Lillys magische Schuhe, Band 8: Die glitzernde Insel - Usch Luhn - E-Book

Lillys magische Schuhe, Band 8: Die glitzernde Insel E-Book

Usch Luhn

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Beschreibung

Mutig in die Meerestiefen Levi und Mia sind sich sicher: Wenn sie es schaffen, die versunkene Stadt im Meer zu entdecken, dann wird alles gut. Ihre Archäologeneltern werden sich nicht mehr streiten und ihre Familie wird nicht auseinanderbrechen. Zum Glück bekommen sie Unterstützung von der magischen Schuhmacherin Lilly und dem Drachen Monsieur Archibald. Denn ohne magische Schwimmflossen wäre ihr Vorhaben viel zu gefährlich … Entdecke alle Abenteuer in der magischen Schuhwerkstatt: Band 1: Die geheime Werkstatt Band 2: Die verbotenen Stiefel Band 3: Die zauberhaften Flügel Band 4: Der tanzende Drache Band 5: Der funkelnde Berg Band 6: Die verschwundene Schildkröte Band 7: Das kostbare Pferd Band 8: Die glitzernde Insel Adventskalender: Das Meer der Wünsche

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LESEPROBE

„Ich hab ein gutes Gefühl!“, rief Lilly fröhlich. „Mit dem Kompass auf Frau Wus Panzer kann uns nichts passieren.“ Sie hüpfte auf dem Rücken des Drachen unternehmungslustig auf und ab. „Und ich liebe den Mond und die Sterne.“

Die Schildkröte ließ ein ungehaltenes Grummeln hören. „Ich habe kein besonders gutes Gefühl dabei, als lebendige Landkarte herzuhalten. Mir wäre lieber, ich könnte mich auf eine stabile Navigation verlassen. Um diese Stunde schlafe ich normalerweise. Lilly, guck bitte genau hin, damit sich Monsieur nicht verfliegt.“

Der Drache Monsieur Archibald, auf dessen Rücken Lilly und die Schildkröte durch die Lüfte reisten, schnaubte genervt.

„Madame, wos röden Sie fürr oine dumme Quatsch? Isch glaub, Sie wollten nür ein Kömpliment oinhoimsen. Äs gibt nirrgendwo jömand, der Wäge bösser finden kann als Sie. Warum die Klage also? Non, non, non. La tortue est prétentieuse. Eingebild’ Schildkröt. Und, Lilly: Mit diese In- und Ergeüpf machst du mir das Flügen noch viel schwärer, als es ohnein ist. Also alt die Zähen still.“

Lilly kicherte schuldbewusst und setzte sich ordentlich zurück auf ihren Po. Aber mit den Zehen wackelte sie trotzdem weiter, die konnten einfach nicht ruhig bleiben, so aufgeregt war sie.

Sie waren mitten in der Nacht aufgebrochen, denn nur das Mondlicht machte die Wegbeschreibung auf Frau Wus Panzer sichtbar. Das hatte Amelie herausgefunden, für die Lilly magische Reitstiefel genäht hatte. Ihr kam diese Reise ein bisschen wie eine Schnitzeljagd vor. Sie hatten keine Ahnung, wohin sie gelenkt wurden, aber sie hofften, ihrem Ziel näher zu kommen.

Lilly war tief im Herzen noch ein wenig traurig, dass ihr Onkel und sie den gemütlichen Bauernhof von Agnes Streu so schnell wieder verlassen mussten. Sie hatte Amelie und ihre Stute Silber nämlich in der kurzen Zeit richtig liebgewonnen.

Aber nun wusste sie wenigstens, dass es einen Funken Hoffnung gab, ihre Eltern aus den Fängen der GIERIGEN zu befreien. Und es war höchste Eile geboten, denn diese fiesen Gestaltwandler hatten gedroht, ihre Eltern für immer an einen Ort zu bringen, von dem sie nie wieder zurückkehren konnten. Bei diesem Gedanken seufzte Lilly tief.

