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Lilith nimmt uns mit durch die Nacht. Eine Nacht, in der sie nach Jahrzehnten auf Otto wartet. Nochmals gerät sie in die Schwebe ihrer gleichzeitigen Liebe zu zwei Männern. Erinnerungen an die Begegnungen mit Otto, Drahtseilakte ohne Netz, und an den Alltag mit Joe, ein Alltag, wie sie ihn sich gewünscht hatten und den sie nicht ertrugen. Während Lilith sich ihrer Vergangenheit stellt, versucht auch Joe, sich auf eine innere und äußere Reise zu begeben. Er begreift, dass er erst über Otto wiederentdeckte, wie sehr er im Bann von Lilith stand und womöglich noch steht. Wer inspiriert wen, wer liebt wen? Lilith beginnt zu erkennen - um am frühen Morgen eine andere zu sein.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Lilith nimmt uns mit durch die Nacht. Eine Nacht, in der sie nach Jahrzehnten auf Otto wartet. Nochmals gerät sie in die Schwebe ihrer gleichzeitigen Liebe zu zwei Männern. Erinnerungen an die Begegnungen mit Otto, Drahtseilakte ohne Netz, und an den Alltag mit Joe, ein Alltag, wie sie ihn sich gewünscht hatten und den sie nicht ertrugen.
Während Lilith sich ihrer Vergangenheit stellt, versucht auch Joe, sich auf eine innere und äußere Reise zu begeben. Er begreift, dass er erst über Otto wiederentdeckte, wie sehr er im Bann von Lilith stand und womöglich noch steht. Wer inspiriert wen, wer liebt wen?
Lilith beginnt zu erkennen – um am frühen Morgen eine andere zu sein.
Susanne Niemeyer-Langer, (*1955) in Bremen, lebt in Freiburg im Breisgau. Ihr Interesse, sich in andere hinein zu versetzen und dabei gleichzeitig Anteile von sich selbst kennen zu lernen, ließ sie zunächst als Schauspielerin, später als Ärztin und Psychotherapeutin arbeiten. Und letztlich begann sie auch deshalb zu schreiben.
Sie publizierte bisher ein Sachbuch. Dies ist ihr erster Roman.
SUSANNE NIEMEYER-LANGER
ROMAN
Jede Übereinstimmung mit lebenden Personen oder mit Kunstwerken – abgesehen von den Bildern Chagalls – ist rein zufällig und nicht von der Autorin beabsichtigt.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2022 Lauinger | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger
Projektmanagement: Miriam Bengert
Lektorat/ Korrektorat: Lina Phillip, Franziska Rost, Sandra Ritzinger
Umschlagabbildung/ Innenabbildung: »Lilium«, SG McKenzie, Victoria, Australia.
Druck: Florjancictisk d.o.o., Maribor, Slowenien
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
ISBN: 978-3-7650-9152-0
Dieser Titel erscheint auch als E-Book:
ISBN: 978-3-7650-9153-7
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Das Buch
Die Autorin
1. Auf dem Berg
2. Lilith
3. Joe
4. Lilith
5. Joe
6. Lilith
7. Joe
8. Lilith
9. Lilith
10. Lilith
11. Joe
12. Lilith
13. Lilith
14. Lilith
15. Joe
16. Auf dem Berg
Danke
Zitatnachweis
Schlaf nicht wieder ein
Die Brise bei Tagesanbruch will dir Geheimnisse verraten
Schlaf nicht wieder ein.
Verlange nach dem, was du wirklich willst.
Schlaf nicht wieder ein.
Die Menschen gehen hin und her über die Türschwelle,
wo die Welten sich berühren.
Die Tür ist rund und offen.
Schlaf nicht wieder ein.
Rūmī
Schritt für Schritt nähert sie sich den Tönen, außer Atem, schwitzend vom steilen Aufstieg. Wenigstens können weder Wimperntusche noch Make-up verlaufen. Sie ist ungeschminkt, vollkommen ungeschminkt. Die ungeschminkte Lilith.
Immer deutlicher erkennt sie die Melodie und die Art des Spiels. Der Klavierspieler duldet keine Fehler. Häufig unterbricht er sich, um wenige Takte vorher nochmals einzusetzen.
