schmutz und Staub nur von einer Seite auf die andere.
Nach ihrer Rückkehr von den Austuren hatte sie gehofft, wieder ihr normales Leben führen zu können. Wenigstens für eine kurze Weile wollte sie in Ruhe und Frieden mit ihren Eltern, Wolkentanz und ihren Freunden zusammensein. Und mit Thorm natürlich.
Aber all das war ihr nicht vergönnt gewesen. Nicht einmal für ein winzige Weile.
Mulantan und Gaios hatten sie bereits im Haus ihrer Eltern erwartet.
»Mondschatten, wir müssen reden!«, waren Gaios’ Worte gewesen.
Wir! Dabei hatten doch nur er und Mulantan die ganze Zeit geredet.
»Es stimmt, ich habe die Gefahr unterschätzt«, hatte Mulantan zugegeben. »Das hätte nicht passieren dürfen!«
»Wer hatte schon voraussehen können, dass es Gaialan ist, die sich hinter all dem verbirgt.« Gaios’ Stimme war immer wieder gebrochen. Das Wissen, dass es seine eigene Schwester war, die den Untergang der Alten Ordnung plante, und dass er es war, der diesen Hass in ihr hervorbrachte. Das alles war zuviel für den alten Magier.
Er hatte Mondschatten angesehen, und sie hatte gewusst, was er sagen würde. Sie hatte es in seinen Gedanken gelesen, bevor er es laut aussprach. »Wir brauchen dich, Mondschatten! Nur du kannst sie besiegen.«
»Warum kämpfst du nicht gegen sie?«, war Mondschattens trotzige Reaktion gewesen. »Es ist schließlich deine Schuld, dass alles so gekommen ist!«
Mondschatten hatte den Schmerz in den Augen ihres Ahnen gesehen, aber es war ihr egal gewesen.
Und was hatte der mächtigste Magier ihrer Zeit geantwortet?
»Ich kann nicht, Mondschatten. Sie ist meine Schwester. Ich habe es geschworen!«
Sie stieß den Besen gegen den Holzpflock, auf dem Vata hockte. Zeternd flog diese auf und ließ sich wieder auf Nachtwinds Kopf nieder.
»Was hat Eranol gesagt? Wer sagt, er kann nicht, der will nicht? Hach!« Ein schwerer Kopf stieß sanft gegen ihren.
Mondschatten seufzte und strich über Nachtwinds Schnauze. Der Wolf war aus seiner Box getreten und stand nun neben Mondschatten. Vata saß weiter unerschütterlich auf seinem Kopf.
»Ich weiß, Nachtwind. Ich weiß! Ich kann ihn ja verstehen. Es ist seine Schwester.« Sie schüttelte ihren Kopf und vertrieb ihre Erinnerungen an den Tag, an dem sie nur rasch ihre Kleidung gewechselt, sich – unter Tränen – von ihrer Familie und ihren Freunden verabschiedet hatte, um dann gleich mit den beiden Magiern zur Burg aufzubrechen.
»Ich fühle mich nur so allein! Ich vermisse meine Familie und meine Freunde. Thorm …« Sie flüsterte. »Und Gaios und Mulantan haben sich seit meiner Ankunft hier nicht mehr blicken lassen. Sie mussten gleich weiter; sich einen besseren Überblick verschaffen, haben sie gesagt.«
Mondschatten zuckte mit den Schultern. »Zum Glück sind Erysel und Eranol hier. Ohne die beiden …« Sie dachte an die dunklen Träume, die sie die meisten Nächte begleiteten. Die dunklen Träume, die ihre treuen Gefährten waren, seitdem das Schicksalslos sie erwählt hatte. Die Kreaturen mit ihrer zerfetzten Kleidung, die sie in den Nächten verfolgten und mit ihren mageren Fingern anklagend auf sie zeigten. »Du sollst Regla retten? Du sollst uns alle beschützen können? Du bist doch nur ein Kind!« Und ein grausiges Röcheln und Lachen begleiteten ihre Worte.
Mondschatten atmete tief ein, und die Bilder verschwanden. »Meinst du, wir können noch ausreiten, bevor es Zeit für das Abendessen wird?« Sie tätschelte Nachtwinds Hals und warf dabei einen Blick zu den offenen, schmalen Fenstern, die am oberen Rand der steinernen Stallwände eingelassen waren. Die Sonne stand bereits so tief, dass ihre Strahlen kaum mehr den Stall erhellten.
