Lilo Palfys Beitrag zur Kunst - Gesche Heumann - E-Book

Lilo Palfys Beitrag zur Kunst E-Book

Gesche Heumann

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Beschreibung

Lilo Palfy lebt in der für sie schönsten Stadt der Welt – nämlich Wien – in einer eleganten Villa, in der lästige farbliche Umgestaltungen vorgenommen werden sollen, und sie ist eine ungewöhnliche, in der Gesellschaft nicht unbekannte Frau. Männer fühlen sich unwiderstehlich gedrängt, ihr die Hand zu küssen, und ihre neunjährige Tochter Sassy hält sie für die glamouröseste Mutter der Welt und den falschen Mann für den richtigen Vater. Lilos Geschiedener, ein international erfolgreicher plastischer Chirurg, hört nicht auf, sich reichlich intensiv um alles zu kümmern, und ihr überraschend zurückgekehrter Liebhaber will den Blick der Welt auf die Kunst revolutionieren und verstrickt sie in seine mitreißenden kunstterroristischen Pläne, die schließlich die seltsamsten Auswirkungen in Europa haben werden. Das klingt nach Chaos, Luxus, Österreich, nach Schönheit, Sex, Familienfragen, nach Kunstszene, wahrer Kunst und Sehnsucht – und genau darum dreht sich auch alles in diesem einen Wiener Sommer.

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Gesche Heumann

LILO PALFYSBEITRAG ZUR KUNST

Roman

Für Gabriele Dirnbacher

I.In Wien leben wir eh

II.Wie der Geschiedene und ich einander überwältigten

III.Sassys wahrer Vater ist plötzlich wieder in Wien

IV.Ich habe wieder angefangen zu lügen

V.Wie sehr mir eine wahre Freundin fehlt

VI.Wie mir so öd und fad wurde, dass ich vor Selbstmitleid ziemlich geweint habe und dann Sassys wahren Vater doch wiedersehen wollte

VII.Wie Sassys wahrer Vater mir das wahre Wesen der Kunst als Pore für den Kosmos erklärte und wir dabei Käse aßen

VIII.Hannah Gruber aus Ottensheim entwickelt sich funktional romantisch

IX.Mein Leben ist plötzlich voll und außer Atem

X.Hannah versucht ihr Bestes, glaubt aber auch, im Grunde sei mir nicht zu helfen

XI.Durchbruch der Modellversion

XII.Der Zwang zum falschen Willen

XIII.Ich finde ein glückliches Ende

I.

In Wien leben wir eh

Meine Tochter Sassy glaubt, sie kann keine Mutter haben, die nicht eine glamouröse Dame und dazu noch kreativ ist. Schuld an diesen beiden Zuschreibungen, die ich für meine Herzenstochter unbedingt besitzen muss, ist der Geschiedene. Zuletzt kam die Sache mit der Kreativität auf, weil der Geschiedene findet, unser Salon sollte dringend neu gemacht werden, von seinem Schulfreund nämlich, der mal wieder zwischen Weibern und Kindern und Unterhaltszahlungsverpflichtungen in einer Klemme steckt. Der Geschiedene versuchte neulich abends, als wir bei lauer Luft bis spät in die Nacht noch im Garten sitzen konnten, mich und Sassy dafür zu begeistern, alle Möbel aus dem größten Zimmer unseres Hauses entfernen und die aktuelle Stuckatur geräuschvoll abschlagen zu lassen, um daraufhin den Salon ein neues Flair gewinnen zu sehen. Dabei hatten wir die ganze Prozedur erst vor drei Jahren. Ich wollte sie nicht schon wieder, und schon gar nicht im Sommer: Dauernd wären Handwerker mit Gerüchen und Staub und lauten Maschinen im Haus, denen Sassy nachmittags Eistee servieren darf, so lange, bis sie fragen, ob ich vielleicht einige Bier für sie kühl stellen kann. Sicher ist unser Kühlschrank groß genug. Männer nehmen ihre Bierflaschen aber nie mit, wenn sie das Bier getrunken haben, und letztes Mal hat die aktuelle Perlmutt-Anita, unsere Haushaltshilfe, sich deswegen beschwert. Mich hat eher irritiert, dass diese Männer alle ihre Leiberln ausziehen, sobald ab Frühsommer in Wien die Sonne scheint, und dass sie darunter keine Feinrippwäsche mehr tragen. Halbnackte Männer mit über den Hosenbund wallenden Fleischwülsten bilden keine Beglückungsmomente, sagte ich dem Geschiedenen. Und der Salon ist doch gerade erst in der Zu-Besuch-bei-Kolumne des Standard erschienen. Der Journalist war besonders fasziniert, wie wunderbar der Salon das Bild von mir und Sassy, das der amerikanische Maler Alex Katz von uns gemalt hat, zur Geltung bringt. Dabei bekamen wir das Bild erst letztes Jahr, nachdem der Geschiedene bei irgendeinem Termin in New York den Kontakt zu Alex Katz gefunden hatte – er traf das Sammlerpaar Essl im Hotel, das sich zu einem Atelierbesuch bei Katz eingeladen hatte und ihn mitnahm. Weil sie doch Alex Katz, wie sie erklärten, nicht den Exmann of the most glamourous lady in Vienna vorenthalten könnten. Und dann musste der Geschiedene dem Maler natürlich sein Lieblingsfoto von mir und Sassy vom letzten Sommer am Smartphone zeigen. Und dann wollte Alex Katz uns von dem Foto abmalen, und der Geschiedene hatte daraufhin ein ursuperb-leiwandes Weihnachtsgeschenk für Sassy und mich, von dem er bereits im Oktober zu schwärmen begann. Mir taugte das Foto ja eher nicht so besonders. Aber das von Alex Katz gemalte Bild gefiel mir sofort. Statt dem Abendlicht am kalifornischen Strand im Hintergrund unseres Ferienfotos hatte Katz eine warme Farbe gesetzt, und wie durch ein Wunder verträgt sie sich glänzend mit dem schönen Taubenrosa, das Waldo, der Innenarchitekt mit den vielen Familienmitgliedern, uns letztes Mal als beste Farbe für unseren Salon auszuwählen half. Im Grunde war das Bild der Wendepunkt in meiner Auseinandersetzung mit der aktuellen Fassung unseres Salons. Davor vermied ich immer, im Salon etwas zu tragen, das in irgendeiner Art mit Rot in Verbindung gebracht werden konnte, und ich fand das anstrengend. Sassy liebt das Katz-Bild wohl aus anderen Gründen. Nachdem ich meine Einwände gegen die Pläne des Geschiedenen für unseren Salon erklärt hatte, fragte Sassy nur, ob das Bild mit einer anderen Wandfarbe noch besser zur Geltung gebracht werden könnte. Der Geschiedene begann mit Behagen, Sassy eine kleine Übersicht der verschiedenen Kontrastarten und Farbharmonien zu erklären. Aktuell, sagte er, befinde sich unser Bild mit seinem zwischen Zinnoberrot und Terrakotta schwankenden Hintergrund gegenüber dem Taubenrosa der Wand noch in einem Farb-an-sich-Kontrast. Es gebe aber auch den Komplementär- und den Helldunkel-Kontrast. Aus der gekonnten Mischung dieser beiden Arten könnten wir ganz andere Effekte mit dem Bild erzielen. Und das würde uns positiv beeinflussen.

