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Litho, die geheimnisvolle, umtriebige Stadt in der Mitte des Inselkontinents Asthenos wird von zwei Morden und der Droge Splitterlauf erschüttert. Selbst die Falkenauten, die vom Tempel aus über die Stadt wachen, sind machtlos. Steckt längst vergessen geglaubte Hexerei dahinter? Aki, genannt Wegemeistersohn, stolpert als nordländischer Flüchtling in das Gewirr aus Intrigen und Verrat. Auch das Leben der rebellischen Filmliebhaberin Frida Iringa gerät nach dem Attentat auf ihren Freund aus den Fugen. Die Wege von Aki und Frida kreuzen sich an unvermuteter Stelle. Gemeinsam verfolgen sie eine Spur, die weit in die düstere Vergangenheit des Kontinents reicht.
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Seitenzahl: 670
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Janina Julklapp
Litho
Die Stadt des Falken
Ein Urban-Fantasy-Roman.
Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet,
die ein großes Herz und große Träume haben.
Texte: Copyright © 2020 Janina JulklappUmschlaggestaltung:
Copyright © Janina Julklapp
Photos by Chad Madden, Sander Crombach, Uriel Soberanes, Denise Jans on Unsplash
Verlag: Janina Julklapp
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Janina Julklapp wurde 1987 geboren und lebt in Nürnberg. Sie studierte Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, Sozialwissenschaften und Ethik. Nach einem Volontariat in der Pressestelle eines Forschungsinstituts ist sie heute im Marketing tätig.Litho. Die Stadt des Falkenist ihr Debütroman. Mehr zur Autorin unterwww.wegemeisterin.deoder auf Instagram unterwww.instagram.com/janinajulklapp.
„Da sitzt die Nacht am Wegesaum,
Und neben ihr stehn Tod und Traum.
Das ist ein Geraune, ein Heimlichtun.
Ein Wind springt hinterm Wald hervor,
Erhascht ein Wort mit halbem Ohr,
Und ängstet feldein auf erschrocknen Schuhn.
Im Sumpfrohr hockt eine graue Gestalt,
Hundert graue Jahre alt,
Eine Frau, eine Hex, eine böse Seel.
Sie hat einen Kessel am Feuer und braut,
Ein Kind, eine Kröte, ein Schattenkraut,
Gestank und Geschwel.
Ein grüner Stern steht grad überm Haus,
Sieht wie ein böses Auge aus,
Und da hinten der Himmel brennt so rot.
Und horch, was war das? Die Uhr blieb stehn.
Wollen wir nicht lieber beten gehn?
Wir haben alle das Beten not.“
(Gustav Falke:Unheimliche Stunde)
Neunzehn Jahre, bevor diese Geschichte ihren Anfang nimmt, wurde in der freien Stadt Litho das Mädchen Frida geboren. Sie war das einzige Kind der Köchin Agnes und des Hafenarbeiters Jon Iringa. Frida wuchs in der Unterstadt auf und ihre beste Chance auf eine glänzende Zukunft für sie bestand darin, später einmal den Sohn des wohlhabenden Bäckers Erek Kornheber zu heiraten. So drohte Fridas junges Leben schon bald zwischen Getreidemehl und Gärschränken zu versauern. Doch als Frida sprechen und laufen gelernt hatte, wurde ihrer Mutter Agnes Iringa klar, dass daraus nichts werden würde. Mit drei Jahren war es ihr gelungen, in der Bäckerei Kornheber ein Feuer zu legen, welches das Schlafzimmer von Erek Kornheber und seiner Frau in Asche verwandelte. Agnes Iringa kaufte fortan ihr Brot einige Straßen weiter.
Im religiösen Unterricht in der Schule, den ein kleiner Falkenaut mit einem Buckel auf der Nase hielt, lernte Frida das Prinzip von Ursache und Wirkung, was sie tief beeindruckte.
„Alles, was geschieht“, so sagte der Falkenaut, „wurde durch etwas bedingt. Nichts geschieht einfach nur so. Wenn ich eine Kugel anstoße, dann rollt sie. Sie rollt aber niemals von alleine. Und was geschieht, kann man meistens auch voraussagen. Wenn das, dann das. Deshalb gibt es kein Glück, kein Pech, keine Wunder. Dinge geschehen, weil jemand sie angestoßen hat. Dass wir leben, liegt alleine daran, dass der große Dogan, der heilige Himmelsfalke, unsere Existenz angestoßen hat. Ohne ihn wären wir nicht.“
Frida hatte aufmerksam zugehört und war angetan. Diese Ansicht ergab Sinn. Wie oft hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Spielzeuge sich nicht selbst aufräumten oder dass Frösche erst dann laut quakend loshüpften, wenn man sie ordentlich piekste. Als Frida eifrig nachfragte, wer oder was dann den großen Dogan angestoßen hatte, damit er losflog und das Leben schuf, bekam Frida die schlimmste Tracht Prügel an die sie sich erinnern konnte. Wenn du die falschen Fragen stellst, dann wirst du bestraft.
Ursache und Wirkung bestimmten Fridas Leben. Es war eine Regel, die alles erklärte. Wenn du nicht in die Schule gehst, dann verprügelt dich der Falkenaut nicht. Wenn du auf der Straße spielst, dann erlebst du was. Wenn du den Nachbarsjungen schlägst, dann wirst du von seinem Bruder härter geschlagen. Wenn du Oberstädter bestiehlst, dann bist du reich und es passiert nichts, weil du schneller laufen kannst und dich besser auskennst als die Stadtwache. Und: Wenn du jemandem sein Haus anzündest, dann will er dich nicht heiraten.
Je mehr Ursachen und Wirkungen sie kannte, desto besser ließ es sich leben. Denn wenn sie einmal gelernt hatte, eine Wirkung vorher zu sehen, konnte sie sich ihr entziehen. Wenn du nicht zur Schule gehst, dann wird Vater böse. Aber wenn du wenigstens so tust als ob du gehst, dann ist er zufrieden. Aber manchmal, da versagte das Prinzip. Halt, nein. Nicht das Prinzip. Manchmal, da versagte Frida. Und das kam so:
Als Frida neun Jahre alt war, gelang es ihr mit zwei anderen Straßenkindern und dem alten Graufell Hasenstab in einen verschlossenen Raum des Varietés in der Oberstadt einzubrechen, in dem der neu erworbene Filmprojektor aufbewahrt wurde. Es fiel ihr gar nicht schwer, herauszufinden wie das Ding funktionierte. Es stellte sich heraus, dass Frida begabt darin war, die Kurbel des Projektors in genau der richtigen Geschwindigkeit zu drehen, so dass die an der Wand flackernden Schattenmenschen sich naturgetreu bewegten. Hasenstab pfiff dazu auf seinem Kamm. Für ein paar Minuten war Frida das glücklichste Kind in Litho. Leider bekamen die Stadtwächter Wind von der Sache und stürmten die Vorstellung. Frida wurde verhaftet und musste drei Tage lang in einer Zelle auf der Wache schmoren, bis ihr Vater herausgefunden hatte, was passiert war. Er kaufte sie für einen Monatslohn wieder frei.
Wenn du einbrichst, dann wirst du verhaftet. Das hatte sie vorher schon gewusst. Aber sie wollte nicht daran denken. Denn hier ging es nicht um Unbedeutendes. Es ging um Filmbilder. Und das war wichtig. Da nahm sie auch mal unangenehme Wirkungen in Kauf. Schon immer erfüllte Frida eine heiße Liebe für alle Arten von bewegten Bildern und seit diesem Tag auch der Hass gegen die Stadtwächter.
Doch da kam der Tag, an dem Fridas beinahe unbeschwertes Leben in der Unterstadt eine Wendung nahm. Das Frühjahr neigte sich dem Ende zu und die Hitze des Sommers legte sich über Litho. Und dann kam der Tag, an dem die unbescholtene Köchin Agnes Iringa, Fridas Mutter, in ihrer Küche ermordet wurde. Solche Dinge geschahen für gewöhnlich in der Unterstadt. Doch bei diesem Mord war das anders. An diesem Tag war Frida in der Schule und Jon Iringa bei der Arbeit im Hafen. Agnes Iringa hatte jemandem die Tür geöffnet, den sie kennen musste. Sie hatte diesen Unbekannten in die Wohnung gebeten, ihm einen Kuchen serviert (man fand zwei Teller auf dem Küchentisch stehen) und war vergiftet worden. Nichts fehlte, kein Schmuck, kein Geld, keine persönlichen Gegenstände. Selbstmord schloss die Stadtwache schnell aus, denn es gab keinen Abschiedsbrief und die Lebensfreude der jungen Frau war in der ganzen Nachbarschaft bekannt. Dazu war ein Gift verwendet worden, das in Litho nicht leicht zu beschaffen war. Rizin stammt aus den Samen des Wunderbaumes, der nur im Südland am Meer wuchs. Es war ein handfester Mord.
Die Stadtwache konnte sich das nicht erklären, denn Agnes Iringa hatte keine Feinde. Jon, so bestätigten dreißig Zeugen, hatte seinen Arbeitsplatz nicht verlassen. Agnes und Jon hatten keine Verwandten in der Stadt. Nachbarn und Freunde waren ratlos. Schließlich gab die Stadtwache nur wenige Tage später auf. Wie sie es immer taten, wenn ein Unterstädter den Tod fand.
Fast eine Woche nach dem Mord wurde die Asche von Agnes Iringa dem Fluss Aphel übergeben. Ein Falkenaut und sein Tempelläufer hielten die kleine Zeremonie ab. Jon und die wenigen Freunde hatten sich schon umgedreht und waren zurück in die Stadt gelaufen. Doch Frida war am Ufer stehen geblieben, nur wenige Schritte von dem Falkenauten entfernt. Sie sah zitternd ihrem Vater nach, der tränenüberströmt wie ein Blinder von zwei Hafenmännern fortgeführt wurde.