»Nein, wohl nicht.« Mondschatten nahm den Besen und lehnte ihn ordentlich gegen eine der Boxen. »Es ist schon zu spät. Erysel kann es gar nicht leiden, wenn ich zu spät zum Essen komme.«
Sie schloss den Holzschlag hinter Nachtwind. »Morgen wieder«, versprach sie und gab ihm einen Kuss auf die feuchte Nase. »Kommst du mit, Vata?« Zur Antwort flog der Falke auf und folgte ihr.
Mondschatten verließ den Stall und lief quer über den Hof. Um diese Zeit lag er beinahe wie ausgestorben da. Nur zwei Magier eilten in ihren raschelnden Umhängen über den Hof.
Links von ihr ragte der mächtige Hauptturm aus der Mauer empor, rechts davon reckte sich ein kleinerer Turm in die Höhe. Gerade wurde seine Tür geöffnet und eine Frau trat auf den Hof. Ihr helles, rotblondes Haar hatte sie in einem schweren Zopf gebändigt. Ihre Augen, die genauso blau wie die ihres Bruders Eranol waren, sahen Mondschatten prüfend entgegen.
»Da bist du ja endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Das Essen ist fertig«, begrüßte sie Mondschatten und stemmte ihre Arme in die Seiten. Mondschatten schlüpfte eilig an Erysel vorbei ins Innere des Turms. Vata flog über die Mauer und verschwand im Wald.
Erysel schloss die Tür.
Der Raum, in dem sie standen, hatte sich kein bisschen verändert. Alles sah aus wie bei Mondschattens erstem Besuch vor zwei Jahren.
Ein Feuer prasselte im Kamin. Zusammen mit zwei Fackeln erhellte es das Zimmer. Die Bilder, die an den Wänden hingen, zeigten verschiedene Eislandschaften. Sie waren so lebendig gemalt, dass Mondschatten sich sicher war, die Kälte des Eises zu spüren.
»Meine Heimat«, erklärte Erysel jedesmal, wenn sie davorstand. Und immer schwang Wehmut in ihren Worten mit.
Der einst sonnengelbe Teppich vor dem Kamin wirkte noch abgenutzter und fleckiger. Und es schien Mondschatten, als ob die Holztruhe, die mitten auf ihm stand, sich seit dem letzten Mal kein Stück bewegt hätte.
Am rechten Teppichrand ruhte immer noch das ausladende Ledersofa, dessen hohes Alter gnädig durch allerlei bunte Decken verdeckt wurde. Hinter dem Sofa konnte man gerade eben die ersten Stufen sehen, die nach oben in den ersten Stock des Turms und in Mondschattens Kammer führten. Dass der Ohrensessel, der gegenüber dem Sofa seinen Platz hatte, einst brombeerfarben gewesen war, war kaum mehr zu erkennen. Hinter dem Sessel versteckte sich eine winzige Küche. Davor stand ein Esstisch mit vier Stühlen um ihn herum. Und auf einem der Stühle saß Eranol.
»Guten Abend, Mondschatten«, begrüßte er sie und rührte weiter mit einem Löffel in seiner Schale, die dampfend vor ihm auf dem Tisch stand.
»N`Abend.« Mondschatten ging zu dem Herd in der Küche, auf dem ein großer Topf stand, und schöpfte sich mit einer Kelle Suppe in eine Schale. Anschließend setzte sie sich zu Eranol.
Erysel ließ sich auf dem dritten Stuhl nieder. Fahrig strich sie eine Strähne hinter ihr Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.
»Willst du nichts essen?«, fragte Mondschatten und schob sich hungrig ihren Löffel in den Mund.
»Ich habe schon gegessen«, antwortete Erysel knapp und wich ihrem Blick aus.
Mondschatten sah Eranol mit hochgezogenen Augenbrauen an, aber der blickte höchst konzentriert in die Tiefen seiner Schale.
Mondschatten runzelte die Stirn. Normalerweise saßen sie beim Abendessen zusammen und erzählten sich ausgelassen, was sie am Tag erlebt hatten.
Was ist nur los mit den beiden?, dachte Mondschatten und sah von einer zum anderen. Aber gut, wenn sie es mir nicht sagen wollen, versuche ich es doch einfach auf meine Weise. Ist ja auch gleich eine kleine Übung für mich. Und ich soll ja viel üben!, dämpfte sie ihr schlechtes Gewissen.
