LIZA - Caro Line - E-Book

LIZA E-Book

Caro Line

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Beschreibung

"Herr Schuster", begann er. "Die Auswertung des MRTs ergab, dass Sie in Ihrer Hüfte einen Tumor haben … Es besteht der Verdacht auf Knochenkrebs." Diese Schreckensdiagnose verändert das Leben der schwangeren LIZA schlagartig. Täglich muss sie mit ansehen, wie sich der Zustand ihres Mannes verschlechtert und er letztlich den Kampf gegen den Krebs verliert. In ihrer tiefen Trauer macht sie eine Entdeckung, die sie nicht nur in Gefahr bringt, sondern auch über die Landesgrenze hinaus. Wie soll man weiterleben, nachdem der geliebte Ehemann aus dem Leben gerissen wird? Was, wenn sich herausstellt, dass man ihn eigentlich gar nicht kannte? Und welche Rolle nimmt der Psychologe ein? Eine dramatische Geschichte für Frauen und Männer, die in der heutigen Zeit nicht alltagsfremd ist. Wichtige Info: Drama mit Happy End

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Seitenzahl: 232

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LIZA

Roman

Caro Line

Erstausgabe im März 2017

Copyright © 2017

Alle Rechte beim Booklounge Verlag

Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick

Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg

www.booklounge-verlag.de

ISBN: 978-3-947115-01-3

Inhalt

Ganz im Gegenteil

Kein verfluchtes Missverständnis

Zeit ist eine Bestie

Der Rasen muss dringend gemäht werden

Wo wächst eigentlich der Pfeffer?

Der zarte Gelbton

Die Kunst des Bratens

Altlasten

Unter Freunden

Das etwas andere Foto

Die Tasche

Nach dem Aufstieg folgt der Abstieg

Federvieh

Bin mal Brötchen holen

Erwachen

Lizas Decke

Über die Landesgrenze hinaus

Modelscout

Federbett

Schäfchen zählen

Dornröschen

Über den Dächern der ältesten Stadt Deutschlands

Nicht nach Hause

Eierdieb

Die besten Eltern

Medizinische Fakten

Kartoffelsalat mit Dill, Lachs und Ei

Die Farbe gehört an die Wand

Nicht nur Abdeckfolie knistert

Insiderwissen

Gedankenkarussell

Die Ex taugt nichts

Auf ein Bier

Heiße Küche

Epilog

Ganz im Gegenteil

»Na, was sagt der Arzt? Hast du dich heute Nacht wieder verausgabt, alter Mann?« Unanständig schweifte Lizas Blick an ihrem Gatten herab. Was sie sah, gefiel ihr. Jens war groß, hatte braune kurze Haare und Augen, die in derselben Farbe strahlten. Bei dem Gedanken an vergangene Nacht, in der sie sich hemmungslos geliebt hatten, knabberte sie gedankenverloren an ihrer Lippe. Auch nach neunzehn Jahren Beziehung, davon dreizehn verheiratet, brauchten sie sich wie am ersten Tag. Jens war außerordentlich aufmerksam und zuvorkommend. Liza konnte sich keinen besseren Ehemann wünschen. Sie war glücklich, wenn sie an ihre kleine Familie dachte, zu der die dreijährige Jule gehörte und bald noch das Ungeborene, welches sie unter dem Herzen trug.

»Du bist bloß vier Jahre jünger als ich, gnädige Frau. Also werd nicht frech!« Schmunzelnd zwinkerte er ihr zu. Ganz selbstverständlich griff er nach Lizas Tasse, die sie mit beiden Händen umgriff. »Du sollst nicht so viel Koffein trinken, denk an unseren Jungen in deinem Bauch.«

Schnaufend gab Liza das Gefäß mit der dampfenden Flüssigkeit frei, die sie morgens immer benötigte, um überhaupt in die Gänge zu kommen. »Es wird ein Mädchen, da bin ich mir ganz sicher«, berichtigte sie ihn. Herzhaft biss sie in ihr Marmeladenbrot, während sie Jens immer wieder einen besorgten Blick zuwarf. »Was sagt der Arzt denn nun?«

»Noch nichts Genaues. Ich soll in zwei Wochen zum MRT. Die nette Dame am Empfang hat sogar einen Termin für mich vereinbart, als wäre ich dazu nicht selbst in der Lage.«

Kurz lachte Liza auf, fragte sich aber dann, seit wann sich eine Arzthelferin um solche Patiententermine kümmerte? Gerade in der Praxis Kirschen war immer viel los. Doch die Skepsis verflüchtigte sich sofort, als sie dem aufmunternden Blick ihres Mannes entgegensah.