Gerade war der Tempelläufer dabei, das heilige Buch in seiner Tasche zu verstauen als der Falkenaut diese Worte zu ihm sagte, die Frida nie vergessen würde. Er sagte: „So hat die Ketzerin ihr gerechtes Urteil erfahren.“
Der Tempelläufer nickte und beide gingen fort. Sie hatten Frida nicht bemerkt. Das kleine Mädchen stand bebend vor Zorn am Ufer.
„Mama…“, flüsterte sie. „Das ist nicht wahr, er lügt! Bitte… bitte komm zurück. Bitte. Ich hab‘ Angst!“
Der Aphel glitzerte schillernd in der Sonne. Es war nichts zu hören außer das stetige Flüstern und Gluckern des Wassers. Frida kniete sich hin und griff nach einem kantigen Stein, der in der Erde lag. Sie drückte ihn so fest zusammen, dass sich die scharfen Kanten in ihre Haut ritzten. Kleine Blutstropfen quollen heraus. Frida starrte leer auf den Stein. Sie merkte kaum, dass schwere, salzige Tränen in ihre Hand tropften und das dunkle Blut hellrot färbten. Eine Welle der Wut überschwemmte sie. Frida sprang auf, schleuderte den Stein ins Wasser soweit sie konnte und schrie:
„Er lügt! Er lügt! Komm zurück, Mama! Sag ihm, dass er lügt!“
Der Stein plumpste hinein. Große konzentrische Kreise markierten die Stelle wo er verschwunden war. Niemand antworte Frida. Sie atmete heftig und schluchzte. Plötzlich erhob sich am anderen Ufer ein Vogel in den blauen Himmel. Es war ein Falke. Frida beobachtete ihn, er flatterte steil hinauf zum Gebirge Perihel.
„Bring sie zurück!“, brüllte Frida. „Bring sie zurück! Sie ist keine Ketzerin!“
Ihre Stimme überschlug sich. Sie weinte und weinte, während die Schwingen des Vogels in der Ferne unsichtbar wurden.
„Ich hasse dich!“, schrie sie ihm in den Himmel nach.
Stundenlang stand Frida am Ufer des Flusses Aphel. Als die Tränen versiegten, setzte sie sich ins Gras und wiegte sich hin und her. Der Falke kam nicht wieder. Während die Sonne langsam hinter dem Gebirge Perihel verschwand und die Schatten durch das Tal krochen, dachte sie immer über diese Worte des Falkenauten nach. Und je länger sie grübelte, desto sicherer wurde sie. Agnes war ein guter, weichherziger Mensch gewesen. Sie hatte wunderbare Kuchen gebacken, verletzte Tiere von der Straße geholt und mit Frida so lange gepflegt, bis sie wieder gesund waren. Sie war die beste Mutter der Welt gewesen, das wusste Frida. Und wenn ihre Mutter eine Ketzerin gewesen war, dann waren Ketzer gute Menschen. Es war nicht gerecht, dass ihre Mutter sterben musste. Die Falkenauten waren böse. „Ich mache eine neue Wirkung“, beschloss Frida. „Wer meine Mutter tötet, den werde ich jagen und bestrafen.“
Als Frida im Dunkeln zurück schlich, hörte sie vor dem Haus ihren Vater mit der Nachbarin sprechen. Frida verharrte still am Eckstein.
„Kinners vergessen, Iringa. Des Fridle ist noch klein. Die weiß das nimmer in zehn Jahr’n. Heirat’n se nochmal, dann sin geordnete Verhältnisse.“
Die Antwort ihres Vaters war sehr leise. Sie hörte nur, wie die Nachbarin scharf die Luft einzog, „Horch, Dogan!“ zischte und davoneilte.
Wenn Menschen wie die Nachbarin glaubten, Kinder würden vergessen, irrten sie sich. Denn die Worte und Ereignisse, die Frida an diesem Tag hörte, gruben sich tief in ihre Seele. Wenn sie in den nächsten Jahren ihres jungen Lebens nachts schweißgebadet und zornig in ihrem Bett aufwachte, sah und hörte sie nur eines: „So hat die Ketzerin ihr gerechtes Urteil erfahren.“
Ursache, Wirkung. Bisweilen liegen diese beiden Ereignisse sehr lange auseinander. Zum Beispiel zehn Jahre.
In der freien Stadt Litho in der Unterstadt saß eine junge Frau auf dem Boden ihres Kleiderschrankes, eine schwere Schreibmaschine auf den Knien und tippte. Über ihr brannte eine elektrische Glühlampe, die den dunklen Schrank erhellte. Es roch nach altem Holz, Farbbändern und muffiger Kleidung. Im Schein der Lampe schimmerten die schwarzen Locken, die auf die schmalen Schultern des Mädchens – der jungen Frau fielen. Die ‚Südländerin‘ wurde sie inzwischen nicht mehr genannt. Sie war blass geworden, als hätte sie schon Jahre in diesem Schrank gesessen. Ihre Augen, klein und perlmuttgrau, waren angestrengt zusammengekniffen. Wenn nicht die tiefe Zornesfalte über der Nase gewesen wäre, so wäre sie eine schöne Frau. Sie verlieh ihr ein grimmiges Aussehen.
Die junge Frau – ihr Name war Frida – trug Handschuhe aus Wolle und tippte mit nur einem Finger. Der Anschlag auf der Schreibmaschine verriet meist zu viel über den Verfasser, daher war die lange und mühsame Ein-Finger-Technik bedeutend sicherer. Neben ihr lag ein Stapel an beschriebenen Papierbögen.
Als sie hundert Bögen getippt hatte, hielt Frida inne und seufzte tief. Ihr Arm tat weh. Jedes Mal, wenn Frida aufsah, so wie jetzt, starrte sie auf ihren alten Wintermantel, der Mottenlöcher hatte. Vorsichtig rollte sie den letzten Papierbogen aus der Schreibwalze und legte ihn zuoberst auf den Stapel. Dann schob sie die Schreibmaschine in die linke hinterste Ecke des Schrankes und versteckte sie unter einem Stapel Nachthemden. Frida knipste das Licht aus, klemmte sich den Papierstapel unter den Arm und öffnete die Schranktür. Mühsam kletterte sie hinaus und als sie sich aufrichtete, knackten ihre Knie und Wirbel verdächtig. Seit Mitternacht hatte Frida in dem Kleiderschrank unter der elektrischen Glühlampe gesessen und mit einem Finger getippt. Sie war hungrig und müde. Vor allem fühlte sie sich krumm. Frida war größer als die meisten Frauen in Litho und das Sitzen im Kleiderschrank war anstrengend. Sorgfältig schloss sie den Schrank ab und steckte den Schlüssel in einen Beutel, der an ihrem Gürtel hing. Sie drehte sich zu den Fenstern um, vor die sie schon in der Nacht die Vorhänge gezogen hatte. Steif in den Knien stakste Frida zu ihrem Schreibtisch vor den Fenstern. Darauf lag eine verbeulte Schultasche. Frida öffnete sie, steckte den Papierstapel hinein und stellte sie zurück auf den Schreibtisch. Ein Blick auf den kleinen schwarzen Wecker sagte ihr, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie zog den braunen Ledermantel über und band sich zuletzt ein Tuch um den Kopf, unter dem sie ihre schwarzen Locken versteckte. Sie klemmte sich die verbeulte Tasche unter den Arm und verließ pünktlich um halb vier in der Frühe die Wohnung.
Schon als Frida in das Treppenhaus trat, hörte sie leises Gemurmel. Sie lehnte sich über das breite Geländer und sah hinunter. Halb im Schatten der Treppe verborgen standen fünf Halbwüchsige und flüsterten aufgeregt miteinander. Schnell lief Frida ins Erdgeschoss. Die Jungen verstummten und beobachteten, wie sie die letzten Stufen hinunterstieg.
„Zum Dogan“, sagte Frida leise. „Was genau soll das werden?“
Der Größte von ihnen, ein hellblonder, schlaksiger Junge von siebzehn Jahren trat auf sie zu und lächelte nervös. Er reichte ihr bis ans Kinn.
„Morgen, Frida.“
Seine Stimme klang dünn und heiser.
„Tag, Leo.“
Ihre Augen wanderten über die anderen Jungen. Keiner von ihnen war älter als fünfzehn Jahre. Sie sahen mager aus und blass. Frida räusperte sich und sagte so leise wie möglich, um die Nachbarn nicht aufzuwecken: „Ich weiß, was ihr wollt. Aber das kommt nicht in Frage. Ich mache das allein.“
Die Jungen wechselten schnelle Blicke untereinander. Leo wandte sich wieder an Frida. Er richtete sich hoch auf und blickte sie unverwandt an. „Das kannst du nicht. Du brauchst uns.“
Frida wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte viel Zeit in der chaotischen und lumpigen Unterstadtbibliothek verbracht. In den Büchern, egal ob in Geschichtsbüchern oder in Romanen, begannen alle Revolutionen mit einem Haufen Halbwüchsiger, die heimlich Schriften im Keller, auf dem Dachboden oder im Kleiderschrank verfassten und Plakate an Wände klebten. Der entscheidende Punkt dabei schien zu sein, dass es immer ein Haufen Halbwüchsiger war, die sich tragende Namen wieDie blauen WölfeoderDer Antimagische UntergrundoderViolette Hexen Fraktiongegeben hatten. Selten hatte eine einzige Frau ein ganzes Regierungssystem zum Einsturz gebracht. Abgesehen von der Muttergöttin Yetunde aber die war, ja, eine Göttin. Frida ballte die Fäuste und drückte die Tasche fester gegen ihren Bauch.