Aber bevor sie sich auf die Gedanken der Geschwister konzen-trieren konnte, um herauszufinden, was die beiden vor ihr verheimlichten, schaute Erysel sie an und sagte: »Mulantan und Gaios möchten dich nach dem Essen sehen!«
Kapitel 2
in dem Traurigkeit Ruhe schenkt
»Mulantan und Gaios?!?« Mondschatten kippelte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. »Sie sind hier? Hier auf der Burg?«
Ihr Blick huschte zur Tür, als ob sie erwartete, die beiden Magier würden in eben diesem Moment durch sie hindurchtreten.
»Ja, Mondschatten! Mulantan und Gaios sind hier auf der Burg. Und sie wollen mit dir reden«, gab Erysel ruhig zur Antwort.
»Aber sie sind nicht hier!« Eranol hielt in der einen Hand den Löffel, mit der anderen wedelte er, den Zeigefinger erhoben, verneinend vor sich her. »Sie erwarten dich im großen Saal des Hauptturms.«
Mondschatten sprang auf und wollte zur Tür hinaus auf den Hof.
»Sie erwarten dich nach dem Essen, Mondschatten«, hielt Erysel sie auf. Mondschatten, die schon beinahe die Tür erreicht und eine Hand ausgestreckt hatte, drehte sich unwillig um und kehrte widerstrebend an den Tisch zurück.
»Aber warum so plötzlich?«, fragte sie und setzte sich. Sie nahm den Löffel, rührte damit aber nur in der Schale herum.
Erysel seufzte. »Ich kann dir auch nicht sagen, warum sie ihre Ankunft nicht angekündigt haben. Immerhin hätten sie ja zumindest …«
»Was haben sie gesagt?«, fragte Mondschatten ungeduldig.
Erysel schüttelte den Kopf. »Sie haben nur gesagt, dass sie mit dir sprechen wollen. Alleine!«
»Mit mir«, murmelte Mondschatten vor sich hin. »Alleine.« Sie rührte weiter in der Schale, ohne etwas zu essen. Zu viele Fragen kreisten in ihrem Kopf.
Schließlich schüttelte sie ihren Kopf und legte den Löffel aus der Hand. »Ich habe keinen Hunger mehr«, sagte sie.
Erysel nickte ergeben. »Dann lass uns gehen.«
»Ich dachte, sie wollen mich alleine sprechen?« Mondschatten sah die Norturin fragend an.
Erysel stand auf. »Richtig, aber es hat mir niemand gesagt, dass ich dich nicht dahin bringen darf!« Auch Eranol erhob sich und folgte den beiden zur Tür hinaus.
Auf dem Hof waren nun deutlich mehr Magierinnen und Magier unterwegs als noch am späten Nachmittag. Auch Menschen und andere Geschöpfe mischten sich darunter. Sie alle wollen wissen, was die plötzliche Ankunft von Mulantan und Gaios zu bedeuten hat, vermutete Mondschatten. Verstohlene und neugierige Blicke folgten den dreien, die direkt zum Eingang des Hauptturms liefen.
Dort wartete bereits Vata auf sie. Sie flog vom Boden auf und ließ sich auf dem Arm ihrer Herrin nieder. »Woher weißt du eigentlich immer, wann du wo zu sein hast?«, fragte Mondschatten ihre gefiederte Freundin und strich über ihr Köpfchen.
Statt einer Antwort Vatas öffnete sich die teerschwarze Holztür des Turms wie von Geisterhand.
Ohne zu zögern, lief Mondschatten die breiten, felsgrauen Steintreppen hoch, die links in einem Halbkreis nach oben führten. Vata flog ihr voran.
Als Mondschatten den letzten Absatz erreicht hatte, blieb sie stehen. Vor ihr öffnete sich eine Steinhalle. Wie schon beim ersten Mal staunte sie, wie riesig der Raum war, der sich über die gesamte Fläche des Turms erstreckte.
An jeder der vier Wände hing ein bodentiefes Bild, und jedes zeigte eines der Vier Heiligtümer: die Flamme, das Saatkorn, die beiden Flügel und den Tropfen. Feuer, Erde, Luft und Wasser; rot, grün, gelb und blau. Die Farben der Bilder verschmolzen mit dem Licht des Feuers, das in dem Kamin gegenüber prasselte. Ein sanfter bunter Schimmer legte sich über den Raum.
Bis auf zwei Sessel, die auf einem Teppich dem Kamin zugewandt standen, war die Halle leer. Die Sonnenstrahlen, die es durch die Fenster hoch oben in den Steinwänden geschafft hatten, spendeten kaum noch Helligkeit.
»Es ist immer wieder beeindruckend«, sagte Erysel, die hinter Eranol die Treppen heraufgekommen war. Für eine kurze Weile standen die drei auf dem Absatz und betrachteten das Farbenspiel.
