Lillys magische Schuhe, Band 6: Die verschwundene Schildkröte - Usch Luhn - E-Book

Lillys magische Schuhe, Band 6: Die verschwundene Schildkröte E-Book

Usch Luhn

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Beschreibung

Diese magischen Schuhe schenken dir Mut, Selbstvertrauen und Stärke. Wenn du Lillys Hilfe brauchst, wirst du ihre geheime Schuhwerkstatt finden … Henry hat große Angst vor Wasser – ein echtes Problem für ein Kind, das an der Küste lebt! Zum Glück begegnet er der magischen Schuhmacherin Lilly und ihren Gefährten. Henry braucht dringend magische Schuhe, um seine Angst zu überwinden! Aber Lilly braucht auch Henrys Hilfe, denn plötzlich ist die Schildkröte Frau Wu verschwunden und Henry hat ein super Suchgerät: eine Drohne. Wie sich herausstellt, wurde Frau Wu entführt – auf die Insel, auf der auch Lillys Eltern gefangen gehalten werden! Entdecke alle Abenteuer in der magischen Schuhwerkstatt: Band 1: Die geheime Werkstatt Band 2: Die verbotenen Stiefel Band 3: Die zauberhaften Flügel Band 4: Der tanzende Drache Band 5: Der funkelnde Berg Band 6: Die verschwundene Schildkröte Band 7: Das kostbare Pferd Band 8: Die glitzernde Insel Adventskalender: Das Meer der Wünsche

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022, Ravensburger VerlagText © 2022 Usch LuhnOriginalausgabeCover- und Innenillustrationen: Alica RäthAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51144-0ravensburger.com

„Archibald, ich kann das Meer schon riechen!“, rief Lilly aufgeregt.

Gerade waren sie noch in den Alpen gewesen, wo Lilly Freundschaft mit Romy geschlossen hatte und auf Rollschuhen über die Bergstraßen geflitzt war. Das hatte so großen Spaß gemacht! Aber nun waren sie schon wieder unterwegs und Lilly war sehr gespannt darauf, wie ihr neues Versteck aussehen würde.

Frau Wu verhielt sich äußerst geheimnisvoll und wollte nicht damit herausrücken, wo genau sie dieses Mal unterkommen würden. Die Schildkröte, die seit Längerem als eine Mischung aus Beraterin, guter Freundin und Hausdame bei den Wunders wohnte, war leider keine Klatschtante. Selbst dem Drachen Monsieur Archibald, auf dessen Rücken sie flogen, hatte sie bisher nur die Koordinaten ins Ohr geflüstert.

Deshalb hatte Lilly sich fest vorgenommen, die Reise auf keinen Fall zu verschlafen. Denn eigentlich war das Schweben über den Wolken ziemlich langweilig. Doch dieses Mal wollte sie unbedingt wach sein, wenn der Drache zum Landeanflug ansetzte.

Es musste bald so weit sein. Archibald, Lillys gelehrter, aber etwas zimperlicher Hauslehrer, jammerte schon eine ganze Weile, dass ihn seine empfindlichen Flügelspitzen schmerzten. „Irgendwann wird uns Madame Wu ons End von der Welt verschicken“, klagte er. „Aber auch dos wird niechtz nutzen. DIE GIERIGEN finden ons öberall. En moment will isch nur noch in die tiefe Wosser abtochen und moin Flügelschen kühlän.“

O weh, DIE GIERIGEN. Lilly wurde ungern an sie erinnert. Diese böse Bande hatte es auf die Schuhwerkstatt von Clemens Wunder abgesehen. Denn Lillys Onkel war kein normaler Schuster. Er nähte magische Schuhe, eine Fähigkeit, über die nur wenige verfügten. Umso schöner, dass Lilly dieses Talent geerbt hatte. Sie war mehr als bereit, in Onkel Clemens’ Fußstapfen zu treten. Die magischen Schuhe waren nur für Kinder bestimmt. Sie verliehen ihnen Mut, Zuversicht und Stärke – und manchmal sogar Fröhlichkeit. Eigenschaften, die unentbehrlich waren, wenn gerade alles schieflief.