»Es ist nur halb so wild. Das sind Verschleißerscheinungen, mach dir keine Sorgen, Schatz.« Den Stuhl, auf dem er saß, schob er nach hinten. Er umrundete den Tisch, nicht ohne seinen Mund schmerzhaft zu verziehen, weil sein komplettes Gewicht auf seiner Hüfte lastete. Daraufhin kniete er sich neben sie und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ich liebe dich.« Eine Hand wanderte ihren Hals hinab, über ihr Dekolleté, bis sie letztlich an ihrem kugelrunden Bauch verweilte. »Und ich finde dich unheimlich sexy. Obwohl ich wegen dieser verdammten Hüfte nicht mehr so gut laufen kann, möchte ich jetzt unbedingt in dir sein.«

Ihr Brothäppchen legte sie auf dem Frühstücksbrett ab. Ihre Wangen färbten sich rot, als sie sich zu ihrem Mann beugte. Ein zartes Kribbeln breitete sich in Lizas Bauch aus, als sich ihre Lippen berührten. Immer, wenn Jens so mit ihr gesprochen hatte, konnte sie nicht anders: Sie verfiel ihm mit Haut und Haaren – das bewies sich auch heute wieder.

Aufgeregt saß Liza neben Jens vor dem Bürotisch des Arztes. Der alte Doktor Kirschen war der Vater von Lizas bestem Freund Paul. Sie hatten sich schon oft gesehen, daher war sie umso mehr über die Ernsthaftigkeit verwundert, die sein Gesicht zierte. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus.

»Herr Schuster«, begann er. »Die Auswertung des MRTs ergab, dass Sie in Ihrer Hüfte einen Tumor haben. Es besteht der Verdacht auf Knochenkrebs.« Ruhig sah der Doktor seinem Patienten entgegen.

Was? Liza starrte ihn ungläubig an.

»Sie sollten umgehend einen Onkologen aufsuchen.« Herr Kirschen betrachtete Jens über den Rand seiner Brille hinweg.

Hatte er gerade Krebs gesagt? Lizas Hand legte sich auf ihre Kehle, ein nervöses Räuspern entglitt ihr. Gut, Jens hatte sich in letzter Zeit oft müde und schwach gefühlt, doch war das mit Sicherheit auf den Stress seiner Arbeit zurückzuführen. Er war häufig sehr spät nach Hause gekommen – auf Dauer würde das auch einen kerngesunden Menschen belasten. Außerdem hatte er sich doch nur die Hüfte verdreht! Was redete der Doktor da also für einen Quatsch?

Lächelnd schüttelte Jens den Kopf. »Ach was! Die Hüfte habe ich mir verrenkt, das ist alles.« Unbewusst bestätigte er Lizas Gedankengänge, was sie mit einem entschlossenen Nicken in Herr Kirschens Richtung bekräftigte.

Dieser lehnte sich mit gerunzelter Stirn nach vorne, nahm seine Brille ab und tippte mit dem Bügel gegen seine Lippe. »Es tut mir leid, Herr Schuster. Das Ergebnis ist eindeutig. Schieben Sie es nicht auf die lange Bank. Ein Sarkom, wenn sich mein Verdacht auf diese Krebsart bewahrheiten sollte, kann schnell streuen.«

Tapfer schluckte Liza ihre Tränen hinunter. Jetzt durfte sie nicht losheulen, sie musste schließlich zuhören, was der Vater von Paul da sagte. Doch in ihrem Kopf herrschte ausschließlich Leere. Knochenkrebs? Das war unmöglich und mit Sicherheit nur ein Missverständnis. Während die grausame Realität in ihr Bewusstsein vordrang, beobachtete sie tatenlos, wie der Doktor den Knopf der Sprechanlage betätigte. »Kati, bitte vereinbare für Herrn Schuster einen Termin in der Onkologie des Sankt Anna Krankenhauses in Trier. Danke.«

Langsam ließ sie den Blick zu Jens schweifen, der teilnahmslos zu Boden starrte. Das konnte sie nicht mit ansehen. Entschlossen ergriff Liza seine Hand, hielt sie einfach nur fest, um ihm zu zeigen, dass sie für ihn da war. Alles würde gut werden, sprach sie sich im Stillen zu. Jens war gerade mal achtunddreißig, hatte immer viel Sport getrieben und stets auf eine gesunde Ernährung geachtet. Unvorstellbar, dass er Knochenkrebs hatte. Die Untersuchung beim Onkologen würde den Irrtum aufklären, da war sich Liza sicher.