Sie konnte nicht begreifen, dass es Wesen gab, die so böse wie DIE GIERIGEN waren. Magische Schuhe waren doch etwas absolut Wunderbares! Sie schenkten Kindern Mut und Stärke. Mit dem Selbstvertrauen, das die magischen Schuhe ihnen gaben, gelang es den Kindern, ihre Probleme zu lösen und gut gelaunt in die Welt zu blicken. Sie konnten neue Freunde gewinnen, sich mit ihren Eltern wieder vertragen und jede Menge Spaß haben.

DIE GIERIGEN wollten das magische Wissen nicht etwa stehlen, um Gutes damit zu tun. Sie hatten vor, Neid in die Herzen der Menschen zu schmuggeln und ihre Gedanken zu vergiften. Deshalb war es nicht nur wichtig, Lillys Eltern zu befreien. Die gemeinen GIERIGEN mussten für immer gestoppt werden! Noch hatten sie allerdings keine Ahnung, wie ihnen das gelingen sollte.

Lilly warf einen prüfenden Blick auf das verstaute Gepäck. Hatten sie auch wirklich nichts vergessen? Wenn man so kreuz und quer durch die Welt reiste, konnte man schon mal etwas liegen lassen.

Plötzlich runzelte Lilly die Stirn. „Der Koffer. Der rote Koffer! Wo ist der rote Koffer?“ Ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Der Koffer war ein Erbstück ihres Urgroßvaters. Was er enthielt, wussten Lilly und ihr Onkel Clemens nicht, denn sie durften ihn erst öffnen, wenn es wirklich nötig war. Aber eines war klar: Er war ein wichtiges Hilfsmittel, um Lillys Eltern zu finden und DIE GIERIGEN unschädlich zu machen.

So ähnlich stand es in den Aufzeichnungen von Lillys Urgroßvater. Zwar hatte dieser damals nicht ahnen können, dass Gestaltwandler versuchen würden, die Magie an sich zu reißen, und selbst vor einer Entführung nicht zurückschreckten. Aber dass das magische Wissen geschützt werden musste wie ein zartes Pflänzchen, hatte auch der Urgroßvater schon gespürt. Wenn sie den Koffer nicht mitgenommen hatten …

„Isch ab koine Koffer aufgepackt“, meldete der Drache.

„Wenn wir den Koffer vergessen haben, müssen wir sofort umkehren!“, rief Lilly panisch.

„Alors, was tun? Wenden?“ Der Drache verlangsamte seine Fluggeschwindigkeit.

Frau Wu ruderte mit den Armen. „Lilly, Monsieur, jetzt beruhigt euch bitte. Ich vermute, dass Clemens den Koffer bei sich trägt. So einen wichtigen Gegenstand packt man doch nicht zwischen Kleidungsstücke und das Teegeschirr. Wobei mein Teegeschirr ausgesprochen wertvoll ist. Mindestens so kostbar wie dieser Koffer. Meine Mutter hat es von Kaiser Kangxi höchstpersönlich überreicht bekommen, das war eine große Ehre für unsere Familie“, berichtete sie.

„Mon Dieu, Madame Kröt, Papperlapapp. Äs gäht jetzt nischt um ein paar olte Scherben, sondern um oine Rettungskoffer. Also, was tun?“, wiederholte Monsieur Archibald.

Frau Wu presste beleidigt die Lippen aufeinander und schwieg.

„Das kann nur Onkel Clemens entscheiden“, erwiderte Lilly. „Wo ist er überhaupt? Meint ihr, er ist schon da? Er hat doch als Einziger unser neues Ziel auf Frau Wus Panzer entschlüsselt. Es war sowieso nicht nett, dass er uns auf eine Schnitzeljagd geschickt hat, anstatt uns zu verraten, wohin es geht.“

Clemens Wunder reiste immer mit der magischen Werkstatt voraus und bereitete das neue Zuhause schon vor. Wenn Lilly dann später mit Frau Wu und dem Drachen landete, war alles fertig eingerichtet und Lilly musste nur noch beim Auspacken der Werkzeuge und magischen Essenzen helfen.

Dabei weihte ihr Onkel Clemens sie jedes Mal genauer in die Geheimnisse der magischen Werkstatt ein. Es gab so vieles, was man beachten musste. Die Extrakte waren nämlich nicht ungefährlich und manchmal schwer zu kontrollieren.