Sie sieht ihn vor sich, als einen flimmernden Film, Otto, wie er behutsam den Klavierdeckel öffnete und sagte: »Die Sonate fängt mit einem Adagio an, ihr fehlt der erste schnelle Satz.« Währenddessen sah er sie an, mit diesen Huskyaugen. Dann beugte er sich über sein Instrument, heftete den Blick fest auf die Noten, nur seine Finger bewegten sich noch.
Gleich hat sie das Haus, aus dem die Musik dringt, erreicht. Für Lilith, die sich in den Klängen der Sonate und in ihren Gedanken verloren hat, ein zeitloser Aufstieg. Schon steht sie auf der Anhöhe oberhalb der Stadt Freiburg vor dem Grundstück. Talwärts wird es mit einem kniehohen Fels zum Weg hin abgegrenzt, bergwärts durch den beginnenden Wald, der weiter über die flachen Ausläufer der Schwarzwaldberge zieht.
Ihre Atemzüge sind wieder gleichmäßig, und sie ist ruhig, viel ruhiger als sie angenommen hat, denn sie ist hier, bei ihm.
Vorsichtig späht sie durch das lückenhafte Grün von Rhododendren, Kirschlorbeer und Gestrüpp auf Haus und Garten.
Geduckt unter hohen Robinien liegt das Haus, das Gesicht im Schatten eines tief hinunter reichenden Giebeldaches verborgen. Die Gardinen der Gaubenfenster sind zugezogen, als sehe es nicht in die Welt. Nur durch eine gekippte Luke im Dach scheint es Luft zu holen und Laute, fließend und wieder abgehackt, von sich zu geben. Vorgelagert wie ein ausladendes Kinn, erstreckt sich die über mehrere Steinstufen erhöhte Veranda. Durch ihre fast blinden Scheiben ist die eigentliche Eingangstür kaum zu erkennen, lediglich ein dunkles Loch ist zu erahnen, gleich einem geöffneten doch wortlosen Mund.
Und auf dem hinteren Dach thront eine Glaskuppel. Tatsächlich, eine Glaskuppel! Angeklebt an das alte Gemäuer wie ein Froschauge oder eine Luftblase.
Glaskuppeln, Ottos architektonische Handschrift! Auf sein Loft in einem der ersten Freiburger Hochhäuser und auf Dächer in Paris hat er die gesetzt – aber auf dieses Haus?
Verwirrt tritt Lilith zwei Schritte zurück und schüttelt ungläubig den Kopf. Otto, der Ästhet, der keinen Fingerabdruck auf der Glasplatte seines Couchtisches von Le Corbusier ertrug, soll diese Kuppel entworfen haben? Er, der die Lichteinfälle durch die große Kuppel über seinem Loft stundenlang vermaß und durch Deckenbeleuchtungen ergänzte, um damit die Tiefen in seinem Chagall-Bild wirkungsvoll auszuleuchten.
»Völlig daneben«, hat der Kollege vom Kindertheater vor kurzem gesagt, »oben am Hang, ein altes Haus mit einer Glaskuppel.«
Ja, dieser Bruch hier vor ihren Augen entspricht nicht Ottos Geschmack, aber vielleicht seinem Hunger nach Genialität. »Wer talentiert ist und hart arbeitet, muss sich auch mal was trauen«, sagte er und hob dabei bescheiden seine Hand nur ein Stückchen nach oben, bevor er sie wieder fallen ließ.
Der Klavierspieler wiederholt den Anfang der Sonate, auf dieselbe Weise wie vor fünfundzwanzig Jahren. Offenbar ist er hängen geblieben. Wenn sie damals, links neben ihm am Klavier stehend, die Seiten seiner Noten zu früh umblätterte, ihren Blick auf seinem vollen Haar ruhen ließ und abschweifte, dann hatte sie auch in jenen Tagen nicht bemerkt, dass er hängen geblieben war, wieder weiter vorn eingesetzt und sein Zeichen zum Umblättern, ein Kopfnicken, ausgesetzt hatte.
Entlang des Weges bergauf folgen ihre Augen dem Lauf eines zwischen Zweigen und Blättern kaum erkenntlichen Gitterzaunes bis hin zum schmiedeeisernen Eingangstor. Dahinter verbirgt sich eine halb gemähte Wiese, durch die ein bemooster Pfad vorbei am Apfelbaum, rostigen Laternen, Farnen und einer Silberweide zu den Steinstufen der Veranda führt. Leere Pflanzenkübel stehen achtlos abgestellt herum.
Der Garten wirkt zu vernachlässigt für seinen Ordnungssinn.