Nichts wurde gut! Ganz im Gegenteil. Jeden verdammten Tag verschlechterte sich Jens’ Zustand.

Das Krankenhauszimmer, welches ihm vor ein paar Minuten zugewiesen worden war, wirkte trostlos. Kahle Wände, verziert mit einem einsamen Kreuz über der Tür, Desinfektionsspender am Waschbecken und neben dem Ausgang. Äußerlich passte Jens in dieses Zimmer, denn er war genauso blass. Täglich wurde sein Hüftleiden schlimmer. Er versuchte, es vor Liza zu verbergen, was ihm aber nicht gelang. Die Pein musste grausam sein. Immer dann, wenn er sich unbeachtet fühlte, konnte sie heimlich beobachten, wie er litt.

Das Gespräch mit Doktor Bauer war niederschmetternd. Im Hüftknochen saß tatsächlich ein Sarkom. Man erklärte ihnen, dass es sich bei diesem Tumor um eine bösartige Krebsart handelte. Doch das sollte noch nicht alles sein. Weitere Untersuchungen ergaben, dass er bereits streute.

Heute war der Tag seiner ersten Chemotherapie. Liza hatte verdammt viel Angst, denn immer wieder hatte sie vor Augen, wie der Doktor mit einer ernsten Miene zu Jens sprach, dass der Knochenkrebs schon sehr weit fortgeschritten war. Innere Organe waren stellenweise befallen – das war alles gar nicht gut. Ab diesem Moment veränderte sich Jens, als hätte er längst eine stumme Entscheidung gefällt. Täglich ging es mit ihm bergab, seine Kraft war auf dem Nullpunkt.

Erschöpft ließ Jens sich auf das Bett sinken. Bei Gott, sie liebte ihren Mann.

Jens musste gesund werden.

Er musste es schaffen.

Er musste gegen diesen verfluchten Krebs ankämpfen, ihm die Stirn bieten und zum Teufel jagen.

Was würden Liza und die Kinder ohne ihn machen?

Ein junger Mensch sollte so etwas wegstecken können. Deswegen lehnte Liza sich entschlossen im Stuhl neben Jens’ Bett zurück und ließ den Arzt seine Arbeit verrichten. Ganz gleich, was käme, Jens würde es überstehen.

Die erste Behandlung lag mittlerweile eine Woche zurück. Er litt Höllenqualen und übergab sich fast stündlich. Seine Haut wirkte grau, sein Strahlen war verschwunden. Ihr geliebter Ehemann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Überwiegend lag er mit geschlossenen Augen in seinem Bett, bewegte sich kaum, außer wenn ihn das Gefühl, sich erbrechen zu müssen, dazu zwang.

Liza war am Ende. Ihren Mann so leiden zu sehen, verlangte ihr alle Energie ab, die sie nur irgendwie aufbringen konnte. Zu Hause, bei Jule, war sie schon lange nicht mehr. Die Kleine war bei ihrer Oma besser aufgehoben als im Krankenhaus. Lizas Mutter hatte ihr erklärt, dass Papa auf einer Geschäftsreise sei und Mama mit ihren Schülern auf Klassenfahrt.

Sie wusste nicht, wie sie die nächste Zeit hinter sich bringen sollte. Zudem stand die Geburt bevor, das konnte sie spüren. Ihr Bauch schmerzte fürchterlich, doch sagte sie weder zu einem der Ärzte etwas, noch nahm sie eine Untersuchung wahr. Sie saß nur noch an Jens’ Bett und betete zu Gott, dass er ihn gesund machen würde.

Immer wieder schnürte diese unbändige Angst ihr den Hals zu, nahm ihr die Luft zum Atmen. Die Schmerzen in ihrem Bauch wurden schlimmer. Was passierte hier nur? Vorsichtig legte sie eine Hand auf Jens’ Stirn. Er reagierte nicht. Etwas Nasses kullerte ihr über die Wange. Ja, Liza war eine tapfere, starke und niemals leidende Frau, aber in diesem Augenblick brachen all ihre Dämme. »Jens, ich liebe dich«, hauchte sie. »Du darfst nicht sterben. Ich brauche dich doch. Wir brauchen dich. Das Baby, Jule und ich. Bitte, werd gesund.« Unaufhörlich liefen die Tränen über ihre Wangen, während sie sich endlich mit der größten Panik auseinandersetzte, die sie mit ihren vierunddreißig Jahren jemals erleben musste.