Lilly hatte das magische Fingerspitzengefühl geerbt und ihr Onkel brachte ihr nach und nach das Handwerk bei. Jeden Tag lernte sie dazu und war auf dem besten Wege, eine richtig gute Schusterin zu werden. Allerdings brachte ihre magische Fähigkeit sie in Gefahr, denn DIE GIERIGEN waren nun auch hinter ihr her. Aber inzwischen war Lilly daran gewöhnt und fand es sogar ein wenig aufregend. Häufig verhielt sie sich geradezu leichtsinnig, fand Onkel Clemens. Aber bis jetzt war immer alles gut gegangen – na ja, fast alles.

Auch das Reisen gefiel ihr sehr gut, und dass sie ständig neue Kinder kennenlernte. Aber wenn sie abends im Bett lag, ohne Gutenachtkuss von Mama und Papa, spürte sie eine tiefe Sehnsucht, an einem festen Ort zu verweilen und Freundschaften zu knüpfen, die sie nicht nach ein paar Wochen wieder aufgeben musste. Gemeinsam in einem Haus zu leben musste wunderbar sein. Wie ein ganz normales Mädchen! Und sie war wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass diese Sehnsucht kein Traum blieb.

„Reg dich nicht auf, Lilly, das schaffen wir doch auch alleine“, sagte Frau Wu. „Und ich bin sicher, dass Clemens an alles gedacht hat. Obwohl er natürlich immer alle Hände voll zu tun hat, wenn er den Umzug der Werkstatt beaufsichtigen muss.“

Aber Lillys Entscheidung stand fest. „Sie haben auch nicht immer recht, Frau Wu“, begehrte sie auf. „Und Onkel Clemens ist momentan ganz schön durcheinander. Los, Archie“, sagte sie entschlossen, „wir kehren um. Vermutlich steht der Koffer noch bei Agnes auf dem Hof.“

„Doin Wünsch ist mir Bäfähl!“, schnaubte der Drache und drehte eine gewagte Kurve zurück.

„Agnes wird staunen, wenn wir wieder auftauchen“, sagte Lilly grinsend.

Zum Glück war die Bäuerin nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Selbst als DIE GIERIGEN ihren Hof angegriffen hatten, war sie besonnen geblieben.

Plötzlich färbte sich der Panzer der Schildkröte feuerrot und begann zu blinken wie eine Signallampe.

„Ups“, sagte Lilly erschrocken. „Alles okay bei Ihnen, Frau Wu?“

„Nein! Überhaupt nicht. Stopp, Archibald, auf der Stelle machen Sie wieder kehrt“, befahl Frau Wu. „Die Navigation dreht durch, weil wir uns plötzlich in die Gegenrichtung bewegen. Die Kommandos an Bord gebe immer noch ich!“

„Isch bin där Pilot!“, widersprach der Drache. Aber er bremste heftig und flatterte auf der Stelle.

Lilly plumpste von ihrem Sitz und fiel auf die Schildkröte. „’tschuldigung!“, rief sie. „Wir brauchen den roten Koffer unbedingt, Frau Wu. Ohne ihn können wir meine Eltern nicht befreien, das wissen Sie doch!“ Ihre Stimme klang verzweifelt.

„Lilly hat rescht, Madame“, stimmte der Drache zu. „Ohne die rote Ding sind wir umgeschmissen!“

Trotz ihrer Sorgen um den Koffer musste Lilly kichern. „Aufgeschmissen, Archie. Ich fürchte, du wirst unsere Sprache nie lernen.“

Der Drache spie nervös Pfefferminzblasen in den Nachthimmel. Das Feuerspeien hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben, weil es die Menschen erschreckte.