Dieses Mal brauchte ein Junge namens Henry wasserdichte Schuhe. Lilly hoffte sehr, dass er nett sein würde.

„Und nun fästhaltön. Äs gäht abwärrts!“, gab Monsieur Archibald das lang ersehnte Kommando.

Lilly wagte einen Blick in die Tiefe und stieß ein lautes Quietschen aus. „Hilfe, da ist ja gar kein Landeplatz“, rief sie. „Landen wir mitten auf dem Meer?“ Das viele Wasser sah gar nicht einladend aus. Es war fast schwarz und so unruhig, dass sich auf seiner Oberfläche immer wieder kleine Schaumkronen bildeten. Sie drückte beide Hände gegen ihr klopfendes Herz.

„Aber nein“, beruhigte Frau Wu sie. „Merkst du nicht, dass unser Monsieur wieder Drama macht?“ Sie zupfte den Drachen an seinen Schuppen. „Das ist nicht witzig, mein Lieber. Bitte landen Sie ordnungsgemäß, sonst muss ich demnächst einen Albatros für unsere Reise anheuern. Und der würde wieder unnötig Geld kosten.“

Der Drache stieß einen ungehaltenen Schrei aus. „So oin Ünsinn, Frau Wü. Isch mach nur ein petit Spaß, ein klitzekloine Witz muss isch auch von die Flug aben. Isch bin doch oigentlisch ein Filosoff und nischt ein Hubschraubör.“

Frau Wu lachte herzlich. „Das habe ich auch nicht gesagt. Aber unserer Lilly so einen Schrecken einzujagen, ist auch nicht die feine Art. Ich sehe da ein einsames Stück Sandbank, gar nicht weit entfernt von unserem Kapitänshaus. Kein Mensch weit und breit, eine gute Gelegenheit, flugs zu landen.“

Lilly klatschte begeistert in die Hände. Endlich hatte Frau Wu verraten, wohin es diesmal gehen würde. „Ein Kapitänshaus? Wir werden in einem richtigen Kapitänshaus wohnen? Das ist ja total spannend.“

Die Schildkröte nickte vergnügt. „Du wirst es nicht glauben, aber dein Onkel hat mir vor einer Stunde die gute Nachricht überbringen lassen, dass wir dieses besonders schöne Haus mieten dürfen.“

„Wie geht das denn?“, fragte Lilly verwundert. „Wir waren doch die ganze Zeit in der Luft.“

Der Drache mischte sich aufgebracht ein. „Ah, isch weiß, wälches fresche Vogeltier misch so geärgert hat. Die graue Gans, die misch umkreist hat. Hab isch recht?“

Frau Wu hob den rechten Fuß zur Bestätigung. „Korrekt, mein Lieber. Es war eine Wildgans. Eine gute Freundin von mir. Sie erledigt ab und zu Botenflüge für mich.“

Lilly schaute Frau Wu ehrfürchtig an. „Sie haben ja wirklich besondere Bekannte. Mit einer Wildgans befreundet zu sein, fände ich auch cool. Hat sie einen Namen?“

Die Schildkröte nickte. „Sie heißt Constanze. Wir können uns immer aufeinander verlassen.“

Lilly staunte. Frau Wu wohnte jetzt schon eine ganze Weile bei ihrem Onkel Clemens und ihr. Aber selbst nach der ganzen Zeit steckte die Schildkröte immer noch voller Überraschungen. Gerade war Lilly wieder sehr froh, dass es Clemens gelungen war, Frau Wu davon zu überzeugen, bei ihnen zu bleiben. Denn eigentlich war die Schildkröte eine Einsiedlerin, die am liebsten allein um die Welt reiste.