Jens schlief tief und fest. Er bewegte sich nicht. Sein Atem kam nur sehr langsam über seine trockenen Lippen. Wann würde endlich Besserung eintreten?

Ein Klopfen riss sie aus ihrer Trübsal. Auf leisen Sohlen betrat Tom den Raum. Er arbeitete nicht nur in dem Trierer Krankenhaus als Arzt, sondern war ein Freund der Familie und außerdem Pauls Bruder. Nahezu täglich nahm er sich Zeit, auch wenn die Onkologie nicht seine Station war, um nach Jens zu schauen und Liza zu begrüßen.

»Hi«, nuschelte Tom unter seinem Mundschutz hervor, als er Liza einen Kuss auf die Stirn drückte. Anschließend ging er direkt zum Infusionsständer, nahm den Beutel in die Hand und beäugte skeptisch die Aufschrift. Mitleidig sah er zu seiner Freundin.

Diese bedauernden Blicke, die Liza von sämtlichen Ärzten zugeworfen wurden, nervten sie abgrundtief. Was wollten sie ihr damit weismachen? Dass ebendieser Blick von Tom kam, beunruhigte sie noch mehr. Zügig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Er ist fast nur am Schlafen.« Ihre Stimme brach, als sie Toms Arme spürte, die sich um sie legten.

»Du solltest nicht rund um die Uhr hier sein. Kannst du nicht jemand anderen herschicken?« Sein Blick wanderte direkt zu ihrem kugelrunden Bauch. »Liza, du musst an das Baby denken.« Tröstend streichelte er ihr über den Rücken.

»Ich bleibe bei ihm!« Rasch befreite sie sich aus seiner Umarmung, starrte ihm ins Gesicht. »Bitte, sag mir, dass er wieder gesund wird. Bitte!«, flehte sie Tom an, der sich in diesem Moment etwas versteifte.

»Du musst die Untersuchungsergebnisse abwarten, Liza. Alles andere wäre spekulativ.«

Sein Blick verriet ihr mehr, als er auszusprechen vermochte.

Plötzlich ließ ein plätscherndes Geräusch beide hinabblicken.

»Shit!«

Aus heiterem Himmel ging alles ganz schnell.

Vorsichtig brachte er Liza raus in den Flur, wo auch sie realisierte, was gerade geschehen war. Ihre Fruchtblase war geplatzt, die Geburt stand unmittelbar bevor. »Das Baby darf noch nicht kommen. Erst wenn Jens wieder gesund ist. Mach was, Tom!«, schrie sie hysterisch.

»Solange wirst du nicht warten können. Setz dich!« Der Rollstuhl drückte sich in ihre Kniekehlen, sodass sie automatisch Platz nahm. Mit dem Handy informierte Tom den Kreißsaal, während er sie zum Aufzug schob. Kurz bevor sie bei der Geburtsstation ankamen, war die Tür geöffnet worden und eine lächelnde Hebamme kam auf sie zu. Liza wusste auf Anhieb, dass sie dieses fröhliche Etwas hassen würde, immerhin gab es hier keinen Grund zur Freude – ihr Leben ging gerade den Bach hinunter.

»Na, dann wollen wir mal schauen, ob Ihr Baby heute schon das Licht der Welt erblickt.« Die Hebamme sah Tom an. »Herr Kirschen, sind Sie der …«

Die Dame kam gar nicht zum Aussprechen, als ihr Tom ins Wort fiel: »Nein, ich bin ein Freund von Frau Schuster. Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich werde im OP erwartet, deswegen muss ich sofort los. Aber ich schicke jemanden her.« Er kniete sich vor Liza, die augenscheinlich mit argen Bauchschmerzen zu kämpfen hatte. »Ich rufe Paul an, okay? Er ist bestimmt gleich bei dir. Du bist hier gut aufgehoben, mach dir keine Gedanken.«