Der Klavierspieler wiederholt den letzten Takt, kommt fließend hinweg über die beiden kurzen Auflösungen in Dur, stockt und setzt einige Takte davor wieder ein. Er gibt nicht auf – immer noch nicht. Unwillkürlich muss sie lächeln.
Und sie will jetzt nicht zweifeln, nicht denken, sie will hier sein, vor seinem Garten, vor seinem Haus. Sie greift in ihre große Handtasche und zieht die dünne eingerollte Alumatte heraus. Ein lebenswichtiges Teil, das sie schon vor vielen Blasenentzündungen bewahrt hat. Sie legt die Rolle auf den Fels und setzt sich darauf.
Den Rücken zum Haus gewendet, ihre Stiefel fest auf den Boden geheftet. Vor sich den abfallenden Hang, im Licht der tiefstehenden Septembersonne die vereinzelten Häuser, die Stadt im Tal und die ferne Bergkette der Vogesen im Westen. Hinter ihren geschlossenen Lidern das gelbliche Licht der letzten Sonnenstrahlen und Otto – Otto auf dem Hocker vor dem Klavier sitzend, die rechte Hand auf den Tasten, die linke in der Luft, in Richtung der tiefen Töne.
Seine vorschnellen Griffe konnten den Resonanzkasten nicht in harmonische Klänge versetzen, und doch konnten diese Finger ihrem Körper ungeahnte Schwingungen entlocken. Rauschende Wellen.
Der jahrelange Rausch, der sie davongetragen hat, nur geerdet durch Joe.Durch Joes Intensität, die schon lange nicht mehr darin lag, wie er sie in seinen Bildern malte, doch die immerhin in seiner Eifersucht zu finden war. »Was willst du mit diesem Normopathen?«, fuhr er sie an. Joe sitzt vermutlich in diesem Moment schon im Flugzeug, mit Whisky im Bauch und dem Bild von Sallys perfektem Po im Kopf. Nach Neuseeland ist er aufgebrochen, wo er Lena, ihre gemeinsame Tochter, wiedersehen will.
Lena. Liliths Lippen werden weich. Lena, die ihr innerlich so nah und geographisch so fern ist.
Der Klavierspieler stolpert erneut und gibt keinen Ton mehr von sich. Lilith zieht überrascht die Augenbrauen hoch. Otto, wie sie ihn kannte, brach sein Spiel nur selten mitten im Satz ab, nahm die Noten vom Ständer und ließ das Instrument noch einmal aufächzen, indem er den Klavierdeckel den letzten Zentimeter fallen ließ. Gleichzeitig hob er seine Schultern, ließ sie ebenfalls fallen und stieß zwei Worte aus: »Die Mondscheinsonate«. Es lag auch etwas Entschuldigendes in seinem Schulterzucken, für ein romantisches Unwort wie Mondscheinsonate aus seinem Munde, für das ganze Vorhaben, er Otto, spiele die Mondscheinsonate.
Ottos Klavierspiel ist immer noch verstummt.
Für Lilith ein Schweigen, sein Schweigen, das sich in ihr ausbreitet und alles erfasst. Sie sieht einen Jogger lautlos den Berg hinauf, am Grundstück vorbei, in den Wald laufen, eine Amsel still im Gras picken. Das entfernte Rauschen des Straßenverkehrs und die hallenden Rufe spielender Kinder im Tal nimmt sie nicht mehr wahr. Sie ist vertieft in ein vereintes Schweigen mit Otto – es ist nicht das gefrorene der letzten fünfundzwanzig Jahre.
Mit einem Ruck erhebt sich Lilith. Fast dankbar spürt sie den Schmerz im Rücken. Ein Stechen, das sie wieder ganz wach werden lässt. Sie reckt ihre steifen Glieder und beginnt, auf und ab zu gehen, den Weg vom Fels hinauf bis zum Waldrand und zurück. Wieder und wieder. Nur einmal verweilt sie kurz, um die Alumatte zurück in ihre Handtasche zu packen.
Wenn er jetzt an einem der Fenster mit Blick auf den Weg stehen würde, wenn er sie jetzt erkennen würde. Aber er wird nicht hinausschauen. Das hieße, er würde sich für das Leben anderer Menschen interessieren. Doch falls, falls er sie sehen würde, hätte sie verloren, er würde sich zurück in sein Gehäuse verziehen, wie er es immer getan hat. Zweifel überkommen sie. Lebt er wirklich hier? Ist er allein? Entschlossen stellt Lilith sich direkt vor das schmiedeeiserne Eingangstor und hat nun eine deutliche Sicht auf den Hauseingang gewonnen.