Mit Lilly, Clemens und Monsieur Archibald unter einem Dach zu wohnen, war für sie sicher ganz schön anstrengend und manchmal vielleicht sogar nervig. Deshalb nahm Lilly sich vor, Frau Wu häufiger zu zeigen, wie dankbar sie für ihre Hilfe war. Seit Lillys Eltern von den GIERIGEN entführt worden waren, hatte die Schildkröte sie immer wieder getröstet und ihr Mut gemacht, dass alles gut ausgehen würde.

Kurz bevor der Drache auf der Sandbank aufsetzte, hielt sich Lilly doch lieber die Augen zu. Ein paar sanfte Hopser, dann spürte Monsieur Archibald wieder festen Boden unter seinen zarten Füßen. „Oh bon“, stöhnte er zufrieden. „Dör Sandkorn spürt sisch weich unter meiner Haut. Très bien. Oin bisschen kitzlisch auf den Sohlen.“

Das hörte sich toll an. Lilly sprang ohne zu zögern von seinem Rücken.

„Muscheln!“, rief sie begeistert. „Da sind lauter hübsche Muscheln.“ Plötzlich war sie gar nicht mehr müde von der langen Reise. Sie zog sich Schuhe und Socken aus und wühlte mit den Zehen im kühlen Sand.

„Pass auf, dass du dich nicht erkältest, Kind“, sagte Frau Wu besorgt. „Es ist noch früh am Morgen.“ Sie reckte ihren Hals und schnupperte. „Interessant. Eine sehr steife Brise. Aber es riecht nach …“ Sie wackelte bedenklich mit dem Kopf. „Es riecht irgendwie nach …“

Lilly machte einen Luftsprung. „Es riecht himmlisch nach Salz und Meer und Ferien und ich kriege sofort Lust, nach noch größeren Muscheln zu tauchen“, vollendete sie Frau Wus Satz. „Es riecht nach einer ganz herrlichen Zeit. Ach, Frau Wu. Ich könnte Sie wirklich knutschen. Sie finden immer die allerbesten Plätze für uns. Hier finden uns DIE GIERIGEN sicher nicht. Wetten, die sind wasserscheu?“

Monsieur Archibald kreischte hysterisch auf. „Oh non, moin Kind. Nischt die Name von diese Monsterr über die Lippen spucken. Womöklich tauchen sie vor unsere Oigen auf.“

Lilly kicherte. „Immer cool bleiben. Man kann es auch übertreiben.“

Plötzlich hatte es Frau Wu sehr eilig. „Auf die Füße und Pfoten. Wir wollen ins Haus gehen. Es sind sicher schon Fischer unterwegs und die brauchen uns nicht zu entdecken. Ein Drache an der Küste würde sicherlich für Aufruhr sorgen. Es wird Zeit, dass Monsieur sich im Haus versteckt. Wir werden dort schon ein gemütliches Zimmer für ihn finden.“

Monsieur Archibald spuckte ungehalten ein paar Pfefferminzblasen. „Isch finde es nicht schön, dass isch mich immer värstecken soll. Wör weiß. Vielleischt würden die Mönschen sich froin, misch zu sehen. Isch bin so ein hübsch Kärlchen.“

Lilly tätschelte ihrem Hauslehrer liebevoll den Hals. „Das wissen wir doch, mein lieber Archie. Du hast in den letzten Wochen ziemlich viele Kinder kennengelernt, die dich ins Herz geschlossen haben. Aber Frau Wu hat recht. Man sollte es nicht übertreiben.“

Da entdeckte sie plötzlich ihren Onkel, der über den Strand hinweg auf sie zulief. Wie immer hatte er sein langes Haar in einem dicken Haarknoten gebändigt. Trotz des schönen Wetters trug er eine wasserfeste grüne Jacke und kniehohe Stiefel.

Jetzt war Lilly nicht mehr zu halten. „Onkel Clemens, juchhu! Das Meer ist so schön.“ Sie rannte los.