Mondschatten zupfte nervös am Rand ihres Ärmels. Der rostrote Pullover, der ihr vor zwei Jahren noch bis kurz über die Knie gereicht hatte, passte ihr endlich.
»Wo sind Mulantan und Gaios?«, fragte sie leise.
»Hier sind wir, Mondschatten.«
Die Sessel ruckten ein wenig nach hinten, und zwei hohe Gestalten erhoben sich daraus.
Ihre Gesichter leuchteten vom Glanz des Feuers.
Die Frau war beinahe so groß wie der Mann, aber deutlich jünger. Auch wenn die Anzahl an grauen Strähnen in ihrem tiefdunklen und hüftlangen Haar zugenommen hatte. Sie trug einen Umhang, der zu ihren Augen passte: lavendelfarben. Das Mal zwischen ihren Augen pulsierte leicht blau und grün. Wasser und Erde, die Elemente, die Mulantan beherrschte.
Als Mondschatten den Mann betrachtete, erschrak sie.
Kann es wirklich sein, dass er nach den wenigen Wochen, die wir uns das letzte Mal gesehen haben, so sehr gealtert ist?
Gaios trug einen silbernen Umhang, der um seinen mageren Körper fiel. Sein langes, weißes Haar wirkte ungepflegt und stumpf. Über den grauen Augen ihres Ahnen lag ein Schatten, der auch durch sein bemühtes Lächeln nicht verschwand.
»Auch wenn mir deine Gedanken nicht schmeicheln, Mondschatten, fürchte ich doch, dass du recht hast«, sagte der Magier und zwinkerte ihr zu. »Meine Kräfte scheinen zu schwinden, je stärker Gaialan wird.«
»Gaialan?«, platze Mondschatten heraus. »Sie wird stärker? Was ist passiert? Habt ihr mit ihr gesprochen?«
»Immer der Reihe nach«, mahnte Mulantan sanft. »Erst einmal sollen wir dich grüßen, Mondschatten. Oder möchtest du nicht wissen, wie es deiner Familie und deinen Freunden geht?«
Mondschatten lief rot an. »Natürlich möchte ich das wissen!«
»Wir gehen dann«, sagte Erysel, die mit ihrem Bruder hinter Mondschatten wartete.
Mulantan nickt. »Danke für eure Hilfe.«
Mondschatten sah ihnen nach, bis die Geschwister hinter der Biegung der Treppen verschwanden.
»Deiner Familie und deinen Freunden geht es gut, und sie lassen dich grüßen«, sagte Mulantan, als die Schritte der beiden Nordländer verhallt waren und Mondschatten sich ihr wieder zugewandt hatte. Plötzlich trat die Magierin vor und gab Mondschatten einen Kuss auf die Stirn.
»Den soll ich dir von deiner Mutter geben«, erklärte die große Frau, als sie sich wieder aufrichtete.
Ein Gefühl voller Liebe durchströmte Mondschatten. Es war die Liebe ihrer Mutter, die sich langsam, warm und schützend in ihr ausbreitete.
Sie schluchzte auf. Und dann konnte sie es nicht mehr verhindern, der Schmerz war einfach zu groß für sie. Sie ließ die Tränen laufen, die sie seit ihrem Aufbruch von Vestura zurückgehalten hatte. Das Alleinsein, das Nichtwissen, wie es ihren Liebsten ging, das Nichtwissen, was von ihr erwartet wurde und die übergroße Verantwortung.
All diese Gefühle liefen mit den Tränen ihre Wangen hinab, tropften auf den Boden oder verschwanden in ihrer Kleidung.
Als einige Zeit vergangen war und keine Tränen mehr folgten, trocknete Mondschatten ihre Wangen.
Mulantan und Gaios hatten einfach nur dagestanden und sie gewähren lassen. Selbst Vata hatte ihre Herrin nicht gestört und sich neben Gaios auf dem Boden niedergelassen. Ihre dunklen Augen aber ruhten unverwandt auf Mondschatten, jederzeit bereit, ihrer Freundin Trost zu spenden.
Mondschatten holte tief Luft und sah die beiden Magier an. Sie fühlte sich leer, leer und ruhig. Es fühlte sich gut an.