Nirgends entdeckt sie Hinweise, die für Kinder oder Enkel sprechen. Keine Fahrräder, keine Schaukel. Lediglich ein Schubkarren, aus dem ein Spaten ragt, steht neben der Eingangstreppe. Doch dort, am Eingang zur Veranda, auf der Fußmatte, entdeckt sie zierliche schwarze Ledersandalen mit hohen Absätzen.
Aufgeregt greift Lilith mit der rechten Hand in ihre Tasche und fingert eilig darin herum, bis sie ein verknittertes Päckchen Marlboro hervorzieht. Nur noch ein paar vertrocknete Zigaretten – egal. Erneut sucht sie in ihrer Tasche und findet Streichhölzer. Zweimal bläst der Wind das Feuer in ihren unruhigen Händen aus, dann hat sie es geschafft.
Bitter schmeckt die Zigarette, dennoch zieht sie trotzig daran, atmet den beißenden Rauch ein, spürt den Schwindel im Kopf. Er hat nie geahnt, dass sie ab und zu geraucht hat. Nie ist sie in seiner Anwesenheit auf die Idee gekommen, irgendetwas anderes als ihn zu inhalieren.
»Wer raucht, braucht die Zigarette, um sich daran festzuhalten«, sagte er, dabei wurden seine vollen Lippen schmaler.
Ihre Augen sind auf die fremden Schuhe gerichtet. Jetzt weiß sie, dass sie sich nicht hineinwagen wird. Zumindest nicht in sein Haus, vielleicht aber in seinen Garten. Sie wird warten.
Irgendwann muss er herauskommen – er oder diese Frau. Schließlich müssen sie einkaufen, frische Luft atmen, den Müll wegbringen oder etwas anderes. Na ja, er wäre in der Lage, tagelang drinnen zu bleiben, ohne es zu bemerken.
Das Haus wirft im Schein der untergehenden Sonne einen langen Schatten auf Lilith und das Eingangstor. Die Kühle des Bodens zieht durch die Stiefel in ihre Füße, steigt langsam in ihrem Körper auf und dringt in ihre Knochen ein. Sie muss sich bewegen, wieder dieselbe Strecke, zum Waldrand hin und zurück zum Fels. Warum friert sie, es ist doch ein lauer Septemberabend? Vielleicht ist es die Feuchtigkeit.
Lilith zieht ihren langen Seidenschal aus der Manteltasche und schlingt ihn doppelt um ihren Hals.
Sie erinnert sich, wie er einst sanft ihren Schal von ihrem Hals wand, mit seinen Handrücken über ihre Wangen strich, seine Hände abwärts gleiten ließ und drehte, bis sie sich um ihren Hals legten. Wie seine Finger sich in ihrem Nackengrübchen verschränkten, wie der leichte Druck seiner Daumen sich auf ihren Kehlkopf legte.
»Ganz oder gar nicht.«
Sie fröstelt.
»Ganz oder gar nicht«, sein Ton gnadenlos.
Wie sie sich vorsichtig aus seinem Griff löste, indem sie drei Schritte rückwärtsging, wie sie sich schüttelte und spitz auflachte.
Sie wirft die Zigarettenkippe auf den Boden und dreht sie mit ihrem Absatz in die Erde, immer weiter und heftiger bohrt sie, bis der letzte Rest des Stummels zermalmt ist.
Lilith setzt sich auf den Fels, blickt auf den blau leuchtenden Himmel und reibt sich die Stirn.
Als würde er neben ihr stehen, hört sie Otto förmlich erklären, wie diese besondere Blaue Stunde nach Sonnenuntergang zustande kommt. Dass die letzten Strahlen der Sonne schräg in die Atmosphäre fallen und deren kurzwelliges Blau am stärksten gebrochen und über den Himmel gestreut wird. Dabei würde er mit seinem rechten Arm weit ausholend, fast stolz, auf den Himmel deuten, als hätte er auch hier die perfekte Deckenbeleuchtung eingestellt.
Und schon wird das Blau des Himmels von aufziehenden Wolken verdeckt und auch ihre Gedanken ziehen weiter, werden von neu aufgeworfenen Fragen und Erinnerungen verdrängt.