„Ünsinn“, widersprach er. „Isch bin auf Alarm. Da verliere isch die Buxstaben.“

Lilly war so aufgeregt, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Wenn nur Onkel Clemens hier wäre“, klagte sie. „Der wüsste, was zu tun ist.“

Die Schildkröte richtete sich energisch auf. „Ich weiß es auch“, verkündete sie streng. „Schluss mit dem Gejammer. Clemens und die Werkstatt werden uns finden, wenn wir unser Ziel erreicht haben. Und der rote Koffer wird auch wieder auftauchen. Wir müssen jetzt weiter, denn wir brauchen das Mondlicht. Also, Lilly, konzentriere dich bitte auf die Route auf meinem Panzer.“

Der Schildkröte Frau Wu zu widersprechen war nahezu unmöglich. Also schluckte Lilly ihre Angst hinunter und dirigierte Monsieur Archibald weiter durch die Mondnacht. Aber irgendwann fielen ihr einfach die Augen zu.

Frau Wu ließ Lilly schlafen. Sie verließ ihren sicheren Platz und kroch wagemutig nach vorne, damit der Drache selbst einen Blick auf die Navigation werfen konnte.

„Alten Sie sisch gut fest“, warnte der Drache. „Isch flieg vorsischtisch ohne Ruckel.“

Er war besorgt, denn sie flogen direkt unter den Wolken und seine Schuppen waren feucht von der Luft. Da konnte man schnell mal abrutschen. Aber die Schildkröte machte sich so flach wie möglich und streckte alle viere aus, um besseren Halt zu haben.

„Mit diese Nümmer können wir in Sirkus auftreten“, kicherte der Drache.

„Quatschen Sie keinen Unsinn, konzentrieren Sie sich auf Ihren Flug“, befahl Frau Wu.

Der Drache pustete ein paar bockige Pfefferminzblasen, hielt aber sein Maul. Für lange Zeit sprach niemand ein Wort. Lilly schlief tief und fest. Aber sie schien einen lustigen Traum zu haben, denn sie kicherte ab und zu leise.

Allmählich wurde das Mondlicht schwächer und der Morgen nahte.

„Seit Stunden fliegen wir über das Meer“, sagte Frau Wu sorgenvoll. „Kein Land in Sicht, nur Wasser, wohin man schaut. Sind wir überhaupt noch richtig?“

Der Drache schnaubte empört. „Madame, was dänken Sie von mir? Isch bin oin sähr erfahrener Pilot. Vielleischt ist Ihr Panzer schmutzig und zoigt mir falsche Wege.“

Diese Anschuldigung ließ Frau Wu nicht auf sich sitzen. Ihr Panzer war wie immer blitzblank sauber. Darauf legte sie höchsten Wert. Fast hätte es einen heftigen Streit gegeben, denn mittlerweile waren beide völlig übernächtigt.

Da erkannte Monsieur Archibald plötzlich einen roten Schriftzug auf dem Panzer. Angestrengt entzifferte er die Buchstaben. „Oine wois Insel. Wir must zu oine Woisinsel. Was ist die wois Insel? Das stäht ier auf Ihre Rück, Madame.“

Frau Wu streckte ihren Hals lang und drehte ihren Kopf so weit es ging nach hinten. Aber sosehr sie sich abmühte, ihr gelang kein Blick auf ihren eigenen Panzer.

Einen Moment später hörten sie ein aufgeregtes Geschnatter. Eine Wildgans hatte sich ihrem Flug angeschlossen.

„Constanze! Das ist ja Constanze!“, rief Frau Wu. Sie ruderte aufgeregt mit den Armen und kam ins Trudeln.

„Alarm!“, rief der Drache. „Vorsischtisch, Madame.“

Aber die Wildgans hatte den drohenden Absturz bereits bemerkt und landete direkt neben der Schildkröte. Mit ihrem kräftigen Schnabel schob sie Frau Wu in die sichere Mitte und landete geschickt neben ihr.

„Oh, mon Dieu“, beschwerte sich Monsieur Archibald. „Isch bin doch koin Lasttaxi.“

Die Wildgans Constanze war eine gute Freundin von Frau Wu. Vor Kurzem hatte sie geholfen, die Schildkröte zu finden, als diese in die Fänge der GIERIGEN geraten war.

„Du kommst gerade richtig, liebe Freundin“, sagte Frau Wu. „Kennst du die weiße Insel? Dort müssen wir unbedingt hin.“

Die Wildgans schnatterte aufgeregt los und nickte heftig mit ihrem Schnabel.