»Thorm und Wolkentanz üben weiterhin fleißig mit Tara und Nerondom«, übernahm Gaios das Reden. »Von den beiden sollen wir dich natürlich auch grüßen.«
»Was ist mit Vesara? Was sagt sie?«, wollte Mondschatten wissen. »Und Amon? Wie geht es ihm?«
»Amon geht es gut, wie ich gehört habe. Das Erbe, das er antreten musste, ist groß. Aber er hat die Hilfe seiner Mutter. Zusammen führen sie ihr Volk so gut es ihnen möglich ist«, sagte der Magier und fügte hinzu: »Und wie es die unruhigen Zeiten zulassen. Er seufzte. »Und die Waldwesen? Tja, sie ziehen sich immer weiter zurück.« Er rieb sich die Nasenwurzel und fuhr fort: »Ich weiß natürlich, wie ich zu ihnen gelangen kann, und wie du und einst Yunorus war ich immer willkommen. Aber in den letzten Wochen haben die Waldwesen nach und nach die Übergänge, die in ihr Reich führen, zerstört.«
»Aber der Holunderstrauch …?«, begann Mondschatten.
Gaios schüttelte seinen Kopf. »Sie wollen einfach nichts mehr mit den Dingen, die in unserer Welt passieren, zu tun haben. Sie wollen sich und ihre Welt schützen. Es tut mir sehr leid, Mondschatten.« Die blickte stumm auf ihre Hände.
»Ich muss zugeben, dass ich die Gefahr lange unterschätzt habe. Viel zu lange.« Mulantan strich abwesend über eine Falte ihres Umhangs. »Ich war mir so sicher, dass es allein Antillas Plan ist, alle Herrschaft für sich zu gewinnen. Und als wir im Grauen Gebirge zu einer …« Sie überlegte kurz. »Zu einer Einigung gekommen sind, war ich der Überzeugung, dass wir Regla gerettet hätten. Natürlich wusste ich, dass es viel Arbeit, Kraft und Zeit kosten würde, die Unruhen und das Misstrauen zu besänftigen. Und es hätte wahrscheinlich auch immer wieder Versuche gegeben, Zweifel und Zwietracht zu säen. Aber im Großen und Ganzen war ich mir so sicher!« Sie schüttelte ihren Kopf. »Wir hätten uns häufiger als Wanderer am Himmel einen Überblick verschaffen müssen, was auf der Erde passiert! Stattdessen sind wir nur von Ort zu Ort gezogen, um zu reden und zu überzeugen.«
Gaios berührte sie sacht am Arm. »Es hätte nichts geändert. Gaialan hätte immer einen Weg gefunden.«
»Aber jetzt wird sich etwas ändern!« Das Mal zwischen den Augen der Magierin begann zu pulsieren. Mondschatten wich einen Schritt zurück. So zornig hatte sie Mulantan noch nie erlebt.
Die beruhigte sich wieder, und die Farben des Mals verblassten. »Es wird sich etwas ändern!«, wiederholte sie. »Gaialan und ihre Anhänger verstehen es, Misstrauen, Missgunst, Angst und Groll zwischen und auch unter den Völkern zu verbreiten. Und dabei tritt Gaialan noch nicht einmal selbst in Erscheinung. Alle denken immer noch, dass es Antilla ist, der die Hüter der Zwietracht anführt.« Die Magierin schnaubte. »Ich mache mir große Sorgen. Die Hüter der Eintracht und ihre Anhänger bemühen sich zwar, gegen das Gift, das Gaialan und die ihren verbreiten, anzureden und zu überzeugen. Aber ich weiß nicht, wie lange wir diesen Kampf noch führen können.« Leiser fuhr sie fort: »Und keiner weiß, wann Gaialan sich zu erkennen geben wird und was dies dann für uns bedeutet.«
Eine Weile sagte keiner etwas. Die Anspannung, die zwischen ihnen lag, ließ Mondschattens Brust eng werden. Sie ahnte, was gleich kommen würde. Jetzt komme ich ins Spiel.
Mulantan nickte. »Ja, Mondschatten, du hast recht. Jetzt kommst du ins Spiel.«
»Und die Spielregeln bestimmt Gaialan«, sagte Gaios.
Mondschatten schaffte es kaum, ihren Ahnen anzuschauen.
»Ich kann nicht, Mondschatten. Sie ist meine Schwester. Ich habe es geschworen!«
»Ich weiß, Mondschatten. Ich sollte helfen. Ich sollte derjenige sein, der Gaialan aufhält!« Gaios hielt Mulantan zurück, die etwas erwidern wollte.
»Nein, Mulantan. Mondschatten hat recht. Ohne mich wären wir heute nicht hier. Wenn ich nicht … hätte Gaialan nicht…« Der Magier brach ab, und ein längeres Schweigen legte sich über die Halle.