Vor Jahren – nein, vor Jahrzehnten, Lena ist noch nicht in die Schule gegangen – im September 1990, auf der Vernissage von Bartman, Bartmans Schlauchwerke, hat es den Moment gegeben, der ihr Leben verändert hat. Oder musste ihr Leben geändert werden, hat es deshalb diesen Moment gegeben, diesen Augenblick, in dem sie innerlich nachgegeben hat? Eine Frage, die sie sich heute stellt.
Die Vernissage war eine Retrospektive anlässlich von Bartmans siebzigstem Geburtstag. Zwar war der Künstler inzwischen einundsiebzig, aber immerhin war es Vivi gelungen, ihn halbwegs zeitnah in ihre Galerie Vivian Vermont oberhalb der Stadt einzuladen.
Lilith hatte sich mit Lena in den Park der Gastgeberin zur Sandkiste hin geflüchtet. Sie setzte sich auf einen Sockel, das Champagnerglas in der Hand, und schaute ihrer Tochter zu, wie sie mit anderen Kindern zu spielen begann. Es schien ihr, als wären hunderte von Besuchern gekommen. Einige Leute kannte sie nicht, die übrigen interessierten sie nicht. Hauptsache, sie war weg von zu Hause, weg von Joe. Hauptsache, sie hatte ihre Ruhe. Doch die Ruhe war gefährdet, Trauben von Menschen umringten im Park und auf der Terrasse die Skulpturen von Bartman. Weit mehr Gäste als üblich tummelten sich auf dem Anwesen. Offensichtlich hatte es gewirkt, dass Vivi Bartman, dessen Schlauchwerke heute gefeiert wurden, schon im Vorfeld als Avantgardisten präsentiert hatte. Oder aber der Kreis der Stammgäste, die das Ambiente schätzten, das Vivi in ihrer Villa in einem der reichen Wohnviertel oberhalb Freiburgs herzustellen wusste, hatte sich beharrlich erweitert.
Durch eine Lücke zwischen gediegen gekleideten Körpern, erkannte Lilith eines der Werke: Einen mannshohen Gartenzwerg, der einzig aus verschiedenfarbigen unterschiedlich breiten Schläuchen bestand, die kunstvoll in- und umeinander geschlungen waren. Wie war es Bartman gelungen, diesen Figuren Stabilität zu verleihen, fragte sie sich. Wahrscheinlich hatte er die Gummischläuche mit langsam erhärtendem Kunststoff ausgegossen, überlegte sie weiter und sah zu, wie eine Dame mit Sonnenhut dem Zwerg über seine schlauchige Zipfelmütze tätschelte.
»Eine Parodie auf das Kleinbürgertum, dem die Großbürger erliegen«, hatte Joe anerkennend im Vorfeld gesagt und dennoch einen Grund gefunden, der Vernissage fernzubleiben, um sich nicht seiner Angst vor Menschenansammlungen stellen zu müssen.
Lilith seufzte, auch ihr waren es heute zu viele Menschen hier. Sie sollte Lena zu sich rufen, ihre Tasche nehmen und verschwinden. Während sie sich erhob und ihr rotes Kleid glatt strich, sah sie Vivi auf der Terrasse promenieren. Die Galeristin hatte Bartman freundschaftlich untergehakt und ging mit ihm von Tisch zu Tisch. Vermutlich wusste sie ihn den Gästen als einen ihrer besten Freunde vorzustellen.
Der Künstler, unscheinbar, mit schütterem farblosem Haar und ein gutes Stück älter und kleiner als die hochhackige Vivi, schien einen gewissen Widerstand an den Tag zu legen, denn er wurde mit sichtlichem Abstand von der Gastgeberin hinterher gezogen.
Lilith ließ ihren Blick weiter schweifen, über die Ziegeldächer des alten Stadtkerns hinaus; der Turm des Münsters ragte bereits in das Stahlblau eines hohen Himmels. Die ferneren Wohngebiete und wenigen Hochhäuser im Südwesten der Stadt lagen noch im spätmorgendlichen Dunst. Neben sich hörte sie die Krabbelkinder im Sand buddeln oder Kuchenformen auf die hölzerne Umrandung der Sandkiste klatschen. Ein älterer Junge brummte mit einem Plastiktraktor über ein Brett.