„Geht heim“, zischte sie. „Ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch einlasst. Jetzt haut schon ab, los!“
Die Jungen sahen beunruhigt aus und begannen, mit den Füßen zu scharren. Leo blieb wie festgefroren stehen und starrte Frida an. Er rezitierte, leise und nachdrücklich:
„Du weißt, wie das jetzt läuft, Frida. Neuntes Gesetz der freien Stadt Litho: Alle Formen der Zauberei, Magie, Wahrsagerei, Astrologie, Alchemie und sonstiger Ketzerei sind in ihrer Ausübung verboten. Der Besitz, die Anfertigung oder Verbreitung von Büchern, Schriften oder Artefakten der Zauberei, Magie, Wahrsagerei, Astrologie, Alchemie oder sonstiger Ketzerei ist verboten. Verstöße gegen diese Verbote werden mit einer Anklage wegen Ketzerei verfolgt und bestraft. Ferner…“
„Ja, schon gut, schon gut, halt endlich die Klappe!“, fauchte Frida.
„Siehst du“, er triumphierte. „Wir wissen genau, worauf wir uns einlassen.“
Frida wurde wütend und konnte ihre Stimme nur mit Mühe ruhig halten. „Nein. Nein Leo, du hast keine Ahnung, ihr habt keine Ahnung! Ihr seid bescheuert, dass ihr hergekommen seid.“
Die Idee der Jungs war im Ansatz gut, das wusste Frida. Die Lithoaner – wie auch alle anderen Menschen in allen anderen Ländern und Zeitaltern – hatten ein festes Bild davon, wie ein Ketzer aussah und dem entsprachen diese Jungen nicht. Wenn es eine möglichst ungefährliche Art und Weise gab, ketzerische Schriften zu verteilen, dann diese. Aber Frida wollte es alleine tun. Sie wollte nicht, dass die Jungen wegen ihr in Gefahr gerieten.
Leo warf den Kopf zur Seite und begann, freudlos zu lachen. „Eher bist du die, die keine Ahnung hat!“
Die Augen des Jungen brannten hell. Er sah auf einmal schrecklich aus, wie ein Tier. Seine Stimme wurde schneidend. „Vor einem Monat haben sie meinen Vater verhaftet, weil er die Tempelsteuer nicht bezahlt hat. Er konnte nicht zahlen und jetzt ist er weg, im Gefängnis. Meine Mutter und meine Schwester verrecken bald vor Hunger, verstehst du? Ich habe gestern meine Mutter gesehen, wie sie in den Abfällen der Nachbarn nach irgendwas zu Essen gesucht hat.“
Leo knirschte mit den Zähnen, schloss die Augen und atmete schwer.
„Weil mein Vater die Tempelsteuer nicht bezahlt hat, Frida, kapierst du das? Weil er den Falkenauten nicht noch mehr Geld in den Arsch geschoben hat, deswegen sperren sie ihn ein und meine Familie verhungert!“
Er ballte die Fäuste so, dass die Adern hervortraten. Er schlug einem Jungen neben ihm gegen die Schulter. „Sein Vater hier hat die Arbeit verloren, weil er gesagt hat, sein Falkenaut wäre ein Schwachkopf.“
Leo wies auf einen blassen Jungen, der zuhinterst stand.
„Seine Mutter ist seit einem halben Jahr verschwunden, die Stadtwächter haben sie verschleppt und weggesperrt, weil sie Horoskope geschrieben hat.“
Leos Stimme zitterte und er sah Frida lange und verzweifelt an. „Kapierst du’s, Frida Iringa?“
Schweigend taxierte Frida die Jungen. Die kleine Gruppe stand dicht aneinander gedrängt in dem kühlen, stillen Treppenhaus und sie alle sahen Frida an als ob sie die Lösung hätte, ein Heilmittel für alles, was passiert ist. Sie fühlte die Wut, genau dieselbe Wut, die seit zehn Jahren auch durch ihre Adern floss.
„Ich weiß, Leo. Ich weiß das. Aber für ein paar Flugblätter dürft ihr euer Leben nicht riskieren“, murmelte sie.
„Wir wollen was tun“, sagte Leo heftig. „Irgendwas anderes als rumzusitzen und zuzusehen. Und du riskierst es auch. Du weißt es doch.“
Da verstand Frida. Sie konnte sie nicht nach Hause schicken. Das war jetzt nicht mehr allein ihr Protest. Das ging alle an. Es wurde schlimmer mit den Falkenauten. Die Priester des Dogan schöpften den Armen das Geld ab und ihre Religion hatte zu viel Einfluss auf die Stadtwache. Die Jungen hatten genau wie sie ein Recht darauf sich zu wehren. Wer leidet, will und muss zurückschlagen. Sie nickte und zuckte mit den Schultern als würde sie sagen:Wenn’s sein muss. Leo entspannte sich und die Jungen atmeten erleichtert auf.
„Wie heißt das Flugblatt?“, fragte Leo.
Frida klopfte leicht auf ihre Tasche. „Die Schlafenden erwachen.“
Die Jungen grinsten. „Passt gut zur Uhrzeit!“, rief Leo.
Wenige Minuten später lief die kleine Gruppe verstohlen an den schäbigen Häusern der Hafenarbeiter vorbei, in Richtung des großen Handelsplatzes vor Govina in der Unterstadt. Frida ging voran, die Jungen liefen hinter ihr her und flüsterten leise miteinander. Frida war in Gedanken versunken. Sie wollte kämpfen, sich wehren gegen das Leid, das die Gesetze über die Unterstädter brachten. Sie wusste nur nicht, ob sie es richtig machte. Es war einfach, in einem Kleiderschrank zu sitzen und Worte hinzuschreiben. Aber es war etwas völlig anderes, auf der Straße zu sein und das Elend zu erleben, so wie Leo und seine Freunde. Sie hatte Glück, die Mutter hatte ihr Hausrat und Schmuck vermacht. Sie konnte sorgenfrei leben und schlug sich als Aushilfe in der Bibliothek durch, um die Kammer und Essen zu zahlen. Sie konnte sich ganz den Büchern und der Suche nach Antworten widmen. Wie konnte den Falkenauten die Macht genommen werden? Warum musste ihre Mutter sterben? Eine ewige Suche. Sie fühlte eine Leere, die schwer zu füllen war. Besonders wenn sie allein in ihrer Wohnung saß und draußen die Nacht aufzog. Irgendetwas fehlte. Sie konnte nicht sagen was es war. War es ihre Mutter, die fehlte? Der Glaube, wie die Falkenauten sicher sagen würden? Sie wusste es nicht. Aber sie ahnte, dass es etwas anderes sein musste. Diese Stadt war das ewig Gleiche und das Leben war das ewig Gleiche. Und das Gefühl hörte nur dann auf, wenn sie in den Schrank stieg und Worte hinschrieb.
Sie wollte den Unterstädtern helfen. Aber was sollte sie tun? Was konnte sie tun, ohne jemanden in Gefahr zu bringen? Die Dinge mussten sich ändern.
Dinge geschehen, weil jemand sie angestoßen hat. Und ich will diejenige sein, die die Dinge anstößt.
Die Stadt Litho war von Anfang an geteilt gewesen. Die Menschen der Oberstadt hatten keine Probleme mit den Falkenauten oder mit dem Dogan. Sie konnten alle Steuern zahlen, sie konnten jeden Tag in den Tempel laufen und großzügig spenden. Und wenn sie die Gesetze brachen, dann gab es genug Schweigegeld, das fließen konnte oder andere Druckmittel.
Im Stadtrat saßen nur Oberstädter, die keine Ahnung hatten wie das Leben südlich des Flusses Aphels war. Warum sollten sie Gesetze ändern, die funktionierten?
Der Himmel war bereits mehr grau als schwarz. Bald würde die Sonne aufgehen. Vor Frida und ihren Gefährten tauchte der große Handelsplatz auf. Er war menschenleer. Die Läden der Fenster rund herum waren fest geschlossen. In dem großen neuen Kaufhaus, das an den Handelsplatz angrenzte, waren einige Fenster von elektrischen Lampen erhellt. Oben auf dem Flachdach dampften zwei Schornsteine. Frida steuerte genau darauf zu. Als sie vor der verriegelten Doppeltür des Kaufhauses standen, blieb sie stehen.
„Fangen wir an!“, sagte sie.
Als die Sonne die Berge Perihel im Osten erklommen hatte und Litho mit sanft sommerlichem Licht überflutete, erwachte auf dem großen Handelsplatz in Litho-Unterstadt das Leben. Heute ging der Wind und kleine Wolkenfetzen jagten über die Menschen hinweg. Pferdewagen fuhren vor und es wurden Tische ausgeladen, Körbe voller Obst, Gemüse, Flechtwerk und handgenähter Kleidung. Die Bauern aus den Dörfern vor Litho stritten um Standplätze, Wagenvorfahrt und die Größe der Kartoffeln. Graufelle, die Bettler der Stadt, tauchten auf, suchten sich die besten freien Flächen neben den Ständen, legten ihre Decken hin und machten sich zum Betteln bereit. Ein Trupp schmutziger Straßenkinder wurde zum Klauen ausgeschickt. Leute jammerten über die Fischhändler, die ihre Beute in der aufgehenden Sonne zerlegten und einen schrecklichen Gestank verbreiteten. Manchmal kam ein Windstoß, der eine mühsam errichtete Überdachung weit davontrug und schreiende Händler liefen hinterdrein, um sie wieder einzufangen. Es war wie immer.
Zwischen dem Treiben streunte, von den meisten Menschen unbeachtet, eine kleine Gruppe Schuljungen herum, die von einer Frau mit einem grauen Kopftuch begleitet wurden. Später konnte sich kaum einer an diese kleine Gruppe erinnern. Die Aufregung begann erst als sie schon lange wieder verschwunden war.
Der Besitzer des Kaufhauses kam um Punkt neun Uhr und wollte die große Doppeltür entriegeln. Doch schon im Näherkommen bemerkte er, dass sie scheinbar neu gestrichen worden war. Eine erkleckliche Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Es war ungewöhnlich still. Als er seinen Schritt beschleunigte, da sah er, dass dies keine Farbe war, sondern die gesamte Türe von oben bis unten mit Papieren bepflastert war. Die Leute, die ihn kommen sahen, wichen stumm und feixend zur Seite und ließen ihn nach vorne durch.