Obwohl der Geschiedene erstens von mir geschieden und zweitens nicht Sassys wahrer Vater ist (also nicht ihr genetischer, aber Sassy weiß das nicht und auch sonst niemand außer mir und dem Geschiedenen), spielt er in der Mechanik unseres Alltags die Rolle des Ersten Ritters ohne Furcht und Tadel, natürlich exklusive Sex. Er erhöht den Effekt dadurch, dass ich von ihm in ganz Wien als seine wahre Lebensmenschin gepriesen werde. Auf mir unangenehm witzige Art sind wir in der Gesellschaft als schillernd-aufregendes Ex-Paar mit engelsgleichem Töchterl bekannt, auf dessen echten Skandal man seit Jahren vergeblich wartet, obwohl der Geschiedene die Scheidung kurz nach Sassys Geburt einreichte und die gemeinsame Villa für ein Appartement im 3. Bezirk verließ.

Jedenfalls kann ich mich nicht gut dagegen wehren, wenn der Geschiedene behauptet, Sassy müsse ihre Kreativität von mir geerbt haben. Darauf lief das Gespräch nämlich an dem Abend hinaus. Ich wollte zunächst einmal wissen, wieso wir überhaupt verstärkt positiv beeinflusst werden müssten. Wir sind gesund, Sassy fällt die Schule spielend leicht, wir haben keine Sorgen und leben in der schönsten Stadt der Welt in Komfort und geschmackvoller als die meisten anderen Menschen. Ich konnte absolut kein Defizit in der aktuellen Gestaltung unseres Salons erblicken. Und dem Geschiedenen fiel zunächst auch nicht ein, wieso wir verstärkt positiv beeinflusst werden müssen, oder es fiel ihm jedenfalls nichts ein, was er hätte sagen wollen, wenn Sassy dabei ist und im Glauben bleiben soll, er sei der tollste geschiedene Vater der Welt. Je älter sie wird und je mehr sie mit anderen Kindern in Kontakt kommt, die in völlig heilen Familien aufwachsen, desto weniger Verständnis zeigt sie leider dafür, wieso der Geschiedene und ich überhaupt geschieden sind und bleiben. Jedoch basiert eine Ehe auf der Idee eines gemeinsamen Schlafzimmers. Und dieses kommt für mich und den Geschiedenen schon länger nicht mehr infrage. Aber einem neunjährigen Mädchen, das über Dinge wie Seele und Schönheit und Kunst und das Wesen wahrer Damenhaftigkeit und noch vieles mehr ausdauernd und ernsthaft nachdenkt, will man nicht unbedingt sexuelle Probleme erklären. Der Geschiedene übrigens sagt dazu, Sassy stelle sich den ontologischen Fragen ihrer Welt, und ich bin froh, dass er es sagte, als Sassy gerade der Mutter des Geschiedenen ihre neuen Bilder vorführte und seine Worte deswegen nicht hörte. Sonst hätte sie uns sofort um ein Smartphone gebeten, um ontologisch zu googeln, und ich hätte mindestens eine Woche mit ihr besprechen müssen, ob man es mögen kann oder nicht, wenn man sich mit ontologischen Fragen beschäftigt, und ob sie es wirklich tut oder der Geschiedene sich mit seiner Einschätzung doch geirrt hat. Sassy ist sehr davon angetan, dass man sich irren kann, dass man Dinge verwechseln kann und Fehler geschehen, aber das liegt vermutlich daran, dass sie nichts vergisst, ihr nichts misslingt und sie keine Fehler macht. Und wie sie mir kürzlich erklärt hat, findet sie die gedanklichen Fehler weniger beunruhigend als die materiellen, wie wenn man beim Einparken beispielsweise gegen ein anderes Auto oder den Bordstein schrammt. Deswegen macht es ihr Spaß, nach gedanklichen Fehlern zu suchen. Obwohl sie gleichzeitig alles, was sie liest, hört, im Fernsehen ansehen darf oder erzählt bekommt, auf eine merkwürdige Art glaubt, glaubt sie nicht, dass sie glaubt. Und gleichzeitig ist Sassy ein Engel oder eine Elfe.

Wie auch immer … ich bin darauf angewiesen, meine Tochter möglichst wenig zu enttäuschen. Wie sich an diesem Abend herausstellte, würde es sie enorm beunruhigen, wäre ich wirklich einfach nicht kreativ.