Der Drache schüttelte den Kopf. „Das ist so typique. Und das Schuh und Stinksock von Mademoiselle darf isch wieder einsommeln. Non, non, non.“ Er schnupperte an Lillys Socken. „Isch glaub, da muss ein noies Paarr herr und für Lilly ein Bad in Fuß. Ös riecht so sehr nach alter Käse.“

Lilly sprang ihrem Onkel glücklich in die Arme. „Wie schön, dass du schon da bist. Frau Wu sagt, wir wohnen in einem richtigen Kapitänshaus. Das finde ich so toll. Und ist die Werkstatt auch schon angekommen?“

Der Schuster nahm seine Nichte huckepack. „Aber klar. Alles da, bis auf den letzten Schnürsenkel. Aber wo sind denn deine Schuhe?“, fragte er fröhlich. „Du hast ja ganz kalte Füße. Zeit für einen heißen Guten-Morgen-Kakao.“

Er wartete aber noch, bis Frau Wu und Monsieur Archibald zu ihnen aufschlossen. „Hallo, ihr Lieben“, begrüßte er die beiden. „Ich hoffe, ihr hattet einen guten Flug. Ich habe uns ein kleines Frühstück vorbereitet.“

Der Drache trompetete einen Freudenschrei über das Meer. „Wünderbar, Meister“, lobte er Clemens.

Der Schuster schaute die Schildkröte prüfend an. „Auch bei Ihnen alles okay, Frau Wu? Sie haben sich mit unserer neuen Zuflucht wirklich übertroffen. Es ist herrlich hier und wir haben sehr nette Nachbarn.“

Die Schildkröte wackelte mit dem Kopf. „Das hoffe ich, Clemens. Ich habe gerade einen Duft in die Nase bekommen, der mich an etwas erinnert … Wenn ich nur wüsste, was es ist …“, sagte sie. „Haben Sie auch etwas Eigenartiges gerochen?“

Clemens lachte vergnügt. „Meinen Sie meine Eier mit Speck? Gerade fertig gebraten.“

Lilly schüttelte sich. „Ihh, Speck mag ich aber nicht. Gibt es auch was anderes?“

Clemens konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. „Für Drachen und ihre Prinzessinnen gibt es Eierküchlein mit Apfel und für unsere fabelhafte Frau Wu frische Gurken und Erdbeeren aus dem Garten.“

„Bravo, Clömens!“, rief der Drache. „Isch hoffe, es gibt ein sehr großer Berg Küchlein für meine sehr größere Unger.“

Clemens Wunder marschierte los. „Dann schnell an den Frühstückstisch.“

Das Kapitänshaus war ein echtes Schmuckstück. Es stand ein wenig versteckt hinter hohen Lindenbäumen und einer duftenden Geißblatthecke.

„Herzlich willkommen“, sagte Clemens Wunder strahlend, während er die Tür aufhielt.

„Hat hier ein echter Kapitän gewohnt?“, fragte Lilly, als sie ins Haus trat und sich neugierig umschaute. „Der war sicher selten hier, sondern viel auf dem Meer unterwegs. Es sieht alles so unbenutzt aus.“ Sie traute sich gar nicht, sich auf das schicke Sofa zu setzen, das mit einem grünen Palmenstoff bezogen war. Vorsichtig strich sie über eine dunkle Holzkiste mit goldenen Beschlägen. „Das war bestimmt der Koffer des Kapitäns“, sagte sie. „Den mussten wahrscheinlich die Matrosen für ihn schleppen. Und sieh mal dort“, sie deutete auf eine Glasvitrine mit mehreren Buddelschiffen darin, „so eine Flasche hätte ich auch gerne.“

„Vielleicht kann man die im Dorf kaufen“, sagte Clemens. „Ich werde mich dort mal umhören.“

Er schob Lilly in die Küche. „Jetzt wird erst mal gegessen.“

Frau Wu und Archibald hatten bereits den Wasserkessel für den Tee aufgesetzt.