»Aber«, fuhr Gaios schließlich fort, »ich befürchte, dass es mittlerweile nicht mehr in meiner Hand liegt, selbst, wenn ich es wollte. Gaialan hatte viel Zeit, an Macht und Magie zu gewinnen. Ich hingegen habe in den letzten Jahrzehnten nur noch wenig getan, um in Übung zu bleiben. Ich habe es mir in meinem Häuschen und mit meinen Tieren bequem gemacht und mir von dort das Geschehen in der Welt angeschaut. Und dabei bin ich alt und schwach geworden.«
»Aber du könntest doch, wenn du wolltest … und üben würdest!«, unternahm Mondschatten einen schwachen Versuch, brach aber gleich selber ab. Sie wusste, dass es hier nicht mehr um die Wahl ging, ob sie Gaialan entgegentreten würde, sondern nur noch darum, wie gut sie vorbereitet war. Die Entscheidung hat damals schon das Schicksalslos gefällt, dachte sie. Laut fragte sie trotzig: »Aber warum habt ihr beiden dann noch nicht mit meiner Ausbildung angefangen? Und wozu muss ich Holz hacken, Eisen schmieden und Ställe ausmisten können?«
»Hat es dir denn gar keinen Spaß gemacht?« Mulantan lächelte sie milde an.
»Ja, schon«, gab Mondschatten zu. »Aber wie genau soll mir das helfen, Gaialan zu …«, sie schluckte, »… zu besiegen? Es weiß doch keiner, was sie vorhat!«
»Das ist richtig, Mondschatten. Deswegen ist es umso wichtiger, dass du all das zu beherrschen lernst!«
»In Ordnung, aber wann lerne ich denn endlich nun von euch beiden, was in mir wurzelt?« Sie sah die Magier herausfordernd an. »Das, was mir die Magierinnen und Magier hier beibringen, kann ich alles schon. Das habe ich schon als kleines Kind gekonnt!«
»Soso, das kann sie schon alles«, murmelte Mulantan. Die Magierin verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und begann, bedächtig hin und her zu laufen. Dann blieb sie direkt vor Mondschatten stehen, blickte auf sie hinab, lächelte und sagte: »Wenn das so ist, können wir gleich morgen früh sehen, was du wirklich alles kannst!«
Kapitel 3
in dem Mondschatten ihre Grenzen gezeigt werden
Brrr, ist das kalt! Mondschattens Zähne klapperten aufeinander. Sie zog die Jacke enger um sich und lockerte ihre Schultern. Konzentrier dich!, befahl sie sich. Sie hob ihre Arme und überlegte angestrengt, welche Worte sie nutzen musste, um den Erdhaufen vor sich in das offene Waldloch zurückzuheben. Aber es war, als ob alles, was sie einmal gewusst hatte, verpufft war. Es hat doch sonst auch immer geklappt!
In dem Moment fuhr ein kalter Windhauch durch ihre Kleidung. Erschrocken senkte sie wieder ihre Arme. Unglücklich sah sie Mulantan an, die am Rand der Lichtung stand und sie beobachtete.
»Vielleicht möchtest du doch lieber ein bisschen Holz hacken?« Die Magierin zog eine Augenbraue hoch. »Dabei wird dir zumindest warm.«
Mondschatten schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Sie hob erneut ihre Arme und dachte angestrengt nach. Ohne Erfolg. Statt irgendwelcher magischen Worte herrschte gähnende Leere in ihrem Kopf.
Früher sind sie mir doch auch einfach in den Sinn gekommen. Und zwar, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Sogar damals im Kampf gegen Antilla! Warum klappt das denn jetzt nicht?
Das einzige, was sie wahrnahm, war das Rauschen der Blätter in den Bäumen.
Sie und Mulantan standen in dem Wald, der sich rund um die Burg ausdehnte. Es war früher Morgen, und es war kalt. Kalt und feucht. Die Sonne sandte gerade eben ihre ersten Strahlen über den Horizont. Raureif hatte sich über die Natur gelegt.
»Aber darum geht es doch, Mondschatten! Dass du dich eben nicht darauf verlässt, dass dir die Worte einfach so in den Sinn kommen. Es geht auch nicht darum, dass die Magie einfach so aus dir herausströmt. Du musst sie bündeln und lenken können! Du musst die alte Sprache der Magie beherrschen und somit die Elemente. So ein bisschen Kälte darf dich davon nicht ablenken!«
Mondschatten fühlte sich unwohl. Sie hatte Mulantan enttäuscht. »Es tut mir leid«, murmelte sie zerknirscht.