Seit wir unser Bild von Alex Katz und dem Geschiedenen zu Weihnachten bekommen haben, also seit einem halben Jahr, ist Sassy davon überzeugt, ich sei eine glamouröse Dame, und der Geschiedene, der auch an dieser Einschätzung schon schuld gewesen ist, hat ihr nun noch dazu aufgenötigt, es für wichtig zu halten, dass ich kreativ bin und deswegen Freude daran hätte, in einem neu gestalteten Salon das Bild noch besser zur Geltung gebracht zu sehen. Das Glamouröse-Dame-Sein ist natürlich ein Teil der Rittergeschichte des Geschiedenen, eine Erzählung, die er seit Jahren mit Bedacht immer weiter aufarbeitet und gelegentlich mit Glanzlichtern versieht, aber ich hätte nie gedacht, dass er dafür in seiner vorgeblichen Tochter so ein dankbares Publikum finden würde. Bis zu den Skiferien habe ich versucht, Sassy das mit der glamourösen Dame auszureden, und es ist mir nicht gelungen. Sie ist der Meinung, dass ein Teil meiner Glamourösität darin liegt, dass ich deren Strahlwert nicht verstehe und so auch nicht beurteilen kann. Strahlwert ist ihre Erfindung für das, was der Geschiedene ihr als Erklärung für meinen Glamourfaktor untergejubelt hat. Sassy und der Geschiedene glauben erkannt zu haben, dass mein Leben etwas ausstrahlt, das die Menschen dazu bringt, sich mein Leben als ein ganz besonders tolles vorzustellen. Ich würde so toll lebend scheinen, dass alle anderen am liebsten mein Leben haben wollen würden. Mir kommt es ein bisschen so vor, als ob sich da jedenfalls Sassy ein Barbie-Idyll für das wahre Leben vorstellt. Bei einem neunjährigen Mädchen kann man das verstehen, aber es ist anstrengend, für einen Glamouröse-Dame-Nonstop-Marathon glaubhaft den Text zu liefern. Immer dachte ich, ich könnte meinem Kind alles erklären, was ich selbst schon begriffen habe. Aber inzwischen erklärt Sassy mir, warum Menschen mich mögen. Weil ich eine glamouröse Dame sei. Und eine glamouröse Dame ist kreativ, auch wenn Sassy noch nicht ganz genau geklärt hat, worin besonders.