Frau Wu lauschte aufmerksam. Die kluge Schildkröte sprach natürlich auch fließend Wildgänsisch.

„Hast du alles verstanden? Archibald?“, rief Frau Wu schließlich.

„Non, non, non“, antwortete der Drache ungehalten. „Diese aufgereschte Gans schnattert noch schnäller als die Fransos. So ein Wort-Wirrwarr västopft moine ämpfindlische Ohr!“

Die Schildkröte konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Sie sagt, sie kennt die weiße Insel, weil ihre Freunde dort auf ihrem Weg zur Winterstation Rast machen.“ Sie seufzte erleichtert. „Das ist ganz wunderbar, Constanze. Kannst du uns dorthin lotsen? Ich hatte schon Sorge, dass wir uns verflogen haben.“

Der Drache schüttelte den Kopf. „Nischt schön von Sie, Madame“, maßregelte er die Schildkröte. „Mir so wänig zu vertrauän. Isch bin streng die Route von Mondlischt gefolgt.“

Die Wildgans schnatterte weiter und es hörte sich an, als würde sie lachen.

Archibald guckte misstrauisch. „Macht sisch die Fädrige über misch lustig?“

Frau Wu widersprach energisch. „Im Gegenteil, lieber Freund, sie sagt, wir sind ein gutes Team. Wir müssen uns scharf links halten. In ein paar Hundert Metern sollte der weiße Sandstrand der Insel auftauchen und eine helle Felsenreihe mit einem Plateau, auf dem die Wildgänse zwischenlanden. Es ist die Südseite der Insel, mitten im Meer, mit zauberhaften Strandhäusern. Also los, wir haben schon genug Zeit verloren!“

Es war noch sehr früh am Morgen, als die Wildgänse auf der nahen Felsenplattform Mia mit ihrem lauten Geschnatter weckten. Sie verschwand unter ihrer Decke und versuchte, noch mal einzuschlafen. Aber es gingen ihr einfach zu viele Gedanken durch den Kopf. Gestern hatten sich ihre Mutter und Mark schon wieder total laut gestritten.

Zum ersten Mal hatte Mia richtig Angst bekommen, dass sie sich nicht mehr gernhatten. Dabei verstand sich Mia seit Kurzem richtig gut mit ihrem Stiefbruder Levi. Als sie sich vor zwei Jahren kennengelernt hatten, war das ganz anders gewesen. In den ersten Monaten hatten beide gehofft, dass ihre Eltern sich ganz schnell wieder trennen würden. Aber jetzt waren sie eine richtige Familie geworden. Levis Mutter war leider vor vielen Jahren im Meer ertrunken und Mias Vater hatte inzwischen eine neue Familie in Spanien und meldete sich nur noch an Mias Geburtstag.

Samira und Mark, ihre Eltern, hatten sich bei der Arbeit an der Uni kennengelernt, Hals über Kopf ineinander verliebt und schon nach wenigen Wochen geheiratet. Sie waren beide Archäologen, buddelten also nach alten Scherben und gruben Häuserreste aus vergangenen Zeiten aus. Außerdem waren sie großartige Taucher, deshalb wohnten sie seit ein paar Monaten auf der weißen Insel und suchten nach einer versunkenen Stadt im Meer. Aber genau diese Suche war der Grund, warum sich Samira und Mark immer häufiger stritten.

Wenn Archäologen auf Exkursion gingen, war das eine Art Schnitzeljagd nach Spuren von früher, und das wurde oft sehr teuer. Manchmal bekamen solche Forscher Geld von Museen oder Universitäten. Oder von richtig reichen Leuten, die so eine Schatzsuche auch spannend fanden und ihr privates Vermögen dafür hergaben.

Samira hatte auf dem Flohmarkt ein altes Buch mit einer Meereskarte entdeckt, das Hinweise auf eine versunkene Stadt nahe der weißen Insel enthielt. Leider glaubte fast niemand, dass es diese Stadt wirklich gab. Experten, denen sie das Buch gezeigt hatte, hielten die Beschreibung für ein Märchen.