Knapp nickte Liza, denn momentan hatte sie wirklich andere Probleme. Die Wehen kamen so unverhofft schnell. Oder hatte sie diese vorher einfach ignoriert? So sehr sie sich die vergangenen Monate darauf gefreut hatte, lief hier gerade irgendetwas überhaupt nicht nach Plan: Jens fehlte an ihrer Seite. Das Kind durfte auf keinen Fall kommen. Mit aller Gewalt presste sie die Beine zusammen und versuchte, den Wehen keinerlei Beachtung zu schenken, was nicht sonderlich funktionierte. Die nächste Wehe setzte ein, steuerte sie immer weiter auf das Unausweichliche zu. »Nein!«, schrie sie abrupt. »Ich will dieses Kind erst bekommen, wenn mein Mann wieder gesund ist!« Mit den Füßen trat sie nach der Hebamme, die ihr auf das Entbindungsbett half, als sie von der nächsten Wehe heimgesucht wurde. »Uahhhh!« Ihr Unterleib fühlte sich an, als würde er zerreißen. Sobald die Kontraktionen nachließen, was nur selten vorkam, dachte sie an Jens. Doktor Bauer beabsichtigte, noch heute die Ergebnisse der ersten Chemo zu besprechen. Herr im Himmel … Liza wollte in diesem Augenblick so dringend bei ihm sein. »Ahhh!« Mit einem Mal hatte sie solche Pein, dass ihr sogar schwarz vor Augen wurde. Automatisch begann sie zu pressen und ergab sich ihrem Schicksal. Das Baby würde jetzt kommen, ob sie es wollte oder nicht.

»So ist es gut, Frau Schuster. Weiter pressen. Das Köpfchen ist schon draußen«, ertönte es nach einer ganzen Weile quälender Presswehen.

Vor lauter Zorn bahnten sich Tränen ihren Weg über Lizas Wangen. Währenddessen hechelte sie immer wieder zwischen den einzelnen Pressphasen. Diese Folter war unerträglich. Wenn es doch nur vorbei wäre, dann könnte sie wieder zu Jens gehen. Ob er wach war? Wieder riss sie ein bestialischer Schmerz aus ihren Gedanken.

»Noch einmal feste pressen, Frau Schuster.« Die rundliche Frau, die Liza mit ihrem eingemeißelten Grinsen tierisch auf die Nerven ging, hantierte wild inmitten ihrer Beine. Als sie plötzlich lautes Babygeschrei hörte, wusste sie instinktiv, dass sie es geschafft hatte. Kraftlos sank sie zurück in ihre Kissen, woraufhin man ihr das Kind auf die Brust legte und herzlichst gratulierte, doch Liza ließ das völlig kalt. Fünf Minuten wollte sie die Augen schließen, danach würde sie zu Jens gehen. Die schlaflosen Nächte in den letzten vier Wochen, die sieben Tage, die sie mit Jens auf der Onkologie verbracht hatte, zollten ihren Tribut, sodass sie nach diesem Kraftakt einfach einnickte.

Kein verfluchtes Missverständnis

»Wo ist Jens?«, war das Erste, was Liza wissen wollte, als sie aufwachte. Wie konnte sie nur einschlafen? Vorwurfsvoll rügte sie sich selbst. Paul, ihr bester Freund, stand neben dem Bett und hielt das Baby im Arm.

Ihr Baby.

»Herzlichen Glückwunsch zur Geburt, Kleines.« Weil Paul keine Hand frei hatte, lächelte er sie bloß liebevoll an. Danach rückte er näher, um ihr das winzige Bündel zu zeigen, doch Liza wollte es gar nicht sehen.

»Bringst du mich zu Jens?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Sie schlug die Decke nach hinten und schmiss ihre Beine aus dem Bett. Zu schnell, denn der Schwindel machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

»Mensch, Liza! Mach langsam. Du hast gerade deinen Sohn zur Welt gebracht und solltest noch nicht durchs Krankenhaus laufen.« Nur in Stützstümpfen, die jede Frau nach einer Geburt tragen musste, sowie einem Krankenhauskittel, stand sie vor Paul. »Außerdem …«, mit dem Finger wies er auf ihre Aufmachung, verkniff sich aber den Rest.

»Wo sind meine Klamotten?«, wollte sie fassungslos wissen. Gleichzeitig schaute sie wild im Raum umher.

»Liza.« Er legte den Jungen in die Wiege, setzte sich zu ihr auf die Bettkante und sah sie bedächtig an. »Du solltest dich jetzt ausruhen, vor allem musst du dich um dein Kind kümmern. Jens hat geschlafen, als Tom vorhin bei ihm war. Für ihn kannst du momentan nichts tun.« Sie spürte, wie er ihr einen Arm um den Rücken legte.

Zu viel des Guten!

Sie machte sich aus seiner Umarmung frei und stellte sich abermals vorsichtig auf die Beine.

»Hilfst du mir?«, wollte sie fordernd von ihm wissen. Murrend gab Paul nach, setzte Liza auf dem Bett ab, damit sie nicht doch noch zusammenklappte, und kam nur Sekunden später mit einer Krankenschwester im Schlepptau zurück, die direkt einen Rollstuhl dabei hatte.