Die Glamourösität hingegen, die meine Person umgibt, ist laut Sassy und dem Geschiedenen am einfachsten anhand der Handküsse zu belegen, die ich bekomme. Der Geschiedene behauptet, nicht mal Kardinäle auf Audienzen oder die britische Queen bekämen ihre Hände so oft geküsst wie ich, wenn ich einkaufen gehe oder zum Arzt oder einen Kellner oder einen Taxler bezahle oder einen männlichen Bekannten treffe und die männlichen Freunde eines männlichen Bekannten. Als es anfing, war ich vierzehn und zurück vom Italienurlaub mit Mutti, die mir in Florenz die ersten Büstenhalter zu kaufen nötig gefunden hatte und mir in Rom zeigte, wie man die Lippen malt. Der erste Handküsser war mein Zeichenlehrer, dem ich nach der Stunde ein Album mit Bleistiftskizzen von italienischen Palästen, freundlichen Madonnen und lustigen Springbrunnenfiguren zeigen ging. Ich trug mein neues italienisches Nickikleid mit breiten weißen und blauen Streifen und hatte mir einen hohen Zopf am Hinterkopf gemacht, aber der Lippenstift, den ich mir zum Spaß für den Schulbeginn nach den Sommerferien aufgemalt hatte, war beim Apfelessen in der langen Pause verschmiert, und ich hatte ihn abgewischt. Mein Zeichenlehrer nahm sich viel Zeit beim Durchblättern. Er saß am Lehrertisch, ich stand daneben und hätte mir gern am Bein gekratzt. Die Bim mit meinen Freundinnen fuhr sicher inzwischen ohne mich ab, und ich hatte Durst. Es war absolut keine glamouröse Situation. Ich ärgerte mich, dass ich Mutti versprochen hatte, meine Zeichnungen dem Lehrer zu zeigen. Mir lag nicht viel an ihnen. Ich hatte sie gemacht, wenn wir im Café saßen und Mutti Illustrierte las oder wir im Museum waren und Mutti im Museumsführer las. Die schönsten Zeichnungen hätten die von Mutti werden sollen, Mutti mit ihrer großen Sonnenbrille beim Lesen oder Mutti, wie sie sich die Bilder in den Museen angeschaut hat, als dürfte sie in ihnen ertrinken. Aber Zeichnungen von Mutti verpfuschte ich immer. Mutti war trotzdem stur überzeugt, ich hätte ein Talent, und glaubte, der Lehrer könnte derselben Meinung sein. Vielleicht wäre er sogar bereit, mir Tipps zu geben. Aber nun sagte der nichts, sondern schaute nur und blätterte. Dann klappte er das Album zu und sah mich an. Er war schon ziemlich alt und hatte eine Vorliebe für Schnürlsamtanzüge und Hosenträger. Dieser Tag war etwas zu warm dafür, und ich roch, dass er geschwitzt hatte. Man wusste nicht viel über ihn, angeblich war er verheiratet und hatte einen Hund. Sein Unterricht war gut, er hatte uns im Griff, und wir spürten, dass er uns amüsant fand, aber auch amüsant, uns zu verwirren, und ein Teil meiner Abwehr von Muttis Vorschlag war darauf zurückzuführen, dass mir die Aussicht, ihm meine Zeichnungen zu zeigen, seltsam aufregender erschienen war als das Gefühl, in meinem neuen Kleid auf der Straße angeschaut zu werden. Jetzt schaute der Lehrer mich so an, als wäre ich selbst eine von meinen Zeichnungen, seine Brillengläser spiegelten, und ich konnte seine Augen nicht erkennen, also starrte ich auf seinen Mund, weil er ja etwas sagen sollte, und sah, dass sein Mund ein bisschen zitterte und zuckte. Dann sagte er, er könne, mein liebes Fräulein, nicht entscheiden, ob meine Motive oder meine Motivation zu brav seien, wenn er mich so anschaue. Aber meine Verehrung, mein liebes Fräulein, sagte der Lehrer, gab mir das Album zurück und küsste mir die Hand. Dann nahm er seine Tasche und ging aus dem Zeichensaal, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Ich fühlte mich zutiefst beleidigt, vielleicht sogar noch schlimmer als beleidigt, geradezu erniedrigt fühlte ich mich. Es war so abgehoben und gespielt. Der berühmten unglücklichen Kaiserin Sissi wurde die Hand standardgerecht geküsst, aber doch nicht mir? Mein Zeichenlehrer tat so doof ironisch, weil er mein neues Hobby für dumm und langweilig hielt. Für ihn hatte wahre Kunst ja etwas mit Leidenschaft zu tun und quälender Sehnsucht, und als wir ein Selbstporträt von van Gogh abzeichnen mussten, bemängelte er die meisten unserer Zeichnungen als zu heiter. Ich schaute mir meine geküsste Hand an und fand sie hässlich. Ich wusch mir die Hände und ging aus der Schule. Zum ersten Mal belog ich Mutti: Der Lehrer, erzählte ich, habe gesagt, ich solle vielleicht fotografieren, um meinen Blick zu schärfen. Mutti kam dieser Tipp sehr merkwürdig vor, aber eben gerade darum hielt sie ihn für wahr, und beim Familienrat mit Onkel Poldi und Tante Luise konnte sie die beiden von der Sinnhaftigkeit des Ratschlags überzeugen. Aber schon in diesem Familienrat war das Handgeküsstbekommen bereits das eigentlich wichtigste Thema. Nach dem Zeichenlehrer hatte plötzlich auch der Trafikant meine Hand geküsst, als ich am selben Tag für Mutti Zeitschriften und Zigaretten holen sollte, und als ich mich zwei Tage später, als Mutti Nachschub zum Rauchen und Lesen haben wollte, gegenüber Mutti erstaunlich hysterisch weigerte, wieder hinzugehen, musste ich erklären warum. Als Mutti daraufhin testhalber mit mir ein Sportdress kaufen und danach noch ins Kaffeehaus ging, konnte sie es selbst erleben: Der dicke Verkäufer im Sportfachgeschäft und der dünne Kellner mit dem großen Adamsapfel nahmen unaufgefordert, blitzschnell und verblüffend elegant meine rechte Hand und küssten sie, und als sie dann Muttis erstaunten Blick bemerkten, setzten sie ihr Verhalten etwas weniger geschmeidig, aber doch überzeugend genug fort und küssten Mutti ebenfalls die Hand, als wäre es völlig normal. Mutti sah, dass es mir sehr peinlich war. Sie glaubte nicht, dass es an meiner Bekleidung lag. Sie erklärte mir, ich solle deswegen nicht jedes Mal hysterisch werden – wenn Männer charmant würden, dürfe man sich nicht automatisch fürchten. Onkel Poldi berichtete von einer Kusine, die in die USA gegangen war, weil der Charme der Männer in Europa ihr zu viel geworden sei. Mutti fand, man müsse nicht gleich einen sozialpathologischen Fall daraus machen. Tante Luise schlug vor, mir Damenhandschuhe zu besorgen. Onkel Poldi empfahl mir, die Hände auf den Rücken zu legen und Verabschiedungen durch Nicken anzuzeigen. Ich befolgte alle Ratschläge und bekam außerdem eine Fotokamera. Nach drei vollgeschossenen, jämmerlich belichteten Farbfilmen verlor ich die Lust daran.

Als es jetzt um meine Kreativität ging, ist mir diese Geschichte wieder eingefallen, und ich habe sie Sassy erzählt, um zu beweisen, dass ich nicht kreativ bin, weil mir nichts daran liegt, meine Bravheit zu reproduzieren. Natürlich habe ich einiges erlebt mit dem Geschiedenen und insbesondere mit Sassys wahrem Vater, der zweifelsohne kreativ ist, denn er ist ein Künstler, aber aus Deutschland, und hat vorgezogen, zurück nach Deutschland zu gehen kurz nach Sassys Geburt, aber diese unbraven Ereignisse, darauf haben der Geschiedene und ich uns geeinigt, sollen Sassys Leben nicht belasten.