Über das neue Schild, dass er gestern angebracht hatte– Kaufen Sie exotische südländische Lampen (elektrisch), jetzt neu im ersten Stock! –prangte eine andere Aufschrift:Die Schlafenden erwachen – Krieger für die Freiheit der Religion in Litho.
Doch damit nicht genug. Die Zettel tauchten den ganzen Morgen über an allen Stellen des Platzes auf. Zwischen den Hühnerkäfigen in Standreihe elf, in das Riemenzeug der Pferde gesteckt, in jeder Zeitung, die verkauft wurde und an den Rücken des Fischhändlers geklebt. Und jeder Windstoß fegte einen neuen Schwall der Zettel davon. Die Stadtwächter brauchten fünfzig Mann und bis zum Abend, um alle Zettel zu konfiszieren. Viele der Händler schienen keinen Finger rühren zu wollen, um ihnen dabei zu helfen. Der Skandal war ungeheuerlich und unaufhaltsam. Es war ein Tag wie kein anderer.
Mit einem Hochgefühl in der Brust verließ Frida am Abend ihre Wohnung. In dieser Nacht sollte ihre Schreibmaschine stillstehen. Heute Abend wollte sie David treffen.
Frida ging etwa zehn Minuten und gelangte an ein Haus in einer staubigen, ungepflasterten Straße. Über dem Hauseingang waren die abgeblätterten Buchstaben zu lesen:Warenladen Kirsch & Sohn. In den Fenstern klebten bunte Plakate, dahinter waren die Vorhänge geschlossen. Frida öffnete die Tür und trat ein.
Sie stand in einem schäbigen, kleinen Ladenlokal, das keines mehr war. In dem Raum drängelten aufgeregte Männer, Frauen und Kinder auf den Tresen zu. Die Wände waren bestückt mit Kleiderhaken, an denen braune und graue Mänteln hingen. Davor standen Burschen mit löchrigen Mützen, die hie und da Worte in die Menge riefen und Leuten gegen Geld die Mäntel abnahmen. Verträumt wanderten Fridas Augen herum. Die Schaufenster waren mit schweren schwarzen Vorhängen verhüllt. An der Decke thronte ein verstaubter Kristallleuchter. Nahezu alle Männer rauchten Zigaretten und die Luft war schwer und vernebelt. Fridas Blick fiel auf ein Plakat, das achtlos an eine große Staffelei neben dem Eingang genagelt worden war. Die schlampig verschnörkelten Buchstaben verkündeten:
Willkommen im Kinematographen „Haus Ronyane“ (Litho-U.)!
Frida schlängelte sich geschickt seitwärts an der Menge vorbei vor an die Theke. Dort stand eine dicke Frau mit noch dunklerer Haut als Frida und schwarzem Haar. Sie trug weite, pfirsichfarbene Kleider und war trotz des Chaos um sie herum gelassen und fröhlich. Als sie Frida entdeckte, blitzen ihre Augen kurz auf und sie ging, die anderen Kunden nicht mehr beachtend, auf Frida zu. Frida legte ihre Arme auf das zerschlissene Holz und beugte sich weit nach vorne, damit die Frau die verstehen konnte.
„N‘abend, Canan. Zehn Uhr dreißig, ein Platz auf der richtigen Seite für eineinhalb Stunden, bitte.“
Die Frau lächelte, griff in die Tasche, die sie um die Hüften geschnallt hatte und kramte einen roten, handgeschriebenen Nummernzettel hervor.
„Schön, dich mal wieder zu sehen, Frida. Wie geht’s Jon?“
Frida zuckte zusammen und spürte ihr Hochgefühl wegfliegen. Den ganzen Tag hatte sie den Gedanken an ihren Vater vermieden. Sie zuckte mit den Schultern, legte drei Münzen auf den Tresen, griff den Nummernzettel und richtete sich kerzengerade auf.
„Viel Spaß mit den bewegten Bildern.“ Canan blinzelte und fügte leiser hinzu: „Und viel Glück mit… deinen weiteren… Aktionen.“
Frida starrte sie mit offenem Mund an, doch Canan drehte sich zu ihrer schreienden Kundschaft um und begann, mit einer Familie zur Rechten zu reden.
Als Frida unsanft in den Rücken gestoßen wurde, machte sie, dass sie davonkam, am Tresen vorbei und durch eine klapprige Holztür. Es war doch nicht zu glauben, dass Canan Ronyane immer mehr wusste als der Rest der Unterstadt
Frida betrat einen tunnelartigen, dunklen Raum. Die Luft, die ihr entgegenschlug war so schlecht, dass ihr schwindelig wurde. Der Raum war voller Menschen. Stimmengewirr, Klaviermusik und lautes Lachen dröhnte in ihren Ohren. Links und rechts standen Reihen voller Klappstühle, die alle besetzt waren. In der Mitte des Raumes war ein großes, weißes Laken aufgespannt, dass an einer Stange hing, die mit Seilen am Dachgebälk befestigt waren. Frida steuerte direkt auf die Leinwand zu. Vorne stand eine kleine, dürre Frau, die Frida mühelos als die Witwe des Schuhmachers Graav erkannte. Ohne dass auch nur ein Ton in dem allgemeinen Lärm auszumachen war sah es so aus als schreie sie sich die Seele aus dem Leib. Als Frida näherkam, konnte sie die krähenartige Stimme verstehen.
„Nummer dreiundzwanzig bis siebenundsechzig verlassen jetzt bitte das Lichtspielhaus, ihre Zeit ist um! Zum Dogan noch mal! Raus, raus!“
Als Antwort erhielt sie nur heiseres Gelächter, ein Glas flog in hohem Bogen durch die Luft und verfehlte die rechte Schläfe der alten Frau nur um einen Fingerbreit. Frida schlug einen Bogen um sie und trat links an der Leinwand vorbei. Die Rückseite des Raumes schien wie ein absolut identisches Spiegelbild der Vorderseite. Auch hier waren Klappstühle aufgereiht, der Rückseite der Leinwand zugerichtet. Auch hier war es laut, nur mit dem Unterschied, dass etwas weniger Besucher auf dieser Seite saßen. Frida streunte durch die Reihen und ließ sich schließlich weit hinten am Innengang nieder. Nur wenige Meter hinter ihr stand der massive Filmprojektor, an dem gerade ein alter, aber muskelbepackter Mann mit einer dicken Zigarre im Mund herumwerkelte. Viele Stühle um Frida herum waren leer und sie begriff wieder einmal, wie viel Glück sie hatte, genug Geld für die richtige Seite zu besitzen. Die Menschen hinter der Leinwand würden den Film nur verkehrt herum sehen können.
Plötzlich johlte die Menge auf der anderen Seite auf und Frida beobachtete, wie zwei Männer (wahrscheinlich die Musiker) aufgestanden waren und sich nervös mehrfach Richtung Publikum verneigten. Dann traten die beiden hinter die Leinwand und Frida erhaschte einen Blick auf einen Mann mit langen Beinen, der einen geflickten Frack trug und einen kleinen Übergewichtigen, der gelangweilt hinter ihm her trottete. Wahrscheinlich hatte er den Film allein an diesem Tag schon zehnmal gesehen und dazu gespielt, seine Arbeit schien ihn nicht mehr begeistern zu können. Er trat an die Seite und setzte sich an ein schwarzes Klavier, der Lange gesellte sich zu ihm und hob eine Geige auf, die an der Wand gelehnt hatte. Sie tauschten gereizte Blicke mit dem Alten am Projektor, der wüste Gesten mit der Hand machte.
„Fangt aaan!“, brüllte ein Junge ein paar Reihen vor Frida. Im nebligen Halbdunkel erkannte sie einen neunjährigen Taschendieb aus ihrer Straße. Er schwenkte einen großen Krug Bier und stieß damit ständig gegen den Arm seiner zwölfjährigen Schwester, die mit einer heruntergebrannten Zigarette zwischen den Fingern auf die Leinwand gaffte. Frida registrierte zufrieden, dass beide von dem großen SchildKinder unter 14 verbotenkeine Notiz genommen hatten. Sie dachte an ihre eigene Kindheit in den dunkelsten und schmutzigsten Gassen von Litho-Unterstadt zurück. Sie hatte ein Leben geführt, in dem jeder Tag ein neuer Kampf war. An dem sie nicht der Schwächere sein durfte, egal was kam. In dem alles, was sie in ihrem Leben erreichen konnte davon abhing, wie viele andere Kinder ihren Namen mit Angst aussprachen. Gerade für ein Mädchen wie Frida war das wichtig, wenn man sich nicht auf außergewöhnliche Schönheit verlassen konnte um das Leben angenehm geregelt zu kriegen. Aber Frida war stark und mutig gewesen, ihr Faustschlag der Härteste im Viertel. Eigentlich, so dachte sie, hatte das Leben früher auch gute Seiten gehabt. Zum Beispiel die Erfindung der bewegten Bilder. Die Jagd nach gedankenlosen Oberstädtern. Oder nächtliche Bandenkriege um einen halbverrosteten Generator.
Endlich ratterte der Projektor los. Eine Gruppe von Männern schrie vor Freude über so viel Licht auf und begann mit einem Kartenspiel. Frida blickte sich nervös um. Wo war David?
Plötzlich griff jemand nach ihrem Arm.
„Ich würde sagen, wenn sogar du mich nicht erkennst ist meine Verkleidung diesmal wirklich gut“, murmelte er.
„David, du siehst absolut dämlich aus!“
Der junge Mann trug den braunen Mantel eines Arbeiters, der mit Flicken an den unmöglichsten Stellen übersäht war. Das blasse Gesicht war mit Ruß beschmiert und die Hände steckten in an den Fingern angeschnittenen Handschuhen. Er fühlte sich offenbar geschmeichelt und lächelte breit.
„Falka hat mir geholfen, sie hat die Kleidung ein bisschen… bearbeitet.“
„Grandios“, flüstere Frida amüsiert.
„Super oder?“
„Außer einer riecht an dir und jetzt halt bloß den Mund!“
Nervös warf Frida Seitenblicke nach links und rechts, doch der allgemeine Lärm hatte ihr Gespräch verschluckt, niemand lauschte.