Paul blieb bei Lizas Sohn, während sie von der Schwester durch die Gänge des Krankenhauses zur Onkologie begleitet wurde. Als sie mit Mundschutz ausgestattet worden war, öffnete ihre Begleitung die Tür zu Jens’ Zimmer und schob sie rein. Gerade rechtzeitig, dachte Liza, als sie Doktor Bauer am Fußende des Bettes stehen sah. Jens’ äußere Erscheinung jagte ihr einen Schauer über den Rücken: Seine Augen lagen tief in den Höhlen, sein Blick ging ins Leere, als sei er um Jahre gealtert. Dabei war sie doch höchstens ein paar Stunden weg gewesen.

Er litt.

»Herr Schuster, Sie sollten Ihre Angelegenheiten regeln. Es tut mir leid.«

Ein unerträgliches Pfeifen setzte in Lizas Ohren ein. Mit offenstehendem Mund und weit aufgerissenen Augen entkam ihr ein erstickter Laut, der die beiden Männer zu ihr herüberblicken ließ.

»Was?«, krächzte sie. Hatte sie wirklich richtig gehört? Nein, denn Jens zeigte keinerlei Regung, was wiederum darauf schließen musste, dass sie sich nur verhört haben konnte. »Was?«, wiederholte sie deshalb.

Doktor Bauer schaute sie mitleidig an, kam auf sie zu, reichte ihr dann die Hand. »Es tut mir leid, Frau Schuster.« Danach verließ er das Zimmer.

»Jens? Was hat der Doktor gesagt? Was tut ihm leid?« Ohne darauf zu achten, dass sie bloß mit einem Krankenhauskittel bekleidet war, erhob sie sich aus dem Rollstuhl und nahm ihren altbekannten Platz ein – der Stuhl, auf dem sie die ganze letzte Woche verbracht hatte.

Jens Gesichtszüge wurden etwas weicher, als er seine Frau ansah. Schwächlich begann er zu sprechen: »Schatz, das Baby ist da?« Kurz atmete er durch. »Lass mich raten, es ist ein Junge?« Liza nickte und ein vorsichtiges Strahlen schlich sich auf sein Gesicht. »Ich habs dir von Anfang an gesagt.«

Mittlerweile liefen Liza die Tränen in kleinen Sturzbächen über die Wangen. »Sag mir, dass alles gut wird, Jens«, wisperte sie, panisch nach Luft ringend.

Liebevoll legte Jens seine Hand auf ihre. »Für mich wird alles gut werden«, flüsterte er und ließ dem Gesagten Platz zum Wirken.

»Nein!« Wild schüttelte sie den Kopf. »Ich liebe dich doch. Lass mich nicht alleine, Jens!« Tränen flossen über ihr Gesicht, durchnässten ihren Kittel.

Fürsorglich streichelte Jens’ Daumen über ihren Handrücken. Seiner großen Liebe schaute er tief in die Augen, erst dann gab er mit gebrechlicher Stimme zu: »Ich kann nicht mehr, Schatz. Diese Schmerzen sind kaum zu ertragen. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt.« Kurz verschnaufte er, selbst das Reden fiel ihm schwer. Derweil setzte sich Liza neben ihn aufs Bett. Eng aneinander gekuschelt, fuhr Jens fort. »Du musst stark sein. Für Jule und für unseren Sohn, versprich mir das.« Liza versuchte, ein Aufschluchzen zu unterdrücken, sie verstand ihn sowieso schon fast nicht. »Sag unseren Kindern, dass ihr Papa sie immer lieben wird. Dass ich so gerne mehr Zeit mit ihnen verbracht hätte.« Mit Mühe änderte Jens seine Liegeposition, damit er Liza in die Augen schauen konnte. »Ich liebe dich«, hauchte er an ihre Lippen, nachdem er den aufgeweichten Mundschutz heruntergeschoben hatte. »Aber unsere Wege werden sich ganz bald trennen.« Seine Hand lag auf Lizas Wange. »Das kann ich spüren, Hase. Meine Zeit geht zu Ende.«

»Nein!« Schniefend drückte Liza ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Sie konnte kaum glauben, was sie hörte. Das musste doch ein verfluchtes Missverständnis sein. Als sie jedoch bemerkte, dass auch Jens’ Schultern bebten, fuhr es ihr wie ein Stich in ihr Innerstes. Jens würde sterben, das stand außer Frage. Er hatte sich aufgegeben, weil er die Qual nicht mehr ertragen konnte.