„Ich möchte aber lieber Kakao“, erinnerte Lilly ihren Onkel.

Die Apfelküchlein waren köstlich. Monsieur Archibald verschlang sie in so rasender Geschwindigkeit, dass Lilly schon Angst hatte, selbst nicht mehr satt zu werden.

„Die Küchlein schmöcken so wunderbar“, sagte Archibald nach jedem Bissen, den er in sein Maul stopfte. „Und dü Öpfel oinfach köstlisch.“

Lilly nickte. „Archie hat recht. Auf jeden Fall besser als immer nur Nudeln mit Tomatensoße und Tomatensoße mit Nudeln.“

Clemens Wunder grinste. „Ich gebe zu, dass ich ein bisschen Hilfe hatte.“

Frau Wu wurde aufmerksam. „Hilfe? Und von wem?“

Lillys Onkel wurde ein ganz klein wenig rot. „Ich habe auf dem Markt ganz zufällig unsere Nachbarin kennengelernt. Eine Fischerin namens Veronika. Sie ist die Mutter von Henry. Also von dem Jungen, der laut Frau Wu magische Schuhe gebrauchen könnte. Ich wüsste allerdings nicht, wofür. Denn diese kleine Familie wirkt nicht so, als hätte sie Probleme. Vielleicht haben Sie sich dieses Mal getäuscht, liebe Frau Wu.“

Die Schildkröte blinzelte ungehalten. „Ich täusche mich nie“, sagte sie hoheitsvoll.

Clemens zuckte mit den Achseln. „Jedenfalls hat mir Veronika diese köstlichen Augustäpfel aus ihrem Garten gegeben und mir gezeigt, wie man die Küchlein zubereitet. Bald werden wir auch in den Genuss ihres köstlichen selbst gefangenen Fisches kommen. Ist das nicht wunderbar?“ Er strahlte bis über beide Ohren.

Lilly runzelte die Stirn. „Hoffentlich ist der nicht mit Gräten. Ich mag lieber Fischstäbchen.“

Einen Moment lang sagte niemand mehr etwas. Aber die Schildkröte wackelte recht nervös mit ihrem Kopf, während Archibald die letzten Krümel begeistert von seinem Teller schleckte.

„Liebe geht durch den Magen“, ertönte plötzlich eine knarzende Stimme. Sie hörte sich so dumpf an, als käme sie direkt aus der Seemannskiste.

„Sir Schimmelkopf!“, rief Lilly und guckte sich um. „Wo ist denn der alte Schimmel?“

Auf ihrer Flucht vor den GIERIGEN durfte auch das Krokodil Sir Schimmelkopf nicht fehlen, das sich schon lange im Besitz der Familie Wunder befand. Zwar war es nur aus Pappmaschee, aber das hielt es nicht davon ab, in unregelmäßigen Abständen Weisheiten zu verkünden. Manchmal konnte das echt nerven.

„Ich habe ihn erst mal in die Kiste gelegt“, gestand Clemens. „Sein Karton ist auf der Reise kaputtgegangen. Komm, Archibald. Wir hängen ihn zum Auslüften unter die Küchendecke. Er quatscht heute ja mal wieder besonders dummes Zeug.“

Henry saß im Schuppen und ärgerte sich. Diese Ferien fingen ja gut an. Er hatte sich so sehr aufs Ausschlafen und absolute Nichtstun gefreut. Und dann hatte sich der doofe Markus den Fuß verknackst. Beim Joggen am Strand. Wie tollpatschig konnte man eigentlich sein?

Vielleicht hätte er Henry unter anderen Umständen sogar leidgetan. Aber Markus musste ja ausgerechnet der Fischergehilfe seiner Mutter sein. Und immer wenn er ausfiel, war es plötzlich Henrys Aufgabe, in aller Frühe mit ihr aufs Meer hinauszufahren und ihr dabei zu helfen, die Stellnetze zu leeren. Alleine schaffte sie es nämlich nicht, die Fische einzuholen. Sein Mitgefühl mit Markus hielt sich daher eindeutig in Grenzen. Wenn überhaupt, dann tat er sich selbst leid. Es half auch nichts, dass er sich im Schuppen versteckt hatte. Seine Mutter würde ihn sowieso finden.