„Oh, schon klar“, knurrte David und ließ sich auf den Klappstuhl zurückgleiten.
Davids Stirn war in Falten gelegt und Frida betrachtete ihn nachdenklich. Er war besser verkleidet als das letzte Mal, vielleicht zu übertrieben. Außerdem kam es Frida so vor als ob die Verkleidung keinen Zweck hätte, würde nur einmal jemand genau hinsehen und Davids blasses, schön geschnittenes Gesicht und die weichen, viel zu sauberen Hände wahrnehmen. Er roch nach Seife. Er konnte es nicht verbergen, dass er aus der Oberstadt kam.
„Sie würden mir nichts tun“, kam es jetzt erbittert von seinen Lippen.
„Doch, sie würden dich verprügeln und ausrauben und danach nackt in den Aphel werfen“, zischte Frida.
David lachte. „Die Stadtwache würde mich schon rausziehen.“
„Ja, nachdem sie dich ausgelacht haben, dass du arrogant genug bist in die Unterstadt zu gehen.“
„Pfff…“, machte David. Frida verstummte.
Auf der Leinwand flimmerte ein schlechtes Schwarzweiß-Bild hin und her. Frida wusste, dass es ihre Idee gewesen war David in die Unterstadt zu schmuggeln. Er kam wegen des Lichtspielhauses, wegen der billigen und anspruchslosen Filme, die es in der Oberstadt nicht gab. Er kam wegen seiner Liebe zu den laufenden Bildern. Der besten Erfindung des letzten Jahrzehnts, wie Frida dachte. Das Einzige, was sie beide wirklich gemeinsam hatten.
Das Bild an der Leinwand nahm endlich Gestalt an. Frida lehnte sich zurück, das Kurbeln und Knattern des Projektors im Ohr. In weißer Schrift auf schwarzem Grund, von weißen Linien eingerahmt, erschien das Wort WOCHENSCHAU.
„Ah…“, hörte sie David dicht hinter sich flüstern, seinen warmen Atem am Hals spürend. „Was hat die Oberstadt diese Woche verbrochen?“
DREI-STÄDTE-TREFFEN IN LITHO, leuchtete es auf, gefolgt von Aufnahmen drei großzügig lächelnder und sich die Hände schüttelnder Männer in teuren Anzügen.
„Horcht“, krächzte die Stimme der Witwe Graav durch den Raum. „Da sieht ma‘ jetz‘ die drei Präsidenten vo‘ Asthenos. Unsern aus Litho, den Nordländer aus Kaon und den Südländer aus Pion, na ja die ham was Politisches besproch‘n. Sehn aber alle recht zufrieden aus, denk‘ ich, nä.“
„Weiber ham doch keine Ahnung von sowas!“, dröhnte es hinter Frida und laute Buhrufe drangen von der anderen Seite der Leinwand.
ABENDESSEN MIT WICHTIGEN PERSÖNLICHKEITEN DER STADT, dieselben drei Männer zwischen einem fetten Schnurrbärtigen und einer schönen Frau, die eine lange dünne Zigarette rauchte.
„HORCHT! Na und da seh‘n wir jetzt nen Haufen wichtiger Oberstädter beim Vollstopf‘n. Die Frau ist auch Witwe, glaub‘ ich“, fügte sie mit einem Anflug von Interesse hinzu. Einige Leute johlten.
„Die würd ich schon nehmen!“, brüllte ein Kartenspieler.
STADTWACHE BIRGT TOTEN AUS DEM APHEL, flimmerte es über die Leinwand.
„Ja und da seh‘ ma‘ jetzt die Stadtwache, da zieh‘n se einen aus dem Aphel, der ist ersoffen worden. Auf dem Zettel da steht, das war ein Falkenaut mit dem Namen Ferrana, na ja, das glaub‘ ich aber nicht.“
Frida spürte, wie David hinter ihr scharf die Luft ausstieß.
MANN WIRD VERMISST. Die Aufnahme einer unscharfen Fotografie ruckelte an der Leinwand auf und ab. Es zeigte einen blassen, glatzköpfigen Mann mit ausdruckslosem Gesicht, das über und über mit Tätowierungen bedeckt war.
„So, der Mann da wird von der Stadtwache gesucht, warum weiß keiner aber es soll auch ein Falkenaut sein, haha, na wer’s glaubt. Wenn den einer gesehen hat, soll er das“, sie stolperte kurz über das komplizierte Wort, „mitteilen.“
KUH VON AUTOMOBIL ÜBERFAHREN hieß es. Die Witwe Graav holte tief Luft. Frida wandte sich zu David um, der beunruhigt auf die Leinwand starrte.
„Was hältst du davon? Glaubst du das mit den Falkenauten?“, flüsterte Frida.
David antwortete nicht sofort, sondern betrachtete seine Hände.
„Zufällig weiß ich, dass der Tempelherr seit einigen Tagen nicht mehr in Litho ist. Wer weiß, vielleicht hat ein Falkenaut die Gelegenheit genutzt.“
„Für was, für Mord?“
David sah unbehaglich drein. „Mord gibt es in den Tempeln eigentlich nicht. Vielleicht war es ein Unfall, ein Streit, irgendwas Persönliches. Ich glaube“, fuhr er etwas lauter fort, „da ist sowieso nichts dran. Es waren bestimmt beides keine Falkenauten.“
Frida drehte sich auf ihrem Sitz wieder um. Sie konnte es auch nicht glauben. Falkenauten wurden heutzutage einfach nicht mehr ermordet, sondern bestochen. Die Zeiten gezielter Tötung, wie im Diamantenkrieg üblich, waren vorbei. Heute lebten sie in modernen, zivilisierten Zeiten.
FRÄULEIN MARIAS ZAUBERSCHUH – EIN FILM VON FRIDOLIN FRIEDHEIM erschien. Gleichzeitig begannen die Musiker wild drauflos zu spielen. In dieser Sekunde fiel Frida ein, was sie vor wenigen Minuten zu David gesagt hatte: Sie würden dich verprügeln und ausrauben und danach nackt in den Aphel werfen. Sie bereute, daran gedacht zu haben. Aber es war das, was die Menschen hier tun würden. War der Falkenaut von Unterstädtern getötet worden?
Vorsichtig schlug Frida den schweren Vorhang zurück, der den Vorführraum von der Straße trennte. Kalte, klare Luft streifte ihr Gesicht und sie trat auf den staubigen Schotter. David war direkt hinter ihr. Eine Gruppe kleiner Jungen stürmte schüchtern auf sie zu.
„Frollein Frida, können wir Ihre Karten haben?“, fragte der Älteste von ihnen atemlos. Frida zog die beiden roten Zettel hervor und drückte sie ihm in die schmutzigen Finger. „Zeit ist keine mehr drauf, sie haben uns schon rausgerufen“, warnte Frida.
„Macht nix“, sagte der Junge, strahlte dabei und winkte einen schwarzhaarigen Kleinen herbei, der ein Stück Kohle aus den Hosentaschen zog und eifrig die Nummern der Zettel bearbeitete. Frida zog David weiter, der den Jungen fasziniert zugesehen hatte.
„Warum tun sie das? Können sie nicht einfach durch den Vorhang und sich drinnen irgendwo verstecken? Sieht doch keiner!“
„Pah… Canan sieht alles und kennt jeden dieser Bengel beim Namen und beim Haus, darauf kannst du dich verlassen.“
Behutsam schüttelte David ihren festen Griff um sein Handgelenk ab und ging schweigend neben ihr her. Der Schotter knirschte leise unter seinen Schuhen. Sie gingen an den hohen, schmalen Häusern der Arbeiter vorbei, an den Backsteinhäusern der Händler und Nachtabsteigen, an betrunkenen Unterstädtern, die die Straßen zur Stube gemacht hatten und Graufellen, deren Blicke ihnen misstrauisch folgten. An jeder Ecke stapelte sich Müll und altes Gerümpel, es roch nach Urin, Fisch und Moder, der den Kanaldeckeln entstieg. David atmete tief ein. „Es ist großartig! Du hast Glück, dass du hier lebst. Hier ist man so frei.“
Frida schüttelte den Kopf, lächelte dabei aber breit. Sie hatte es aufgegeben, David vom Elend der Unterstadt zu überzeugen. Für ihn bedeutete das alles nur Freiheit, Ungehorsam, kurz alles, was er immer gewollt und nie gehabt hatte. Er summte leise vor sich hin, wie ein glücklicher Junge, der mit dem Stehlen davongekommen ist.
„Falka hat Neuigkeiten für dich“, platzte es unvermittelt aus ihm heraus.
„Ach ja? Was denn?“
„Sie hat eine Idee, wie wir dich auf unsere Hochzeit schleusen können. Wegen meiner Verkleidung, da ist sie heute darauf gekommen. Es geht ja auch umgekehrt, man kann dich ja als Oberstädterin verkleiden!“
Es entstand eine sekundenlange Stille. Das Wort hallte in ihr wider, immer lauter, bis es schrie.Hochzeit, Hochzeit, Hochzeit. Es war als wären die Lampen um sie herum erloschen und die Nacht drang näher. Ein Gefühl, klein, kalt und schmerzhaft in ihrem Magen, dass sie schnell und ohne großes Nachdenken niederzwang.
„Nein“, sagte Frida schließlich. „Es ist nicht dasselbe. In der Oberstadt werden sie wissen wollen, wie mein Name ist und aus welchem Haus ich komme. Ich kann nicht einfach… auftauchen und dann wieder in der Versenkung verschwinden.“
Darauf hatte David nur gewartet. „Daran hat sie auch gedacht. Da du Jon ja nicht mitbringen willst…“
Frida schnaubte.
„Falka hat einen Vetter aus dem Nordland, ein Kaff, das keiner kennt, Landadel, weißt du. Er würde dich als seine Verlobte ausgeben.“
„Nein!“, rief Frida.