»Liza?«, sprach er nach einiger Zeit. »Wirst du … den Kleinen Jonah nennen? So … wie wir es an jenem Morgen besprochen haben?« Immer wieder pausierte er, weil ihm die Situation die Sprache nahm.

»Nein!«, sagte sie bestimmt. »Wir werden ihn Jonah nennen. Sein Vater und seine Mutter.« Bedächtig ließ sie die Worte nachklingen.

Liza konnte die Stunden nicht mehr zählen, die sie an diesem Bett verbrachte. Waren es Tage, Wochen, Monate? Sie starrte vor sich hin, aß nichts, trank nur, wenn sie aufgefordert wurde. Mittlerweile kannte sie jeden Winkel des Zimmers auswendig, wusste, wo die Putzfrau ordentlich putzte und wo sie, ohne ihren Lappen auszuspülen, einfach weiter wischte. Es war nicht so, dass es sie interessierte, sie nahm es nur wahr.

Die Abstände, in denen die Krankenschwestern in sein Zimmer kamen, wurden länger. Sie verabreichten ihm Medikamente, kontrollierten die Monitore. Doch keiner sagte ihr, dass alles besser werden würde. Wobei es auch nichts gebracht hätte, denn sie hatte die Entschlossenheit in Jens Worten hören können, und ahnte, was sie erwartete.

»Frau Schuster.« Sie hatte nicht mitbekommen, dass der Arzt den Raum betreten hatte. Skeptisch betrachtete sie, wie er neben ihr in die Hocke ging. Wie er sie ansah, war kein gutes Zeichen. »Stellen Sie sich darauf ein, dass es heute passieren wird«, sprach er ruhig. »Die Werte Ihres Mannes sind miserabel. Dank dem starken Analgetikum ist er schmerzfrei und schläft sehr tief. Er wird wahrscheinlich nicht mehr aufwachen.«

Was hatte er da gesagt? Es fühlte sich an, als würde die Welt über ihr zusammenbrechen. Sollte es wirklich so weit sein? Sie war noch gar nicht bereit dazu! Warum verstand das keiner? Stumm ließ sie den Tränen freien Lauf, beobachtete die langsamen Bewegungen von Jens’ Brustkorb. Liza wagte nicht, sich zu rühren, während sie seine Hand festhielt.

Als Jens seinen letzten Atemzug tat, brach Liza schreiend zusammen, bis sie schlussendlich mit ihrem Kopf auf Jens’ Oberkörper zum Liegen kam. Sie musterte ihn aus aufgequollenen Augen.

Er sah so friedlich aus.

Fest umklammerte sie seinen Bauch. Immer wieder meinte sie, die Bewegungen seiner Atmung zu sehen, doch die Enttäuschung, dass sie sich das einfach nur einbildete, war groß.

Jens war tot.

Liza war bereits in jungen Jahren eine verwitwete, alleinerziehende Mutter. Ihre Tränen rannen auf die Bettdecke, die Jens immer noch zudeckte. Kein Mensch würde sie von ihrem Mann wegschaffen können. Nicht die Krankenschwestern, nicht ihr Schwager oder seine Eltern, die nach und nach eintrafen, um sich von ihm zu verabschieden.

Selbst Tom, den man extra rief, weil mittlerweile jeder wusste, dass sie befreundet waren, konnte nur ergebnislos auf sie einreden. Er streichelte Liza immer wieder über den Kopf. Was er sagte, drang allerdings nicht bis in ihr Bewusstsein hervor.

Erneut packte sie jemand unter den Armen, wollte ihren Griff um Jens lockern, doch wie die Male zuvor, trat sie schreiend um sich. Ihr Kopf schmerzte. Wie lange lag sie schon da? Eine Stunde? Zwei Stunden? Sie wusste es nicht. Darüber hinaus, war es nicht von Bedeutung, denn sie würde Jens niemals loslassen.

»Schwester, bringen Sie mir bitte fünf Milligramm Valium i. v.«, donnerte Toms Stimme in den Flur hinaus. »Seit vier Stunden klammert sie sich an ihn und wird hysterisch, sobald jemand sie anfasst.«

Kurz darauf wurde Liza von zwei Schwestern festgehalten, während Tom ihr einen Stauschlauch um den Arm legte und mit den Fingerspitzen nach ihrer Vene suchte. Mit aller Macht versuchte sie, sich zu wehren, was nichts brachte, man hatte sie augenblicklich überwältigt.