Lena hatte sich still auf einem Baumstumpf gesetzt, auf den Knien ein Bilderbuch, das als Unterlage für eine weiße Papierserviette diente, die von ihr mit Filzstiften bearbeitet wurde. Konzentriert, die Nase dicht über ihrem Werk, malte sie eines ihrer Hundebilder darauf.
»Guck mal, Mama! Charlie schüttelt sich im Regen, wie es aus seinem Fell spritzt!«, rief sie schließlich.
Sie hockte sich zu Lena und bewunderte die grünen Wasserspritzer auf deren Zeichnung. Sie lachten beide, ihre Tochter mit der hellen Glockenstimme ein wenig lauter.
Lilith strich ihr langes Haar zurück und neigte den Kopf zur Seite, als sie ein Grüppchen an dem Korbtisch unter der nahegelegenen Kastanie entdeckte.
Zwei Männer und eine Frau, die gelassen Kaffee und Cognac tranken, so, als sei das Leben pures Dasein. Frei von Zwist, Ehestreit und gesellschaftlichen Anstrengungen. Sie saßen hier einfach herum, plauschten beiläufig oder schauten vor sich hin.
Irgendwo, ganz hinten im Hirn, kannte Lilith diese Stimmung noch. Einfach dahintreiben. Ohne zu denken. Stundenlang.
Der kahl geschorene Kopf der Frau hob sich eindrucksvoll von den übrigen frisch frisierten Damenköpfen ab. Schulterlange Muschelohrringe baumelten um ihren schlanken Hals während sie Unmengen von Zucker in ihre Tasse schüttete. Einer der beiden Männer ließ seine Augen desinteressiert umherwandern. Lilith betrachtete sein langes volles Haar, das im Nacken durch ein Lederband zusammengehalten wurde. In diesem Moment drehte er sich zur Seite und blickte sie unerwartet an.
Huskyaugen.
Lilith richtete sich auf und starrte auf ihr Glas.
Waren es nur diese Augen oder hatte in ihnen auch ein Überrascht sein, ein Wiedererkennen gelegen? Nein, sie war sich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Ihn nicht und diese Augen nicht.
Erstaunt spähte sie noch einmal in seine Richtung. Er unterhielt sich mit seinem Tischnachbarn, dabei wirkte er nun weniger gelassen. Ungelenk hob er sein Glas und trank. Seine Lippen waren voll.
Sicherheitshalber versuchte sie, sich auf seinen Nachbarn zu konzentrieren – Kurzhaarschnitt, abstehende Ohren, Brille, Jeans und Lederjacke, nicht unsympathisch, beruflich schwer einzuschätzen, vielleicht im Managementbereich der Kunstszene tätig. Einer der erfolgreichen Manager, der Ruhe bewahren und die extravagante Kleidung seinen Kunden überlassen konnte.
Mit gesenktem Kopf, verborgen hinter ihrem vorgefallenen Haar, folgte sie dem Blick des Managers. Soeben entdeckte der eine Brünette mit Sonnenbrille, die an einem der umstehenden Tische lehnte. Zielsicher starrte er auf deren ausladenden Brüste. Dabei schien er sich mehr oder weniger unbemerkt zu glauben, denn er leckte sich kurz mit der Zunge über den Mund.
Schwul sind die beiden jedenfalls nicht, schloss Lilith erleichtert.
Sie riskierte, das gesamte Grüppchen durch den Vorhang ihrer Haarsträhnen ins Visier zu nehmen, auch den Mann, der sie eigentlich interessierte.
Gerade stieß der Manager, wie sie den anderen getauft hatte, ihm seinen Ellenbogen in die Seite. Offensichtlich sollte er die Brünette begutachten, denn er sah zu ihr herüber. Gleich darauf wandte er jedoch seinen Kopf zurück und griff einen der Handzettel, auf denen Bartmans Lebensdaten, Ausschnitte aus Vivians Eröffnungsrede, festgehalten waren. Dabei schien sein Gesichtsausdruck Lilith teilnahmslos.
Sie musste lächeln. Wenn Vivi diese gleichgültige Mimik gesehen hätte. Wochenlang pflegte die Galeristin die Lebensläufe der Künstler, mit denen sie arbeitete, aufzupeppen.