Nur Mark war Feuer und Flamme gewesen. Ein Freund seines Vaters baute Kreuzfahrtschiffe und war sehr reich. Dieser Freund hatte ihnen Geld für die Tauchgänge gegeben. Aber nun war alles aufgebraucht und sie hatten die versunkene Stadt immer noch nicht gefunden.

Nur ein paar Münzen und zerbrochene Gefäße hatten sie auf ihren Tauchgängen vom Meeresboden geborgen. Das war dem Geschäftsmann aber nicht genug, um noch mehr Geld herauszurücken. Mark war inzwischen der Meinung, dass sie die Suche abbrechen und wieder an der Uni weiterarbeiten sollten. Aber Samira wollte nicht so schnell aufgeben. Deshalb hatte sie einfach das Familienauto verkauft, worüber Mark furchtbar sauer war. Er wollte lieber wieder in die Großstadt ziehen, damit Levi und Mia eine Europaschule besuchen konnten.

Auf der weißen Insel wurden sie von Samira unterrichtet, wenn diese nicht gerade ein Boot für das Tauchen organisierte und ihr anderes im Kopf herumschwirrte.

Gestern Abend hatten Mia und Levi belauscht, dass Mark während eines Streits drohte, mit Levi alleine abzureisen, wenn Samira nicht endlich zur Vernunft kam. Das fanden die beiden Kinder einfach schrecklich!

Mia krabbelte unter der Decke hervor und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Die Wildgänse kreischten immer lauter, sie schienen heute früh besonders gut aufgelegt zu sein. Mia drückte die Handflächen gegen die Ohren. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Bestimmt bekam sie wieder Kopfschmerzen, das hatte sie in der letzten Zeit ganz oft.

„Hey, was ist los?“ Levi zog Mias Hände herunter. „Warum hältst du dir die Ohren zu?“

Mia hatte ihren Bruder gar nicht ins Zimmer kommen hören. Na, kein Wunder bei dem Getöse in ihrem Kopf und dem Geschnatter von draußen.

„Konntest du auch nicht schlafen?“, fragte Levi düster und setzte sich neben sie auf das Bett. „Ich musste die ganze Nacht über gestern Abend nachdenken. Wenn Papa Ernst macht, dann laufe ich weg.“

Mia legte den Arm um Levi und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Dann sag mir bitte vorher Bescheid, weil ich dann mitkomme“, sagte sie ernst. „Ich lass dich nicht allein.“

Levi nickte. „Wir bleiben für immer zusammen. Egal, was die Eltern machen.“

Sie seufzten beide gleichzeitig und umarmten sich stumm.

„Samira hat recht, es gibt eine Stadt auf dem Meeresgrund“, sagte Levi überzeugt. „Ich hab das Buch vom Flohmarkt gelesen, darin wird das Leben in der Stadt beschrieben. Auch die Karte passt zu diesem Meer. Das ist keine ausgedachte Geschichte. Wir sollten selber tauchen gehen, vielleicht finden wir ja was.“

Mia guckte skeptisch. „Ich hab aber Angst, seit ich mich an den Feuerquallen so doll verbrannt habe. Und du darfst dich nicht von Mark erwischen lassen.“

Mia hatte recht. Levis Vater wollte nicht, dass Levi tauchte, weil seine Mutter ausgerechnet bei einem Tauchgang ertrunken war. Dabei schwamm Levi so gut wie ein Fisch. Schon bevor er laufen konnte, war er mit seiner Mutter weit draußen im Meer herumgetobt. Seit ihrem Tod hatte ihm sein Vater solche Schwimmausflüge allerdings streng verboten.

„Das ist Unsinn und Papa weiß das“, sagte Levi ungehalten. „Mama ist ertrunken, weil ihre Sauerstoffflasche kaputt war. Ich schwimme und tauche genauso gut wie sie und auf jeden Fall besser als Papa. Los, wir gehen hinüber zu den Strandhäusern. Ich habe dort ein neues Holzboot entdeckt, das schnappen wir uns und rudern hinaus. Und du musst auch unbedingt wieder schwimmen, damit du die Begegnung mit den Quallen vergisst. Das war einfach Pech.“

Levi hatte recht, musste Mia zugeben. Sie mussten die Sache selbst in die Hand nehmen. In Windeseile zogen sie sich an und schlichen barfuß aus dem Haus. Im letzten Moment packte Mia noch Nusshörnchen und Obst als Proviant ein.