David sah verletzt aus und zuckte leicht mit den Schultern. Frida biss sich auf die Zunge. Wie sollte sie das erklären, ohne ihn zu beleidigen?
„Schau, ich würde gern auf eure Hochzeit kommen. Aber wenn ich komme, dann will ich als ich selber kommen. Als das, was ich bin. Frida Iringa, Unterstädterin, Tochter von Jon Iringa, dem Hafenarbeiter. Ich schäme mich nicht dafür, verstehst du? Und ich will, dass sie das sehen und schlucken, diese widerlichen…“
„Warum willst du Jon nicht mitnehmen? Bist du immer noch wütend auf ihn?“, unterbrach sie David. Frida schluckte ärgerlich die Sätze herunter, die ihr im Hals steckten. Hatte er ein Wort von dem verstanden, was sie gerade gesagt hatte?
„Ich bin verdammt wütend auf ihn. Und… Jon würde niemals, nie seinen Fuß in die Oberstadt setzen. Selbst wenn der Aphel austrocknen würde!“
Vor ihnen tauchten die schwarzen, scharfkantigen Silhouetten der Bäume des Unterstadtparks auf, der sich über eine große Fläche entlang des Aphels erstreckte. Den Lärm und die grellen elektrischen Lichter der Unterstadt hinter sich lassend, tauchten sie in das Dunkel ein. Für ein paar Augenblicke blieben sie stehen, um ihre Augen an die nächtliche Finsternis zu gewöhnen. Es war hier deutlich kühler als zwischen den Backsteinhäusern des Hafenviertels. Bis zur Brücke in die Oberstadt war es noch eine halbe Meile. Der Pfad war schmal und schmutzig. Ein Tier huschte an ihnen vorbei und verschwand mit leisem Knacken in dem Unterholz der Bäume. Irgendwo schrie eine Katze.
„Bitte komm, Frida. Wir würden uns freuen“, sagte David leise.
Frida spürte einen scharfen, kurzen Schmerz in ihrer Kehle und schluckte. Es war nicht Recht, dachte sie, dass sie David für den Hass zwischen Lithos Ober- und Unterstadt verantwortlich machte. Er und Falka von Bahlow waren die wenigen, die keinen Unterschied machten, ihre einzigen Freunde jenseits des Flusses. Frida hatte David und Falka im Wanderzirkus kennengelernt, der vor einigen Jahren außerhalb der Stadt aufgebaut worden war. Sie hatten in einem der Zelte Filme gesehen, auf Holzbänken sitzend und der großen Orgel gelauscht, die dazu gespielt hatte. David hatte sie ausgefragt. Ob es ein Lichtspielhaus in der Unterstadt geben würde? Was der Eintritt koste? Ob man als Oberstädter hingehen könnte? Frida war zuerst abweisend und misstrauisch gewesen. Doch genau wie Frida waren David und Falka jeden Tag in dem Zelt mit den Filmen gewesen und immer hatte David sie ausgefragt, bis sie schließlich bereit gewesen war, ihn einmal mit in ein Ladenkino in der Unterstadt zu nehmen. Er war jede Woche wiedergekommen, in absonderlichste Verkleidungen gehüllt und sie wurden Freunde. Doch da gab es noch etwas, ein anderes Gefühl, leise und warm. Frida verdrängte es aus ihrem Verstand, doch es war schwer. Es wurde noch schwerer, seit sie von David und Falkas bevorstehender Hochzeit erfahren hatte. Eine nagende, verzweifelte Sehnsucht, versteckt unter einem Feuerwerk brennender Blitze in ihrer Brust, immer wenn sie David ansah.
„Ich überlege es mir, ja?“, murmelte sie.
David nickte. Schwacher Wind kam auf und ließ die Bäume erzittern. Frida glaubte, aus einiger Entfernung das Rauschen des Aphels zu hören. Endlich nahm Frida auch das betrübliche Dämmergrau des Parks wahr, den unterschwelligen Geruch nach Erde und Laub. Kein Tier war mehr zu hören. Die Stille um sie herum flirrte ihr in den Ohren. Nur ihre eigenen Schritte dröhnten durch die Nacht. Frida fröstelte mit einem Mal und tastete nach dem Messer, das sie immer in der Tasche ihres Mantels versteckt hielt. Fand es nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so unvorsichtig durch die nächtliche Unterstadt gelaufen war. Etwas von Davids Arglosigkeit schien auf sie übergegangen zu sein. Doch es war nicht mehr weit bis zu der Brücke, an der sie David verabschieden wollte.
„Was hast du deinem Vater erzählt, wo du heute bist?“
„Oh, das Übliche. In Falkas Haus.“
„Glaubst du, er findet nie raus, wo du in Wahrheit hingehst?“
David zuckte kurz mit den Schultern.
„Der großartige Adam Rothaar beschäftigt sich nicht mit so profanen Dingen wie seinen Söhnen. Er hat anderes zu tun, weißt du.“
Frida öffnete den Mund, um zu antworten aber die Worte blieben in ihrem Hals stecken. Zwischen den Bäumen erklang ganz nah der erstickte Schrei eines Menschen. Die beide erstarrten.
„Was war das? Da hat doch einer geschrien“, sagte Frida.
„Ja…“
David starrte angestrengt zu den Bäumen links von ihnen. Kein Laut war jetzt mehr zu hören. „Ich schau besser mal nach.“
„Nein, warte.“ Frida packte seinen Ärmel. „Das ist nicht so klug in der Unterstadt. Wer weiß, was da los ist. Wir sollten zusehen, dass wir wegkommen.“
„Ich bin vorbereitet auf die Unterstadt“, sagte David, griff in eine Tasche und zog zu Fridas Erstaunen eine kleine Pistole hervor.
„Bleib hier stehen, ich rufe dich, wenn ich irgendwas sehe. Es ist bestimmt nichts aber zur Sicherheit.“
David verschwand zwischen den Bäumen. Frida hörte, wie er sich durch das Gestrüpp bewegte. Dann war es still.Fehler, dachte Frida mit steigendem Puls,das ist einFehler, er hätte nicht alleine gehen sollen. Was hast du dir nur gedacht? Gar nichts hast du gedacht, wie immer, wenn David in der Nähe ist. Sie lief ein paar Schritte auf die Bäume zu, konnte nichts erkennen und blieb an der Stelle stehen, wo David verschwunden war. Der Wind blies wieder genau wie am Morgen, es rauschte in den Wipfeln. Frida fröstelte. Ihr langer Rock flatterte. Der Mond, bleich und sichelförmig, hing vor ihr über dem Pfad. Sie schaute sich um, doch auf dem Weg war niemand zu sehen.
„David?“, rief sie halblaut. Keine Antwort. Mit unsicheren Beinen trat Frida zwischen die Bäume, schob mit der Hand die Zweige zur Seite. Sollte sie hineingehen oder nicht? Sie beugte sich etwas vor. Da konnte sie Stimmen hören, gedämpft, nur Wortfetzen drangen durch das Rauschen. Ein leiser, erstickter Laut in der Nähe ließ sie zusammenfahren. Und dann hörte sie einen Schuss.
„David!“ Frida sprang zwischen die Bäume, stolperte, rannte ein paar Schritte, fiel über eine Wurzel am Boden, griff in das Geäst eines stacheligen Strauches und versuchte auf die Beine zu kommen. Mit der Linken stützte sie sich ab, mit der Rechten suchte sie hektisch nach ihrem Messer. „David!“
Vor ihr eine Regung. Es dauerte einen Augenblick, bis sie etwas erkennen konnte, denn die Schatten der Bäume verschluckten das Licht. Sie erkannte wie im Scherenschnitt zwei schwarze Gestalten, eine am Boden. Mitten in der Bewegung wurde sie auch zu Boden gerissen. Eine Hand presste sich auf ihren Mund. Sie wurde weggezerrt. Frida wehrte sich, schlug um sich. Dann hörte sie, wie eine Stimme knurrte: „Halt still, Mädchen! Ich will dir helfen!“
Frida wurde weitergezogen, mit den Händen versuchte sie den festen Griff um ihre Kehle zu lockern, ihre Beine schleiften über den Boden und schürften auf.
„Los, Kind, mach schon, beweg dich“, knurrte die Stimme wieder.
Hilflos wurde Frida weitergezerrt, sie grub ihre Fingernägel in den Arm, der sie festhielt. Mit den Füßen trat sie hinter sich. Frida war mit schmutzigen Kämpfen vertraut. Wenn du mir wehtust, dann tu ich dir auch weh. Der Mann schien außer Puste zu kommen, ließ sie fallen und gab ihr eine heftige Ohrfeige, die sie fast die Besinnung verlieren ließ. Als Frida die Augen wieder öffnen konnte, blickte sie in das Gesicht eines alten, grimmigen Mannes, der ihr bekannt vorkam.
„Reiß dich zusammen, wir müssen weg hier!“, murmelte er.
„David, was ist mit David?“, keuchte sie.
Er packte ihre Hand und zog sie hoch, hastete weiter, Frida nicht loslassend. Sie stemmte sich mit aller Kraft dagegen und versuchte, in die andere Richtung zu entkommen.
„Oh nein, das wirste nicht tun“, bellte der Mann. „Dein Freund bekommt schon Hilfe. Weiter, weiter!“
Frida spürte, wie sich einige Gedanken in ihrem Kopf zusammenfügten. „Ich weiß wer du bist“, keuchte Frida. „Das Kino… du… du kurbelst den Projektor oder?“
Er antwortete nicht, sondern hastete weiter, doch Frida wehrte sich weiter. Als er ihr schließlich ein scharf riechendes Tuch auf den Mund drückte, schloss sie die Augen und spürte nichts mehr.
Von weit oben, aus der Sicht des Falken, liegt der Inselkontinent Asthenos verloren im großen Ozean. Und doch ist er der Mittelpunkt der heute bekannten Welt. Kein Seemann wagt sich weiter als sieben Seemeilen von der Küste Asthenos weg. Denn weiß nicht jeder, es ist besser sich von allem fernzuhalten was hinter dem Horizont liegt?