Sie hatte es gewagt, Bartman als einen Avantgardisten der Moderne darzustellen. Bereits das Geburtsjahr des Künstlers, 1919, Gründungsjahr der Kunstschule Bauhaus, weise auf Bartmans rebellischen Geist hin, aufgrund dessen er erst spät sein Debüt habe erleben dürfen. Lange habe man seine Beiträge verkannt oder nicht wahrhaben wollen. Josef Bartman sei in der Landeshauptstadt Stuttgart geboren, aufgewachsen im Umfeld von namhaften Größen wie Willi Baumeister …
Der Unbekannte sah gelangweilt auf das Papier. War er mit derartigen Honorierungen vertraut oder musste er demonstrieren, dass die Brünette keinen Eindruck auf ihn machte? Vielleicht war er mit der Kahlgeschorenen liiert. Ja sie war hübsch, ihre schlanke Figur wurde durch einen engen schwarzen Pullover betont, der einen gekonnten Kontrast zu den weißen Muschelohrringen bot.
Je länger Lilith seine Tischnachbarin musterte, desto sicherer war sie sich, dass er mit ihr zusammen war, wahrscheinlich schon seit Langem. Eine dieser abgekühlten selbstverständlichen Beziehungen. Dazu passte doch, dass er nur mit seinem Freund redete, während sie daneben saß, dass er sich besser nicht zu offensichtlich für andere Frauen interessierte, zumindest nicht in ihrer Gegenwart.
Plötzlich fühlte Lilith sich schwer. Zur Ablenkung holte sie ihr Notizbuch aus der Handtasche, nahm einen von Lenas Stiften und versuchte, sich auf die Zutaten für das Abendessen zu konzentrieren. Den Tisch unter der Kastanie behielt sie im Augenwinkel.
Vollkornbrot mit Karotten, passte das? Ach, sie würde es später entscheiden. In ihrem Kopf war kein Platz für häusliche Angelegenheiten. Stattdessen bahnte sich ein anderer Gedanke beharrlich seinen Weg.
Wie gern hätte sie mit ihm zusammen am Tisch gesessen, einfach dagesessen und dem Pulsieren der Stadt gelauscht.
Unerwartet erhob sich die Frau, zog einen Sakko aus schwarzem Samt über und verabschiedete sich. Ein kurzes Nicken des Unbekannten und ein charmanter Gruß des Managers wurden mit einem dünnen Lächeln beige geschminkter Lippen erwidert. Keine Umarmung, kein Kuss, keine Verabredung.
Waren sie nur Bekannte, hatten sie sich hier zufällig getroffen?
Sie spürte neues Leben in sich aufkommen und ihren Rücken hinaufziehen. Gleich würde sie gezielt zu ihm schauen.
Rückblickend wird ihr bewusst, dass nur dieser erste Wunsch, ihn näher kennenzulernen, noch steuerbar und insofern entscheidend gewesen ist. Nur zu diesem Zeitpunkt hat sie noch die Wahl gehabt, dem Drang, diesen Mann zu ergründen, innerlich nachzugeben oder nicht.
Doch sie hatte sich nicht mehr zurücknehmen wollen. Der Alltag mit Joe – die Streits, die Kränkungen, seine Frauengeschichten – war immer weniger auszuhalten gewesen. Es war ein Leben, das Joe und sie sich gewünscht hatten und das sie nicht mehr ertrugen.
Du hast doch nichts zu verlieren, beruhigte sie sich damals. Ein Spruch, der immer wirkte, obwohl er nicht stimmte. Jedenfalls nicht immer.
Sie drehte sich zum Tisch unter der Kastanie und sah direkt in sein Gesicht. Eine winzige Zeitspanne, in der sie in eine schonungslose Intelligenz hineingezogen wurde. Ein Augenblick. Und schon war er wieder außerhalb ihrer Reichweite, in sich selbst versunken. Dabei hätte sie schwören können, dass er sie wahrgenommen hatte.
Neben ihr schrie der Junge mit dem Plastiktraktor und rieb sich die Augen. Ein anderes Kind hatte ihn mit Sand beworfen. Kopfschüttelnd stellte Lilith fest, dass die Teenagerin, die vorhin auf ihn aufgepasst hatte, immer noch irgendwo im Park verschwunden war. Sie sprang auf, hob den Kleinen hoch und setzte ihn auf ihre linke Hüfte. Vorsichtig wischte sie ihm mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand die Sandkörnchen aus dem Gesicht, um ihn dann weiter auf dem Arm herumzutragen. Sein Weinen wurde leiser. Er legte den Kopf auf ihre Schulter. Vorbei am flaumigen Haar des Kinderkopfes, linste sie zum Tisch unter der Kastanie rüber.