Hand in Hand liefen sie über den nachtkühlen Sand hinüber zu den Strandhäusern. Die Häuser gehörten den Inselbewohnern, in den Ferien oder am Wochenende kamen sie zum Strand, um zu surfen oder zu tauchen. Touristen verirrten sich kaum hierher, denn es gab weder einen Flugplatz noch eine regelmäßige Fähre. Ab und zu legte unten am Hafen ein Kreuzfahrtschiff an. Dann enterten unternehmungslustige Reisende für einen Ausflugstag die Insel und ließen ihren Müll am Strand liegen. Aber meist war die Insel ein echtes Paradies. Selbst die Wildgänse waren zutraulich. Sie wagten sich auf ein paar Schritte neugierig heran. Anfangs hatte Mia sie mit Weißbrot füttern wollen. Aber von Miguel, einem Insulaner, der nach der Flut immer Strandgut aufsammelte, hatte sie erfahren, dass Gänse und Enten Brot nur schwer verdauen können. So etwas lernte man nicht in der Großstadt.

„Hier ist es“, verkündete Levi so stolz, als würde das grün gestrichene Boot ihm gehören. Er zog es über den Sand hinunter zum Wasser.

„Das ist ja nagelneu“, stellte Mia überrascht fest. „Die Ruder sehen aus, als wären sie noch nie im Wasser gewesen.“ Sie schaute sich scheu um. „Könnte es nicht sein, dass jemand in dem Strandhaus wohnt?“

Levi schüttelte den Kopf. „Unsinn. Es sind ja keine Ferien. Und so ein tolles Boot darf nicht einfach nutzlos herumliegen. Das ist nicht gut für das Holz. Das muss ins Wasser, damit sich die Planken vollsaugen können.“

Mia grinste. Levi war ein ziemlicher Besserwisser, aber er kannte sich mit vielen Dingen wirklich gut aus. Und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann bastelte er sich die Sache so zurecht, dass sie für ihn passte. Mia machte sich immer viel zu viele Gedanken, das sagte auch Mama. Bestimmt hatte sie deshalb so oft Kopfweh.

„Steig ein“, rief Levi. „Es geht los. Nimm auch ein Ruder, dann kann ich auf die Karte schauen.“

Mia staunte schon wieder. Levi hatte die Schatzkarte aus dem Buch ganz genau abgezeichnet.

„Ich glaube ja, die versunkene Stadt ist ganz in der Nähe“, erklärte er, während sie mit vereinten Kräften losruderten. „Samira fährt immer viel zu weit hinaus. Erinnerst du dich, dass Miguel nach dem letzten Sturm diese bunten Scherben zu Samira gebracht hat und sie eine halbe Schale daraus zusammenkleben konnte? Die Scherben waren doch nicht mitten aus dem Meer angespült, sondern von hier vorne aufgewühlt worden. Die versunkene Stadt muss nicht hundert Meter tief auf dem Meeresboden liegen. Ich habe mir überlegt, dass sie sich auch unter einer Sand- oder Muschelschicht befinden könnte. Oder sogar unter der Insel. Vielleicht ist die Insel darübergewandert.“

„Du denkst, die Insel ist über die Stadt geschwappt?“, wiederholte Mia nachdenklich. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube nicht, dass so was überhaupt möglich ist.“

Levi guckte ungehalten. „Nur weil noch nie jemand so etwas gedacht hat? Genau aus diesem Grund sage ich es den Eltern nicht. Die finden das sicher genauso dumm wie du, aber ich lasse …“

Mia nahm ihm das Ruder weg. „Stopp. Dumm habe ich nie gesagt. Es ist … unwahrscheinlich. Komm, lass uns nicht streiten. Wir frühstücken erst einmal.“ Sie zog den Beutel mit den Hörnchen hervor und biss voller Lust in eines hinein.

ENDE DER LESEPROBE

Print-Ausgabe ISBN 978-3-473-40559-6eBook-Ausgabe ISBN 978-3-473-51204-1