Auch sonst gibt es Dinge, für die ich keine Erzählweise finde, um sie in Sassys Welt unterzubringen, obwohl es sich um wesentliche Dinge handelt, sowohl für mich als auch für meine angebliche Glamourösität. Zum Beispiel, was ich wirklich mache, wenn Sassy, wie es in diesem Frühjahr erstmals geschah, einmal bei einer Freundin übernachtet. Es ergab sich alles ganz schlagartig: Am Freitagabend waren der Geschiedene und seine Mutter bei uns zum Essen, wir haben danach im Fernsehen zusammen Pretty Woman gesehen, der Geschiedene allerdings ist derweil in der Bibliothek gewesen und hat gesurft und telefoniert. Als der Film vorbei war und Sassy mit mir und der Mutter des Geschiedenen zu klären versuchte, ob eine Nutte eine Dame sein kann und dies die wahre Handlung von Pretty Woman ist, kam er zu uns zurück und erklärte, am nächsten Mittag müsse er zu einem Termin nach Zürich, obwohl eigentlich geplant war, dass er uns alle drei am Wochenende in die Steiermark zu einer Party auf einem Schloss eines neuen Freundes führen sollte. Alle möglichen hochkarätigen Leute sollten dort sein, der Geschiedene hatte sich ausnahmsweise sogar in unsere Garderobenpläne eingemischt, denn am richtigen ersten Eindruck liegt unserm Ersten Ritter viel. Aber jetzt gab es leider diesen Notfall in Zürich, der Geschiedene hatte uns bereits im steirischen Schloss entschuldigt und wusste, dass Sassy und seine Mutter andere Einladungen des Schlosses wegen hatten absagen müssen. Und nun nahm er es auf sich, die jeweiligen Gastgeber anzurufen und zu fragen, ob die Absagen für seine Mutter und Sassy rückgängig gemacht werden könnten. Bei Sassy war es eine Schulfreundin, bei der Mutter des Geschiedenen eine Veranstaltung des Yachtclubs in Gmunden, wo sie meistens lebt. Der Geschiedene, am Telefon so umwerfend wie sonst, bekam, was er wollte, und organisierte noch dazu fix und geschmeidig (seine Worte) die anfallenden Chauffeurdienste, und so saß ich am Samstagmittag da und hatte ein ganzes Frühlingswochenende allein für mich in Wien. Im Salon machte ich die Fenster auf und im Schlafzimmer ebenfalls, ich köpfte fürs Mittagessen ein Töpfchen Kaviar und leerte dazu die Weinflasche vom Abend zuvor. Die mit unterstützender Sorgfalt des Geschiedenen für die Party im steirischen Schloss ausgewählten neuen Gewänder hingen am Kasten. Die Beratungen, die der Geschiedene mit mir deswegen gehabt hatte, waren sehr aufmerksam, aber auch mit viel Gelächter geführt worden, im Grunde eine Spitzenreiterserie von angenehmen Gesprächen. Normalerweise suche ich mir aus Modezeitschriften interessante Teile und recherchiere dann im Internet, bestelle oder lasse nachnähen, und mein Stil hat sich allmählich vom Diktat der Mode befreit und zu seiner jetzigen Form entwickelt, von der ich nicht genau gewusst hätte, wie ich sie nennen soll. Der Geschiedene gab bei unseren Styletalks zu erkennen, dass er ihn monumental findet, meinen Stil. Wenn wir über Malerei sprechen, was von je unsere besten Gespräche gewesen sind, meint er mit monumental, dass es in einem Bild einen einzigen Gegenstand gibt, der so betont ins Bild gesetzt ist, als handle es sich um das wichtigste Denkmal einer Stadt. Meinen Bekleidungsstil nennt er so, weil ich höchstens zweifärbig gemusterte, meistens aber einfärbige Pullover, Blusen, Röcke, Kleider, Jacken und Mäntel trage, und wenn überhaupt ein Muster, dann ist es immer geometrisch, und so verleiht mir, sagt der Geschiedene, mein Gewand die geheimnisvoll erhabene Aura von Minimal Art. Dadurch, will er beobachtet haben, wirke ich größer, als ich bin, und konzentriert. Aber für sein wichtiges Wochenende, an dem er allen seine hinreißende Familie vorführen wollte, wünschte er ausdrücklich, ich möge weniger wie eine sehr elegante glamouröse Kunstsammlerin, als die ich in Wien vor allem in Erscheinung trete, wirken und vielmehr mädchenhaft und süß. Wir hatten deswegen entschieden, Sassys und meine Kleider einander so ähnlich wie möglich zu machen, worüber Sassy sich am meisten freute. Die Sache hatte uns seit Ostern beschäftigt, und erst am Freitagmorgen war unsere Schneiderin ziemlich abgehetzt mit den fertig angepassten Abendkleidchen zu uns gekommen. Sassy wäre furchtbar enttäuscht gewesen, hätte sie ihr neues Gewand an diesem Wochenende nicht tragen dürfen, und als ich meinen für unsere Ankunft auf dem Schloss geplanten, knielangen Glockenrock mit pistaziengrünen Blüten auf cremefarbenem Stoff und die ebenso cremefarbene Bluse jetzt wiedersah, genau das, was Sassy anhatte, als sie in den Porsche Cayenne der Eltern ihrer Schulfreundin gestiegen war, fragte ich mich, ob mir in diesem Gewand etwas Ungewöhnliches gelingen würde. Grün trage ich eigentlich nie, obwohl mir die Farbe steht, wie alle sagen … Es ist für mich aber einfach keine glamouröse Farbe, es sei denn, der Farbton geht sehr ins Türkisblau, aber naturnahe Grüntöne meide ich gewöhnlich. Julia Roberts in Pretty Woman trägt diese Farben ja auch nicht, aus gutem Grund, meine ich. Weil Julia Roberts Julia Roberts ist, würde ihr zwar möglicherweise gelingen, noch in einem Lodenkostüm glamourös zu wirken, aber für mich gilt das nicht, und ich war froh, dass es mir gelungen war, dem Geschiedenen Lodenbekleidung auszureden.