Asthenos wird von der gewaltigen, zerklüfteten Gebirgskette Perihel und dem breiten Fluss Aphel genau in der Mitte durchtrennt. Diese natürliche Grenze hat die Politik der frühen Könige vereinfacht: Wo das Südland aufhört und wo das Nordland beginnt war deutlich und für jeden sichtbar. Darüber gab es niemals Streit. Oder, um ehrlich zu sein, wenigstens äußerst selten.
Direkt am Fuße des Gebirges Perihel, dort, wo der Fluss Aphel noch schmal ist – in der Mitte der heute bekannten Welt – liegt die große und freie Stadt Litho. Sie gehört keinem der beiden Länder an. Sie ist eine Grenzstadt. Litho, die geheimnisvolle, umtriebige Stadt, die Reisende von der Stadt Pion im Süden bis zu der Stadt Kaon im Norden seit hunderten von Jahren besingen. Sie hat alles gesehen, von der Großen Hexenjagd und dem Gesetz zur Magieausrottung im alt-acalanischen Zeitalter bis hin zur Erfindung des Kinematographen und der Fahrt der ersten Dampflok. Es heißt, ein heiliger Name sei in ihre Stadtmauer eingraviert, so dass niemand sie erobern kann. Diese Legende hat die Könige aus Süd- und Nordland niemals davon abgehalten es trotzdem zu versuchen. Doch die dunklen Zeitalter sind lange vorbei. Oh Litho, du goldene Stadt der Freiheit und des Fortschritts!
Mit sehnsüchtigen Blicken wird ein Reisender die strahlenden, entfernten Ufer der Oberstadt und mitten im bunten Dächermeer die goldene Kuppel des Dogantempels scheinen sehen, in dem der Tempelherr von Litho mit den Falkenauten lebt. Man sagt, der Tempelherr von Litho sei der mächtigste Mann des ganzen Kontinents. Was den Präsidenten der Stadt Litho gewaltig ärgerte.
Wenn der Reisende sich an der Oberstadt satt gesehen hat, so wird er sich der Unterstadt zuwenden. Die Häuser sind niedrig, schäbig und alt, die Dächer grau. So ist von jedem erhöhten Standpunkt die Stadtmauer zu erkennen.
Achtlos wird der Reisende vorübergehen, wenn er auf solche Unterstadt-Menschen wie den jungen Aki trifft. Ein dreckiger, stinkender und lumpiger Graufell, der nicht weit entfernt vom Hafen am Rande einer Seitenstraße stand und geduldig wartete.
Im Hafenviertel lebt die Mehrheit der Graufelle dieser Stadt. Meist sind es arme Menschen, Irre, Säufer, Diebe und übliches Gesindel, das auf den Straßen bettelt. In letzter Zeit sind viele Flüchtlinge aus dem Nord- und Südland darunter. Sie kommen nach Litho, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Doch sie irrten sich. Niemand wusste das besser als Aki, genannt Wegemeistersohn.
Aki, das Graufell, verbarg sich im Schatten einer schmalen Gasse, die auf die belebte Seitenstraße hinausführte. Trotz der kühlen Abendluft rann ihm der Schweiß von den Achseln zu den Hüften hinunter und er fuhr sich immer wieder mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen. Vom langen Stehen taten ihm die Füße weh. Doch Hunger und Durst ließen ihn stocksteif ausharren.
Die wenigen Fußgänger, die an Aki vorbeiliefen, bemerkten ihn nicht. Und wenn ein zufälliger Blick ihn traf zuckte er wie verwundet zusammen. Er stellte sich vor, was sie über ihn denken mochten. Seine Gestalt war etwas zu klein für einen jungen Mann, wie die feinen und tagträumenden jungen Lithoanerinnen ihn sich vorstellten. Hätten nicht die Spuren einer langen Zeit von Hunger und Entbehrung ihr Mal auf seinem Körper hinterlassen, so wäre er kräftig gewesen. Die Augen in dem abgemagerten Gesicht standen schräg, was ihm einen heiteren, sanften Anschein geben konnte. Doch zeugten sie auch von der Listigkeit eines Fuchses. Sein ungewöhnlich helles Haar war dicht und von einer stumpfen Schere kurz geschnitten. Die Augen hatte er unverwandt geradeaus gerichtet. Er zog die Schultern hoch und stand wie geduckt, zur schnellen Flucht bereit. Sein Aussehen war das eines gutmütigen Menschen, der der Welt seit einiger Zeit großes Misstrauen entgegenbrachte. Und dieses war wahrhaftig nicht unbegründet, fand er.
In die Wand des gegenüberliegenden Hauses war in den Stein das Wort Stormkoog eingraviert worden und mit schwarzer Farbe nachgemalt. An dieses Haus grenzte ein schäbiges Straßenlokal, vor dem fünf Handwerker an einem Tisch saßen und mit abgegriffenen Karten Köpf die Hexe spielten. Sie rauchten ihre Pfeifen und tranken beißenden Schnaps, völlig vertieft in ihr Spiel ohne sich um die Menschen um sie herum zu kümmern. So ging es seit Stunden. Manchmal war einer stehengeblieben, um ihnen zuzusehen. Wenige, brummende Worte waren gewechselt worden und die Zuschauer entfernten sich bald wieder, da sie sich als Störenfriede fühlten oder eilige Geschäfte zu verrichten hatten. Manchmal kam der Wirt selbst heraus, ein schmutziger Mann der einem Weinfass glich und einen ausgefransten Schnurrbart trug. Er brachte Krüge und Tabak, stellte sich mit gekreuzten Armen und breitbeinig neben den Tisch, nickte, brummte, murmelte und drehte sich eine Zigarette zurecht, die halb in seinen Wurstfingern verschwand. Ausspuckend und Rauch zum Himmel blasend stand er so da, bis er den Stammgästen genug Anteilnahme gezollt hatte und verschwand wieder im Inneren des Straßenlokals. Diese Prozedur beobachtete Aki seit dem Mittag.
Die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Doch jetzt ballten sich seine Hände zu Fäusten. Er entdeckte, worauf er so lange gewartet hatte.
Zwei Männer verließen das Straßenlokal, einer von ihnen trug ein langes, helles Gewand. Aki erschrak als er in das Gesicht des einen Mannes blickte. Es war bleich und mit dunklen Linien und Tätowierungen übersäht. Doch schon zog der sich eine Kapuze über den Kopf und außer seinem Mund und dem kantigen Kinn konnte Aki nichts mehr erkennen. Aki hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Den anderen Mann kannte Aki gut.
Er sah zu, wie sie mit gedämpfter Stimme Worte wechselten. Dann hob der seltsame Helle die Hand zum Abschied, drehte sich um und verschwand. Der Andere verharrte einen Augenblick und wandte sich um. Er kam Aki entgegen.
„Raik!“, sagte Aki als der Mann ihn erreicht hatte. Der Angesprochene grinste müde. Er überragte Aki um gut zwei Kopflängen.
„Tut mir leid, hat länger gedauert. Hunger?“
Er kramte in seinen Hosentaschen, ohne Aki dabei anzusehen.
„Was denkst du denn? Warte schon eine Ewigkeit auf dich. Wer war dieser Kerl?“
Aki zögerte und runzelte die Stirn. „Sag mal, geht’s dir… bist du in Ordnung?“
Aki sah Raik an. Seit ihrem letzten Treffen vor wenigen Tagen hatte er sich vollkommen verändert. Die Wangen waren eingefallen und fettige Strähnen seines hellblonden, langen Haares umrahmten die blutroten Augen. Die Lippen waren spröde, fast blutig. Er sah aus als hätte er seitdem weder gegessen oder getrunken, noch geschlafen. Raik murmelte undeutlich, zog ein handgroßes Stück Brot aus seiner Tasche und hielt es Aki hin. Er sah, dass Raik trotz der Hitze Handschuhe trug.
„Hör mal, ich habe endlich gute Nachrichten für dich…“
Unruhig trat Raik von einem Fuß auf den anderen. Dann unterbrach er sich wieder. „Nimm das Brot.“
Aki griff gehorsam nach dem Stück und biss in die harte Rinde.
„Du wirst die Stadt verlassen.“
Vor Überraschung verschluckte Aki ein zu großes Stück. Tränenden Auges würgte er es hinunter. „Was… meinst du?“
„Ich meine…“, fuhr Raik leise fort, „du gehst fort von hier. Heute Nacht.“
„Was? Aber wieso? Warum heute?“, stammelte Aki.
Raik verzerrte sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
„Die Scheiße ist vorbei. Ich habe jemanden gefunden, der uns hilft. Weißt du, was das bedeutet? Wir können wieder nach Hause. Nicht sofort aber bald. Uns wird alles vergeben, wenn ich… Wenn ich meine Aufgabe richtig mache.“
Raiks Stimme brach und Aki sah die Hoffnung in seinem ausgezehrten Gesicht. Nach Hause… zurück nach Jordengard, zurück ins Nordland. Nichts hatte Aki sich mehr gewünscht, seit dem Tag als sie geflohen waren, seit dem Augenblick als er Litho zum ersten Mal betreten hatte, die gelobte Stadt, die wahre Hölle. Aber, das war ihnen beiden immer klar gewesen, einen Weg zurück gab es nicht.
„Das geht nicht. Die stecken uns sofort ins Gefängnis oder hängen uns… Bist du verrückt geworden?“
Raik straffte die hängenden Schultern. „Nein. Das werden sie nicht, wenn… Wenn ich alles richtig mach. Vertraust du mir, Aki?“
Aki starrte ihn an. „Klar. Habe ich immer. Trotzdem… was sollst du machen? Und für wen? Kann mir nicht vorstellen, dass jemand uns helfen kann. Keiner hilft… Mördern.“
Raik war bei den Worten blass geworden und Aki wurde bewusst, dass keiner von ihnen es jemals so direkt ausgesprochen hatte. Beide waren verstummt. Das laute Stimmengewirr des Straßenlokals drang zu ihnen herüber und erinnerte Aki daran, dass er noch immer auf offener Straße stand, dass es gefährlich war, hier zu sein, zu reden, zu existieren. Bevor er Raik daran erinnern konnte, hatte der wieder zu sprechen begonnen.