Er hörte, wie der Motor eines alten Holzbootes gestartet wurde, dann erklang ein lauter Pfiff. Der kam von seiner Mutter, klarer Fall. Henry seufzte und machte sich startklar. Er war einfach ein Pechvogel.

„Wo bleibst du denn, Henry?“, rief seine Mutter Veronika ungeduldig.

Henry wusste, dass sie mit dem Fang immer rechtzeitig auf dem Markt sein wollte, um den frischen Fisch zu verkaufen Wahrscheinlich waren sie jetzt schon viel zu spät dran. Er seufzte erneut, öffnete die Schuppentür und trat nach draußen. Seine Mutter starrte ihn verblüfft an. Henry grinste verlegen, aber immer, wenn es aufs Wasser ging, musste er sich einfach gründlich darauf vorbereiten.

Er war von Kopf bis Fuß mit allen nur erdenklichen Schwimmutensilien bekleidet. An den Armen hatte er sich ein Paar Schwimmflügel übergestreift, seine Füße steckten in viel zu großen Taucherflossen und er trug sicherheitshalber gleich zwei Schwimmwesten übereinander. Obwohl er noch an Land war, hatte er sich schon eine Taucherbrille über die Augen gezogen und kaute auf einem Schnorchel herum. Es war gar nicht so leicht, in voller Montur über den steinigen Weg zum Steg zu laufen. Vor allem, da Henry – nur für den Fall der Fälle – noch einen Rettungsreifen mitschleppte, der eindeutig zu schwer war, wie er fand. Hoffentlich ging er mit dem Ding nicht unter wie mit einem Stein. Aber immerhin könnte er dann noch schnell in die Rettungspfeife blasen, die er sicherheitshalber direkt um den Hals trug.

„Was soll der Unsinn, Henry! Du gehst doch nicht zum Fasching. So bist du mir an Bord keine Hilfe. Zieh bitte den Krempel wieder aus“, sagte Veronika. „Eine Schwimmweste reicht.“

Henry merkte an ihrem Tonfall, dass sie genervt war. Er hatte das schon geahnt. Es war nicht das erste Mal, dass sich Mutter und Sohn über seine Angst vor Wasser in die Haare kriegten. Aber Henry hatte sich fest vorgenommen, heute nicht nachzugeben.

Er schob die Taucherbrille auf die Stirn und spuckte den Schnorchel aus dem Mund. „Entweder nimmst du mich so mit oder gar nicht.“ Er versuchte, dem strengen Blick seiner Mutter standzuhalten.

„Ich werde gleich verrückt!“ Veronikas Stimme wanderte die Tonleiter nach oben.

Kein gutes Zeichen.

„Das wird schon klappen, Mama“, sagte Henry eifrig. „Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Kannst du bitte den Rettungsring annehmen?“

Veronika atmete tief durch, als sie nach dem Ring griff. „Ab morgen gehst du in die Ferienschwimmschule. Ich werde heute Abend mit Herrn Kabeljan telefonieren.“

Herr Kabeljan war Henrys Sportlehrer. Auch in den Ferien blieb er immer sportlich aktiv. Er war dann als Bademeister am Strand tätig und gab Schwimmkurse für große und kleine Urlauber. Seine Schüler nannten ihn heimlich Herrn Kabeljau, weil er dem Meeresfisch zum Verwechseln ähnlich war. Sein Kinnbart spross genauso unappetitlich in alle Richtungen wie die Bartfäden am Maul des Fisches. Und seine Mundwinkel hingen mindestens ebenso mürrisch nach unten.