Zu unserer Damenfrage betreffs Pretty Woman war sein Beitrag übrigens der, der die Familie am meisten aufhusste, denn der Geschiedene behauptete, der Damenstatus wäre ihr nur möglich im Zusammenhang mit der Versorgungsheirat, egal, wie sehr Pretty Woman sich möglicherweise zusätzlich später noch um einen Highschool-Abschluss bemühen wolle. Zum Glück erwies sich die Mutter des Geschiedenen als hellwach – sie fragte, ob sie, also die Mutter des Geschiedenen, die Tochter eines mitten im Wirtschaftswunder pleitegegangenen Fabrikanten aus Rheydt in Deutschland, ohne ihre Heirat keine Dame geworden wäre, und man merkte, dass der Geschiedene zunächst nicht wusste, wie er die Frage beantworten sollte, um Zores zu vermeiden. Dass die Mutter des Geschiedenen eine Dame ist, kann niemand bezweifeln, aber Sassy und ich wären nie auf die Idee gekommen, ihren Damenstatus anhand ihrer Verheiratung mit dem Vater des Geschiedenen nachzuweisen. Sicher erwies sich die Heirat mit dem Vater des Geschiedenen als gute Partie für die Mutter des Geschiedenen, denn neben der Geburt und umsichtigen Aufzucht des Geschiedenen ermöglichte diese Ehe der Mutter des Geschiedenen, mehrere wohltätige Einrichtungen in federführender Weise zu unterstützen. Zu Jahresbeginn erst haben wir die Verleihung des Ehrenkreuzes 1. Klasse an sie nach dem extrem fadisierenden Festakt in der Hofburg mit Champagner und Buffet im Café Landtmann gefeiert, und sie selbst war so lustig dabei, dass Sassy sogar vom Champagner kosten durfte. Aber dann behauptete der Geschiedene, seine Mutter wäre möglicherweise ohne Verheiratung eben eine alleinstehende Dame geworden, allerdings wolle er nicht darüber spekulieren. Die Mutter des Geschiedenen erklärte rundheraus, sie glaube, er habe eine falsche Einschätzung vom Damesein, das in jeder Frau stecke, aber nicht von jeder gelebt werden könne, genauso wenig, wie alle Männer Herren wären. Aber sie sei in aller Bescheidenheit der Meinung, eine Dame zu sein wäre eher eine Frage der Persönlichkeit als eine des Personenstands. Und Sassy fragte, ob ich nach der Scheidung weniger Dame geworden sei als vor der Scheidung. Da hatte der Geschiedene die Hände gehoben und vom Thema geschickt abgelenkt.

An all das dachte ich, als ich im Schlafzimmer stand, und ich dachte an Pretty Woman, die so seltsam wenig nuttig wirkt und so überzeugend damenhaft, sobald sie in den richtigen Kleidern steckt und nicht mehr mit ihren Händen fuchtelt, und ich wunderte mich über meinen eigenen, von meinen weiblichen Verwandten so heiß verteidigten Damenstatus. Ich bin fünfundvierzig, viele Männer küssen mir die Hand, aber meine Ehe ist geschieden, und außer der Geburt meiner Tochter vor über neun Jahren habe ich eigentlich nichts erreicht. Abgesehen davon, dass ich als glamouröse Dame gelte in Sassys Augen. Dass eine glamouröse Dame auch eine glamouröse Dame wegen ihrer Kreativität sein soll, war ja erst mal noch nicht Thema. Jetzt war das das erste frühsommerlich süße, tochterfreie Wochenende, und nachdem ich ein bisschen ferngesehen hatte, badete ich und freute mich, dass ich allein war in einer frühlingsduftenden Stadt. Ich zog mein neues mädchenhaft-süßes Gewand an und meine verruchtesten Schuhe und ging beschwingt in die Meierei im Türkenschanzpark, wo ich einen Happen aß und mich am Leben im Park freute, bis eine Hochzeitsgesellschaft eintraf und schon tüchtig angeheitert für laute Musik und übertriebene Geräusche sorgte. Also rief ich ein Taxi und ließ mich kurz entschlossen in die Loosbar führen, bei offenem Fenster. Mir fiel keine andere Bar ein – ich gehe ja sonst nie in Bars. Die Loos hat jedenfalls den Vorteil, dass der Geschiedene nur bis zu seinem 35. Geburtstag hinging und seitdem nicht mehr, ich musste also nicht mit seinen Spezis rechnen. Und es war gerade so voll, dass ich leicht ins Gespräch kam. So habe ich einen 35 Lenze zählenden feschen niederösterreichischen Agrarproduzenten kennengelernt.

Es war köstlich, lustige Mäderlsprüche zu machen und den Alkohol flimmern zu spüren und den Frühling, und der Feschak fragte mich, ob ich auch den Mann spüren würde, und so haben wir scharmunziert und einige Cocktails getrunken. Ich sagte, ich sei aus Gmunden zur Vernissage eines mir wichtigen Künstlers in die Stadt gekommen, und weil er nicht fragte, ob ich Kinder habe, musste ich nichts erzählen außer, dass ich geschieden sei. Es war dann ganz einleuchtend, dass er mich zu seinem Hotelzimmer im Hotel Post am Fleischmarkt führte, und mich störte auch nicht, dass er dieses Hotel für derartige Mädchenbesuche anscheinend regelmäßig bewohnt. Er erklärte mir, er könne sein Auto auf einem Garagenplatz des Hotels kostenfrei einstellen, denn das Hotel gehöre seinem Schwager. Welch günstige Familienverhältnisse, die ihm, wie er schwärmte, preisgünstiges Logis in unserer schönen Hauptstadt ermöglichen! Das ging mir ein bissi am Nerv – so ein Preisfuchsergehabe möchte eine glamouröse Dame womöglich lieber nicht in ihrer Gesellschaft. Aber für den Feschak sprach neben seiner guten Laune und dem ansprechenden Äußeren, dass er meine großzügig herabgesetzte Altersangabe geglaubt hatte und sich in meiner Begleitung offenbar noch attraktiver fühlte. Als wir dann in seinem Hotelzimmer beide im Bett und nackt waren, begann er, mir zu erklären, wie sehr seine Libido von seinem Schwanz in meinem Bobotschi profitieren würde. In Pretty Woman gibt es keinen Analverkehr, offenbar hat Edward Lewis, der seriös reiche Unternehmer, auch so genug Libidoprofit, aber ich checkte, es war nicht der richtige Moment, darüber zu reden, ich checkte sogar, dass es überhaupt keinen Sinn machte, etwas zu sagen, also produzierte ich Geräusche und Bewegungen und lautere Geräusche und mehr Bewegungen, und der Feschak glaubte der Hitze von meinen Geräuschen und Bewegungen und ließ sich mitreißen wie ein sehr gut animiertes Publikum, und die Sache mit meinem Bobotschi und Engführung und der Gewinnmaximierung für die Feschak-Libido konnte entfallen, nachdem er gezuckt und gestöhnt hatte und in den Gummi in meiner Vagina gekommen war. Er lag dann schweißtriefend halb auf, halb neben mir und schien einschlafen zu wollen, und ich sagte, mir sei ein wenig zu warm, und als ich aus der Dusche zurückkam, schnarchte er, und ich konnte mich in Ruhe anziehen und gehen und musste mir nicht die Hand küssen lassen.