»Scht … Es ist okay, Liza. Ich gebe dir bloß etwas zur Beruhigung«, besänftige er sie.

Liza schniefte unaufhaltsam, ihr Schädel schien zu zerspringen. Die Tränen hatten alles durchnässt, sie fühlte sich einfach nur schmutzig, unbrauchbar und einsam.

Alleine.

In diesem Moment spürte sie auch schon, wie sie sich etwas lockerte.

»Lasst uns allein«, forderte Tom die Schwestern auf. Eine Hand legte er auf Lizas Wange, schaute sie besorgt an. »Verabschiede dich jetzt«, meinte er, stand auf und stellte sich in die Ecke des Raumes.

Langsam ließ Liza den Blick zum leblosen Körper ihres geliebten Ehemannes schweifen. Schmerzen der tiefen Trauer fraßen sich in ihre Organe, als sie sich zu ihm hinabbeugte und ihre Lippen auf seine legte. »Ich liebe dich.« Schluchzend schaute sie ihn ein letztes Mal an, als Tom erneut ihren Arm ergriff.

»Es ist Zeit, zu gehen.« Mitfühlend nahm er sie an die Hand, woraufhin beide zusammen das Krankenhaus verließen.

Zeit ist eine Bestie

»Von Erde bist du genommen, zu Erde wirst du wieder werden. Gott selbst wird dich auferwecken am jüngsten Tag. Erde zu Erde! Asche zu Asche! Staub zu Staub!«, rief der Pfarrer bei der Abschlusssegnung von Jens’ Beisetzung. Drei Ladungen Erde warf er auf den Sarg, dann trat er zur Seite, um den Trauernden zu signalisieren, dass sie sich jetzt verabschieden sollten.

Für Liza vergingen diese Szenen im Zeitlupentempo. Ihren Blick ausschließlich auf das Loch im Boden gerichtet, verstand sie immer noch nicht, was überhaupt passierte.

Zu Jens Beerdigung kamen viele Menschen.

Freunde, Bekannte, Nachbarn, Schaulustige.

Neben Liza standen ihre Schwiegereltern, ihre Mutter und Dirk, ihr Schwager. Er war es auch, der Liza stützte, ansonsten hätte sie wahrscheinlich am Boden gelegen, weil sie zusammengebrochen wäre.

Endlich war sie vorbei, diese Zurschaustellung. Alle gafften sie an, wollten sie umarmen oder mit ihr sprechen. Am liebsten wäre Liza aus der Haut gefahren, hätte jedem den Stinkefinger gezeigt oder die Leute beschimpft.

Sie wünschte sich einfach zurück auf ihre Couch, in ihr Schneckenhaus, wo sie ohnehin die letzten Tage wie in einem Rausch verbracht hatte. Obwohl sie dort nur auf dem Sofa gesessen und die Wand angestarrt hatte, war sie wenigstens fern von nervigen Menschen und noch nervigeren Ratschlägen. Sie wollte alleine sein, niemanden sehen. Um Jule und Jonah musste sie sich keine Gedanken machen, beide waren bei der Oma gut untergebracht. Für die Kinder war es besser, ihre Mutter nicht so erleben zu müssen.

Kaum hatte ihr Schwager die Tür hinter Liza zugemacht, marschierte sie geradewegs zu ihrem neuen Lieblingsplatz im Wohnzimmer. Die Schuhe, die ihr ohnehin nur Blasen brachten, kickte sie schon unterwegs beiseite. Ihre Bluse öffnete sie, ließ sie ungeachtet zu Boden fallen. Dann nahm sie Jens’ Wolldecke, in die er zu Lebzeiten immer eingekuschelt gewesen war, und wickelte sich komplett ein. Sie inhalierte den Duft, schloss die Augen und ließ ihrer Trauer freien Lauf. Die ersten Schluchzer erschütterten ihren schwachen Körper, befeuchteten ihre Wangen.

Eine Hand legte sich auf Lizas Schulter. Lange wurde nichts gesprochen, bis Dirk das Schweigen brach. »Liza«, begann er. Sie konnte sich schon denken, was er ihr sagen wollte und doch interessierte es sie einfach nicht. »Du trauerst um Jens, das ist ganz normal.« Tief atmete er durch. »Mir fehlt er auch«, flüsterte er. »Trotzdem musst du wieder auf die Beine kommen. Du musst für deine Kinder da sein. Jens hätte das nicht anders gewollt.« Ruhig streichelte er seiner Schwägerin über den Arm.