Mulantan strich ihr über den Kopf. »Es muss dir nicht leidtun. Du musst dich mehr anstrengen! Schüttle deine Gedanken ab. Die Angst, den Schmerz, die Wut und den Zorn. Selbst die Liebe zu deiner Familie und deinen Freunden! Denk an die drei Stufen. Erstens: loslassen.« Mulantan zählte die Stufen des Gedankenlesens an ihren Fingern ab. »Zweitens: Lösungen finden und Gedanken lesen. Und schließlich drittens: diejenigen verwirren, die deine Gedanken lesen können.« Die Magierin entfernte sich wieder einige Schritte und ging auf und ab. Dann drehte sie sich abrupt um. »Fangen wir noch einmal an.«
Sie blieben im Wald und übten, bis die Sonne sich über den Rand des Horizonts geschoben hatte. Am Ende hatte es Mondschatten zumindest geschafft, den Erdhügel ein wenig abzutragen.
»Immerhin ein Anfang«, sagte Mulantan und nickte zufrieden. »Jetzt geh schnell zu Erysel, dein Frühstück steht bestimmt schon bereit. Anschließend findet dein übliches Training mit Eranol statt. Dann folgen die Ställe, der Hof und deine anderen Arbeiten. Wir treffen uns am Nachmittag wieder hier.« Die Magierin zeigte auf das Loch im Boden. »Du siehst ja, es muss noch eine Menge Erde zurück an ihren Platz.«
Mondschatten stöhnte innerlich. Ich hätte mir nicht wünschen dürfen, dass Mulantan und Gaios mich lehren. Jetzt habe ich noch mehr zu tun!
»Und, Mondschatten?«
Mondschatten sah die Magierin fragend an.
»Während deiner Aufgaben könntest du ein wenig das Beherrschen deiner Gedanken üben.« Mulantan hob ihren Zeigefinger. »Unter anderem dafür waren sie gedacht.«
Mondschatten schnitt verlegen eine Grimasse und nickte. Dann wandte sie sich um, lief zur Burg, schlüpfte durch das offene Tor und erreichte Erysels Turm. Sie nahm nur eine Kleinigkeit zu sich. Gleich im Anschluss rannte sie auf den Hof und nahm ihr Training mit Eranol wieder auf. Der Krieger schonte sie nicht, sondern verlangte die gleiche Aufmerksamkeit wie schon in den Wochen davor.
»Was ist denn los?«, trieb er sie an. »Müssen wir wieder am Anfang beginnen?«
»Aber ich …«, begann Mondschatten mit ihrer Verteidigung.
»Jaaa?«, fragte Eranol und zog seine Stirn in Falten.
»Nichts.« Mondschatten schüttelte ihren Kopf. »Schon gut.« Sie biss die Zähne zusammen und hob ihr Schwert.
Vata betrachtete das Ganze von der Burgmauer aus.
Nach dem Training ging es zum Holz hacken in den Wald und gleich im Anschluss in die Ställe, um sie auszumisten. Hier blieb sie etwas länger und schüttete Nachtwind und Vata ihr Herz aus. »Erst lassen sie sich wochenlang nicht blicken, und dann ist Mulantan gleich so streng mit mir!«, beschwerte sie sich.
Am Nachmittag erwartete die Magierin sie bereits. Ohne viele weitere Worte begann Mondschatten, sich auf ihre Übungen zu konzentrieren. Sie atmete tief ein, fasste an ihren Anhänger und ließ all ihre Gedanken los. Ich bin viel zu müde, um mir über irgendetwas Gedanken zu machen, dachte sie und schloss ihre Augen.
Ein und aus, ein und aus, ein und aus, ein und … Mit einem Mal begannen sich ihre Arme zu heben. Wie von selbst, aber auch von ihr gewollt. In ihrem Bauch begann sich eine Kraft zu sammeln.
Grün, dachte Mondschatten. Die Kraft der Erde ist grün.
Und es war, als ob sich ein Saatkorn gemächlich in ihr öffnete und seine Energie an sie übergab. Und mit dieser Energie kamen die Worte. Alte Worte, die von Vertrauen und Glauben erzählten. Mondschatten wusste nicht woher, aber sie erinnerte sich. Diese Worte waren wie ein Teil von ihr, ein Teil, den sie lange nicht gespürt hatte.
Sie öffnete ihre Augen und sah das Grün, das aus ihr herausströmte und sie umwob wie eine schützende, kraftvolle Hülle. Ihr Blick wanderte zu dem Erdhügel. Und sie befahl ihm in der alten Sprache der Magierinnen und Magier, in das Waldloch zurückzukehren.