Es war halb fünf, die Morgendämmerung schimmerte bläulich, die Vögel zwitscherten, man hörte fast kein Motorengeräusch, und ich spazierte zum Schwedenplatz und überlegte, ob mich der Feschak in einem Kleid von Victoria Beckham vielleicht nicht nach meinem Bobotschi gefragt hätte, aber ich wusste es nicht. Es war kein glamouröser Sex gewesen, wie ich ihn von einer glamourösen Dame erwartet hätte, wobei ich nicht beschreiben könnte, wie glamouröser Sex im Detail vor sich geht. Aber glücklicherweise, so dachte ich in der Morgendämmerung am Schwedenplatz, habe ich in meinem Leben womöglich doch schon glamourösen Sex gehabt, nur leider eben vor vielen Jahren. Mit dem Geschiedenen natürlich, aber eigentlich sehr viel weniger als die meisten Leute denken würden, wenn sie uns sehen – und mit Sassys wahrem Vater vor allem, von dem fast kein Mensch in Wien außer mir und dem Geschiedenen weiß. Und ich fragte mich, ob ich Sassy davon einmal werde erzählen können. Die Umstände sind ja alle ein bisschen verworren. Dass Mutti glamourösen Sex mit Vati hatte, habe ich immer gewusst, aber Mutti musste mir davon nichts erzählen, obwohl ich Vati gar nicht kennengelernt habe, nur auf Fotos, er verunglückte kurz vor meiner Geburt.

Ja, so war das, und so ist mein seltsam glamouröser Status, und wenn ich besser mit Sassy über Sex sprechen könnte, weil ich mit Sassy über Sassys wahren Vater sprechen könnte, wäre sie nun beunruhigt, weil mein unglamouröser Kaum-Sex gegen mein glamouröses-Dame-Sein spricht. Der Feschak war der vierte Mann, mit dem ich seit Sassys Geburt Sex hatte, zum sechsten Mal, mit dem zweiten Mann hatte ich mehr als einmal Sex. Kein Sex, den ich seit Sassys Geburt gehabt habe, war glamourös. Sassy wird im Spätsommer zehn Jahre alt. Seit ihrer Geburt habe ich sechsmal unglamourösen Sex gehabt. Oder habe ich die falsche Einstellung, was Sex betrifft, und allen anderen erschiene mein gehabter Sex seit Sassys Geburt als glamourös? Weil eine glamouröse Dame nie über ihren Sex redet, auch nicht mit ihrer Tochter, denken alle automatisch, trotzdem sei auch der Sex der glamourösen Dame glamourös. Sie denken nicht darüber nach, ob ein unglamouröser Partner oder ein unglamourös preisfuchsiges Hotelzimmer den Glamourfaktor einschränken könnten. Beim Glamour sind die Leute nicht zu Verlustrechnungen bereit. Deswegen stimmt es vielleicht doch, dass eine glamouröse Dame auch kreativ ist, denn egal, wie lausig ihr Sex ist, erweckt sie doch den Anschein, er sei so glamourös wie alles andere an ihr auch. So ähnlich haben auch der Geschiedene und Sassy versucht, mir meine Kreativität zu erklären – weil ich für ein behagliches glamouröses Heim sorge, und weil ich für neue, verstärkte Effekte durch Komplementärkontraste absolut offen bin. Denn der Geschiedene findet, der neue Salon solle dunkel schillernd grün werden, damit der zinnober-terrakotta-färbige Hintergrund auf dem Katz-Bild von mir und Sassy einen starken Gegenspieler in der Farbe bekommt und unsere gemalten Gesichter noch mehr leuchten. Sassy scheint der Idee sehr zugetan, und ich bin völlig dagegen. Ich will mich in meinem Salon nicht fühlen wie in einem Aquarium.

II.

Wie der Geschiedene und ich einander überwältigten

Den Geschiedenen lernte ich mit einundzwanzig kennen, etwa zu der Zeit, als Pretty Woman in den Kinos lief, der Geschiedene verlobte sich mit mir noch im selben Jahr, und im Jahr darauf haben wir geheiratet, obwohl Mutti fand, es sei keine solche Eile geboten. Am Ende knackte der Geschiedene ihren Widerstand gegen die Vorbereitungen eines großen Hochzeitsfests im Juni durch den Vorschlag, mit mir stattdessen nach Las Vegas zu fliegen, womit ich sofort einverstanden war. Mit dem Geschiedenen allein zusammen in die amerikanische Wüste zu fliegen kam mir ansprechend vor, aber genau in dem Moment ergab sich, dass Mutti auf jeden Fall bei meiner Hochzeit dabei sein wollen würde und deswegen das Fest in Wien stattfinden müsste. Seitdem ich den Geschiedenen kennengelernt hatte im Büro seines Cousins, war mir Wien oft zu voll gewesen. Menschen, Autos, Hunde, Pensionisten, Straßenbahnen, Busse, Taxler, Sonnenbrillen, Staub, Bauarbeiten, Maschinenlärm und der Geschiedene, der immer etwas zu erzählen hatte über diese Straße und jenen Komponisten und diesen Herrn und seine seltsamen Geliebten und dieses Automobil und den Ingenieur, der es gebaut hatte, bevor er jenes andere Modell entworfen und gebaut hatte und dann von dieser und jener Firma abgeworben worden war. Der Geschiedene platzte in meiner Gegenwart vor Dingen, die er mir unbedingt mitzuteilen hatte. Er fand es manchmal genauso beunruhigend wie ich, vor allem schien es, als würde er allmählich nur in meiner Gegenwart so lebendig sein und mich, wenn ich nicht da war, so arg vermissen, dass er sich einsilbig und mürrisch gegenüber allen anderen aufführte. Und das nahm man übel, und zwar nicht dem Geschiedenen, sondern mir. Als ich mich nicht sofort zur Verlobung entscheiden konnte – ich kannte den Geschiedenen gerade sieben Wochen und einen Tag, und das weiß ich auch nur, weil der Geschiedene unser 50-Tage-Glück in seinem Verlobungsantrag mehrfach erwähnte – verschwand er und rief vierundzwanzig Stunden nicht an, stattdessen begannen seine Freunde, mich nacheinander aufzusuchen, der erste wartete vor der Agentur auf mich in der Mittagspause und unterrichtete mich mit betroffenem Gesicht darüber, was ich seinem lieben Freund eigentlich antäte und ob ich wisse, wie es ihm gehe, der zweite wartete, als ich nach Hause gehen wollte, der dritte kam, als Mutti und ich gerade fernschauten, und das war sehr unlustig, denn Mutti hatte ich lieber gar nicht erst von dem Verlobungsantrag des Geschiedenen erzählt.