„Es gibt jemanden, der uns hilft. Frag nicht weiter nach, das ist meine Sache. Ich hol uns da raus, hörst du? Geh jetzt heim, pack dein Zeug und warte. Heut Nacht holen sie dich ab und bringen dich erstmal aufs Land, in den Süden. Du bleibst da, bis ich nachkomme. Und dann gehen wir nach Hause. Das ist der Pakt.“
„Verflucht, Raik, was für ‘n Pakt, mit wem? Wer sind die?“
Raik zuckte abwehrend mit den Schultern. „Habe doch gesagt, frag mich nicht. Brauchst du nicht zu wissen.“
Aki spürte, wie Wut in ihm zu kochen begann. „Ich habe aber ein Recht das zu wissen. Du hast denen gesagt wo sie mich finden können! Was ist, wenn das eine Falle ist? Wenn das Kopfgeldjäger sind?“
Raik spuckte auf den Boden. „Ich bin nicht bescheuert. Die haben mir zweifelsfrei bewiesen, dass sie’s ernst meinen. Und jetzt geh packen.“
Ohne ihn noch einmal anzusehen, drehte Raik sich auf dem Absatz um, ging die Straße hinunter und ließ einen verwirrten und wütenden Aki zurück. Er starrte seinem Freund nach bis er in der Menge verschwunden war.
Aki betrat das Lagerhaus als die Turmuhr neun Uhr schlug. Draußen war es dunkel geworden. Auch in dem Schutt und Dreck des verlassenen Hauses war es düster. Er stieg die bedenklich knarrenden Stufen in den obersten Stock hinauf. Dort, wo einst Waren vom Hafen gelagert wurden, waren nur noch leere Kisten und Staub. Seine einzigen Mitbewohner hatten für gewöhnlich vier Beine oder sechs oder acht, er war sich nicht sicher. Nahe an den Fenstern stand ein kaputtes, kleines und unlackiertes Ruderboot. Dogan weiß wer es dort abgestellt hatte. Darin lagen schmutzige Decken und ein Kissen, aus Gewand und Stroh genäht. Aki ließ sich auf das Holz fallen. Er streifte sein schweißdurchtränktes Hemd über den Kopf und warf es über das Ruder, welches noch an der Seite des Bootes hing. Als Kind hatte er davon geträumt, eines Tages wie ein wahrer Wegemeister in einem Boot beerdigt und dem weiten Ozean und Dogan, dem großen Falken, Herr des Himmels, übergeben zu werden. Nicht als Untergetauchter in einem Kaputten zu schlafen, dass im obersten Stockwerk eines Lagerhauses ruhte. Im Grunde, dachte er, war in seinem Leben gar nichts so gekommen, wie er sich als Kind erträumt hatte. Und schuld daran war nur er selbst, er allein. Nur wegen Diamanten.
Pack dein Zeug , hatte Raik gesagt und Aki sah nach einem schäbigen Beutel, der in einer Ecke lag. Viel gab es nicht zu packen. Müde blieb er auf seinem Bett sitzen und legte den Kopf in seine Hände. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Raik hatte jemanden gefunden, der ihnen helfen konnte nach Hause zurückzukehren! Der Wahnsinn hatte ein Ende, das Verstecken, Lügen, Hungern. Sie würden diese Stadt verlassen. Oder? Das glorreiche Litho, die goldene Stadt der Freiheit, wo alle Sünden vergessen sind, sagen die Idioten. Diese Stadt war nichts weiter als der nächste Alptraum, aus dem Aki nicht aufwachen konnte. Graufelle nannten sie Menschen wie ihn. Pack dein Zeug . Draußen dröhnte ein Automobil vorbei und seine Scheinwerfer warfen bizarre Schatten an die leere Wand. Es konnte alles gut werden. Zumindest glaubte Raik das. Aber Aki dachte das nicht. ‚Alles wird gut‘ spielte für ihn etwa in der gleichen Liga wie ‚Abrakadabra‘. Welchen Pakt hat Raik geschlossen? Und vor allem, mit wem?
Er fröstelte. Nicht weil es kühl geworden wäre, sondern weil sich ein dünner, eiskalter Schweißfilm über seinen Rücken gelegt hatte. Die Vorstellung, diesen engen Schuppen endlich zu verlassen in dem er die letzten Wochen fast ununterbrochen eingesperrt war, ließ sein Herz schneller schlagen. Die fremden Krankheiten der Stadt hatten ihn lange Zeit niedergerungen. Das Fieber, der Husten, der Schmerz hatten ihn ausgezehrt und mit Schatten im Geist gestraft. Seit der ersten Nacht, die er hier verbrachte, träumte er von Wäldern und Schnee. Aber er hatte ein schlechtes Gefühl. Manche Dinge können nicht mehr gut werden. Anders würde mir reichen.
„Hier sitzen, warten, keine Ahnung auf wen und Dogan weiß wohin gebracht werden…“, sagte Aki laut. „Es ist nicht richtig.“
Er rappelte sich auf, trat an das Fenster und sah auf die Straße hinunter. Es war still draußen, selten lief ein Mensch vorbei. Langsam und bedächtig seilte sich eine dicke, kastenförmige Spinne neben Aki auf dem Fenstersims ab. „N‘ schönen Abend Kollege“, murmelte Aki und beobachtete, wie die Spinne in einem Loch verschwand. Raik hatte schrecklich ausgesehen. Aki hatte ihn nie vorher so gesehen, dabei kannte er ihn schon sein Leben lang. Raik war seine Familie geworden, vor langer Zeit. Die Einzige, die er hatte. Raik war einige Jahre älter als er und hatte sich um ihn gekümmert und ihn großgezogen, seit… seit dem Tag. Und es machte ihm Angst, wie er ausgesehen hatte. Andererseits war Raik in all den Wochen noch nie so sicher gewesen, so überzeugt davon, dass es einen Weg für sie gab alles ungeschehen zu machen. Mochten die Menschen in Jordengard ihn für einen Mörder halten, Aki wusste es besser. Einmal, weil er an diesem Tag dabei gewesen war, weil er sah, was wirklich geschehen ist. Und er wusste, dass Raik nie Böses gewollt hatte. Hatte er jetzt einen Weg zurück für sie gefunden? Aki konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Weg sein sollte. Aber egal was es war, Aki würde Raik folgen. Auch in den Tod, wenn es das war. So wie er es immer getan hatte. Seit dem Tag, an dem sich die Bäume geneigt hatten. Ein hartes, entschlossenes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Er zerrte eine klapprige Kiste vor das Fenster, setzte sich und starrte hinaus. Wann würden sie kommen?
Zwei Stunden bis Mitternacht. Aki saß am Fenster und starrte hinaus. Der kalte Schweiß auf seinem nackten Rücken war verschwunden und hatte sich wieder in eine drückende, lähmende Hitze verwandelt. Die abgestandene Luft in dem Haus war unerträglich. Er griff nach den Hebeln des Fensters und öffnete es. Sofort schwebte ein feiner Nieselregen aus abgeblätterter Farbe und Mauerwerk auf den Boden. Die trockene Nachtluft strömte herein und Aki sog sie gierig ein. Überrascht bemerkte er, dass seine Hände zitterten.
„Du kommst raus hier“, knurrte er. „Weg. Denk dran.“
Nein, er würde hier nichts vermissen. Gar nichts. Außer… Seine Augen wanderten zu dem Wohnblock gegenüber dem Lagerhaus. Die Fassade badete in trostlosem Grau. Aki beugte sich ein wenig hinaus. Es roch nach Staub und Teer und er erinnerte sich an die Sommer in Jordengard, an Bäume und Erde. Die Erinnerung war blass, wie ein Traum, den er beinahe vergessen hatte.
Das Haus gegenüber lag im Dunkeln. Aki starrte hinüber zu den Fenstern, die auf derselben Höhe lagen wie seine. Einmal über die Straße, hinter diesen Fenstern, war das Einzige was er vermissen würde. Denn dort lebte das Mädchen mit den Locken. Fast jede Nacht hatte er sie durch die Fenster gesehen, die er in diesem Haus gefangen war. Sie lief umher, aufrecht und stolz, die Lippen stumm bewegend, die Fäuste geballt, eine große, schlanke Gestalt im grauen Rock. Eine elektrische Lampe warf glänzende Muster auf ihr schwarzes Lockenhaar und ihr Gesicht, in dem er Züge von Wut und Entschlossenheit auszumachen glaubte. Und dann, wenn sie die Vorhänge schloss, ihr Schatten, der in der Dunkelheit verschwand. Aki konnte schwören, dass er einmal sah wie sie in ihren Kleiderschrank stieg, von innen die Schranktür schloss und nicht mehr herauskam. Stundenlang hatte er auf seinem Stuhl gesessen und darauf gewartet, dass die Schranktür sich wieder öffnen würde. Doch er war eingeschlafen. Nach dem Aufwachen beobachtete er den Sonnenaufgang. Er beschloss, dass er sich alles nur eingebildet hatte. Das Mädchen war immer allein, niemals hatte er einen Besucher in ihrer Kammer beobachtet. Und er hatte sie weinen sehen, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, mit bebenden Schultern. Und dann stand sie auf und drehte sich zu dem Kleiderschrank. Ihre Schultern strafften sich. Sie stand hochaufgerichtet, den Kopf und das Kinn angriffslustig erhoben, wie eine Galionsfigur auf einem der Fischerboote. Oder wie eine der alten nordländischen Dogan-Priesterinnen mit den großen schwarzen Falkenmasken, die er aus Kinderbüchern kannte. Sie wischte sich unwirsch die Tränen vom Gesicht. Aki stockte jedes Mal der Atem und er ertappte sich dabei, wie er die Hand zum Fenstergriff erhoben hatte.