Erst geschah nichts. Aber Mondschatten ließ sich dadurch nicht beirren. Sie genoss die Energie des Saatkorns und die Macht der Worte, die sie weiter vor sich hinmurmelte.
Endlich begann sich Erde zu bewegen. Erst bröckelten nur einige Erdkörner in das Loch. Mondschatten sprach lauter, und die Worte drangen kraftvoller und bestimmter aus ihr heraus; am Ende rutschte der Erdhügel zurück in das Loch.
Mondschatten senkte ihre Arme. Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Gut gemacht«, sagte Mulantan knapp. »Das soll für heute reichen.« Sie schirmte ihre Augen gegen die späten Strahlen der Sonne ab. Gleich würde der feurige Ball hinter den Baumspitzen verschwinden. »Komm, wir gehen zur Burg, bevor alles im Dunkeln liegt.«
Schweigend gingen sie nebeneinander her, betraten den Hof und trennten sich vor Erysels Tür.
Erysel und Eranol saßen am Küchentisch, als Mondschatten die Tür aufzog und den Turm betrat. Erysel stand auf und eilte ihr entgegen. »Möchtest du noch etwas essen?«
Mondschatten schüttelte ihren Kopf. »Ich hab keinen Hunger. Ich will nur noch ins Bett. Gute Nacht.«
»Aber …«, begann Erysel, doch Eranol unterbrach sie: »Lass sie! Die ersten Tage sind immer anstrengend. Du wirst sehen, bald schon wird Mondschatten ihren Rhythmus finden.«
Mondschatten stieg die Treppen zu ihrer Kammer hinauf, zog ihre Kleidung umständlich aus und ließ sie einfach da liegen, wo sie hinfiel. Sie kämpfte müde mit ihrer Nachtwäsche, kroch anschließend unter die Bettdecke und schlief sofort ein.
Kapitel 4
in dem die Sprache der Magie an Kraft gewinnt
Die folgenden Tage unterschieden sich nur wenig: Noch vor Sonnenaufgang wurde Mondschatten von Erysel geweckt, lief in den Wald, bewegte die Erde, trainierte anschließend mit Eranol, säuberte die Ställe und zerkleinerte Holz. Anschließend ging es wieder zurück zu Mulantan in den Wald und zu dem Erdhügel.
Und am nächsten Morgen, nach einer viel zu kurzen Nacht, begann alles wieder von vorne.
Manchmal stahl sie sich ein wenig Zeit und ritt mit Nachtwind und Vata in den Wald. Sie genoss diese seltenen Augenblicke mit ihren Tieren, sie genoss den Wind und den Geruch des Herbstes.
Ganz allmählich aber veränderte sich etwas. Nur unmerklich, aber stetig.
Am vierten Morgen kam Erysel in Mondschattens Zimmer und wollte sie wecken. Die aber stand schon fix und fertig angezogen vor ihr und war bereit für den neuen Tag und ihre Aufgaben.
Mit der Zeit wurde Mondschatten der Umgang mit der Erde immer vertrauter; bis sie schließlich die Worte des Elements aus sich selbst hervorbringen konnte – ohne erst danach suchen zu müssen.
»So«, stellte Mulantan eines Morgens fest. »Ich denke, mit dem Element Erde bist du nun ausreichend vertraut. Wir können uns der nächsten Kraft widmen: dem Wasser.«
»Wie, das war alles?« Mondschatten runzelte die Stirn und zeigte zu dem Loch, aus dem sie in den vergangenen Tagen und Wochen die Erde immer wieder raus und rein bewegt hatte. »Mehr ist es nicht?« Ihre Schultern sackten nach vorne, und sie stieß alle Luft aus ihrem Mund. »Und damit soll ich Gaialan besiegen?«
»Nein, Mondschatten, das ist nicht alles.« Die Magierin trat auf Mondschatten zu. »Aber dies ist alles, was du brauchst, um weiter darauf aufzubauen. Du kennst nun die Worte, die du auf alles, was mit der Erdkraft zu tun hat, übertragen kannst.« Sie sah Mondschatten ernst an. »Keiner kann jede mögliche Situation, die ihm begegnen könnte, vorher durchspielen.« Die Magierin verstummte für eine sehr lange Zeit. Mondschatten dachte schon, dass sie nichts weiter sagen würde, als Mulantan plötzlich ergänzte: »In deinen Prüfungen wird sich zeigen, wie gut du vorbereitet bist.«
»Prüfungen?« Mondschatten riss die Augen auf. »Was für Prüfungen?«