Ich lebte ja noch bei Mutti. Nach der Matura hatte ich nicht so recht gewusst, was tun oder wohin, und es war schön mit Mutti, ich hatte ja mein Zimmer, die Perlmutt-Anita versorgte uns, Mutti ging arbeiten und ich las Zeitschriften und fragte mich, warum ich studieren sollte und was. Der Eiserne Vorhang war gefallen, es lag Neues in der Luft, die Welt machte sich auf zu mehr Tourismus, und Touristen bevorzugen fröhlich wirkende, bunte Kleidung. Die ersten Büros zogen aus dem 1. Bezirk in neue Gebäude an der Peripherie, und der Geschiedene sprach davon, dass es bald mehr Schanigärten im 1. Bezirk geben würde. Ich lebte sehr gern bei Mutti und mit Mutti, vielleicht habe ich mich auch deswegen nicht sofort mit dem Geschiedenen verloben können. Jeden Tag denke ich an Mutti, oft, wenn Sassy etwas sagt oder sich die Haare streicht, wie Mutti sich ihre Haare gestrichen hat. Sassy hat Muttermale am Kinn an der gleichen Stelle wie Mutti, und aus ihren Muttermalen am Kinn zog Mutti alle zwei Tage mit einer Pinzette Barthaare, sobald sie über dreißig geworden war. Mutti fragte mich manchmal beim Küssen, ob es an den Flecken schon pikse. Das fragte sie mich auch an meinem ersten Schultag, und all meine Angst, ich würde nichts verstehen oder die anderen Kinder würden gemein zu mir sein, verging, weil Mutti sich um ihre Barthaare sorgte, die man ja überhaupt nicht sehen konnte, bis sie, wenige Millimeter lang, auf Muttis Pinzette hingen. Trotzdem war der erste Schultag unglücklich für mich. Weil ich, als wir etwas über unsere Familie erzählen sollten, meinen abwesenden, weil toten Vater durch die Barthaare meiner Mutter ersetzen wollte. Die anderen Kinder fanden diese Erzählung komisch, kicherten erst und machten dann dumme Witze darüber, dass meine Mutter einen Bart hätte, weil ich keinen Vater hätte, und ich hätte fast mitgelacht, weil alle Kinder lachten über Lilo-ohne-Vati-aber-Mutti-hat-einen-Bart. Ich war schon daran gewöhnt, nicht alle Witze zu verstehen. Aber die Lehrerin verstand die Witze auch nicht. Sie sagte, ich sei eine Halbwaise und das sei nicht komisch. Sie stellte sich hinter mich und streichelte meinen Kopf, die anderen Kinder schauten, als müssten sie sich etwas besonders Deppertes ansehen. In der Pause tuschelten sie miteinander, und ich konnte nicht mittuscheln, ich war eine Halbwaise, ein unanständiger Zustand. Ich hatte einen Vater bis dahin überhaupt nie vermisst, aber ich kam heulend mit der Perlmutt-Anita vom ersten Schultag nach Hause und war untröstlich, also musste die Perlmutt-Anita Mutti in der Arbeit anrufen und verschlimmerte mein Halbwaisenschicksal noch, indem sie am Telefon zu Mutti von Krise sprach. Eine halbe Stunde später war Mutti da und gab Perlmutt-Anita einen freien Nachmittag. Dann begann sie, ein Lied zu singen, in dem ein armes, unglückliches, zuckendes und triefendes Süßkind vorkam, damit war anscheinend ich gemeint, denn ich zuckte und triefte ja in der Sofaecke und war inzwischen von solch einer Tränenflut verklebt, dass jedes Sprechen unmöglich geworden war. Mutti sang und setzte sich zu mir und kühlte mich sehr sanft und vorsichtig mit einem Waschlappen. Sie wusch mir allen Rotz ab. Sie fand, sie wolle gern mit mir eine heiße Schokolade trinken. Sie hatte keine Barthaare, die Barthaare waren völlig unsichtbar, aber jetzt wussten alle Kinder in meiner Schule darüber Bescheid, dabei waren Muttis Barthaare so unsichtbar wie Vati. Und ich konnte Mutti gar nichts davon erzählen, ich hatte die Unsichtbarkeiten falsch verteilt. Also fragte ich, ob Vati einen Bart gehabt hatte. Es stellte sich heraus, dass Mutti alles von Vati entsetzlich vermisst hatte, deswegen war er einfach kein Thema bei uns gewesen, bis ich nach seinem Bart gefragt hatte! Was also die erste gute Frage gewesen ist, die mir die Schule nicht beantworten konnte, und woraufhin Mutti die glamourösen Märchen meiner Kindheit erfand.