Der Unbekannte war groß. Leicht vorgebeugt saß er am Tisch, dezent aber elegant gekleidet. Eine flache Armbanduhr, ein weißes Hemd, darüber ein schlichtes Jackett in Blautönen, ein diskretes Teil, das auf sie einen hochwertigen Eindruck machte. Womöglich war es sogar ein Designerstück, schätzungsweise von Armani.
Wie schafft es Vivi, derartige Gesichter im Armani-Jackett in eine Ökostadt zu locken, fragte sie sich.
War er ein Modeschöpfer auf Durchreise? Um ein Modeschöpfer zu sein, war er ihrer Meinung nach zu groß, waren seine Gesichtszüge zu intellektuell, bewegte er sich zu ungehobelt. Und ein Fotograf oder ein Journalist, der über die Vernissage berichtete, würde nicht so gelassen an seinem Platz herumsitzen, wie er es tat.
Sie setzte den Kleinen zurück auf seinen Traktor, klopfte den Sand von ihrem Kleid und begann, mit gestrafftem Rücken einen Bogen vorbei an seinem Tisch zur Terrasse zu gehen. Auf ihrem Weg zur Villa hielt sie kurz vor Bartmans Schlauchfenster, einem zwei Meter hohen, von goldenen Schläuchen umrahmten Spiegelglas, das frei im Garten stand. Im Spiegel des Kunstwerkes beobachtete sie, wie er versonnen ihren Beinen in den seidenen Strümpfen nachschaute.
Noch immer drängten sich die Gäste auf der Terrasse vor Bartmans Werken. Vivi war in ihrem Element, gerade winkte sie einer Bedienung, die Bartman Champagner reichen sollte. Der Künstler schüttelte den Kopf und ließ sich ein großes Glas Wasser bringen. Offenbar würde es in den nächsten Stunden keine Möglichkeit geben, Vivi eine Frage unter vier Augen zu stellen.
Lilith griff ein frisch gefülltes Champagnerglas vom Tablett und trat ihren Rückweg zur Sandkiste an. Wie zufällig warf sie in Richtung seines Tisches einen angedeuteten Gruß. Das Ergebnis war ein süffisantes Augenbrauenhochziehen des Managers.
Nur zu, dachte sie, soll der doch seinen Freund auf mich aufmerksam machen.
Aber nichts dergleichen geschah. Eine der Serviererinnen, eine biegsame Blondine, brachte ihnen ausgerechnet jetzt zwei gefüllte Cognacgläser und rotierte dabei mit der Hüfte. Der Manager schien einen Scherz zu machen, denn die Blondine lachte und auch der Unbekannte grinste. Warum nur musste diese Vermont stets die hübschesten Stu dentinnen als Bedienungen trainieren, erregte sich Lilith. Dabei setzte sie ihr Glas eine Idee zu heftig auf dem Sockel ab, ein Teil des Champagners schwappte über.
Kurz überlegte sie, ihr Champagnerglas nochmals zu greifen und vor seinem Tisch runterfallen zu lassen, verwarf den Gedanken jedoch schnell. Lächerlich. Alternativ könnte sie seinem Freund Avancen machen, an dem schien ja ohnehin kein Weg vorbeizugehen. Plump.
Nein, sie wollte allein mit ihm, dem Unbekannten, sprechen, zu zweit. Sie würde einfach weiter warten, irgendwann würde ihre Chance kommen.
»Mama, schau mal, was ich jetzt gemalt habe!«, rief Lena.
Widerwillig ließ sie sich von Lena Charlies Schnüffelspaziergang, eine längere Folge von kleinen Bildchen, erläutern.
Als sie wieder aufblickte, war sein Platz leer. Verlassen standen die Korbsessel unter der Kastanie, selbst die Kaffeetassen und die Cognacgläser waren verschwunden. Es kam ihr vor, als habe eine Katastrophe die beiden Männer weggefegt. An den übrigen umher stehenden Tischen saßen lediglich einige farblose Besucher. Ungeduldig strich sie letzte Sandkörnchen von ihrem Kleid, gab Lena einen Kuss und eilte zur Villa. Fast wäre sie mit Bartmans Gartenelfe, einer Dame ihrer eigenen Größe mit einem Körper aus schwarzen Fahrradreifen und mit Flügeln aus rosafarbenen Schläuchen, zusammengestoßen.
»Muss die da stehen!«, entfuhr es ihr.
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