„Oh nein. Bitte nicht der doofe Kabeljau, Mama“, stöhnte Henry. Herr Kabeljan hatte ihn in der ersten Klasse einfach ins Wasser geschubst, um ihm zu zeigen, dass man nicht so schnell unterging. Zwar war er gleich hinterhergesprungen, um seinen Schüler festzuhalten. Aber seither konnte Henry den Lehrer nicht ausstehen.

Henrys beste Freundin Lena hatte den Vorfall beobachtet und ihn ihrer Klassenlehrerin gemeldet. Herr Kabeljan hatte dann richtig Ärger bekommen. Inzwischen warf er immerhin keine Schüler mehr ins Wasser. Aber er zeigte Henry auf andere Weise, dass er ihn für ein Weichei hielt.

„Lena sagt, dass es im Wellenbad in der Kreisstadt eine neue Schwimmlehrerin gibt“, versuchte Henry seine Mutter umzustimmen. „Vielleicht ist dort noch ein Platz frei.“ Er fand es ja selbst blöd, dass er immer noch nicht schwimmen konnte.

Veronika schüttelte den Kopf. „So ein Quatsch. Du wirst doch nicht mit dem Bus zum Schwimmunterricht fahren, wenn es ihn hier vor deiner Nase gibt, und noch dazu umsonst. Du kannst den Kurs für ein paar Portionen Fisch mitmachen, hat mir Herr Kabeljan netterweise angeboten. So einen Luxusschwimmkurs im Wellenbad kann ich nicht bezahlen.“

Henry schwieg. Er wusste ja, dass sie nicht viel Geld hatten. Und das, obwohl seine Mutter oft mitten in der Nacht aufstand, um sich auf dem großen Krabbenkutter noch etwas dazuzuverdienen.

Auch Henrys Vater war Fischer gewesen. Leider war er kurz nach Henrys Geburt während eines Unwetters ertrunken. Henry konnte sich zwar nicht mehr an ihn erinnern. Aber manchmal glaubte er, dass seine Angst vor Wasser mit diesem schrecklichen Unfall zusammenhing. Mit seiner Mutter hatte er noch nie darüber gesprochen, weil er sie nicht traurig machen wollte.

Trotzdem konnte es doch nicht unmöglich sein, das Meer toll zu finden. Lena war eine echte Superschwimmerin. Sie machte sogar bald beim Kinderrettungsschwimmen mit.

„Also, los, mein Sohn“, riss ihn Veronika aus seinen Gedanken. Sie hob ihn ins Boot und wuschelte ihm durch die Haare. „Mit ein bisschen Mut und Übung schaffst du das“, sagte sie. „Weißt du, dass dein Vater sogar mal bis zu der unbewohnten Insel gekrault ist, um mir einen Strauß Dünenrosen zum Geburtstag zu pflücken?“

Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen. Henry umarmte seine Mutter, so gut es mit zwei Schwimmwesten eben ging. „Irgendwann schaffe ich das auch, Mama.“

Veronika lachte. „Na, ob das vor meiner Rente sein wird, du Held?“

Henry schaute zu der unbewohnten Insel hinüber. Ganz schön weit weg war sie. Lena kannte alle möglichen Gruselgeschichten über diesen Ort. Sie plante sogar, bald mal mit dem Boot hinüberzurudern, obwohl das streng verboten war. Mit Henry! Nein, danke. Gerade in den letzten Tagen hatte er das sichere Gefühl, dass irgendwas mit der Insel nicht stimmte. Sie sah jetzt manchmal so verschwommen aus, fast so, als wäre sie gar nicht richtig da.

Deshalb war er ziemlich erleichtert, dass Lena gerade mit ihrer Tante Maria auf einem Segelboot im Mittelmeer unterwegs war und erst in der letzten Ferienwoche zurückkommen würde. Dann hatte sie hoffentlich genug Abenteuer erlebt und wollte nicht auch noch diese unheimliche Insel erobern. Obwohl er Lena jetzt schon vermisste. Ziemlich langweilig in den Ferien ohne die beste Freundin.